© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 092/15 Zur Einordnung historischer Sachverhalte als Völkermord Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 2 Zur Einordnung historischer Sachverhalte als Völkermord Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 092/15 Abschluss der Arbeit: 29. Mai 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zur rückwirkenden Anwendung der Begriffsbestimmung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes 4 1.1. Allgemeine Grundsätze des intertemporalen Völkerrechts 4 1.2. Gebrauch des Völkermordbegriffs im Besonderen 5 1.3. Einordnung einzelner historischer Sachverhalte als Völkermord 7 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, die 1904 galten 8 3. Rechtliche und historische Bewertung der Massenmorde an den Herero und Nama von 1904 bis 1910 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 4 1. Zur rückwirkenden Anwendung der Begriffsbestimmung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes Der Auftraggeber wirft die Frage auf, ob der Völkermordbegriff1 auf Sachverhalte anwendbar ist, die sich vor dem Inkrafttreten der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes 2 (nachfolgend: die Konvention) ereignet haben. Die am 9. Dezember 1948 vereinbarte Konvention trat am 12. Januar 1951 in Kraft.3 1.1. Allgemeine Grundsätze des intertemporalen Völkerrechts Die Fragestellung steht im Zusammenhang des allgemeineren Problems, nach welchen Rechtsnormen ein historischer Sachverhalt im Völkerrecht zu beurteilen ist: den gegenwärtig geltenden oder denjenigen, die Geltung hatten, als sich der Sachverhalt zutrug? Das sogenannte intertemporale Völkerrecht beantwortet diese Frage im Hinblick auf die materiell-völkerrechtlichen Aspekte .4 Ausgangspunkt ist dabei zunächst der Grundsatz, dass die Entstehung völkerrechtlicher Rechtsverhältnisse nach dem Völkerrecht zu beurteilen ist, das zum Zeitpunkt dieser Entstehung galt.5 Folgerichtig lehnen Staatenpraxis und Rechtsprechung die Rückwirkung völkergewohnheitsrechtlichen Deliktsrechts ab.6 Allerdings gibt es im Völkerrecht kein allgemeines Rückwirkungsverbot .7 So ist insbesondere im Bereich des völkerrechtlichen Vertragsrechts eine rückwirkende 1 Grundlegend zur Terminologie siehe Jennifer Balint/Israel W. Charny, Definitions of Genocide, in: Ders. (Hrsg.), Encyclopedia of Genocide, Volume I, Santa Barbara u.a. 1999, S. 11 ff. Vgl. auch den Beitrag von Israel W. Charny, Classification of Genocide in Multiple Categories, op.cit. S. 3 ff., der u.a. Charnys „proposed definitional matrix for crimes of genocide“ (S. 7 ff.) enthält. 2 Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu der Konvention vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. August 1954, BGBl. 19564 Teil II, S. 729, http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar260-a-iii-dbgbl.pdf (letzter Zugriff 26.05.2015). 3 United Nations Treaty Collection, https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV- 1&chapter=4&lang=en (letzter Zugriff 26.05.2015). 4 Siehe im Einzelnen Wolf-Dietrich Krause-Ablaß, Intertemporales Völkerrecht, Hamburg 1970, S. 15 [BT-Bibliothek P 512031]. Siehe hierzu auch Markus Kotzur, Intertemporal Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition), http://opil.ouplaw .com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1433?rskey=Jzk5w2&result=1&prd=EPIL (letzter Zugriff 26.05.2015), m.w.N. 5 Markus Kotzur (Fn. 4) Rz. 5. 6 Wolf-Dietrich Krause-Ablaß (Fn. 4) S. 91. 7 Wolf-Dietrich Krause-Ablaß (Fn. 4) S. 41. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 5 Anwendbarkeit neuer Vertragsbestimmungen zulässig und jedenfalls dann zu bejahen, wenn die Vertragsparteien diese Rückwirkung ausdrücklich vereinbaren.8 Eine ausdrückliche Vereinbarung zur rückwirkenden Anwendbarkeit ist in der Konvention nicht enthalten. Gegen dieses völkervertragsrechtliche Ergebnis scheinen keine völkergewohnheitsrechtlichen Einwendungen zu bestehen. Zwar vertreten einige Staaten den Standpunkt, bestimmte Akte der Sklaverei und des Kolonialismus würden unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem sie begangen wurden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen.9 Doch dürfte sich diese Position bisher wohl noch nicht als universelles Gewohnheitsrecht10 durchgesetzt haben. 1.2. Gebrauch des Völkermordbegriffs im Besonderen Art. 2 der Konvention definiert den Begriff des Völkermordes wie folgt: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen , die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen ; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.11 8 Wolf-Dietrich Krause-Ablaß (Fn. 4) S. 72. 9 Vgl. hierzu Steffen Eicker, Der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht: die völkerrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland für das Vorgehen des Deutschen Reiches gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904 und ihre Durchsetzung vor einem nationalen Gericht, Frankfurt 2009, S.98 [BT-Bibliothek P 5126597]. Die im Rahmen der Weltrassismuskonferenz der Vereinten Nationen im Jahre 2001 versammelten Staaten konnten zu diesem Punkt keinen Konsens erzielen, siehe Steffen Eicker, a.a.O., S. 99-103. 10 Zu den Voraussetzungen der möglichen Entstehung von Völkergewohnheitsrecht siehe im Einzelnen Tullio Treves , Customary International Law, in: Rüdiger Wolfrum, Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1393?rskey=DID96r&result =1&prd=EPIL (letzter Zugriff 26.05.2015). 11 Fundstelle siehe Fn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 6 In ihrem nicht-operativen Teil verwendet die Konvention den Begriff des Völkermords auch im Hinblick auf historische Geschehnisse, die sich ereigneten, bevor die Konvention in Kraft trat. So führt die Präambel der Konvention aus: In Anerkennung der Tatsache, dass der Völkermord der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat, und in der Überzeugung, dass zur Befreiung der Menschheit von einer solch verabscheuungswürdigen Geißel internationale Zusammenarbeit erforderlich ist, sind die Vertragsschließenden Parteien hiermit wie folgt übereingekommen .12 Zuvor hatte bereits die VN-Generalversammlung in einer Resolution, mit der sie sich erstmals mit dem Verbrechen des Völkermordes befasste, den Begriff des Völkermordes auf zurückliegende Ereignisse in der Geschichte der Menschheit bezogen.13 Der Bericht des Sonderberichterstatters Ben Whitaker zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Whitaker-Bericht)14, der vom VN-Unterausschuss für die Verhinderung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten15 durch Resolution angenommen wurde, bekräftigt diese Einschätzung: While the word genocide is a comparatively recent neologism for an old crime, the Convention’s preamble notes that at all periods of history genocide has inflicted great losses on humanity, and being convinced that, in order to liberate mankind from such an odious scourge, international co-operation is required. […] Throughout recorded human history, war has been the predominant cause or pretext for massacres of national, ethnic , racial or religious groups. War in ancient and classical eras frequently aimed to exterminate if not enslave other peoples. […] Genocide , particularly of indigenous peoples, has also often occurred as a consequence of colonialism, with racism and ethnic prejudice commonly being predisposing factors.16 12 Fundstelle siehe Fn. 2. 13 UNGA, A/Res/96 (1) vom 11 Dezember 1946, http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol =A/RES/96(I) (letzter Zugriff 26.05.2015). 14 United Nations Economic and Social Council Commission on Human Rights Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities Thirty-eighth session, Item 4 of the provisional agenda, E/CN.4/Sub.2/1985/6 — 2 July 1985, http://www.preventgenocide.org/prevent/UNdocs/whitaker/ (letzter Zugriff 26.05.2015). 15 Die „Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities“, die seit 1999 unter dem Namen der „Sub-Commission on the Promotion and Protection of Human Rights” agierte, war als Unterausschuss ein Organ der Menschenrechtskommission der VN und beendete ihre Tätigkeit 2006, als die Menschenrechtskommission in den Menschenrechtsrat überführt wurde. 16 Whitaker-Bericht (Fn. 14) Rz. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 7 Der völkerrechtliche Sprachgebrauch findet sich im politikwissenschaftlichen Schrifttum bestätigt . So etwa schrieb Jean-Paul Sartre: „Die Tatsache des Völkermordes ist so alt wie die Menschheit .“17 Zu betonen ist, dass aus der Beschreibung zurückliegender Ereignisse in der Terminologie der Völkermord-Konvention nicht abzuleiten ist, dass die Rechtsfolgen dieser Konvention ebenfalls rückwirkend eintreten würden. In anderen Worten: Die Völkermord-Konvention wird nicht allein durch die Verwendung des Völkermord-Begriffes anwendbar. 1.3. Einordnung einzelner historischer Sachverhalte als Völkermord In (rechts)wissenschaftlichem Schrifttum sowie in der Praxis der Vereinten Nation wird der Völkermordbegriff u.a. auf folgende historische Sachverhalte18 bezogen: - die im Osmanischen Reich an den Armeniern verübten Massaker und Vertreibungen;19 - Massaker und Deportationen durch die deutschen Kolonialtruppen an Angehörigen der Nama und Herero 1904 bis 1910;20 - Massaker und Gewaltverbrechen im Zuge der Niederschlagung der Maji-Maji-Bewegung (im damaligen Deutsch-Ostafrika) durch deutsche Kolonialtruppen 1905 bis 1908;21 - die Ukrainischen Judenpogrome 1919 bis 1921;22 - der Holocaust an den Juden 1939 bis 1945;23 - die systematische Massenvernichtung von Roma und Sinti in Europa 1939 bis 1945.24 17 Jean-Paul Sartre, On Genocide, in: Richard A. Falk u.a. (Hrsg.), Crimes of War, New York 1971 [BT-Bibliothek M 425481]. 18 Vgl. auch Bill Leadbetter, Genocide in Antiquity, in: Israel W. Charny (Fn. 1), S. 272 ff.; Kurt Jonasson/Karin Solveig Björnson, Genocides during the Middle Ages, in: Israel W. Charny (Fn. 1), S. 275 ff.; dies., Genocides of the Early Modern Period, in: Israel W. Charny (Fn. 1), S. 277 ff. 19 Whitaker-Bericht (Fn. 14) Rz. 24. 20 Whitaker-Bericht (Fn. 14) Rz. 24 m.w.N. Vgl. auch Dominik J. Schaller, Genocide and Mass Violence in the ‘Heart of Darkness’, in: Donald Bloxheim/ A. Dirk Moses (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010, S. 345, 355 ff.; ebenso Frank Chalk/Kurt Jonassohn, The History and Sociology of Genocide, Yale 1990, S. 231, 241 ff. 21 So Dominik J. Schaller (Fn. 20), S. 345, 357 ff. m.w.N. 22 Whitaker-Bericht (Fn. 14) Rz. 24 m.w.N. 23 Resolution der VN-Generalversammlung zur Erinnerung an den Holocaust, GA-Resolution A/RES/60/7, 21 November 2005, http://www.un.org/en/holocaustremembrance/docs/res607.shtml (letzter Zugriff: 26.05.2015) 24 Arnulf Scriba, Der Völkermord an Sinti und Roma, auf: Deutsches Historisches Museum/Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Bundesarchiv (Hrsg.), Lebendiges Museum Online, https://www.dhm.de/lemo/html/wk2/holocaust/sintiroma/index.html (letzter Zugriff 26.05.2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 8 2. Allgemeine Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, die 1904 galten Der Auftraggeber fragt, welche von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze 1904 galten, als deutsche Truppen den Aufstand der in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika ansässigen Nationen der Herero und Nama mit einem Vernichtungsfeldzug niederschlugen. Der Internationale Gerichtshof wendet nach Art. 38 Abs. 1 lit. c seines Statuts bei der Entscheidung ihm unterbreiteter Streitigkeiten „die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze“ an.25 Welche spezifischen Inhalte zu diesen Rechtsgrundsätzen zählen, ist – mit Ausnahme weniger allgemeiner Grundsätze wie z.B. der Beachtung von Treu und Glauben bei der Vertragserfüllung oder der Möglichkeit der Verwirkung und Verjährung von Ansprüchen – im Einzelfall schwierig festzustellen und hoch umstritten.26 Dies gilt bereits für das Völkerrecht der Gegenwart. Für die Rechtslage im Jahre 1904 würde die Feststellung des Inhalts als Völkerrechtsquelle anerkannter allgemeiner Rechtsgrundsätze umfangreiche Grundlagenforschung erfordern, die im Rahmen der vorliegenden Darstellung nicht geleistet werden kann. Zudem ergibt eine prognostische Einschätzung, dass die als Völkerrechtsquelle anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze in dem Rechtsverhältnis zwischen der Kolonialverwaltung in Deutsch- Südwestafrika und der einheimischen Bevölkerung keine Rolle spielten, die den Forschungsaufwand rechtfertigen würde. Anders ist der Forschungsstand u.a. im Hinblick auf völkergewohnheitsrechtliche Normen, insbesondere des humanitären Völkerrechts. Bei Annahme der Haager Bevölkerung zum damaligen Zeitpunkt nicht als eines zwischen zwei Völkerrechtssubjekten angesehen wurde, zumal im klassischen, zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch uneingeschränkt anwendbaren Völkerrecht nur Staaten als Völkerrechtssubjekte galten.27 Die Verbrechen an den Nama und Herero wurden zur damaligen Zeit, also vor der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes im modernen Völkerrecht , als innere Angelegenheit28 angesehen. Die Frage des Auftraggebers nach allgemeinen Grundlagen im Rechtsverhältnis zwischen Deutsch-Südwestafrika einerseits und den Nama und Herero andererseits gibt Anlass zu einer 25 Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs, http://www.unric.org/html/german /pdf/charta.pdf (letzter Zugriff 26.05.2015). 26 Vgl. Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage, Tübingen/Basel 2008, S. 196 f. Siehe auch Giorgio Gaja, General Principles of Law, ), in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition), http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1410?rskey=bx5xet&result=2&prd=EPIL (letzter Zugriff 25.05.2015). 27 Vgl. Stephan Hobe (Fn. 26), S. 64. 28 Allgemein zur völkerrechtsgeschichtlichen Entwicklung des „domaine réservé“ siehe Katja S. Ziegler, Domaine Réservé, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition), http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1398?rskey=voZp1P&result =1&prd=EPIL (letzter Zugriff 26.05.2015), insbes. Rz. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 9 Einordung zum damaligen Zeitpunkt vorherrschender kolonialistischer Rechtfertigungsstrategien . So war das Verhältnis zwischen den Repräsentanten Deutschlands und den im damaligen Deutsch-Südwestafrika beheimateten Nationen im Zeitalter und gedanklichen Bezugsrahmen des Kolonialismus29 von bestimmten Vorstellungen geprägt. In diesen schlugen sich hegemoniales Denken, imperialistische Ideologie, Rassenwahn, anthropologische, kulturelle und politische Überlegenheitsphantasien und zum Teil religiös verbrämtes „Herrenmenschentum“ nieder.30 In Bezug auf Deutsch-Südwestafrika bedeutete dies konkret, dass den Nama und Herero schon vor 1904 die bürgerlichen und politischen Rechte abgesprochen wurden, ihnen die wirtschaftliche Lebensgrundlage entzogen wurde und sie regelmäßig ungeahndeten Angriffen deutscher Siedler ausgesetzt waren.31 Den von der Kolonialverwaltung zur Anwendung gebrachten Ordnungsvorstellungen muss wohl in weitem Umfang der Charakter als Rechtsnorm im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes abgesprochen werden. Denn zu einem beträchtlichen Teil widersprachen sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident, dass kein Richter sie hätte anwenden können, ohne damit automatisch Unrecht zu sprechen.32 Die Frage, ob die Verbrechen an den Nama und Herero auf der Grundlage der damaligen Rechtslage etwa als gerechtfertigt angesehen werden könnten, würde sich also aus Sicht der zitierten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht stellen. Zu erinnern ist daran, dass der Völkermord an den Nama und Herero schon 1904 im Deutschen Reich zu Entrüstung führte: Selbst Regierungsstellen verweigerten die Unterstützung der Kolonialverwaltung und forderten ein Ende des Abschlachtens.33 Im Deutschen Reichstag kritisierte u.a. August Bebel die Unterdrückung der Herero auf das Schärfste.34 3. Rechtliche und historische Bewertung der Massenmorde an den Herero und Nama von 1904 bis 1910 Die Massaker und Deportationen, die deutsche Kolonialtruppen in den Jahren 1904 bis 1910 an Angehörigen der Nationen der Nama und Herero begingen, unterfallen nach weithin geteilter 29 Jörn Axel Kämmerer, Colonialism, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition), http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e690?rskey=EZgyJn&result=242&prd=EPIL (letzter Zugriff 26.05.2015), m.w.N. 30 Vgl. Jörn Axel Kämmerer, a.a.O. (Fn. 29). 31 Torben Jørgensen/Eric Markusen, The Hereros, Genocide of, in: Israel W. Charny (Fn. 1), S. 288 f. 32 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Februar 1968 – 2 BvR 557/62, 1. Leitsatz, http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv023098.html (letzter Zugriff 26.05.2015), in Anlehnung an Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105–108, http://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/jur-zimmermann/LV_2010_2011/Koll_Radbruch_Aufsatz- SJZ_1946__105.pdf (letzter Zugriff 25.05.2015). 33 Torben Jørgensen/Eric Markusen, a.a.O. (Fn. 31). 34 Rede von Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul bei den Gedenkfeierlichkeiten der Herero-Aufstände am 14. August 2004 in Okakarara, http://www.windhuk.diplo.de/Vertretung/windhuk/de/03/Gedenkjahre __2004__2005/Seite__Rede__BMZ__2004-08-14.html (letzter Zugriff 29.05.2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 092/15 Seite 10 Auffassung dem Völkermordbegriff, insbesondere in seinen Begehungsvarianten a) und c).35 Auf der faktischen Ebene besteht im wissenschaftlichen Fachdiskurs in den relevanten Punkten weitgehend Einigkeit darüber, was sich in den Jahren 1904 bis 1910 in Deutsch-Südwestafrika zugetragen hat, nämlich die Ausrottung von etwa 80 Prozent der Herero (65.000 Personen) und 50 Prozent der Nama (10.000 Personen).36 35 Zum Text der Legaldefinition siehe oben, Kapitel 1.2. Zu den Fakten siehe Torben Jørgensen/Eric Markusen, a.a.O. (Fn. 31) sowie die weiteren Nachweise oben (Fn. 20). 36 Torben Jørgensen/Eric Markusen, a.a.O. (Fn. 31).