© 2018 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 092/18 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Leihmutterschaft und Eizellenspende Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 2 Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Leihmutterschaft und Eizellenspende Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 092/18 Abschluss der Arbeit: 24. August 2018 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Leihmutterschaft im Lichte des Art. 8 EMRK 4 2.1. Mennesson gegen Frankreich und Labassee gegen Frankreich (2014) 4 2.2. Paradiso u. Campanelle gegen Italien (2017) 7 2.3. D. et al. gegen Belgien (2014) 8 3. Eizellenspende im Lichte des Art. 8 EMRK 9 3.1. S. H. et al. gegen Österreich (2011) 9 3.2. Charron and Merle-Montet gegen Frankreich (2018) 12 4. Weiterführende Literatur 12 4.1. Mennesson gegen Frankreich und Labassee gegen Frankreich (2014) 12 4.2. Paradiso u. Campanelle gegen Italien (2017) 12 4.3. S. H. et al. gegen Österreich (2011) 12 4.4. Allgemeines 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 4 1. Einleitung Dieser Sachstand untersucht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu den Themen Leihmutterschaft (gestational surrogacy) und Eizellspende (egg donation, ovum donation). Vom sachlichen Anwendungsbereich her betreffen diese Themenfelder primär das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Art. 8 EMRK lautet in seiner offiziellen Übersetzung wie folgt: Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. (2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. 2. Leihmutterschaft im Lichte des Art. 8 EMRK Der EGMR hat sich bisher in den folgenden fünf Verfahren mit Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Thema der Leihmutterschaft befasst:1 - S. H. et al. gegen Österreich (2011); - Mennesson gegen Frankreich (2014); - Labassee gegen Frankreich (2014); - D. et al. gegen Belgien (2014); sowie - Paradiso und Campanelli gegen Italien (2017). 2.1. Mennesson gegen Frankreich und Labassee gegen Frankreich (2014) Die ersten und zweiten Beschwerdeführer in der Sache Mennesson gegen Frankreich2 waren miteinander verheiratete französische Staatsbürger. Aufgrund einer medizinisch indizierten Unfruchtbarkeit beauftragte das Ehepaar eine Leihmutter in den USA, ein Kind für sie auszutragen. Zur Zeugung wurde Sperma des Beschwerdeführers verwendet, sodass die im Jahr 2000 zur Welt gebrachten Zwillinge (dritte und vierte Beschwerdeführerin) mit dem zweiten Beschwerdeführer 1 EGMR, „Factsheet – Gestational Surrogacy“ (Juni 2018), verfügbar unter: https://www.echr.coe.int/Documents/FS_Surrogacy_ENG.pdf (zuletzt aufgerufen am 10. August 2018). 2 EGMR, Mennesson gegen Frankreich (Urteil vom 26. Juni 2014), Beschwerde-Nr. 65192/11, verfügbar unter https://hudoc.echr.coe.int/ (zuletzt aufgerufen am 14. August 2018); deutsche Übersetzung verfügbar in (2015) NJW, S. 3211. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 5 genetisch verwandt sind. Das Ehepaar hat die rechtliche Elternstellung per Urteil eines US-amerikanischen Gerichts erlangt. Die Beurkundung der in den USA festgestellten Rechtslage im französischen Geburtenregister wurde von den französischen Behörden mit Blick auf das im französischen Recht geltende Verbot der Leihmutterschaft, welches zum französischen ordre public gehört , verweigert. Auch Rechtsmittel blieben erfolglos. Zwischenzeitlich hatten die US-Behörden den Zwillingen US-Pässe ausgestellt, in denen das Ehepaar als Eltern eingetragen ist. Der EGMR entschied in seinem Urteil vom 26. Juni 2014 u. a., dass die Weigerung der französischen Behörden Art. 8 EMRK nicht verletzte, insoweit es um das Recht des Ehepaares auf Achtung ihres Familienlebens geht. Wohl aber liege eine Verletzung des Art. 8 EMRK vor, insoweit es um das Recht der Zwillinge auf Achtung ihres Privatlebens geht.3 Zur Begründung führte der EGMR zunächst aus, dass ein Recht auf Familien- und Privatleben des Ehepaares im Verhältnis zu den Kindern im Sinne von Art. 8 EMRK bestehe. In Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechungslinie des EGMR setze das Recht auf Familienleben voraus, dass eine Familie bestehe, wobei auch eine de facto-Familie unter diesen Begriff zu subsumieren sei.4 Deren Bestehen hänge von den konkreten Beziehungen der Beteiligten ab. Im vorliegenden Fall habe sich das Ehepaar seit der Geburt der Kinder wie Eltern um sie gekümmert. Die Kinder hätten diejenige Zuneigung, Fürsorge, Erziehung sowie materielle Behandlung erhalten , die für ihre Entwicklung nötig gewesen seien.5 Damit sei der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK unter dem Aspekt des Rechts auf Familienleben eröffnet. Gleichzeitig sei Art. 8 EMRK unter dem Aspekt das Recht auf Privatleben betroffen, da der Fall die Abstammung und damit das Recht auf persönliche Identität tangiere.6 Mit der Weigerung, ein Kindschaftsverhältnis anzuerkennen, haben die französischen Behörden und Gerichte in das Recht aller vier Beschwerdeführer nach Art. 8 EMRK eingegriffen. Der Eingriff sei jedoch teilweise nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Er diene teilweise dem legitimen Interesse am Schutz der Gesundheit sowie dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer .7 Staaten hätten auf dem Gebiet moralischer und ethischer Fragen einen erheblichen Ermessensspielraum , insbesondere wenn die Mitgliedstaaten des Europarates in einer bestimmten 3 Der Tenor des Urteils lautete: “For these reasons, the Court, unanimously (…) 2. Holds that there has been no violation of Article 8 of the Convention with regard to the applicants’ right to respect for their family life; 3. Holds that there has been a violation of Article 8 of the Convention with regard to the third and fourth applicants ’ right to respect for their private life; (…).” 4 EGMR, Mennesson gegen Frankreich (Fn. 2), Rn. 26, 49, mit Verweis auf EGMR, Wagner and J.M.W.L. gegen Luxemburg (Urteil vom 28. Juni 2007), Beschwerde-Nr. 76240/01 (Rn. 123) und EGMR, Negrepontis-Giannisis gegen Griechenland (Urteil vom 3. Mai 2011), Beschwerde-Nr. 56759/08, (Rn. 58). 5 EGMR, Mennesson gegen Frankreich (Fn. 2), Rn. 26. 6 Ibid., Rn. 96 ff. 7 Ibid., Rn. 62. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 6 Frage unterschiedliche Rechtsauffassungen hätten.8 Der Ermessensspielraum sei wiederum einzuschränken , wenn der Streitgegenstand eine besonders wichtige Facette der Existenz oder Identität des Beschwerdeführers betreffe.9 Entscheidend sei im vorliegenden Fall letztlich, ob die französischen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Staates und denen der Beschwerdeführer vorgenommen hätten.10 Zusätzlich müsse besondere Beachtung finden, dass Rechte von Kindern in Rede stünden, die vorrangig zu behandeln seien.11 Die Abwägung ergebe im Ergebnis, so der EGMR, dass das Recht der Eltern auf Schutz ihres Privat - und Familienlebens aus Art. 8 EMRK durch die Verweigerung der Beurkundung nicht verletzt sei.12 Durch die Nichtanerkennung habe sich keine wesentliche Beeinträchtigung des faktischen Familienlebens ergeben, da die Familie mit den Kindern zusammenleben konnte. Auch das Fehlen der rechtlichen Elternstellung und die sich daraus ergebenden Folgen (z.B. das fehlende Erbrecht) stellten keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK dar, da die Eltern bewusst eine in Frankreich untersagte Reproduktionsmethode gewählt hätten. Etwaige Schwierigkeiten der Beschwerdeführer im täglichen Leben gingen daher nicht über das hinaus, was nach Art. 8 EMRK zumutbar sei.13 Anders zu beurteilen sei hingegen die Situation mit Blick auf die betroffenen Kinder. Ihr Recht auf Privatleben sei verletzt, wenn ihnen die rechtliche Zuordnung zu ihren Eltern versagt werde.14 Dies gelte insbesondere mit Blick auf den jeweiligen Vater, der mit den Kindern biologisch verwandt sei. Die biologische Elternschaft sei für die Identitätsfindung eines Kindes von entscheidender Bedeutung und auch für das Erbrecht relevant, so dass die Nichtanerkennung der Elternschaft mit dem Kindeswohl in Widerspruch stehe.15 Der Sachverhalt und die wesentlichen Entscheidungsgründe im Fall Labassee gegen Frankreich16 sind weitgehend identisch mit denen der Sache Mennesson gegen Frankreich. Der einzige Unterschied war, dass die Leihmutter in letzterem Fall nur ein Kind zur Welt brachte. 8 Ibid., Rn. 75-77. 9 Ibid., Rn. 77. 10 Ibid., Rn. 81. 11 Ibid. 12 Ibid., Rn. 94. 13 Ibid., Rn. 91-93. 14 Ibid., Rn. 101. 15 Ibid., Rn. 96-100. 16 EGMR, Labassee gegen Frankreich (Urteil vom 26. Juni 2014), Beschwerde-Nr. 65941/11, verfügbar unter https://hudoc.echr.coe.int/ (zuletzt aufgerufen am 16. August 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 7 2.2. Paradiso u. Campanelle gegen Italien (2017) Die Beschwerdeführer in der Sache Paradiso u. Campanelle gegen Italien17 waren italienische Staatsangehörige und miteinander verheiratet. Nachdem eine in vitro-Fertilisation gescheitert war, entschloss sich das Paar, ein Kind im Wege einer in Italien verbotenen Leihmutterschaft zu zeugen. Hierzu schloss es mit einer Moskauer Agentur einen entsprechenden Vertrag. Der Beschwerdeführer übersandte sein Samenmaterial nach Russland, woraufhin einer Leihmutter nach einer in vitro-Fertilisation zwei Embryonen eingepflanzt wurden. Sie brachte einen Sohn zur Welt. In Italien stellte sich später jedoch heraus, dass der Beschwerdeführer nicht der biologische Vater des Kindes war. Offenbar waren im Befruchtungsverfahren Samen aus anderen Quellen verwendet worden. In der Folge brachten die italienischen Behörden das Kind von den Beschwerdeführern getrennt in einer Pflegefamilie unter und verfügten die Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde, wonach die Eltern des Kindes unbekannt waren und das Kind eine neue Identität erhielt. Hiergegen ersuchten die Beschwerdeführer Rechtschutz vor italienischen Gerichten, der allerdings erfolglos blieb. Der EGMR entschied am 24. Januar 2017 in der Besetzung als Große Kammer, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliege.18 Zu den wesentlichen Entscheidungsgründen stellte der Gerichtshof fest, dass sich der Beschwerdeführer im Verhältnis zu dem Kind nicht auf das Recht auf Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK berufen könne, weil eine ausreichend enge Bindung in diesem Fall nicht bestanden habe. Dies folge trotz der angestrebten Elternschaft und der Qualität der emotionalen Bindung aus dem Fehlen einer leiblichen Verbindung zwischen dem Kind und den Beschwerdeführern. Hinzu kämen die kurze Dauer der Beziehung (von hier ca. sechs Monaten) und die Unsicherheit ihrer Verbindung aufgrund der rechtswidrigen Umstände ihrer Begründung.19 Gleichwohl liege ein Eingriff in das Recht auf Privatleben der Beschwerdeführer aus Art. 8 EMRK vor. Das Recht eines Paares, ein Kind zu empfangen und dazu medizinisch unterstützende Fortpflanzungsmethoden zu nutzen, sei von Art. 8 EMRK umfasst, da die Entscheidung, Eltern werden zu wollen, eine zentrale Ausdrucksform des Privat- und Familienlebens darstelle. Auch Bindungen zwischen Erwachsenen und einem Kind ohne biologische oder rechtliche Beziehung könnten in den Bereich des Privatlebens fallen – es seien keine vernünftigen Gründe ersichtlich, emotionale Bindungen zwischen einem Erwachsenen und einem Kind außerhalb einer klassischen Verwandtschaft aus dem Begriff auszuschließen.20 Die Trennung der Beschwerdeführer von dem Kind hat folglich in ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens eingegriffen. 17 EGMR, Paradiso u. Campanelle gegen Italien (Urteil vom 24. Januar 2017), Beschwerde-Nr. 25358/12, verfügbar unter https://hudoc.echr.coe.int/ (zuletzt aufgerufen am 16. August 2018). 18 Der Tenor des Urteils lautete: „For these reasons, the Court (…) 2. Holds, by eleven votes to six, that there has been no violation of Article 8 of the Convention.“ 19 EGMR, Paradiso u. Campanelle gegen Italien (Fn. 17), Rn. 142-158. 20 Ibid., Rn. 161-164. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 8 Der Eingriff sei aber gleichwohl nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt. Im Fall sensibler ethischer Fragen der Adoption, Unterbringung eines Kindes, künstlichen Befruchtung und Leihmutterschaft käme den Staaten ein weiter Ermessensspielraum zu. Die italienischen Gerichte hätten einen gerechten Ausgleich der betroffenen Interessen hergestellt und die Grenzen ihres Ermessensspielraums nicht überschritten. Hierbei waren das Interesse der Beschwerdeführer an der Aufrechterhaltung ihrer Beziehung zum Kind und das öffentliche Interesse an Wiederherstellung eines rechtmäßigen Zustandes abzuwiegen. Mit Blick auf die Interessen der Beschwerdeführer bestätigte der Gerichtshof die Erwägungen der italienischen Gerichte, dass das Kind auf Grund seines geringen Alters durch die Trennung keinen schweren oder gar irreparablen Schaden erleiden dürfte. Weiterhin sei relevant, dass es sich in diesem Fall nicht um eine „klassische Leihmutterschaft “ handelte, sondern keinerlei biologische Beziehung zwischen den Beschwerdeführern und dem Kind bestanden habe. Sicher sei einzig und allein die Identität der Leihmutter, welche nach der Geburt auf alle Rechte bzgl. des Kindes verzichtet hatte.21 Demgegenüber habe das öffentliche Interesse an der Verhinderung einer Störung der öffentlichen Ordnung überwogen.22 Wegen des Fehlens jeglicher Verbindung der Beschwerdeführer zu dem Kind handele es sich um eine grenzüberschreitende Adoption, die nach italienischem Recht eine Authorisierung durch die Commission for Inter-Country Adoption bedurft hätte.23 Diese hätten die Beschwerdeführer umgangen. Das Kind bei den Beschwerdeführern zu belassen hieße damit, die von ihnen in rechtswidriger Weise herbeigeführten Tatsachen (also den fait accompli) nachträglich zu legalisieren.24 Da es sich bei Fragen des Adoptionsrechts um wesentliche Vorschriften des italienischen Rechts handele und keine irreparablen Schäden für das Kind zu erwarten seien, akzeptierte der EGMR die Entscheidung der italienischen Gerichte.25 2.3. D. et al. gegen Belgien (2014) Die Beschwerdeführer in der Sache D. et al. gegen Belgien26 waren belgische Staatsangehörige sowie deren Kind, welches durch eine Leihmutter in der Ukraine geboren wurde. In der Geburtsurkunde des Kindes war das belgische Ehepaar als Eltern anerkannt. Der Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses und anderer Reisedokumente für das Kind wurde von der belgischen Botschaft in der Ukraine und einem Brüsseler Gericht zunächst abgelehnt. Da zwischenzeitlich die Aufenthaltsgenehmigung des Ehepaares in der Ukraine auslief, musste das Kind in der Ukraine zurückgelassen werden. Nachdem das Ehepaar innerhalb von vier Monaten zusätzliche Nachweise für 21 Ibid., Rn. 188 f. 22 Ibid., Rn. 185, 209. 23 Ibid., Rn. 189, 207. 24 Ibid., Rn. 209-214. 25 Ibid., Rn. 215. 26 EGMR, D. et al. gegen Belgien (Entscheidung vom 8. Juli 2014), Beschwerde-Nr. 29176/13, verfügbar unter https://hudoc.echr.coe.int/ (zuletzt aufgerufen am 17. August 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 9 die genetische Verbindung zwischen Kind und Vater vorgelegt hatte, wurden die Reisedokumente für das Kind ausgestellt. Die Beschwerdeführer machten geltend, aufgrund der Weigerung zur Ausstellung der Dokumente und der damit einhergehenden Trennung von Eltern und Kind hätten die belgischen Behörden das Recht auf Familienleben und das Kindeswohl verletzt. Der Gerichtshof entschied am 8. Juli 2014, dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet war (manifestly ill-founded).27 Zur Begründung führte er an, dass das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK nicht so verstanden werden könne, dass Staaten verpflichtet seien, im Ausland durch Leihmutterschaft geborene Kinder ohne angemessene Überprüfungen einreisen zu lassen. Auch habe weder das Verfahren zur Ausstellung der Reisedokumente noch die Zeit der Trennung des Ehepaares von dem Kind im vorliegenden Fall übermäßig lange gedauert. Das Ehepaar hätte sich bereits frühzeitig auf die bevorstehende Situation vorbereiten und die notwendigen Schritte unternehmen können, um eine Einreise des Kindes nach Belgien zu gewährleisten. Ihnen sei außerdem die Möglichkeit geblieben, das Kind in der Ukraine zu besuchen. Die belgischen Behörden hätten daher bei der Überprüfung und ihren dabei gestellten Anforderungen innerhalb ihres Ermessensspielraums gehandelt.28 3. Eizellenspende im Lichte des Art. 8 EMRK 3.1. S. H. et al. gegen Österreich (2011) Die Beschwerdeführer in der Sache S. H. u. a. gegen Österreich (2011)29 waren österreichische Staatsangehörige und litten an Zeugnisunfähigkeit. Sie beantragten beim österreichischen Verfassungsgerichtshof , das sog. Fortpflanzungsmedizingesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen . Dieses untersagte eine in vitro-Befruchtung mit fremden Gameten (Geschlechtszellen, d.h. Eizellen und Spermien). Die Beschwerdeführer trugen vor, nur durch eine in vitro-Fertilisation mit gespendeten Eizellen und Spermien zu einem Kind gelangen zu können. Der Verfassungsgerichtshof hielt die Regelungen des Fortpflanzungsmedizingesetzes für vereinbar mit Art. 8 und 1230 EMRK sowie dem Gleichheitssatz der österreichischen Verfassung. Die Beschwerdeführer wandten sich daraufhin an den EGMR und machten geltend, das Verbot einer in vitro- 27 Ibid., Rn. 64. Der Tenor der Entscheidung lautete: „For those reasons, the Court, decides, unanimously, to strike the application out of its list in so far as it concerned the Belgian authorities’ refusal to issue a travel document for the child, A., and to declare inadmissible the remainder of the application. This decision is final.” 28 Ibid., Rn. 55-62. 29 EGMR, S. H. et al. gegen Österreich (Urteil der Großen Kammer vom 3. November 2011), Beschwerde-Nr. 57813/00, verfügbar unter https://hudoc.echr.coe.int/ (zuletzt aufgerufen am 14. August 2018). 30 Recht auf Eheschließung. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 10 Fertilisation mit gespendeten Gameten verstoße gegen Art. 8 EMRK und gegen Art. 8 i. V. mit Art. 1431 EMRK.32 Der EGMR entschied am 3. November 2011 in der Besetzung als Große Kammer, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliege und eine Beurteilung der Verletzung von Art. 8 i. V. mit Art. 14 EMRK dahinstehen könne.33 Zu den wesentlichen Entscheidungsgründen führte der Gerichtshof zunächst aus, dass die Entscheidung eines Paares, ein Kind zu zeugen und dafür Mittel der medizinischen Fortpflanzung zu Hilfe zu nehmen, unter das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens i. S. v. Art. 8 EMRK falle.34 Der Begriff des Privatlebens sei ein breites Konzept, das u. a. das Recht auf Begründung und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen, das Recht auf persönliche Entwicklung und das Recht auf Respekt der Entscheidung umfasse, Kinder zu zeugen oder nicht.35 Der Eingriff in dieses Recht durch das österreichische Fortpflanzungsmedizingesetz sei jedoch nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, da es das berechtigte Ziel des Schutzes der Gesundheit, der Moral und der Rechte anderer betreffe.36 Ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei, hänge davon ab, ob die zu seiner Rechtfertigung vorgetragenen Gründe unter Berücksichtigung aller Umstände stichhaltig und ausreichend seien. Dort, wo eine besonders wichtige Facette der Existenz oder Identität des Betroffenen tangiert sei, sei der Ermessensspielraum generell eingeschränkt.37 Eine Ausnahme müsse wiederum dort gemacht werden, wo die Rechtsvergleichung innerhalb der Mitgliedstaaten des Europarates ergebe, dass in einer bestimmten moralischen oder ethischen Frage kein „europäischer Konsens“ herrsche.38 Denn staatliche Stellen seien wegen ihrer Rückbindung an die eigene Bevölkerung im Vergleich zu internationalen Richtern grundsätzlich in einer besseren Position, um zu bestimmen, was genau die Moralvorstellungen in ihrem Land ausmacht und, darüber hinaus, welche gesetzlichen Freiheitsbeschränkungen diesen Moralvorstellungen zuträglich seien.39 Zur Frage, ob beim Thema in vitro- 31 Diskriminierungsverbot. 32 EGMR, S. H. et al.  gegen Österreich (Fn. 29), Rn. 9-26. 33 Der Tenor des Urteils lautete: „For these reasons, the Court (…) 2. Holds by thirteen votes to four that there has been no violation of Article 8 of the Convention; 3. Holds unanimously that it is not necessary to examine the application also under Article 14 of the Convention read in conjunction with Article 8.” 34 EGMR, S. H. et al. gegen Österreich (Fn. 29), Rn. 78, 82. 35 Ibid., Rn. 79. 36 Ibid., Rn. 90. 37 Ibid., Rn. 94. 38 Ibid. 39 Ibid. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 11 Fertilisation eine gemeinsame europäische Linie erkennbar sei, stellte der Gerichtshof fest: “(…) that there is now a clear trend in the legislation of the Contracting States towards allowing gamete donation for the purpose of in vitro fertilisation, which reflects an emerging European consensus. That emerging consensus is not, however, based on settled and long-standing principles established in the law of the member States but rather reflects a stage of development within a particularly dynamic field of law and does not decisively narrow the margin of appreciation of the State. 97. Since the use of in vitro fertilisation treatment gave rise then and continues to give rise today to sensitive moral and ethical issues against a background of fast-moving medical and scientific developments , and since the questions raised by the present case touch on areas where there is not yet clear common ground among the member States, the Court considers that the margin of appreciation to be afforded to the respondent State must be a wide one (…)”.40 Der österreichische Gesetzgeber habe sich vor diesem Hintergrund hinreichend bemüht, den Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung und die mit der Reproduktionsmedizin einhergehenden Risiken miteinander in Einklang zu bringen.41 In die Abwägung sei eingeflossen, dass die Frage in der österreichischen Gesellschaft zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt im Jahr 1999 hoch umstritten war. Als Risiken seien insbesondere diskutiert, dass Reproduktionsmedizin nicht nur zu therapeutischen Zwecken, sondern auch zur „Selektion“ von Kindern missbraucht werden könnte. Ferner könnte Eizellenspende zur Ausbeutung von – insbesondere wirtschaftlich benachteiligten – Frauen führen.42 Der Gerichtshof erkannte dabei ausdrücklich die vom österreichischen Gesetzgeber verfolgte Grundidee an, dass eine künstliche Befruchtung ähnlich wie eine natürliche erfolgen sollte und dass vor allem eine gespaltene Mutterschaft nach dem Prinzip mater semper certa est verhindert werden sollte.43 Demgegenüber äußerte sich der EGMR kritisch mit Blick auf das Argument der österreichischen Regierung, dass durch in vitro-Fertilisation gezeugte Kinder gesellschaftlicher Hürden konfrontiert sein könnten. Hierzu führte der Gerichtshof aus, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchaus ungewöhnliche Familienkonstellationen kennen, welche von der natürlichen und direkten Eltern-Kind-Verbindung abwichen – wie etwa dem Institut der Adoption .44 Letztlich urteilte der Gerichtshof jedoch, dass sich das von den Beschwerdeführern angegriffene Verbot der Eizellen- und Samenspende im Rahmen des Ermessensspielraums des österreichischen Gesetzgebers gehalten habe. 40 Ibid., Rn. 96-97. 41 Ibid., Rn. 105. 42 Ibid., Rn. 101. 43 Ibid., Rn. 104. 44 Ibid., Rn. 105. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 12 3.2. Charron and Merle-Montet gegen Frankreich (2018) Die Entscheidung Charron and Merle-Montet gegen Frankreich45 betrifft den Zugang eines gleichgeschlechtlichen Paares zu medizinisch assistierten Zeugungsmethoden. Die Beschwerde wurde allerdings bereits mangels Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs als unzulässig abgewiesen . 4. Weiterführende Literatur 4.1. Mennesson gegen Frankreich und Labassee gegen Frankreich (2014) − Engel, „Leihmutterschaft: Verfahrensrechtliche Anerkennung ausländischer Abstammungsentscheidungen im Lichte des Art. 8 EMRK - Zu den Entscheidungen ‚Mennesson v. Frankreich‘ und ‚Labassee v. Frankreich‘ des EGMR“, (2014) StAZ, S. 353-356. 4.2. Paradiso u. Campanelle gegen Italien (2017) − Hösel, „Verstärkte Rechtsunsicherheit bei grenzüberschreitenden Leihmutterschaften: zur Entscheidung ‚Paradiso und Campanelli v. Italien‘ der Großen Kammer des EGMR vom 24.1.2017“, (2017) Bd. 70, Das Standesamt, S. 162-167; − Thomale, „Das Kinderwohl ex ante - Straßburger zeitgemäße Betrachtungen zur Leihmutterschaft , zu EGMR, 24.1.2017 - Nr. 25358/12 - Paradiso et Campanelli v. Italie“, (2017) IPRax, S. 583-590; − Duden, „Internationale Leihmutterschaft: Der frühe Schutz der tatsächlichen Familie - Zur Entscheidung ‚Paradiso und Campanelli v. Italien‘ des EGMR“, (2015) StAZ, S. 201-206; − Henrich, „Anmerkung zur Entscheidung des EGMR, Urteil vom 27.01.2015, 25358/12 - Zur Leihmuttschaft bei Wunscheltern, von denen das zu gebärende Kind nicht abstammt“, (2015) FamRZ, S. 561-562. 4.3. S. H. et al. gegen Österreich (2011) − Müller-Terpitz, „Assistierte Reproduktionsverfahren im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention - zugleich eine Besprechung des Urteils des EGMR (Große Kammer) vom 3.11.2011, Az. 57813/00 - S. H. u.a./Österreich und seiner Folgejudikate“, (2013) Bd. 51, AVR, S. 42-71; − Weilert, „Heterologe In-vitro-Fertilisation als europäisches Menschenrecht?: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Falle S. H. u. a. gegen Österreich“, (2012) Bd. 30 Medizinrecht, S. 355-359; 45 EGMR, Charron and Merle-Montet gegen Frankreich (Entscheidung vom 19. Januar 2018), Beschwerde-Nr. 22612/15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/18 Seite 13 − Cornides, „Eizellspende: der EGMR zieht die Notbremse“, (2011) Bd. 20, Zeitschrift für Lebensrecht, S. 116-121; − Wollenschläger, „Das Verbot der heterologen In-vitro-Fertilisation und der Eizellspende auf dem Prüfstand der EMRK“, (2011) Bd. 29, Medizinrecht, S. 21-28. 4.4. Allgemeines − Sanders, „Was ist eine Familie? – Der EGMR und die Mehrelternschaft“, (2017) NJW, S. 925; − Löhnig, „Die Leihmutterschaft in der aktuellen Rechtsprechung“, (2017) NZFam 2017, S. 546; − Lederer, Grenzenloser Kinderwunsch: Leihmutterschaft im nationalen, europäischen und globalen rechtlichen Spannungsfeld (PL Academic Research, Frankfurt a.M., 2016); − Kohler und Pintens, „Entwicklungen im europäischen Personen- und Familienrecht, (2014) FamRZ, S. 1498-1504. ***