© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 096/20 Die Öffnung der nordzyprischen Stadt Varosha im Lichte des Völkerrechts Zur rechtlichen Steuerungswirkung internationaler „soft law“- Instrumente Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 2 Die Öffnung der nordzyprischen Stadt Varosha im Lichte des Völkerrechts Zur rechtlichen Steuerungswirkung internationaler „soft law“-Instrumente Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 096/20 Abschluss der Arbeit: 3. Dezember 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetlinks) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Historische Entwicklung und aktuelle Situation in Varosha 4 2.1. Entwicklung seit 1974 4 2.2. Aktuelle Entwicklungen im Oktober und November 2020 5 2.3. Politische Reaktionen 6 3. Völkerrechtliche Bewertung 7 3.1. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Erörterung 7 3.2. Internationale Entschließungen zu Varosha 9 3.2.1. Resolutionen des VN-Sicherheitsrats 9 3.2.2. Erklärungen des Präsidenten des Sicherheitsrats 10 3.2.3. Resolution des Europäischen Parlaments 11 3.3. Rechtliche Einlassungen der Vereinten Nationen und von Staatenvertreter/innen 12 3.4. Völkerrechtliche Verbindlichkeit von VN-Resolutionen und Vorsitzerklärungen 14 3.5. Völkerrechtliche Relevanz von „soft law“-Instrumenten 18 3.5.1. Repräsentation 19 3.5.2. Funktionsweisen 20 3.5.3. Interpretationsleitlinie für bindende Völkerrechtsquellen 21 3.6. Öffnung Varoshas als Völkerrechtsverstoß 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 4 1. Einführung Die Öffnung eines Strandabschnitts der seit 1974 vom türkischen Militär abgeriegelten und unbewohnten „Geisterstadt“ Varosha (auch Varosia, griechisch: Βαρώσια, türkisch: Maraş) ist international in die Kritik geraten.1 Varosha bildet einen Stadtteil der nordzyprischen2 Stadt Famagusta (griechisch: μμόχωστος, türkisch: Gazimağusa) und liegt unmittelbar an der Grenze zwischen der international nicht anerkannten Türkischen Republik Nordzypern3 (TRNZ, auch: Nordzypern bzw. Nord-Zypern, türkisch: Kuzey Kıbrıs Türk Cumhuriyeti – KKTC, im Englischen TRNC) und dem EU-Mitgliedstaat Zypern (Republik Zypern, griechisch: Κυπριακή Δημοκρατία). Die causa „Varosha“ ist damit schon rein geographisch – aber wohl auch symbolisch – Ausdruck und „Mahnmal“ einer fortdauernden Teilung der Insel und Bestandteil des seit Jahrzehnten ungelösten Zypernkonflikts. Die vorliegende Ausarbeitung zeichnet die Entwicklung und die aktuelle Situation in Varosha nach (dazu 2.) und befasst sich dann schwerpunktmäßig mit den völkerrechtlichen Implikationen der Vorgänge in Varosha (dazu 3.). 2. Historische Entwicklung und aktuelle Situation in Varosha 2.1. Entwicklung seit 1974 Die ehemalige Touristenhochburg Varosha beherbergte in den 1960er Jahren etwa 40.000, überwiegend griechisch-zyprische Bewohner, die im Zuge der vom VN-Sicherheitsrat völkerrechtlich verurteilten4 militärischen Intervention der Türkei im nördlichen Teil Zyperns im Jahre 1974 flüchten mussten.5 Die Grenze zwischen der türkisch-zyprisch verwalteten Region im Norden Zyperns und der Republik Zypern im Süden bildet seither eine Waffenstillstandslinie (auch als 1 Associated Press vom 6. Oktober 2020, „UN concerned at Turkish move to open up Cypriot beach”, https://apnews.com/article/turkey-europe-united-nations-greece-cyprus-9dfb90a25abf911109f8428a9336e518. Associated Press vom 10. Oktober 2020, “UN calls for Turkish Cypriots to close beach in Varosha”, https://apnews.com/article/turkey-cyprus-archive-united-nations-greece-142e859448c3256fbd893ff84fef3c39. 2 Die im Folgenden verwendeten deutschsprachigen Bezeichnungen der auf die Republik Zypern bezogenen Staatsangehörigkeit („zyprisch“, „Zyprerin“ und „Zyprer“, englisch: cypriots, griechisch: Κύπριος, türkisch: Kıbrıslı) entsprechen dem „Verzeichnis der Staatennamen für den amtlichen Gebrauch in der Bundesrepublik Deutschland“ des Auswärtigen Amtes in der Fassung vom 18. Februar 2019, https://www.auswaertigesamt .de/de/service/terminologie/-/215252. 3 Der VN-Sicherheitsrat hatte in seiner Resolution 541 (1983) vom 18. November 1983 die Gründung der „Türkischen Republik Nordzypern“ als „legally invalid“ bezeichnet und in seiner Resolution 550 (1984) vom 11. Mai 1984 die VN-Staaten explizit aufgefordert, die Türkische Republik Nordzypern nicht anzuerkennen. 4 Vgl. Resolution 353 (1974) vom 20. Juli 1974, S/RES/353, http://unscr.com/en/resolutions/doc/353. 5 Süddeutsche Zeitung vom 7. Oktober 2020, „Strand des Anstoßes“, https://www.sueddeutsche.de/politik/zypern-strand-des-anstosses-1.5057688. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 5 Demarkationslinie oder „Green Line“ bezeichnet) mit einer sog. „Pufferzone“ zwischen beiden Regionen, innerhalb derer der Waffenstillstand durch Friedenstruppen der Vereinten Nationen (UNFIZYP) kontrolliert wird.6 Nach der türkischen Invasion in Nordzypern im Jahre 1974 erklärte die türkische Militärführung Varosha zum militärischen Sperrgebiet und verschloss den menschenleeren Stadtteil, sodass fortan kein Zugang für Zivilisten oder Touristen mehr möglich war.7 Im Jahr 1983 rief der damalige zyprische Vizepräsident Rauf Denktaş für das Gebiet nördlich der Demarkationslinie die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ)8 aus – ein in der völkerrechtlichen Literatur als „staatsähnliches“ oder „staatsartiges“ Gebilde bezeichnetes de-facto-Regime,9 das bis heute ausschließlich10 von der Türkei anerkannt wird. Varosha befindet sich heute auf nordzyprischen Territorium, jedoch außerhalb der Kontrolle der Friedenstruppen der Vereinten Nationen.11 2.2. Aktuelle Entwicklungen im Oktober und November 2020 Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verkündete der Premierminister und designierte Präsident der Türkischen Republik Nordzypern Ersin Tatar am 6. Oktober 2020 in Ankara die „Öffnung“ Varoshas.12 6 Das Mandat der United Nations Peacekeeping Forces in Cyprus (UNFICYP) wurde seit ihrem ersten Einsatz auf Grundlage von S/RES/184 (1964) jährlich verlängert und ihre Befugnisse seither erweitert. Die jüngste Verlängerung bis zum 31. Januar 2021 erfolgte durch S/RES/2537 (2020), https://undocs.org/en/S/RES/2537(2020). 7 Deutschlandfunk vom 2. April 2020, „Unterwegs in der Geisterstadt Famagusta“, https://www.deutschlandfunk.de/geteiltes-zypern-unterwegs-in-der-geisterstadtfamagusta .795.de.html?dram:article_id=473459. 8 Siehe auch „Historical Background“ auf der Internetseite der TRNZ, https://mfa.gov.ct.tr/cyprus-negotiationprocess /historical-background/. 9 Vgl. etwa Georg Nolte, „Faktizität und Subjektivität im Völkerrecht Anmerkungen zu Jochen Froweins ´Das de facto Regime im Völkerrecht` im Licht aktueller Entwicklungen“, in: ZaöRV 2015, S. 715-732 (720), https://www.zaoerv.de/75_2015/75_2015_4_a_715_732.pdf. Stefan Talmon, „Luftverkehr mit nicht anerkannten Staaten: Der Fall Nordzypern“, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 2005, S. 1 - 42 (24 f.), abrufbar unter: https://doi.org/10.1628/0003892053967116. Grundlegend Jonte van Essen, „De Facto Regimes in International Law“, in: Utrecht Journal of International and European Law 2012, S. 31-49 (38), https://utrechtjournal.org/articles/abstract/10.5334/ujiel.ay/. 10 Auswärtiges Amt, „Aktuelle Lage im Zypernkonflikt“, https://www.auswaertigesamt .de/de/aussenpolitik/laender/zypern-node/-/210292#content_0. 11 Erläuterung „About the Buffer Zone“ auf der Internetseite von UNFICYP, https://unficyp.unmissions.org/aboutbuffer -zone. 12 Tagesschau vom 8. Oktober 2020, „Ein Sandstrand im Fokus der Politik“, https://www.tagesschau.de/ausland/varosha-zypern-strand-101.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 6 In der Folge entfernte das türkische Militär die bisherige Umzäunung und öffnete auf diese Weise den Strandabschnitt in Varosha13; die lokalen Behörden im nordzyprischen Famagusta ließen sodann einige in Richtung Strand führende Straßen asphaltieren, Fahrradwege einrichten und Bäume pflanzen.14 Seit dem 8. Oktober 2020 ist tagsüber ein langer Strandabschnitt bei Varosha für Urlauber zugänglich15, der Medienberichten zufolge inzwischen bereits von Tausenden besucht wurde.16 Am 15. November 2020 empfing schließlich der nordzyprische Premierminister Tatar den türkischen Präsidenten Erdoğan anlässlich des 37. Jahrestages der Gründung der TRNZ zu einem als „Picknick“ bezeichneten Besuch in Varosha. Der türkische Präsident verkündete den Reportern, die seinen Aufenthalt vor Ort begleiteten, dass durch die Öffnung des Strandzugangs ein „neuer Vorgang“ initiiert worden sei und Varosha schon bald seine „wahren Besitzer“ kennenlernen werde. Erdoğan unterstrich zudem seine Vision einer Zwei-Staaten-Lösung, der zufolge eine Teilung Zyperns in zwei souveräne Staaten den Frieden auf Zypern bringen und „diplomatische Spiele“ beenden soll.17 2.3. Politische Reaktionen Die Öffnung des Strandabschnitts und der Besuch Erdoğans in Varosha lösten international ein unterschiedliches Echo aus: Tatar begrüßt die Öffnung des Strandes von Varosha und erklärte im Zusammenhang mit dem Besuch Erdoğans, dass bald auch der übrige Teil Varoshas öffnen werde.18 13 BBC, 8. Oktober 2020, „Varosha: Turkey reopens deserted Cyprus resort but tourists will wait“, https://www.bbc.com/news/world-europe-54465684. 14 Focus vom 16. November 2020, „‘Nie dagewesene Provokation‘: Erdogans Besuch in der Geisterstadt wird zum Eklat“, https://www.focus.de/politik/ausland/konflikt-spitzt-sich-zu-picknick-mit-politischer-sprengkrafterdogan -besucht-geisterstadt-in-nordzypern_id_12663716.html. 15 The Guardian vom 9. Oktober 2020, “Cyprus asks UN to step in as beach in north is opened after 46 years” https://www.theguardian.com/world/2020/oct/09/terrible-day-anger-as-pictures-show-varosha-beach-in-cyprusopening -after-46-years. 16 Cyprus Mail, 9. Oktober 2020, „More than 2.000 visit varosha beach“, https://cyprusmail .com/2020/10/09/more-than-2000-visit-varosha-beach-with-photos/. 17 Hürriyet Daily News, 15. November 2020, „Erdoğan vows two-state solution to Cyprus problem“, https://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-vows-two-state-solution-to-cyprus-problem-160067. 18 Hürriyet Daily News vom 16. November 2020, “Erdogan calls on Greek Cypriots to claim their properties in Varosha”, https://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-calls-on-greek-cypriots-to-apply-to-a-panel-to-claimtheir -properties-in-varosha-160092. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 7 Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu betonte, dass die Ermöglichung des Zugangs der öffentlichen Straßen in Varosha vorteilhaft für die Normalisierung des Lebens auf Zypern sei.19 Demgegenüber bezeichnet der Präsident der Republik Zypern, Nicos Anastasiades, das Vorgehen als eine „nie dagewesene Provokation“.20 Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bedauerte in einer Stellungnahme die Öffnung des Strandes von Varosha, befürchtet zunehmende Spannungen in der Region und rief zur sofortigen Revidierung der Maßnahmen auf.21 Das Auswärtige Amt hat an die Dialogbereitschaft aller Beteiligten appelliert und die Türkei aufgerufen , von „einseitigen Provokationen“ abzusehen.22 3. Völkerrechtliche Bewertung 3.1. Gegenstand der Untersuchung und Gang der Erörterung Die Öffnung und mögliche (Neu-)Besiedlung der ehemaligen Touristenhochburg Varosha mit mutmaßlich aus Nordzypern und der Türkei kommenden Zuzüglern wirft aus Sicht des Völkerrechts sowohl statusrechtliche als auch eigentumsrechtliche Fragen auf.23 Statusrechtlich geht es um den durch Resolutionen des VN-Sicherheitsrats vorgezeichneten status quo der Stadt Varosha, deren Öffnung und mögliche (Neu-)Besiedlung am Maßstab der einschlägigen Resolutionen und Erklärungen zu überprüfen ist. Dabei ist vornehmlich zu klären, ob und inwieweit diese Resolutionen völkerrechtlich verbindlich sind. 19 TRT Deutsch, 9. Oktober 2020, „Mittelmeer-Konflikt: Gespräch zwischen Cavasoğlu und Dendias“, https://www.trtdeutsch.com/news-europa/mittelmeer-konflikt-gesprach-zwischen-cavusoglu-und-dendias- 3101669. 20 Pressemitteilung des Präsidenten der Republik Zypern vom 14. November 2020, online abrufbar auf der Homepage des „Press and Information Office“ des zyprischen Innenministeriums, https://www.pio.gov.cy/en/pressreleases -article.html?id=16840#flat. 21 European Union External Action Service, 15. November 2020, “Varosha: Statement by the High Representative Josep Borrell vom 15. November 2020” https://eeas.europa.eu/headquarters/headquartershomepage /88731/varosha-statement-high-representative-josep-borrell_en. 22 Regierungspressekonferenz vom 16. November 2020 zum „Besuch des türkischen Präsidenten in Varosha (Nordzypern)“, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/regierungspressekonferenz/2417396#content_3. 23 Vgl. insoweit näher Achilleas Demetriades, „Varosha: The legal aspect of the Turkish move“, Cyprus Mail vom 14. Oktober 2020, https://cyprus-mail.com/2020/10/14/varosha-the-legal-aspect-of-the-turkish-move/. Ferhat Küçük, „Why TRNC legally right in property debate in reopened Varosha“, Daily Sabah vom 21. Oktober 2020, https://www.dailysabah.com/opinion/op-ed/why-trnc-legally-right-in-property-debate-in-reopenedvarosha . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 8 Eigentumsrechtlich geht es um Ansprüche, Entschädigungen bzw. um Restitution der ehemals griechisch-zyprischen Bewohner und Hotelbesitzer in Varosha, die im Zuge der türkischen Invasion in Nordzypern 1974 in den Süden Zyperns vertrieben wurden. Politisch in Rede stehen aber auch Ansprüche der türkisch-zyprischen Gemeinschaft. So berufen sich die Türkei und die TRNZ zur Rechtfertigung der Öffnung und Besiedlung Varoshas auf eine – offenbar bis in die Zeit des osmanischen Reiches zurückgehende – Alteigentümerschaft an Immobilien in Varosha, die von der türkisch-nordzyprischen Gemeinschaft (insbesondere von türkisch-muslimischen Stiftungen auf Zypern) beansprucht wird.24 Der türkische Staatspräsident äußerte sich dazu in einer Pressemitteilung vom 26. Oktober 2020: “As a person who was personally involved in the talks and negotiations then, it is not possible to digest the injustice done to the Northern Cyprus. Now, we have to take the matters into our own hands. (…) The true owners of this place is actually well-known and now, this place is waiting for the day it will meet with its true owners.”25 In einer Pressemitteilung des Außenministers der Türkischen Republik Nordzypern (TRNZ) vom 11. Oktober 2020 heißt es: “The ongoing work related to the decision of our Government regarding the closed area of Maraş (Varosha) are being undertaken […] with due consideration of the rights of the Evkaf [26] and former inhabitants of the said area.” Obwohl die statusrechtlichen und eigentumsrechtlichen Fragen juristisch eigentlich voneinander zu trennen sind, werden sie in der politischen Diskussion, vor allem seitens der Türkei, offenbar bewusst miteinander vermischt bzw. geradezu gegeneinander „ausgespielt“. So merkte etwa der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Hami Aksoy, in einer Pressemitteilung vom 16. November 2020 an: „UN Security Council resolutions do not prevail over property rights. Likewise, UN Security Council resolutions are not above the will of the people.”27 24 Vgl. dazu Zypern Times vom 3. März 2011, „Geisterstadt Famagusta in Zypern: Maraş – Varosha – Varosia“, https://www.zypern.news/9888/famagusta-varosha-varosia-maras/. 25 „President Erdoğan visits Closed Maraş in the TRNC“, 15. November 2020, Website des türkischen Staatspräsidenten , https://www.tccb.gov.tr/en/news/542/122829/president-erdogan-visits-closed-maras-in-the-trnc. 26 Das Ministerium für Evkaf (türkisch: Evkaf-ı Hümâyun Nezâreti) war ein Ministerium des Osmanischen Reiches, zuständig u.a. für die Liegenschaftsverwaltung von sog. awqaf (evkaf) – nach islamischem Recht eine besondere Form des Immobiliareigentums juristischer Personen (z.B. einer gemeinnützigen religiösen Stiftung), das zu wohltätigen Zwecken gespendet wurde. 27 “Statement of the Spokesperson of Ministry of Foreign Affairs, Mr. Hami Aksoy, in Response to a Question Regarding the EU High Representative Joseph Borrell’s Statement on the Cyprus Issue”, 16. November 2020, Website des türkischen Außenministeriums, http://www.mfa.gov.tr/sc_-112_-ab-yuksek-temsilcisinin-kibrismeselesine -iliskin-aciklamasi-hk-sc.en.mfa. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 9 Nach Lesart des türkischen Außenministeriums sollen offenbar eigentumsrechtliche Ansprüche eine mögliche Verletzung statusrechtlicher Positionen rechtfertigen können. Es wäre nicht das erste Mal, dass Staaten zwecks Revidierung bzw. Relativierung einer bestimmten statusrechtlichen Situation (Grenzregime, Internationalisierung etc.) im politischen Diskurs die Historie „bemühen“ und dabei auf – vermeintliche – „historische“ Ansprüche zurückgreifen. Eigentumsrechtliche Streitigkeiten im Kontext des Zypernkonflikts sind insb. im Rahmen von Individual- und Staatenbeschwerden vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) verhandelt worden28 und werden mit Blick auf die causa „Varosha“ möglicherweise wieder zyprische, türkische und/oder internationale Gerichte beschäftigen. Die vorliegende Ausarbeitung soll sich dagegen mit den eigentumsrechtlichen Fragen nicht weiter befassen. Im Fokus der Untersuchung steht allein der völkerrechtliche status quo der Stadt Varosha. Dabei soll im Ergebnis geprüft werden, ob und inwieweit eine Öffnung der Stadt Varosha gegen Völkerrecht verstößt. Unerlässlich in diesem Zusammenhang erscheint eine rechtliche Auseinandersetzung mit den Steuerungswirkungen von völkerrechtlichem „soft law“. Der Fall „Varosha“ veranschaulicht dabei beispielhaft die Funktionsweise von bindendem und nicht bindendem Völkerrecht im Spannungsfeld zwischen politischem Anspruch und rechtlichen Möglichkeiten. Zunächst werden die einschlägigen internationalen Resolutionen zur Nordzypernfrage mit Varosha-Bezug analysiert (dazu 3.2.) und die rechtlichen Einlassungen der betroffenen Staatenvertreter gewürdigt (dazu 3.3.). Eingehend erörtert wird sodann die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit von VN-Resolutionen (dazu 3.4.) sowie deren Relevanz und Steuerungswirkung im Völkerrecht (dazu 3.5.). Eine darüber hinausgehende rechtliche Auseinandersetzung mit dem Zypernkonflikt erfolgt dagegen nicht. 3.2. Internationale Entschließungen zu Varosha 3.2.1. Resolutionen des VN-Sicherheitsrats In der Resolution 550 (1984) vom 11. Mai 198429 betrachtet der VN-Sicherheitsrat Versuche, in Varosha andere Personen als seine (ehemaligen) Einwohner anzusiedeln, als inakzeptabel und fordert die Überstellung dieses Gebiets unter die Verwaltung der Vereinten Nationen (vgl. Nr. 5 des operativen Teils der Resolution): 28 Vgl. etwa EGMR Urteil vom 23. März 1995, Loizidou gegen die Türkei. 29 S/RES/550 (1984), abrufbar unter: https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C- 8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/Cyprus%20SRES550.pdf. Der Resolutionstext wurde mit 13 Ja-Stimmen, einer Gegenstimme (Pakistan) und einer Enthaltung (USA) angenommen. Weder Zypern noch die Türkei waren damals Mitglieder des Sicherheitsrats. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 10 “Considers attempts to settle any part of Varosha by people other than its inhabitants as inadmissible and calls for the transfer of that area to the administration of the United Nations”. Zur „Öffnung“ des Strandabschnitts von Varosha äußert sich die Resolution nicht. Der weite Begriff der „attempts“ deutet jedoch darauf hin, dass nicht allein die (Neu-)Besiedlung Varoshas, sondern auch bestimmte Aktionen, die eine solche Ansiedlung im Vorfeld vorbereiten bzw. ermöglichen, von der Resolution umfasst sein könnten. Weitgehend offen bleibt auch der Begriff „inhabitants“. Gemeint sind offenbar die im Jahre 1974 vertriebenen griechisch-zyprischen Bewohner, doch bietet diese unbestimmte – vielleicht sogar missverständliche – Formulierung im Resolutionstext durchaus Raum für eine Debatte der Türkei über Ansprüche türkisch-zyprischer Alteigentümer (s.o. 3.1.). In der Resolution 789 (1992) vom 25. November 199230 „drängt der Sicherheitsrat alle Beteiligten , dass im Hinblick auf die Durchführung der Resolution 550 (1984), die derzeit der Kontrolle der UN-Friedenstruppe unterstehende Zone auf Varosha ausgedehnt wird“ (vgl. Nr. 8c des operativen Teils der Resolution): “Urges all concerned (…) that the area at present under the control of the United Nations Peace Keeping Force in Cyprus be extended to include Varosha”. In seiner jüngsten Resolution 2537 (2020) vom 28. Juli 202031 nimmt der Sicherheitsrat auf die vorhergehenden Resolutionen Bezug (vgl. Nr. 13 des operativen Teils der Resolution): “(…) recalls the status of Varosha as set out in relevant resolutions, including resolutions 550 (1984) and 789 (1992), and reaffirms that UNFICYP’s freedom of movement should be respected.” 3.2.2. Erklärungen des Präsidenten des Sicherheitsrats Der Präsident des VN-Sicherheitsrats bestätigte in der (Vorsitz-)Erklärung (sog. Presidential Statement) vom 9. Oktober 202032 den Status Varoshas und forderte, dass keine Maßnahmen ergriffen werden dürfen, die nicht im Einklang mit den einschlägigen Sicherheitsrats- Resolutionen stehen, auf welche die Erklärung Bezug nimmt. In diesem Zusammenhang bedauert 30 S/RES/789 (1992), abrufbar unter: http://unscr.com/en/resolutions/doc/789, dt. Fassung abrufbar unter https://www.un.org/depts/german/sr/sr_92/s-inf-48.pdf. Die Resolution wurde einstimmig verabschiedet. Weder Zypern noch die Türkei waren damals Mitglieder des Sicherheitsrats. 31 S/RES/2537 (2020), abrufbar unter: http://unscr.com/en/resolutions/doc/2537. Die Resolution wurde einstimmig verabschiedet. Deutschland war 2020 Mitglied des Sicherheitsrats, nicht aber Zypern oder die Türkei. 32 S/PRST/2020/9, Statement by the President of the Security Council, https://undocs.org/s/prst/2020/9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 11 der Sicherheitsrat die Ankündigung Ankaras vom 6. Oktober 2020, den Strandabschnitt in Varosha zu öffnen und fordert die Rückgängigmachung dieser Aktion. “The Security Council reaffirms the status of Varosha as set out in previous United Nations Security Council resolutions, including resolution 550 (1984) and resolution 789 (1992). The Security Council reiterates that no actions should be carried out in relation to Varosha that are not in accordance with those resolution. The Security Council expresses its deep concern regarding the announcement in Ankara on 6 October to open the coastline of Varosha and calls for the reversal of this course of action, and for the avoidance of any unilateral actions that could raise tensions on the island. The Security Council stresses the importance of full respect and implementation of its resolutions. The Security Council reaffirms its commitment to an enduring, comprehensive and just settlement in accordance with the wishes of the Cypriot people, and based on a bicommunal , bizonal federation with political equality, as set out in relevant Security Council resolutions . In this regard, the Security Council calls on the Cypriot sides and the Guarantor Powers to engage in dialogue constructively and with a sense of urgency following the electoral process in the Turkish Cypriot community.” (…) 3.2.3. Resolution des Europäischen Parlaments Auch das Europäische Parlament (EP) nimmt in der Resolution vom 26. November 2020 zu den Vorfällen in Varosha Stellung.33 In der Resolution, die auch auf Formulierungen des Sicherheitsrats zurückgreift, heißt es: 1. „[Das EP] verurteilt das rechtswidrige Vorgehen der Türkei in Varosia, insbesondere die teilweise „Öffnung“ der Stadt; betont, dass die Schaffung weiterer vollendeter Tatsachen das gegenseitige Vertrauen und die Aussichten auf eine umfassende Regelung der Zypernfrage untergräbt, indem sie die Lage vor Ort zum Schlechteren verändert, die Spaltung verschärft und die dauerhafte Teilung Zyperns zementiert; warnt vor jeder Änderung des Status quo in Varosia, die gegen die vorgenannten Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen verstoßen würde. 33 Europäisches Parlament, „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 26. November 2020 zu der Eskalation der Spannungen in Varosia nach dem illegalen Vorgehen der Türkei und zur dringend notwendigen Wiederaufnahme der Gespräche (2020/2844 (RSP)“, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020- 0332_EN.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 12 2. [Das EP] fordert die türkische Regierung nachdrücklich auf, diese Entscheidung rückgängig zu machen und im Einklang mit der jüngsten Forderung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen jede einseitige Aktion zu unterlassen, die weitere Spannungen auf der Insel hervorrufen könnte; fordert die Türkei auf, ihre Truppen aus Zypern abzuziehen, das Gebiet von Varosia im Einklang mit der Resolution 550 (1984) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen seinen rechtmäßigen Einwohnern unter der vorübergehenden Verwaltung der Vereinten Nationen zu übergeben und von jeglichen Maßnahmen abzusehen, die das demografische Gleichgewicht auf der Insel durch eine Politik der illegalen Ansiedlung verändern; betont, dass nach der Regelung der Zypernfrage der Besitzstand der EU auf der gesamten Insel umgesetzt werden muss. 3. [Das EP] ist fest davon überzeugt, dass eine dauerhafte Lösung des Konflikts nur durch Dialog, Diplomatie und Verhandlungen, die von gutem Willen geprägt sind, und im Einklang mit dem Völkerrecht erreicht werden kann. 10. [Das EP] unterstreicht seine Unterstützung für die territoriale Unversehrtheit Zyperns und fordert die EU-Mitgliedstaaten auf, sich jedem Versuch von Drittländern zu widersetzen , auf der Insel Zypern einen anderen Staat als die Republik Zypern anzuerkennen. 11. [Das EP] bedauert die Äußerungen des türkischen Präsidenten während seines Besuchs in Varosia vom 15. November 2020, in denen Ankaras „Fahrplan“ für eine illegale Besiedlung der abgesperrten Stadt und seine Unterstützung einer dauerhaften Teilung Zyperns in eklatanter Weise offenkundig wurden.“ 3.3. Rechtliche Einlassungen der Vereinten Nationen und von Staatenvertreter/innen Das Büro des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, António Guterres, äußerte sich am 6. Oktober 2020 zu den Vorfällen in Varosha: “The Secretary-General is concerned by the announcement made today on the opening of the beach/coastline of Varosha. He recalls that the position of the United Nations on Varosha remains unchanged and is guided by relevant Security Council resolutions. The Secretary-General stresses the need to avoid any unilateral actions that could trigger tensions on the island and undermine the return to dialogue or the future success of talks. He calls on all parties to engage in dialogue in order to resolve their differences, and reiterates his readiness to bring the parties together.”34 34 SG/SM/20315, “Concerned by Planned Opening of Varosha Coastline, Secretary-General Stresses Need to Avoid Unilateral Actions That Could Trigger Tensions”, https://www.un.org/press/en/2020/sgsm20315.doc.htm. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 13 Vertreter der vom Zypernkonflikt betroffenen Staaten – also die Republik Zypern, die TRNZ, die Türkei und Griechenland – haben sich zur Öffnung Varoshas (auch) in rechtlicher Hinsicht positioniert. Dabei haben sie durchweg auf die einschlägigen Sicherheitsrats-Resolutionen Bezug genommen, deren Bindungswirkung aber unterschiedlich beurteilt wird. Der Präsident der Republik Zypern, Nicos Anastasiades, machte in einer schriftlichen Erklärung vom 8. Oktober 2020 deutlich: The decision by Turkey and the occupation regime to extend part of the fenced in city for use [...] is an illegal and clear violation of international law and […] totally antithetical to UN Security Council resolutions 550 and 789.35 Am 19. November 2020 äußerte sich der griechische Außenminister, Nikos Dendias, im Rat der EU-Außenminister wie folgt: “This action constitutes an insult to all Cypriots, Greek-Cypriots and Turkish-Cypriots, and violates blatantly the Resolutions of the UN Security Council […]“.36 Auch die griechische Präsidentin, Katerina Sakellaropoulou, spricht angesichts der Öffnung des Strandabschnitts in Varosha von einem illegalen Vorgehen der Türkei und von Verstößen gegen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates.37 Der Sprecher des türkischen Außenministeriums, Hami Aksoy, äußerte sich am 27. November 2020: „We totally reject the non-binding recommendatory resolution adopted by the European Parliament (EP) at the Plenary Session on 26 November 2020 regarding Turkey and the Turkish Republic of Northern Cyprus (TRNC). The resolution, which was undoubtedly dictated by the Greek Cypriot Administration, revealed once again the extent the EP was prejudiced and disconnected from the realities on the Cyprus issue. […] We invite the EP and the EU to face the realities on the Cyprus Island, to take into account the existence of the Turkish Cypriot people and to fulfill the commitments made by the EU to the Turkish Cypriots in April 2004.” 35 “Announcement by the Presidency of the Republic on the presence of the President of Turkey at the celebrations of the 37th anniversary of the declaration of the illegal regime in Turkish occupied Cyprus and the fenced city of Ammochostos”, 14. Nov. 2020, https://www.pio.gov.cy/en/press-releases-article.html?id=16840#flat. 36 Parikiaki weekly Cyprus Newspaper vom 20. November 2020, http://www.parikiaki.com/2020/11/erdogansvisit -in-varosha-is-an-insult-to-all-cypriots-dendias-says-at-the-eu-foreign-affairs-council/. 37 Greek City Times, 11. Oktober 2020, „Greek President: The consequences for Turkey if it continues illegal actions are clear”, https://greekcitytimes.com/2020/10/11/greek-president-the-consequences-for-turkey-if-itcontinues -illegal-actions-are-clear/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 14 In einer Pressemitteilung des Außenministers der Türkischen Republik Nordzypern (TRNZ) vom 11. Oktober 2020 heißt es: “The ongoing work related to the decision of our Government regarding the closed area of Maraş (Varosha) are being undertaken within the framework of international law. The Greek Cypriot administration of Southern Cyprus is continuing its efforts to maintain the status quo, deemed unacceptable by all relevant parties […]. In this regard, the UN Security Council, which made a statement recapping resolutions that are not binding in any way, has been put in a position serving the status quo […]. The work coordinated by our Ministry in line with the decision of our Government will continue decisively in line with international law, taking into consideration the rights of former inhabitants of the closed area of Maraş.”38 In der – bislang erst ansatzweise erkennbaren – völkerrechtlichen Diskussion39 wird u.a. darauf hingewiesen, dass bereits die Öffnung des Strandabschnitts für Touristen Fakten schaffe, die eine weitere türkisch-nordzyprische Besiedlung der „Geisterstadt“ Varosha zwangsläufig nach sich ziehen werde (Einrichtung von touristischer Infrastruktur wie Souvenirläden, Restaurants, WC, Strandliegenvermietung, Badeaufsicht etc.). Eine Verletzung des seit 1974 hinsichtlich der Stadt Varosha bestehenden status quo lasse sich also bereits zum jetzigen Zeitpunkt feststellen. 3.4. Völkerrechtliche Verbindlichkeit von VN-Resolutionen und Vorsitzerklärungen Zunächst soll die völkerrechtliche Verbindlichkeit der Sicherheitsrats-Resolutionen geklärt werden. Gem. Art. 25 VN-Charta „kommen die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen überein, die Beschlüsse des Sicherheitsrats im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und durchzuführen.“ Die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) ist aber – anders als die Republik Zypern – kein Mitgliedstaat der VN. Jedoch richtet der VN-Sicherheitsrat seine Resolutionen in der Praxis auch an Staaten, die nicht der VN angehören (z.B. Kosovo, Taiwan, Palästina), ferner an sog. de facto- Regime (z.B. Transnistrische Moldauische Republik, Republik Abchasien, Demokratische Arabische Republik Sahara, TRNZ) sowie an internationale Terrornetzwerke („Islamischer Staat“, Al Quaida) oder aufständische Rebellengruppen, d.h. an nicht-staatliche Akteure. Ob letztere 38 „Regarding Greek Cypriot leadership’s attempt to maintain the status quo”, 11. Oktober 2020, Website des Außenministeriums der TRNZ, https://mfa.gov.ct.tr/regarding-greek-cypriot-leaderships-attempt-to-maintainthe -status-quo-2/. 39 Vgl. etwa Achilleas Demetriades, „Varosha: The legal aspect of the Turkish move“, Cyprus Mail vom 14. Oktober 2020, https://cyprus-mail.com/2020/10/14/varosha-the-legal-aspect-of-the-turkish-move/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 15 durch Resolutionen des Sicherheitsrats völkerrechtlich verpflichtet werden können, ist in der völkerrechtlichen Diskussion nicht unumstritten.40 Die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) kann – auch wenn sie kein international anerkannter Staat und kein Mitglied der VN ist – also sehr wohl Adressat einer VN-Resolution sein. Heute kann man von der Anwendbarkeit der grundlegenden Normen des Völkerrechts auf de-facto- Regime ausgehen, denen auch eine beschränkte Völkerrechtssubjektivität zugesprochen wird.41 Die VN-Charta unterscheidet hinsichtlich des Handelns des Sicherheitsrates zwischen (verbindlichen ) Beschlüssen (decisions, z.B. in Art. 25, 27 sowie 41, 44 und 48 der VN-Charta) und (unverbindlichen ) Empfehlungen (recommendations, z.B. in Art. 4 bis 6 sowie Art. 36 Abs. 3, 38, 39 und 40 der VN-Charta). Die Handlungsform einer „Resolution“ oder eines „Presidential Statement “ wird in der VN-Charta dagegen gar nicht erwähnt. Der Sicherheitsrat kann im Rahmen seiner Aufgaben gegenüber allen VN-Mitgliedstaaten verbindliche Beschlüsse fassen und tut dies regelmäßig auch bei Resolutionen, die nach Kapitel VII der VN-Charta verabschiedet werden („acting under Chapter VII“).42 Insoweit gilt die „Faustformel “, wonach Kapitel VII-Resolutionen des Sicherheitsrats rechtlich bindend sind, während die nach Kapitel VI der VN-Charta ergangenen Resolutionen, welche die friedliche Beilegung von Konflikten betreffen, regelmäßig unverbindlich sind. Die „Faustformel“ vermag die rechtliche Realität indes nicht immer ganz präzise abzubilden. Die systematische Stellung von Art. 25 VN-Charta innerhalb der Charta ergibt nämlich, dass sich die dort niedergelegte Befugnis des Sicherheitsrates nicht auf Beschlüsse nach Kapitel VII der Charta beschränkt.43 Somit können sowohl Kapitel VII-Resolutionen als auch Kapitel VI-Resolutionen des Sicherheitsrats verbindliche Wirkung entfalten.44 40 Peters, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Eds.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. I, Oxford 2012, Art. 25 Rdnr. 34 ff. 41 Hans-Joachim Heintze, „Sind De-facto-Regime an die Menschenrechte gebunden?“, in: OSZE-Jahrbuch 2009, Baden-Baden 2010, S. 297-306, https://ifsh.de/file-CORE/documents/jahrbuch/09/Heintze-dt.pdf. Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, Kap. 1 Rdnr. 120. 42 Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Rdnr. 90. Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 155. Eine Zusammenstellung zum Thema „Kapitel-VII-Resolutionen” findet sich im Security Council Special Research Report 2008 No. 1 (23. Juni 2008), “Security Council Action under Chapter VII: Myths and Realities”, https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/Research%20Report%20Chapter%20VII%2023%20June%2008.pdf. 43 So auch Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 155. Vgl. auch Gutachten der Wiss. Dienste, „Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit von VN-Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung”, WD 2 - 3000 - 097/20 vom 17. November 2020, S. 5. 44 Peters, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Eds.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. I, Oxford 2012, Art. 25 Rdnr. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 16 Ob eine Resolution des Sicherheitsrats einen verbindlichen Beschluss oder nur eine unverbindliche Empfehlung enthält, muss durch Auslegung der sprachlichen Fassung unter Berücksichtigung des gesamten Kontextes ermittelt werden.45 Im Namibia-Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) heißt es dazu: “The language of a resolution of the Security Council should be carefully analyzed before a conclusion can be made as to its binding effect. In view of the nature of the powers under Article 25, the question whether they have been in fact exercised is to be determined in each case, having regard to the terms of the resolution to be interpreted, the discussions leading to it, the Charter provisions invoked and, in general, all circumstances that might assist in determining the legal consequences of the resolution of the Security Council”.46 Zu berücksichtigen ist vor allem die unterschiedliche Terminologie im Resolutionstext, wonach der Sicherheitsrat – wenn er denn rechtlich verbindlich handeln will – „beschließt“ oder „die Mitgliedstaaten ermächtigt“. In den meisten Fällen handelt der Sicherheitsrat rechtlich unverbindlich : Dann „fordert er dazu auf“, „bekräftigt seine Entschlossenheit“, „ersucht“ oder „missbilligt “. Die Formulierungen im Resolutionstext sind stets bewusst gewählt und nicht selten das Ergebnis schwieriger und zäher politischer Verhandlungen und Auseinandersetzungen im Sicherheitsrat. Dies gilt auch für die Phase des Ost-West-Konflikts, der die ersten Resolutionen zur Zypernfrage entstammen. Die für eine völkerrechtliche Beurteilung der Öffnung Varoshas relevanten Resolutionen 550 (1983) und 789 (1992) sind nicht nach Kapitel VII der Charta, sondern unter Kapitel VI („Friedliche Streitbeilegung“) verabschiedet worden. Die Resolutionen dienen der friedlichen Lösung des Zypernkonflikts; sie enthalten in erster Linie Appelle und Aufforderungen an die betreffenden Staaten, auf die Herstellung eines bestimmten Zustandes hinzuwirken. Der Sicherheitsrat verwendet dabei bewusst Formulierungen (calls on, considers, urges), die typischerweise nicht im Kontext verbindlicher Beschlüsse, sondern unverbindlicher Empfehlungen verwendet werden. Allein in Resolution 550 (1983), die mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung verabschiedet wurde, qualifiziert der Sicherheitsrat die (Neu-)Besiedlung Varoshas mit Personen, die dort vorher nicht gewohnt haben, als „inadmissible“ (dt.: inakzeptabel). 45 Peters, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Eds.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. I, Oxford 2012, Art. 25 Rdnr. 8 f. Vgl. näher Ulrike Brandl, „Auslegung von Resolutionen des Sicherheitsrats: Einheitliche völkerrechtliche Regelungen oder ´pick and choose` aus möglichen Auslegungsregeln?“, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 2015, S. 279-321. Michael C. Wood, “The Interpretation of Security Council Resolutions”, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law (1998) 2, S. 73-95, https://www.mpil.de/files/pdf2/mpunyb_wood_2.pdf. 46 „Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) Notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970)”, Advisory Opinion, 1971 I.C.J. 16 (June 21), Rdnr. 114, abrufbar unter: http://www.worldcourts.com/icj/eng/decisions/1971.06.21_namibia.htm. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 17 Der Sicherheitsrat vermeidet dabei eine – z.B. mit Blick auf die Gründung der TRNZ verwendete – Formulierung wie „legally invalid“ oder eine Qualifizierung als „contrary to international law“ und fällt damit im Ergebnis kein eindeutig rechtliches Werturteil. Als Ergebnis einer rechtlichen Auslegung der einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen bleibt festzuhalten, dass diese keine völkerrechtlich verbindlichen Beschlüsse (decisions), sondern – mit Blick auf die Handlungsformen des Sicherheitsrates technisch gesprochen – bloße Empfehlungen (recommendations) enthalten. Die Varosha-Resolutionen sind daher kein bindendes Völkerrecht, sondern bloß völkerrechtliches „soft law“ – ähnlich wie die Resolutionen der VN- Generalversammlung oder das unverbindliche Sekundärrecht anderer internationaler Organisationen .47 Die Bezeichnung „soft law“ ist im Grunde irreführend, da es sich hierbei im eigentlichen Sinne nicht um Recht handelt, sondern vielmehr um (politische) Erklärungen, bei denen sich die beteiligten Akteure eben gerade nicht rechtlich binden wollten.48 Die Trennlinie zwischen „Recht“ und „Nichtrecht“ verläuft auch im Völkerrecht definitorisch scharf – tertium non datur. Eine „stärkere“ oder „schwächere“ Geltung von Normen („weiches Recht“) kann es dabei rechtslogisch nicht geben.49 Das schließt nicht aus, dass die Grenzen zwischen einem den Rechtsbindungswillen indizierenden Staatenverhalten und der Annahme einer nichtrechtlichen Norm zuweilen fließend sind.50 Die Nichteinhaltung von „soft law“ stellt folglich keine Völkerrechtsverletzung dar51 und auch eine Durchsetzung von „soft law“ vor Gericht ist in der Regel nicht möglich. Die Missachtung bzw. Nichtbeachtung von „soft law“ als eine „Verletzung des Völkerrechts“ zu kritisieren, wäre daher juristisch unzutreffend. Eine „Verletzung“ von Resolutionen insinuiert nämlich streng genommen deren rechtliche Verbindlichkeit, da nur geltendes Recht „verletzt“ werden kann. 47 Vgl. insoweit Ruffert/Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, München: Beck, 2. Aufl. 2015, § 3 Rdnr. 94. Rudolf Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, München: Beck, 6. Auflage 2013, § 22 II 2c. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 20, Rn. 20 ff. m.w.N. 48 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, § 3 Rdnr. 278. 49 So Graf Vitzthum, in: Ders. (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin: Gruyter, 7. Aufl. 2016, 1. Abschnitt Rdnr. 152. Während der Corona-Pandemie ist dies u.a. an der Diskussion über eine sog. „Maskenpflicht“ (bloße Empfehlung , „dringende“ Empfehlung oder bußgeldbewährte Rechtspflicht?) deutlich geworden. 50 Philip Kunig, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin: Gruyter, 7. Aufl. 2016, 2. Abschnitt Rdnr. 170. 51 Theodor Schweisfurt, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, Kap. 1 Rdnr. 42 (S. 224). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 18 „Soft law“ kann sich durch einen entsprechenden Wandel der Rechtsüberzeugung (opinio iuris) aller Beteiligten zu Gewohnheitsrecht verdichten (also gewissermaßen „verrechtlichen“).52 Eine (gewohnheitsrechtliche) Bindungswirkung der Varosha-Resolutionen entsteht aber nicht dadurch, dass sich der Sicherheitsrat – wie etwa zuletzt in seiner Resolution 2537 (2020) – einfach nur auf die vorangegangenen Resolutionen beruft und seine bis heute unerfüllt gebliebenen politischen Forderungen, quasi im rhetorischen Stil eines ceterum censeo, stetig wiederholt bzw. mit der Angelegenheit befasst zu bleiben gedenkt („remain seized of the matter“). Vielmehr steht zu befürchten, dass die Türkei und die TRNZ – vielleicht auch gerade wegen der fehlenden völkerrechtlichen Bindung der Resolutionen – die Auffassung vertreten, dass sie den Forderungen des Sicherheitsrates nicht nachzukommen brauchen. Zum völkerrechtlichen „soft law“ gehört auch die Erklärung des Präsidenten des VN- Sicherheitsrats vom 9. Oktober 2020. Bei einem Presidential Statement handelt es sich um eine vom VN-Sicherheitsrat im Konsens angenommene, aber unverbindliche Vorsitzerklärung, die völkerrechtlich regelmäßig keinen verbindlichen Beschluss i.S.v. Art. 25 VN-Charta beinhaltet.53 Auch die Vorsitzerklärung vom 9. Oktober 2020 verwendet (nur) die unverwechselbare Terminologie von Empfehlungen (… the Security Council „reaffirms”, “reiterates that no actions should be carried out”, “expresses its deep concern”, “calls for”, “stresses the importance”). Rechtlich unverbindlich bleiben schließlich Entschließungen des Europäischen Parlaments. Im Übrigen sind die Türkei und die TRNZ keine EU-Mitgliedstaaten und daher an Feststellungen des Europäischen Parlaments rechtlich nicht gebunden. 3.5. Völkerrechtliche Relevanz von „soft law“-Instrumenten Die Türkische Republik Nordzypern zieht sich argumentativ auf die rechtliche Unverbindlichkeit der einschlägigen Resolutionen zurück, wenn es die Öffnung Varoshas als völkerrechtskonforme Handlung bezeichnet. Gleichwohl erweisen sich die Sicherheitsrats-Resolutionen 550 (1984) und 789 (1992) sowie die Vorsitzerklärung ihres Präsidenten vom 9. Oktober 2020 auch in ihrer Eigenschaft als „soft law“ als rechtlich nicht irrelevant. 52 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, § 3 Rdnr. 278. 53 Stefan Talmon, “The Statements by the President of the Security Council”, in: Chinese Journal of International Law 2003, S. 419-465 (449 ff.), https://academic.oup.com/chinesejil/article/2/2/419/371587. Talmon weist auch darauf hin (S. 450), dass bindende Entscheidungen (decisions) des Sicherheitsrats i.S.v. Art. 25 VN-Charta nicht notwendigerweise in Form einer Resolution ergehen müssen, sondern ggf. auch in der eines Presidential Statements. Auch hier komme es auf eine Auslegung an, die mangels offizieller Informationen über das Zustandekommen freilich noch schwieriger ausfällt als bei einer Resolution. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 19 Empirisch lässt sich nachweisen, dass auch unverbindliches „Sekundärrecht“ internationaler Organisationen von den Staaten durchaus beachtet wird.54 Dadurch sind „soft law“-Instrumente (wie z.B. Absichtserklärungen, Empfehlungen, Deklarationen, Leitlinien, best practices u.ä.) prinzipiell geeignet, das Verhalten von Staaten in ähnlicher Weise zu steuern wie völkerrechtlich verbindliche Normen. In der Praxis erweist sich die Steuerungskraft von „soft law“ dem „harten“ Recht oftmals als ebenbürtig.55 Im Grunde hat gerade die faktische steuernde Relevanz nichtrechtlicher Handlungsformen den unverbindlichen „Empfehlungen“ internationaler Gremien ihre ambivalente – weil in sich widersprüchliche – Bezeichnung als „soft law“ eingebracht.56 Im Folgenden soll die Bedeutung, Funktionsweise und Steuerungswirkung von „soft law“ anhand konkreter Beispiele und Phänomene beleuchtet und erörtert werden. 3.5.1. Repräsentation Die rechtlich unverbindlichen Erklärungen und Resolutionen internationaler Organisationen – insbesondere solche der VN-Generalversammlung – reflektieren in hohem Maße die (politischen ) Überzeugungen der internationalen Staatengemeinschaft. Auch wenn der Sicherheitsrat mit seinen 15 Mitgliedern im Vergleich zur VN-Generalversammlung, in der jeder der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen57 vertreten ist, nur einen ausgesprochen kleinen Teil der Staatengemeinschaft repräsentiert, so erkennen doch die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in Art. 24 Abs. 1 der VN-Charta an, „dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung [seiner] Pflichten in ihrem Namen handelt“. Aus diesen Gründen liefern die Erklärungen und Resolutionen des Sicherheitsrats – ungeachtet ihrer Rechtsverbindlichkeit – Belege für die Überzeugungen nicht nur der Sicherheitsratsmitglieder, sondern – indirekt – der gesamten Staatengemeinschaft .58 Dies gilt sowohl für die Varosha-Resolutionen des Sicherheitsrats, von denen zumindest zwei im Konsens und eine weitere Resolution mit nur einer Gegenstimme angenommen wurden, als auch für die im Konsens verabschiedete Vorsitzerklärung des Präsidenten des Sicherheitsrats vom 9. Oktober 2020. 54 So Theodor Schweisfurt, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, Kap. 1 Rdnr. 42 (S. 224). 55 Christian Tietje / Karsten Nowrot, „Parlamentarische Steuerung und Kontrolle des internationalen Regierungshandelns und der Außenpolitik“ in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht. Handbuch, Baden- Baden: Nomos 2016, § 45 Rdnr. 48. 56 Dörr, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck 7. Aufl. 2018, § 21 Rdnr. 9. 57 Eine Auflistung findet sich unter: https://unric.org/de/mitgliedstaaten/. 58 So auch Brian D. Lepard, Customary International Law, Cambridge Univ. Press 2010, S. 182. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 20 3.5.2. Funktionsweisen Vorsitzerklärungen (sog. Presidential Statements) spielen in der Praxis des Sicherheitsrats eine nicht unerhebliche Rolle59 – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie dem Sicherheitsrat unterhalb der Resolutionsebene erlauben, eine deutlichere Sprache zu sprechen, als er dies im Rahmen einer verbindlichen Resolution vielleicht tun würde. Der Bonner Völkerrechtler Talmon fasst die unterschiedlichen Funktionen des Presidential Statement wie folgt zusammen: “Presidential statements may also be used [to complement or to implement a resolution], to reaffirm a resolution, to remind States of their obligations to comply with the provisions of a resolution, to document the non-compliance of a State with a resolution […].”60 So verhält es sich auch mit der Vorsitzerklärung vom 9. Oktober 2020: Die Erklärung ergänzt, konkretisiert und implementiert die Resolutionen 550 (1984) und 789 (1992) des Sicherheitsrats mit Blick auf ein konkretes Ereignis (Öffnung Varoshas), sie erinnert die Staaten ferner an bestimmte Verpflichtungen („no actions should be carried out in relation to Varosha“), sie benennt zumindest indirekt einen bestimmten VN-Mitgliedstaat als Verantwortlichen („regarding the announcment in Ankara“, also die Türkei) und dokumentiert ein konkretes Verhalten („open the coastline of Varosaha“), das mit der Resolution nicht in Einklang steht. Interessant ist überdies, dass die Vorsitzerklärung vom 9. Oktober 2020 an einer bedeutsamen Stelle, wo der Sicherheitsrat „full respect and implementation of its resolutions“ einfordert, sich unmissverständlich an die Terminologie des Art. 25 Charta anlehnt, in dem es heißt „[Members agree] to accept and carry out the decisions of the Security Council.“ Der erwähnte Passus in der Vorsitzerklärung macht aus einer unverbindlichen Resolution – wie etwa der Resolution 550 (1984) – noch keine verbindliche; dies könnte formal nur im Wege einer neuen Resolution geschehen. Gleichwohl verleiht die Vorsitzerklärung den genannten Resolutionen besonderen Nachdruck. Dabei bedient sich der Sicherheitsrat augenscheinlich der schärfsten „soft law“-Formulierungen unterhalb der Schwelle zur völkerrechtlichen Verbindlichkeit. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Vorsitzerklärung die politischen Forderungen der Staatengemeinschaft (Rückgängigmachen der Öffnung Varoshas und Wiederherstellung des status quo), wie sie in den Resolutionen 550 (1984) und 189 (1992) in völkerrechtlich unverbindlicher Form formuliert worden sind, konkretisiert, verdichtet und rechtlich zuspitzt. 59 Vgl. zur Praxis des VN-Sicherheitsrats: Repertoire of the Practice of the Security Council, Supplement 2018, UN Doc. ST/PSCA/1/Add.21, https://www.un.org/securitycouncil/sites/www.un.org.securitycouncil/files/final_webfile.pdf#page=217. Provisional Rules of Procedure and related procedural developments, https://www.un.org/securitycouncil/sites/www.un.org.securitycouncil/files/22nd_supp_part_ii_advance.pdf#p age=92. 60 Stefan Talmon, “The Statements by the President of the Security Council”, in: Chinese Journal of International Law 2003, S. 419-465 (455). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 21 3.5.3. Interpretationsleitlinie für bindende Völkerrechtsquellen Resolutionen von Organen internationaler Organisationen können auslegungsleitende Bedeutung für bindendes Völkerrecht erlangen („Auslegungsleitlinie“) und dadurch selbst in einen „Verrechtlichungsprozess“ eintreten.61 Soweit „soft law“ als Indikator für Rechtsüberzeugungen dient, lässt sich der rechtliche Gehalt gleichwohl nur andernorts – nämlich im Rahmen anerkannter völkerrechtlicher Rechtsquellen (Verträge, Gewohnheitsrecht) – finden.62 Eine eigenständige Rechtsquelle begründet das „soft law“ nämlich nicht. Will man die unverbindlichen Varosha-Resolutionen des Sicherheitsrats aus den Jahren 1984 und 1992 mit einem völkerrechtlich verbindlichen Vertragstext, den auch die Türkei unterzeichnet hat, in Verbindung bringen, muss man wohl bis in die Zeit der Unabhängigkeit Zyperns von der britischen Herrschaft (diese dauerte von 1878-1960) zurückgehen. Die Gründung der Republik Zypern im Jahre 1960 wurde rechtlich flankiert durch den am 16. August 1960 in Kraft getretenen Londoner Garantie-Vertrag,63 in welchen die Garantiemächte Großbritannien, die Türkei und Griechenland (allesamt NATO-Partner) rechtliche Garantien für die Souveränität und Einheit Zyperns abgaben. Art. II Abs. 2 des bis heute rechtsverbindlichen64 – wenn auch zunehmend in die Kritik geratenen65 – Garantie-Vertrages lautet: “Greece, Turkey and the United Kingdom likewise undertake to prohibit, so far as concerns them, any activity aimed at promoting, directly or indirectly, [the] partition of the Island.”66 61 So Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, § 3 Rdnr. 279. 62 Graf Vitzthum, in: Ders. (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin: Gruyter, 7. Aufl. 2016, 1. Kap. Rdnr. 152. 63 Treaty of Guarantee of United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, Greece and Turkey and Cyprus. Signed at Nicosia, on 16 August 1960, UNTS Vol. 382, No. 5475 S. 4, abrufbar unter: https://peacemaker.un.org/sites/peacemaker.un.org/files/CY%20GR%20TR_600816_Treaty%20of%20Guarante e.pdf; deutsche Fassung des „Vertrags betreffend die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit, territorialen Unversehrtheit und Sicherheit sowie der staatsrechtlichen Verhältnisse der Republik Zypern“ (Garantievertrag) abrufbar unter: http://www.verfassungen.eu/cy/garantievertrag60.htm. 64 Dem steht nicht entgehen, dass die Türkei den Garantie-Vertrag seit der Intervention in Nordzypern 1974 faktisch nicht mehr beachtet hat. Nichtsdestotrotz ist der Garantie-Vertrag gem. Art. 181 der Verfassung der Republik Zyperns (vom 6. April 1960) Bestandteil der zyprischen Verfassung. 65 Vgl. Costas M. Constantinou, „Revising the Treaty of Guarantee for a Cyprus Settlement”, Blog of the European Journal of International Law, 21. Juni 2017, https://www.ejiltalk.org/revising-the-treaty-of-guarantee-for-acyprus -settlement/. 66 Dt. Übers.: Griechenland, die Türkei und das Vereinigte Königreich verbieten, soweit es ihnen notwendig erscheint , jede Aktivität im Zusammenhang mit (…) der Teilung der Insel. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 22 Der Sicherheitsrat hatte bereits in seiner Resolution 541 (1983) vom 18. November 198367 explizit auf diesen Vertrag Bezug genommen und die Erklärung zur Gründung der TRNZ als “unvereinbar ” mit dem Vertrag bezeichnet: “Considering that this declaration is incompatible with the 1960 Treaty concerning the establishment of the Republic of Cyprus and the 1960 Treaty of Guarantee.” Diesem Beispiel folgend könnte man auch alle nachfolgenden (unverbindlichen) Sicherheitsrats- Resolutionen zur Zypernfrage bzw. zu Varosha als „Konkretisierung des Garantie-Vertrages“ ansehen. Vor allem die Resolution 550 (1984) eignet sich zur Auslegung und Konkretisierung der doch eher vage formulierten staatlichen Verpflichtungen aus Art. 2 des Garantie-Vertrages („prohibiting any activity aimed at promoting indirectly the partition of Cyprus“). Die Öffnung und türkisch-zyprische Besiedlung Varoshas erscheint dann in diesem Sinne als ein unzulässiger Schritt in Richtung einer Zementierung der Teilung Zyperns. Die Varosha-Resolutionen entfalten bei dieser Konstruktion lediglich eine konkretisierende Wirkung. Eine formale „Inkorporation“ der Resolutionen in das Vertragswerk findet dagegen nicht statt. Die Resolutionen selbst werden auf diesem Wege zwar nicht rechtlich verbindlich – wohl aber rechtlich erheblich (also gleichsam „verrechtlicht“). Die Resolutionen spiegeln dabei einen internationalen Staatenkonsens zur „Varosha-Frage“ wieder (Einbeziehung Varoshas unter die militärische Kontrolle von UNFICYP) und machen letztlich deutlich, was im Lichte des Garantie-Vertrages als nicht mehr mit dem Vertrag vereinbar bzw. als nicht mehr akzeptabel hinnehmbar ist (Veränderung des status quo durch eine türkisch-zyprische Besiedlung Varoshas). 3.6. Öffnung Varoshas als Völkerrechtsverstoß Die rechtliche Verknüpfung von „soft law“ mit bindendem Völkerrecht führt zu dem – nur scheinbar widersprüchlichen – Ergebnis, dass die Varosha-Resolutionen des Sicherheitsrates zwar formal gesehen (und für sich genommen) rechtlich unverbindlich sind, gleichwohl aber rechtlich nicht ignoriert werden dürfen. Der von der TRNZ vertretene Standpunkt, wonach die Öffnung Varoshas im Einklang mit dem Völkerrecht erfolgt ist, weil die einschlägigen VN-Resolutionen nicht bindend seien, vermag daher nicht zu verfangen. Umgekehrt lässt sich – jedenfalls nicht ohne weiteres – behaupten, die Türkei habe mit der Öffnung des Strandes von Varosha die einschlägigen Sicherheitsratsresolutionen verletzt und dadurch einen Völkerrechtsverstoß begangen. Vielmehr muss die Nichtbeachtung der Varosha- Resolutionen in einen größeren Kontext eingeordnet werden. 67 S/RES/541 (1983), http://unscr.com/en/resolutions/doc/541. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 096/20 Seite 23 So erscheint die Missachtung nicht-bindender Resolutionen erst in Verbindung mit dem Londoner Garantie-Vertrag von 1960, der nach wie vor Geltung beanspruchen kann, rechtlich erheblich . Die Varosha-Resolutionen konkretisieren dabei, was im Lichte dieses Vertrages als nicht mehr akzeptabel bzw. als nicht mehr vertragskonform hinnehmbar ist. In diesem Sinne beschreitet die Öffnung und Besiedlung Varoshas durch die Türkei einen gänzlich anderen, nämlich einen nur an türkischen Interessen orientierten Weg – im Gegensatz zu der vom Sicherheitsrat vorgezeichneten und immer wieder angemahnten Unterstellung der Stadt unter die internationale Verwaltung der VN. Zudem erschwert die Öffnung Varoshas, indem sie einseitig Fakten schafft, die vom Garantie-Vertrag intendierte68 und durch die Vorsitzerklärung des Sicherheitsrats 69 sowie vom VN-Generalsekretär70 erneut bekräftigte Lösung der Zypernfrage durch Verhandlungen im Rahmen des VN-geführten Friedensprozess. *** 68 Artikel IV Abs. 1 des Londoner Garantie-Vertrags von 1960 lautet: "Im Falle der Verletzung von Bestimmungen dieses Vertrags werden Griechenland, die Türkei und das Vereinigte Königreich sich gemeinsam in Bezug auf die Verletzungen (…) beraten. 69 In der Vorsitzerklärung vom 9. Oktober 2020 heißt es: „[…] the Security Council calls on the Cypriot sides and the Guarantor Powers to engage in dialogue […].“ 70 In seiner Erklärung vom 6. Oktober 2020 unterstrich der VN-Generalsekretär “the need to avoid any unilateral actions that could trigger tensions on the island and undermine the return to dialogue or the future success of talks.”