© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 094/17 Verbot der Vollverschleierung in Staaten der EU Sachstand Wissenschaftliche Dienste Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 2 Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Verbot der Vollverschleierung in Staaten der EU Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 094/17 Abschluss der Arbeit: 16. Oktober 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 1.1. Koranische Basis der Verhüllung der Frau 5 1.2. Lokale Formen islamischer Verhüllung der Frau 6 1.3. Kritik an Verhüllung und Vollverschleierung 6 1.4. Differenzierung zwischen Vollverschleierungs- und Kopftuchverboten 8 2. Gesetzliche Regelungen zum Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit in Staaten der EU 10 2.1. Deutschland 10 2.1.1. Bundesebene 10 2.1.2. Länderebene 11 2.2. Frankreich 12 2.3. Belgien 13 2.4. Niederlande 14 2.5. Österreich 14 2.6. Lettland 15 2.7. Bulgarien 15 2.8. Italien 16 2.9. Dänemark 16 2.10. Spanien 16 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 4 1. Einführung In einigen Mitgliedstaaten der EU bestehen Gesetze bezüglich der Vollverschleierung von Frauen. Dieser Sachstand soll diese Regelungen darstellen. Die Vollverschleierung von Frauen ist in der Regel religiös, d.h. islamisch, begründet. Die entsprechenden Gesetze bzw. Vorhaben werden in deutschsprachigen Ländern daher im öffentlichen Diskurs oft als „Burka-Verbot“ bezeichnet. Betrachtet man die politischen Debatten, die zur Verabschiedung entsprechender Gesetze führen, ist offenkundig, dass sie sich, wenn auch nicht im Wortlaut, politisch gegen die islamische Vollverschleierung von Frauen und nicht gegen jede mögliche Form der Verschleierung, Verhüllung oder Vermummung des Gesichtes wenden. Zumindest in Österreich, in dem ein solches Verbot am 1. Oktober 2017 in Kraft trat, wird aber faktisch jede Art der vollständigen Vermummung, sei sie religiös oder nicht, geahndet.1 Da der Impetus zur Verabschiedung solcher Gesetze erkennbar aus der Debatte um die Rolle des Islam in europäischen Gesellschaften, die Stellung der Frau im Islam und das Verhältnis von strengem Islam zu den gesellschaftspolitischen Normen europäischer Gesellschaften stammt, wird in diesem Sachstand zunächst kurz dargelegt, wie sich in einigen islamischen Vorstellungen die Vollverschleierung begründet und welche verschiedenen Formen sie annimmt. Des Weiteren werden die unterschiedlichen Argumentationslinien der Kritik an der Verhüllung bzw. Vollverschleierung angerissen. Schließlich wird die Rechtslage in den Ländern der Europäischen Union, in denen ein Verbot der Vollverschleierung besteht oder geplant ist, dargestellt. Nicht dargelegt werden nationale Gesetze, die die Vermummung bei Demonstrationen o.ä. verbieten . Zwar können diese im Einzelfall auch auf religiös begründete Verschleierungen angewandt werden, sie unterscheiden sich aber in ihrer legislativen Genese und ihrem Zweck deutlich von sogenannten „Burka-Verboten“. Ebenso werden „Kopftuchverbote“ bzw. Verbote der Zurschaustellung religiöser Symbole in bestimmten Kontexten, etwa in Schulen und Amtsräumen, nur kurz im Falle der Darstellung der Rechtslage in Deutschland gestreift. Die Differenzierung zwischen solchen Verboten und dem in diesem Sachstand behandelten Verboten der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit ist wird in Abschnitt 1.4 erläutert. Es gilt dabei zu beachten, dass ein Verbot des Kopftuches bzw. der Zurschaustellung religiöser Symbole zwangsläufig auch ein Verbot der religiös begründeten Vollverschleierung ist. 1 Dieser „Hai“ muss wegen Burka-Verbots Strafe zahlen, www.welt.de am 9. Oktober 2017, https://www.welt.de/vermischtes/article169447504/Dieser-Hai-muss-wegen-Burka-Verbots-Strafe-zahlen.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 5 1.1. Koranische Basis der Verhüllung der Frau Das Gebot der Verhüllung (hijab) für die muslimische Frau wird theologisch vor allem mit drei Textpassagen des Koran begründet: Sure 24:31 sowie Sure 33:532 und 59.3 In Sure 24:31 heißt es: „Und sag zu den gläubigen Frauen, sie sollen ihre Blicke senken und ihre Scham hüten, ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer dem, was (sonst) sichtbar ist. Und sie sollen ihre Kopftücher [himār] auf den Brustschlitz ihres Gewandes schlagen und ihren Schmuck nicht offen zeigen, außer ihren Ehegatten, ihren Vätern, den Vätern ihrer Ehegatten, ihren Söhnen, den Söhnen ihrer Ehegatten, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und den Söhnen ihrer Schwestern, ihren Frauen, denen, die ihre rechte Hand besitzt [Sklavinnen], den männlichen Gefolgsleuten, die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben [Eunuchen], den Kindern, die auf die Blöße der Frauen (noch) nicht aufmerksam geworden sind.“4 Obwohl sich der Vers dezidiert auf den in koranischer Zeit üblichen langen Schlitz der arabischen Frauenkleidung, der das Dekolleté der Frau enthüllte, bezieht, geht die große Mehrheit der islamischen Religionsgelehrten davon aus, dass der genannte himār (eine Art Umhang, mit dem Schultern und Kopf, ggf. auch das Gesicht, bedeckt werden können) auch das Haupthaar der Frau bedecken sollte, da dieses unter den im zweiten Teil des Verses erwähnten Schmuck der Frau falle.5 Einige islamische Rechtsschulen verstehen darunter (bzw. unter der zu Anfang des Verses erwähnten Scham bzw. Blöße) auch das Gesicht der Frau. Inwieweit diese Vorschrift, deren Zweck es ist, die äußerliche Sittsamkeit der muslimischen Frauen sicherzustellen, an lokale Sitten oder im Laufe der Zeit angepasst werden kann, d.h. ob die Sure nicht nur Zweck, sondern auch Mittel genau vorschreibt, ist in der islamischen Theologie umstritten. 2 „Und wenn ihr sie [die Frauen des Propheten Muhammad] um irgend etwas zu bitten habt, so bittet sie hinter einem Vorhang [das hier verwendete arabische Wort ist hijab]. Das ist reiner für eure Herzen und ihre Herzen.“ Sure Al-Ahzab, http://islam.de/1382.php (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). 3 „O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen. So ist es am ehesten gewährleistet, dass sie (dann) erkannt und nicht belästigt werden.“ Sure Al-Ahzab (Anm. 2). 4 An-Nur - The Light - Das Licht - 24:31 (Sure: 24, Vers: 31), Übersetzung Bubenheim-Elyas, http://koran .wwpa.eu/page/vers-24-31 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 5 Alle Ausführungen dieses Absatzes: Rotraud Wielandt, Die Vorschrift des Kopftuchtragens für die muslimische Frau: Grundlagen und aktueller innerislamischer Diskussionsstand, Deutsche Islam Konferenz, ohne Datum, http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/Sonstiges/Wielandt_Kopftuch .pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Rotraut Wielandt zieht nach Betrachtung historischer und aktueller islamisch-theologischer Diskussionen das Fazit, dass die Bedeckung des Kopfes keine explizit durch den Koran begründete Vorschrift sei, gibt aber auch an, dass die große Mehrheit islamischer Religionsgelehrter dies anders sieht. Zum selben Schluss wie Rotraut Wielandt kommt auch Christoph Luxenberg: Der Koran zum "islamischen Kopftuch" in: Konfliktstoff Kopftuch, Bundeszentrale für politische Bildung, 28. Juni 2005, http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/konfliktstoff-kopftuch/63293/christoph-luxenberg (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 6 1.2. Lokale Formen islamischer Verhüllung der Frau Die sich im Laufe der Zeit herausgebildete Mehrheitsmeinung der islamischen Theologie, dass erwachsene Frauen ihren Kopf zu bedecken haben, führte zu unterschiedlichen lokalen Formen der Verhüllung. Weltweit am verbreitetsten ist das Kopftuch, welches wiederum je nach Rechtsschule Kopf und Hals unterschiedlich stark bedeckt. Daneben gibt es hauptsächlich zwei Arten der Vollverschleierung: der Gesichtsschleier (niqāb) in Kombination mit lokal unterschiedlichen Gewändern (Tschador (Iran), Jilbab (Arabien), Çarşaf (Türkei), Parda (Indien) u.a.) und die in Afghanistan und Pakistan übliche Burka.6 Diese Gewänder verhüllen die gesamten Körperkonturen der Trägerin und lassen höchstens Hände und obere Gesichtspartie sichtbar, im Falle der Burka nicht einmal letztere. In diesem Sachstand geht es primär um diese Verbote dieser Formen der Vollverschleierung. Der vornehmlich türkischen Herkunft der meisten Muslime in Deutschland entsprechend, ist die Vollverschleierung hierzulande eher selten anzutreffen, wobei sich die Zahl der Frauen, die in Deutschland Vollverschleierung tragen, nicht konkret ermitteln lässt.7 Häufig handelt es sich um Touristinnen aus den Golfstaaten.8 1.3. Kritik an Verhüllung und Vollverschleierung Kritik an der Verhüllung der Frau (Vollverschleierung, aber zum Teil auch das Kopftuch betreffend ) gab und gibt es auch in der islamischen Welt (s. Rotraut Wielandt und Christoph Luxenberg ). Zumeist handelt es sich um theologische Argumentationen und unterschiedliche Interpretationen der betreffenden Suren und Hadithe. Im Diskurs in westlichen Ländern herrscht die feministische Kritik an der Verhüllung vor. In Deutschland ist z.B. die Feministin Alice Schwarzer eine der vehementesten Kritikerinnen von Kopftuch und Verschleierung: „Für sie ist der Schleier keine individuelle Modeentscheidung, es trägt nicht das eine Mädchen aus Spaß ein Kopftuch und das andere aus demselben Spaß lieber Rastalocken. Das Kopftuch ist wie auch die Burka ein politisches und religiöses Symbol. 6 Darshna Soni, From hijab to burqa – a guide to Muslim headwear, Channel 4 News am 22. Oktober 2013, https://www.channel4.com/news/from-hijab-to-burqa-a-guide-to-muslim-headwear (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 7 Julia Löffelholz, 300 - Angeblich tragen rund 300 Frauen in Deutschland eine Burka. Woher stammt eigentlich diese Zahl?, Die Zeit am 17. September 2016, http://www.zeit.de/2016/39/burka-traegerinnen-deutschland-300- muslime (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 8 „Kaum kommen die Sommermonate, nimmt die Zahl der Niqab-Trägerinnen in der bayerischen Landeshauptstadt deutlich zu - sie sind Gäste aus den Golfstaaten, die die saubere, sichere und züchtige, mit Sperrbezirk ausgestattete Landeshauptstadt schätzen und mit ihren goldenen Kreditkarten für hohe Umsätze in Hotels und Luxusboutiquen sorgen. Im Winter ist die Niqab dann wieder so gut wie aus dem Münchner Stadtbild verschwunden .“ Die meisten Frauen mit Niqab in Deutschland sind Touristinnen, Süddeutsche Zeitung am 13. September 2016, http://www.sueddeutsche.de/medien/tv-talk-bei-frank-plasberg-deutschland-das-ist-ja-apartheid -1.3158909-2 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 7 Beide Kleidungsstücke folgen einem Menschenbild, nach dem Frauen unrein und dem Mann nachgeordnet sind. Der Schleier hat den Sinn, die durch das bloße Frausein verlorene Würde wiederzuerlangen. Eine unverschleierte Frau ist deswegen immer würdelos. Die zunehmende Verschleierung der Frau in den islamischen Ländern, aber auch unter Migrantinnen in Europa, ist auch für uns ein beunruhigender Vorgang.“9 Auch zahlreiche andere Stimmen im Diskurs vertreten diese Position.10 Daneben gibt es auch die gesellschaftspolitische Argumentation, dass sich die Menschen in offenen , demokratischen Gesellschaften zwecks Kommunikation „ins Gesicht schauen“ können müssen .11 Das Zusammenleben in modernen Gesellschaften sei nur durch Kommunikation möglich. Die Verhüllung des Gesichtes verhindere Kommunikation und störe somit die Grundlagen einer auf freiem Diskurs beruhenden demokratischen Gesellschaft. Dies ist zumindest in Deutschland der in politischen Debatten zu etwaigen Gesetzesvorhaben vorherrschende Ansatz.12 Er ist außerdem jener, den die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) stützt. In den Fällen, in denen gegen ein Verbot der Vollverschleierung geklagt wurde (siehe dazu die Abschnitte 2.2 „Frankreich“ und 2.3 „Belgien“), schloss sich das jeweilige Gericht dieser Argumentation an. Es folgt dagegen nicht dem feministischen Ansatz: der Staat sei zwar verpflichtet, auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau hinzuwirken, könne aber allein zu diesem Zwecke nicht so stark in die Persönlichkeitsrechte eingreifen, wie ein Verbot der Vollverschleierung es tut. Darüber hinaus existiert das identitätspolitische, teils dezidiert islamkritische, Argument, dass „die Burka nicht hierher gehöre.“13 Außerdem gibt es insbesondere für die Verbote von Verhüllungen an Schulen, in Amtsräumen oder von Beamtinnen die Argumentation, dass der Staat religiös neutral aufzutreten habe. 9 Iris Radisch, Das Kopftuch ist keine Mode, Rezension von Alice Schwarzers Buch „Die große Verschleierung“, Die Zeit am 16. September 2010, http://www.zeit.de/2010/38/L-Schwarzer (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 10 So Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen): „Für mich bleibt die Vollverschleierung und insbesondere die Idee dahinter menschenunwürdig“, in: Stefan Stukenbrok, Diskussion: Welche Folgen würde ein Burkaverbot mit sich ziehen?, www.merkur.de am 5. Oktober 2017, https://www.merkur.de/ueber-uns/merkurblog/diskussionwelche -folgen-wuerde-ein-burkaverbot-mit-sich-ziehen-8741467.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 11 „Dass sich Menschen gegenseitig ins Gesicht sehen können, ist nicht nur aus Gründen der Identifizierbarkeit unverzichtbar. Es ist auch erste Voraussetzung für zivilisierte Kommunikation und damit für jeglichen demokratischen Diskurs.“ Richard Herzinger, Auch Deutschland sollte die Burka verbieten, Welt.de am 1. Juli 2010, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article129678384/Auch-Deutschland-sollte-die-Burka-verbieten.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 12 Das Gesetz, das in Baden-Württemberg die Verhüllung des Gesichtes an Schulen und in Ämtern verbietet, trägt z.B. den Namen „Gesetz zur Gewährleistung offener Kommunikation und Identifizierbarkeit.“ Der entsprechende Passus im Schulgesetz des Landes Niedersachsen lautet, dass Schüler „durch ihr Verhalten oder ihre Kleidung die Kommunikation mit den Beteiligten des Schullebens nicht in besonderer Weise erschweren dürfen .“ 13 „CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer verlangt ein Verbot von Gesichtsschleiern ähnlich wie in Österreich, Belgien und Frankreich auch hierzulande. „Ein Verbot ist möglich und notwendig. Das deutsche Verbötchen zur Vollverschleierung muss so wie in anderen Ländern Europas ausgeweitet werden“, sagte Scheuer der Passauer Neuen Presse. „Wir geben unsere Identität nicht auf, sondern sind bereit, dafür zu kämpfen. Die Burka gehört nicht zu Deutschland“, erklärte der CSU-Politiker.“ Stefan Stukenbrok (Anm. 10). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 8 Dieser Sachstand kann die Debatten über die Verhüllung, zumal in allen Ländern der Europäischen Union, nicht ausführlich darstellen. In Folge solcher Debatten wurden jedoch in einigen Ländern der EU teilweise oder vollständige Verbote der Vollverschleierung, zum Teil auch des Kopftuches, verabschiedet. Im Kapitel 2 wird die Rechtslage in den betreffenden Ländern kurz dargelegt. 1.4. Differenzierung zwischen Vollverschleierungs- und Kopftuchverboten In der öffentlichen Debatte, insbesondere im Kontext der feministischen Kritik an der Verhüllung von Frauen, werden Vollverschleierung und Kopftuch oft nicht klar unterschieden. Folgt man dem feministischen Kritikansatz, dass jede von einer Religion oder Ideologie verordnete Kleiderordnung nur für Frauen letztlich diskriminierend sei und die Würde und das Persönlichkeitsrecht der Frau verletze, ist es auch logisch, Kopftuch und Hijab gemeinsam zu betrachten . Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, ist dies jedoch nicht der Ansatz, den die europäische höchstrichterliche Rechtsprechung vertritt. Ihr zufolge ist ein Verbot von Verhüllungen zulässig, wenn der Staat dadurch die offene Kommunikation als Grundlage des Zusammenlebens von Bürgerinnen und Bürgern sicherstellen will. Ein Kopftuch lässt jedoch das Gesicht frei und ist daher dieser offenen Kommunikation nicht hinderlich. Es ist folglich allein ein Zeichen einer bestimmten religiösen und/oder kulturellen Zugehörigkeit. Im Rahmen des Gebotes der religiösen Neutralität des Staates kann es daher unter bestimmten Bedingungen untersagt werden: etwa bei Beamtinnen, Richterinnen, in Schulen und in anderen Kontexten, in denen die Zurschaustellung religiöser Symbole tatsächlich das Gebot der religiösen Neutralität des Staates verletzen könnte und in denen eine konkrete Gefährdung der Rechte Dritter oder Rechtsgüter von Verfassungsrang besteht. Speziell in Deutschland ist nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesverfassungsgerichtes ein Verbot religiöser Symbole an Schulen auf Grundlage eines Parlamentsgesetzes (nicht jedoch durch eine Verordnung des Dienstherrn) grundsätzlich zulässig, allerdings ist der Staat nicht von vorneherein dazu verpflichtet, sofern sich aus dem Nichtverbot keine konkreten Störungen des Schulfriedens und Konflikte ergeben.14 Kurz: Der Staat kann mit der Begründung, den Schulfrieden sicherzustellen, eine Zurschaustellung religiöser Symbole 14 BVerfGE 138, 296. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2015/01/ rs20150127_1bvr047110.html (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 9 verbieten, muss dies aber nicht tun.15 Dabei gelten wie bei jedem Grundrechtseingriff der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie das Gebot eines konkreten Zweckes. Grenzen der Glaubensund Gewissensfreiheit können sich nur aus der Verfassung selbst, konkret zum Schutz der Grundrechte Dritter oder zum Schutz anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Güter ergeben.16 Wenn sich z.B. konkret keine Anhaltspunkte für eine Störung des Schulfriedens durch die Zurschaustellung religiöser Symbole feststellen lassen, ist ein pauschales, rein präemptives Verbot nicht zulässig. Bloßes Unbehagen Dritter bzw. der Mehrheitsgesellschaft beim Anblick eines Kopftuches, eines Kruzifixes, einer Kippa o.ä. ist dabei keine Grundrechtsverletzung, die eine Einschränkung der Glaubensfreiheit rechtfertigte.17 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes gefährdet folglich das bloße Tragen eines Kopftuches durch eine Pädagogin weder das Neutralitätsgebot, noch das elterliche Erziehungsrecht noch die negative Glaubensfreiheit ihrer Schüler.18 Wenn dies schon für den Bereich der Schule gilt, dann folglich noch mehr für die Öffentlichkeit , in der das Tragen eines Kopftuches nicht verboten werden kann. Die bestehenden und von der europäischen Rechtsprechung bestätigten Vollverschleierungsverbote dagegen fußen auf einem anderen Ansatz. Sie sollen die offene Kommunikation und damit das Zusammenleben der Menschen sicherstellen. Niqab und Burka sind nicht nur bloße Zeichen eines bestimmten Glaubens, sondern verletzen nach Auffassung von EuGH und EGMR darüber hinaus das staatliche Ziel der Sicherstellung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieses basiert auf der offenen Kommunikation, d.h. auch Mimik, Augenkontakt usw. Folgt man der europäischen Rechtsprechung, kann der Staat die Verhüllung des Gesichtes in der Öffentlichkeit, also an allen Orten, an denen sich dieses gesellschaftliche Zusammenleben vollzieht, verbieten. Wie bei jedem europäischen höchstrichterlichen Urteil können nationale Verfassungen den 15 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. 6. 2008 – 2 C 22.07. Auszug aus dem Urteil: „Kleidungsstücke oder Symbole, die religiöse oder weltanschauliche Bekundungen ausdrücken, müssen Lehrkräften an öffentlichen Schulen nicht von Verfassungs wegen ohne Rücksicht auf die Folgen untersagt werden. Denn darin liegt für sich genommen noch keine Verletzung der Pflicht des Staates zur religiös-weltanschaulichen Neutralität, wie sie durch Art. 4 Abs. 1 und 22 GG, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 1, Art. 137 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung vorgegeben ist. Diese Neutralitätspflicht verlangt keine von jeglichen religiösen Symbolen und Bezügen freigehaltene Schule. (…) Der Staat kann sich darauf zurückziehen, tätig zu werden, wenn das Erscheinungsbild der Lehrkräfte im Einzelfall zu Konflikten mit Schülern oder deren Eltern führt (…)Wegen möglicher Konflikte mit widerstreitenden Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern vermittelt Art. 4 Abs. 1 GG verbeamteten Lehrkräften keinen Anspruch, ihre religiöse oder weltanschauliche Überzeugung durch entsprechende Kleidungsstücke oder Symbole im Bereich der öffentlichen Schule, insbesondere im Unterricht, zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr sind die für das Schulwesen zuständigen Landesgesetzgeber berechtigt, den sich aus möglichen Konflikten ergebenden Gefährdungen des Schulfriedens dadurch vorzubeugen, dass sie untersagen, religiös -weltanschaulich motivierte Kleidungsstücke oder Symbole in der Schule zu tragen.“ http://lexetius.com/2008,2555 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 16 Holger Greve, Paul Kortländer und Michael Schwarz, Das Gesetz zur bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung , NVwZ 2017, 992, https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata %5Czeits%5Cnvwz%5C2017%5Ccont%5Cnvwz.2017.992.1.htm (zuletzt abgerufen am 13. Oktober 2017). 17 Lothar Michael und Daniel Dunz, Burka im Gericht, DÖV 2017, S.125 ff., https://beck-online.beck.de/Dokument ?vpath=bibdata%2Fzeits%2Fdoev%2F2017%2Fcont%2Fdoev.2017.125.1.htm&pos=0&hlwords=on (zuletzt abgerufen am 13. Oktober 2017). 18 Greve, Kortländer, Schwarz (Anm. 16). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 10 Schutz der Grundrechte strikter handhaben; aus einer Zulässigkeit des Vollverschleierungsverbotes gemäß der „Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten “ (Europäische Menschenrechtskonvention) folgt daher nicht zwingend die Zulässigkeit gemäß dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Da es in Deutschland auf Bundesebene bislang kein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit gibt, kann nicht konstatiert werden, ob und ggf. wie sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes im Falle einer Klage gegen ein solches Verbot sich von der Rechtsprechung von EuGH und EGMR unterscheiden könnte. Gegen das teilweise Vollverschleierungsverbot des Freistaates Bayern (s. Abschnitt 2.1.2) wurde bislang keine Beschwerde erhoben. 2. Gesetzliche Regelungen zum Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit in Staaten der EU In den meisten Ländern der EU besteht kein generelles Verbot der Vollverschleierung. Bislang existieren landesweite Verbote der Vollverschleierung in Frankreich, Belgien, Lettland, Bulgarien und Österreich. In den Niederlanden, in der die Verschleierung bereits an bestimmten Orten verboten ist, liegt ein entsprechender Gesetzentwurf der Ersten Kammer der Generalstaaten zur Zustimmung vor. In Dänemark wird ein Verbot von einer Mehrheit der im Folketing vertretenen Fraktionen unterstützt; ein Gesetzentwurf liegt jedoch noch nicht vor. In Italien besteht schon lange ein generelles Vermummungsverbot. In Spanien wurde die Vollverschleierung von einigen Kommunen verboten, was das Verfassungsgericht jedoch als verfassungswidrig beurteilte . Im Folgenden wird die Rechtslage in Deutschland sowie den Staaten, in denen die Vollverschleierung verboten ist, dargestellt. 2.1. Deutschland In Deutschland gibt es weder auf Bundes- noch auf Länderebene ein umfassendes Verbot der Vollverschleierung. Seit 2017 existieren jedoch auf beiden Ebenen Teilverbote. In zahlreichen Bundesländern können Verschleierungen und Verhüllungen insbesondere im Kontext bestimmter beamten- und schulrechtlicher Regelungen verboten werden. 2.1.1. Bundesebene Am 15. Juni 2017 trat das am 8. Juni 2017 verabschiedete „Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ in Kraft.19 Es verbietet bei Ausübung des Dienstes, bei einer Tätigkeit mit unmittelbarem Dienstbezug , in Ausübung eines Amtes und Soldaten (auch während der Freizeit) an dienstlichen Orten das Gesicht zu verhüllen. Das Gesetz regelt auch die Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung oder beim Lichtbildabgleich. Mitglieder der Wahlorgane dürfen während der Ausübung ihres Amtes ihr Gesicht nicht verhüllen. 19 Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017, Teil I Nr. 36, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav? startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl117s1570.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27 bgbl117s1570.pdf%27%5D__1507711976177 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 11 Weigert sich ein Wähler bzw. eine Wählerin, durch Abnehmen einer Gesichtsverhüllung nach Aufforderung an der Identitätsfeststellung mitzuwirken, kann ihm bzw. ihr die Wahl verweigert werden. Das Gesetz verbietet jedoch nicht die Vollverschleierung in allen anderen Fällen, also z.B. das Tragen eines Niqabs auf der Straße. Es fußt laut im Entwurf genannten Ziel auf zwei Argumentationen: zum einen der Ermöglichung offener Kommunikation im Kontext staatlichen Handelns, zum anderen dem Gebot religiöser Neutralität des Staates.20 2.1.2. Länderebene Im Freistaat Bayern trat am 1. August 2017 ein teilweises Verbot der Vollverschleierung in Kraft.21 Gesichtsschleier sind für Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst, an Hochschulen und Schulen, in Kindergärten sowie in Wahllokalen verboten. Dabei können an Schulen und Hochschulen Ausnahmen „zur Vermeidung unbilliger Härten“ zugelassen werden.22 Gemeinden können zudem nach eigenem Ermessen Vollverschleierungen bei Vergnügungsveranstaltungen oder Massenansammlungen in Einzelfällen verbieten.23 Bereits zuvor existierten in Bayern und Niedersachsen beamten- bzw. schulrechtliche Regelungen , mit denen eine Vollverschleierung insbesondere an Gerichten und in Schulen verboten wird. Darüber hinaus gibt es in zahlreichen Bundesländern Regelungen, die es Lehrerinnen und Lehrern sowie z.T. Kindergartenpersonal untersagen, religiöse Symbole, d.h. auch Kopftuch und eben auch Niqab und Burka, zu tragen.24 Während dies in Berlin ausnahmslos gilt, sind die Regelungen anderer Bundesländer so gefasst, dass sie nur Situationen erfassen, in denen das betreffende Symbol - geeignet ist, den Schulfrieden und die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates zu gefährden (Bremen, Hessen, Saarland und Baden-Württemberg); - den Eindruck eines Auftretens gegen Menschenwürde, Gleichberechtigung, Freiheitsrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung erzeugen könnte (Baden- Württemberg und Nordrhein-Westfalen); - den Eindruck der Unvereinbarkeit der in der Landesverfassung vertretenen Zielen und Grundwerten der Bildung, einschließlich der christlich-abendländischen Wertevorstellungen , hervorrufen könnte (Bayern). 20 Entwurf eines Gesetzes zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung, BT.-Drs. Nr. 18/11180. 21 Gesetz über Verbote der Gesichtsverhüllung in Bayern vom 12. Juli 2017, https://www.verkuendung-bayern .de/gvbl/jahrgang:2017/heftnummer:12/seite:362 (zuletzt abgerufen am 13. Oktober 2017). 22 Gesetz über Verbote der Gesichtsverhüllung in Bayern §2 Abs. 1 c) und §3 Abs. 3 a). 23 Das Gesetz ist beschlossen: Eingeschränktes Burka-Verbot in Bayern, Merkur am 6. Juli 2017, https://www.merkur .de/bayern/eingeschraenktes-burka-verbot-in-bayern-8463751.html (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). 24 Alle Informationen dieses Abschnittes: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verbot der Vollverschleierung , Sachstand vom 27. Mai 2015, WD 3 – 3000 – 082/15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 12 2.2. Frankreich Das am 11. April 2011 in Kraft getretene Gesetz Nr. 2010-119225 verbietet umfassend die Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum. Es zielt laut Wortlaut darauf ab, die Identifikation einer Person zu ermöglichen. Vom Gesetz erfasst werden alle Kleidungsstücke, „die dazu bestimmt sind, das Gesicht zu verdecken.“26 Unter diese Definition fällt laut Art. 2.II keine Kleidung , die im „Zusammenhang mit Sport, Feierlichkeiten oder künstlerischen oder traditionellen Veranstaltungen getragen wird.“ Ein Verstoß gegen das Gesetz ist eine Ordnungswidrigkeit und wird mit einer Geldbuße von 150 Euro bestraft.27 Zusätzlich oder an Stelle der Geldbuße kann der Besuch eines Staatsbürgerschaftskurses angeordnet werden. Das Gesetz ergänzt darüber hinaus das Strafgesetzbuch: wer die Verhüllung durch Zwang oder Drohung herbeiführt, kann mit einem Jahr Gefängnis oder einer Geldstrafe von 30.000 Euro bestraft werden.28 Das französische Verbot ist von gesamteuropäischer Bedeutung, weil eine französische Bürgerin dagegen vor dem EGMR Beschwerde einlegte. In seinem Urteil vom 1. Juli 2014 stellte der Gerichtshof jedoch mit großer Mehrheit (fünfzehn zu zwei Richtern) fest, dass das Gesetz nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.29 Der EGMR kam zu dem Urteil, dass ein Vollverschleierungsverbot allein durch das Gebot der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht zu rechtfertigen sei. Auch das Gebot des Schutzes der Menschenwürde allein rechtfertige kein Verbot der Verschleierung in der Öffentlichkeit. Dahingegen vertrat der EGMR die Rechtsauffassung, dass das Gesetz zur Sicherstellung des Zusammenlebens in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zulässig sei. Der Gesetzgeber habe einen weiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung der Regelungen, die dieses Zusammenleben („vivre-ensemble“) sicherstellen sollen.30 25 LOI n° 2010-1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l'espace public (1), https://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000022911670&categorieLien=id (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 26 Art. 1 LOI n° 2010-1192. 27 Art. 3 LOI n° 2010-1192. 28 Art. 4 LOI n° 2010-1192. 29 EGMR, CASE OF S.A.S. v. FRANCE (Application no. 43835/11) – Judgment of 1st July 2014, http://hudoc .echr.coe.int/eng?i=001-145466 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 30 Frank Cranmer, Ban on covering face in public not a breach of ECHR: SAS v France, Law & Religion UK am 1. Juli 2014, http://www.lawandreligionuk.com/2014/07/01/ban-on-covering-face-in-public-not-a-breach-ofechr -sas-v-france/ (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 13 Die nach dem Terroranschlag in Cannes vom 14. Juli 2016 von einigen südfranzösischen Kommunen erlassenen Verbote des sogenannten Burkini, eines modernen31, den ganzen Körper verhüllenden islamischen Badeanzuges, wurde dagegen auf nationaler Ebene vom obersten Verwaltungsgericht Frankreichs kassiert.32 Nach dessen Ansicht stellte das Verbot einen unzulässigen Eingriff in die Freiheitsrechte der Trägerinnen dar. Die entsprechenden Regelungen waren explizit damit begründet worden, dass die islamische Badekleidung im Zusammenhang zum islamistischen Terrorismus stehe und ihr Anblick bei anderen Badegästen Unbehagen auslöse.33 2.3. Belgien Belgien war im April 2010 zwar das erste EU-Land, das ein Gesetz zum Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit verabschiedete; in Kraft trat das Gesetz allerdings erst am 23. Juli 2011 und damit nach dem französischen. Verstöße gegen das Gesetz, das die Verhüllung des Gesichtes im gesamten öffentlich zugänglichen Raum (mit Ausnahme von islamischen Gotteshäusern) verbietet, können mit einer Geldstrafe von 137 Euro oder sieben Tagen Haft geahndet werden.34 Das Gesetz beruft sich auf die sicherheitspolitische Notwendigkeit, die Identität einer Person feststellen zu können.35 Auch das belgische Gesetz wurde vom EGMR am 11. Juli 2017 für vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt.36 Bereits am 14. März 2017 hatte der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass betriebsinterne Regelungen, die es Arbeitnehmern untersagen, am Arbeitsplatz keinerlei religiöse, philosophische oder weltanschauliche Symbole, d.h. auch das Kopftuch, zur Schau zu stellen, rechtmäßig bzw. keine unzulässige Diskriminierung seien.37 31 Modern hier im Sinne von nichttraditionell. Der schariakonforme Badeanzug wurde im Jahre 2000 erfunden. Siehe Caroline Hawley, Warm welcome for 'Sharia swimsuit', BBC am 5. September 2000, http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/910379.stm (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 32 Französisches Gericht kippt Burkini-Verbot, Süddeutsche Zeitung vom 26. August 2016, http://www.sueddeutsche .de/politik/eil-franzoesisches-gericht-kippt-burkini-verbot-1.3137600 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 33 Interdiction du burkini : Lionnel Luca voulait «stopper tout prosélytisme», Le Parisien am 16. August 2016, http://www.leparisien.fr/politique/j-ai-voulu-stopper-tout-proselytisme-16-08-2016-6043893.php (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 34 Belgian ban on full veils comes into force, BBC am 23. Juli 2011, http://www.bbc.com/news/world-europe- 14261921 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 35 BBC (Anm. 34). 36 Belkacemi and Oussar v Belgium and Dakir v Belgium: the Court again addresses the full-face veil, but it does not move away from its restrictive approach, Strasbourg Observer am 25. Juli 2017, https://strasbourgobservers .com/2017/07/25/belkacemi-and-oussar-v-belgium-and-dakir-v-belgium-the-court-again-addresses-the-fullface -veil-but-it-does-not-move-away-from-its-restrictive-approach/ (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 37 Gerichtshof der Europäischen Union, Eine unternehmensinterne Regel, die das sichtbare Tragen jedes politischen , philosophischen oder religiösen Zeichens verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung dar, Pressemitteilung vom 14. März 2017, https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2017- 03/cp170030de.pdf (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017), Vgl. auch Michael und Dunz (Anm. 17). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 14 2.4. Niederlande Laut niederländischem Parlament bestehen in den Niederlanden seit 2015 landesweite Regelungen , die eine Gesichtsverschleierung an bestimmten Orten wie Schulen, Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln und in Amtsräumen verbieten. Ein vollständiges Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit besteht noch nicht. Allerdings wurde bereits im Februar 2012 von der niederländischen Regierung unter Ministerpräsident Rutte (Kabinett Rutte II) ein Gesetzentwurf für das Verbot der Vollverschleierung vorgelegt. Erst am 29. November 2016 stimmte die Zweite Kammer der Generalstaaten diesem Entwurf zu. Eine Zustimmung der Ersten Kammer der Generalstaaten liegt noch nicht vor. Der Gesetzentwurf verbietet die Vollverschleierung in staatlichen Gebäuden, im öffentlichen Nahverkehr, in Schulen und in Krankenhäusern und sieht bei Verstößen eine Geldbuße von bis zu 400 Euro vor. 2.5. Österreich Seit dem 1. Oktober 2017 ist in Österreich das „Bundesgesetz zur Integration rechtmäßig in Österreich aufhältiger Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft (Integrationsgesetz – IntG)“ in Kraft. Das sogenannte Integrationspaket enthält neben einer Reihe von Maßnahmen, die die Integration von Ausländern erleichtern sollen, auch das „Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit (Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz – AGesVG).“ Das AGesVG legt fest: „Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen.“38 Ziele des Gesetzes sind „die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich.“39 Obwohl sich das Gesetz dadurch, dass es Teil des sogenannten Integrationspaketes ist, offenkundig an Trägerinnen von Niqab oder Burka wendet und in der politischen Debatte auch so verstanden wird, gilt es für jede Art der Vollverhüllung, sofern sie nicht unter die Ausnahmeregelungen von Art. 2 (2) fällt („…im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung“).40 Dies führt dazu, dass auch dezidiert nicht religiöse Formen der „Verschleierung“, z.B. Maskottchenkostüme bei Werbeveranstaltungen, von der Polizei sanktioniert werden (siehe das Beispiel des „Hais“ unter Anm. 1). 38 § 2 (1) AGesVG, https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/I/I_01586/fname_624800.pdf (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 39 § 1 AGesVG. 40 § 2 (2) AGesVG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 15 2.6. Lettland Lettlands Parlament verabschiedete im April 2016 ein Vollverschleierungsverbot. Ein Jahr zuvor war ein entsprechender Gesetzentwurf noch im Parlament gescheitert. Die vorangehende politische Debatte konzentrierte sich auf die Themen kulturelle Identität, Sicherheit, Terrorismus und Islamismus. Justizminister Dzintars Rasnacs begründete das Gesetz explizit mit dem Schutz der lettischen Kultur, der Aspekt der Sicherheit komme erst an zweiter Stelle.41 Laut zahlreichen Presseberichten betrifft das Gesetz drei Frauen.42 Die Recherche zu diesem Sachstand ergab nicht, ob bislang gegen das Gesetz geklagt wurde. 2.7. Bulgarien Am 30. September 2016 verabschiedete das bulgarische Parlament ein Gesetz, dass das Tragen von Niqab und Burka in der Öffentlichkeit verbietet. Wiederholte Zuwiderhandlungen werden mit einer (im europäischen Vergleich und gemessen an den Lebenshaltungskosten in Bulgarien äußerst hohen) Strafe von bis zu 770 Euro bestraft. Das Gesetz wurde im bulgarischen Parlament sehr kontrovers debattiert.43 Anders als in Frankreich oder Belgien wurde in der politischen Debatte um das ursprünglich von der Koalition „Patriotische Front“ eingebrachte Gesetz der Berichterstattung zufolge hauptsächlich auf die Themen Terrorismus und Islamismus rekurriert. Das Gesetz selbst verbietet jedoch grundsätzlich das Tragen von das Gesicht verhüllender Kleidung. Bulgariens Bevölkerung besteht zu zehn Prozent aus Muslimen verschiedener Ethnien, die dort seit Jahrhunderten ansässig sind, wobei die Vollverschleierung bei ihnen nicht üblich ist. Einigen Pressereportagen zufolge ist das Gesetz auch Reaktion auf die Konversion einer kleineren Gruppe lokal ansässiger Roma zu einer salafistischen Strömung des Islam.44 Ob gegen das Gesetz bereits geklagt wurde, ließ sich im Rahmen der Recherchen nicht feststellen. 41 Lettland diskutiert erneut Gesetzentwurf für Burka-Verbot, Tiroler Tageszeitung am 22. September 2016, http://www.tt.com/home/12047975-91/lettland-diskutiert-erneut-gesetzentwurf-f%C3%BCr-burka-verbot.csp (zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2017). 42 Rachael Pells, Islamic face veil to be banned in Latvia despite being worn by just three women in entire country, The Independent am 21. April 2016, http://www.independent.co.uk/news/islamic-muslim-face-veil-niqabburqa -banned-latvia-despite-being-worn-by-just-three-women-entire-a6993991.html (zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2017). 43 Alle Angaben dieses Abschnittes: Siobhan Fenton, Bulgaria imposes burqa ban – and will cut benefits of women who defy it, The Independent am 1. Oktober 2016, http://www.independent.co.uk/news/world/europe/bulgaria -burka-ban-benefits-cut-burkini-niqab-a7340601.html (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). 44 Alle Angaben dieses Abschnittes: Mariya Petkova, Why is Bulgaria making a big fuss about the niqab?, BBC am 24. Mai 2016, http://www.bbc.com/news/world-europe-36360764 (zuletzt abgerufen am 10. Oktober 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 094/17 Seite 16 2.8. Italien In Italien besteht bereits seit den 1970er Jahren ein generelles Verbot von Kleidung, die die Identifizierung erschwert. Dies schließt die islamische Vollverschleierung mit ein, ohne dass diese (soweit in den Recherchen ermittelbar) zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes eine Rolle gespielt hätte. Im Dezember 2015 beschloss die Region Lombardei ein Verbot der Gesichtsverschleierung in Amtsräumen und Krankenhäusern, wobei lokale Politiker explizit Burka und Niqab erwähnten.45 2.9. Dänemark Nachdem sich im Oktober 2017 alle Parteien der in Dänemark regierenden Dreierkoalition sowie einige Oppositionsparteien auf ein Verbot der Vermummung bzw. Verhüllung des Gesichtes in der Öffentlichkeit einigen konnten, wird Dänemark laut Auskunft von Kabinettsmitgliedern ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Ein Entwurf für dieses Gesetz wurde jedoch noch nicht im Folketing eingebracht.46 2.10. Spanien Am 2. Juli 2010 trat in der katalanischen Stadt Lleida ein Verbot von Niqab und Burqa in öffentlichen Gebäuden in Kraft. Der Verordnung folgten ähnliche Regelungen in zahlreichen anderen Kommunen Kataloniens, darunter auch Barcelona.47 Diese kommunalen Regelungen wurden im Februar 2013 vom spanischen Verfassungsgericht für ungültig erklärt. Kommunen hätten nicht die Kompetenz, solche Verbote zu erlassen. Dies könne nur durch ein Gesetz erfolgen.48 Trotz des Urteiles erließen seither einige weitere katalanische Kommunen symbolische „Burka-Verbote“, wobei bis mindestens 2014 kein einziger Fall eines „Verstoßes“ gegen eine der beschlossenen Regelungen registriert wurde.49 *** 45 Ashley Cowburn, Lombardy in Italy bans burqas and Islamic veils following European terror attacks, The Independent am 12. Dezember 2015, http://www.independent.co.uk/news/world/europe/lombardy-in-italy-bansburqas -and-islamic-veils-following-european-terror-attacks-a6770681.html (zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2017). 46 Teis Jensen, Denmark set to become next European country to ban burqas, Reuters am 6. Oktober 2017, https://www.reuters.com/article/us-denmark-religion-burqa/denmark-set-to-become-next-european-country-toban -burqas-idUSKBN1CB15N (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). 47 Giles Tremlett, Burqa bans spread across Catalonia, The Guardian am 2. Juli 2010, https://www.theguardian .com/world/2010/jul/02/lleida-burqa-ban-spain (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). 48 Fiona Govan, Spain overturns Islamic face veil ban, The Telegraph am 1. März 2013, http://www.telegraph .co.uk/news/worldnews/europe/spain/9902827/Spain-overturns-Islamic-face-veil-ban.html (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017). 49 James Badcock, Catalonia boards the burqa ban bandwagon, Newsweek am 31. Juli 2014, http://www.newsweek.com/2014/08/08/catalonia-board-burqa-ban-bandwagon-262118.html (zuletzt abgerufen am 12. Oktober 2017).