© 2018 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 085/18; WD 7 - 3000 - 144/18 Verbringung von flüchtigen Tatverdächtigen aus dem Hoheitsgebiet anderer Staaten in die Bundesrepublik Deutschland Völker-, menschen- und strafrechtliche Fragen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Hintergründe zum Fall Ali B. einschließlich seiner Verbringung vom Irak nach Deutschland 4 2. Völkerrechtliche Einordnung von Verbringungen flüchtiger Tatverdächtiger aus dem Hoheitsgebiet anderer Staaten 5 2.1. Einseitiges Handeln ausländischer Sicherheitskräfte 6 2.2. Freiwillige Kooperation der lokalen Sicherheitskräfte 7 3. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für eine Kooperation der Bundespolizei mit der kurdischen Autonomiebehörde im Irak 8 4. Verletzung der territorialen Souveränität des Iraks 10 5. Menschenrechtliche Bewertung 13 6. Strafprozessuale Konsequenzen 15 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 4 1. Hintergründe zum Fall Ali B. einschließlich seiner Verbringung vom Irak nach Deutschland Der Iraker Ali B. wird verdächtigt, die 14-jährige Susanna F. am 22. Mai 2018 vergewaltigt und ermordet zu haben.1 Laut Medienberichten und Auskünften von Vertretern der Bundesregierung hatte sich der Tatverdächtige nach der Tat Anfang Juni 2018 in seine Heimat – die Autonome Region Kurdistan im Nordirak – abgesetzt, wo er von kurdischen Sicherheitskräften vorläufig festgenommen wurde. Diese übergaben ihn vor Ort dem Präsidenten der Bundespolizei Dieter Romann, der nach Erbil gereist war und Ali B. in einer deutschen Lufthansa-Maschine am Flughafen Erbil entgegen nahm.2 Der Bundespolizeipräsident und die mitgereisten Beamten der Bundespolizei3 brachten den Tatverdächtigen zurück nach Deutschland, wo er seither in Frankfurt in Untersuchungshaft sitzt. Während zum Zeitpunkt der Übergabe an die Bundespolizei ein Haftbefehl vorgelegen haben soll,4 gab es kein offizielles Auslieferungsersuchen des Auswärtigen Amtes an die irakische Regierung in Bagdad.5 Die Bundesregierung qualifiziert den Vorgang rechtlich als „Abschiebung im Zuständigkeitsbereich des Bundesinnenministeriums.“6 1 ZDF, „Susanna ist tot - Fahndung nach Verdächtigem“ (7. Juni 2018), verfügbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten /heute/vermisste-susanna-aus-mainz-ist-tot-100.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2018). 2 Bundesregierung, Regierungspressekonferenz vom 11. Juni 2018, verfügbar unter: https://www.bundesregierung .de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2018/06/2018-06-11-regpk.html; Pressemitteilung der Bundespolizei https://www.bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles/01Meldungen/2018/06/180611_ueberfuehrung .html; Nordhausen, „Fall Susanna F. sorgt auch in Kurdenregion für Aufsehen“ (13. Juni 2018), Frankfurter Rundschau, S. 5. 3 Vgl. „Der Chef macht‘s selbst“ (16. Juni 2018), DER SPIEGEL Nr. 25, S. 28: Danach wurde der Bundespolizeipräsident begleitet von unbewaffneten Beamten der Spezialeinheit GSG 9 sowie von drei bewaffneten Sky-Marschalls , die zur Sicherheit der Passagiere im Flugzeug mitreisen. Vgl. auch „Strafverteidiger zeigt Bundespolizei -Chef an“ (12. Juni 2018), FAZ, verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/strafverteidiger -zeigt-bundespolizei-chef-an-15636859.html (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2018). 4 Bach, „Fall Susanna - was wir bisher wissen“ (8. Juni 2018), verfügbar unter: https://www.n-tv.de/panorama /Fall-Susanna-was-wir-bisher-wissen-article20470122.html (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2018). 5 Bundesregierung, Regierungspressekonferenz vom 11. Juni 2018 (Fn. 2). 6 Ibid. Kritisch hierzu: Pekárek und Wegner, „Wurde Ali B. rechtswidrig aus dem Irak nach Deutschland geholt?“ (16. Juni 2018), verfügbar unter: https://verfassungsblog.de/wurde-ali-b-rechtswidrig-aus-dem-irak-nachdeutschland -geholt/ (zuletzt aufgerufen am 18. Juni 2018). Danach liege weder eine „Abschiebung“ (i.S.v. § 58 Abs. 1 AufenthG), noch eine „Auslieferung“ (i.S.v. Art. 21 der irakischen Verf. bzw. Art. 16 Abs. 2 GG) oder eine „Rückführung“ (i.S.d. § 71 Abs. 3 Nr. 1d AufenthG) vor. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 5 Laut Medienberichten hat die irakische Zentralregierung die Verbringung von Ali B. im Nachhinein als Rechtsverstoß kritisiert, weil es zwischen Deutschland und dem Irak kein Auslieferungsabkommen gibt.7 Eine offizielle Protestnote der irakischen Zentralregierung an das Auswärtige Amt gab es laut Presseerklärung der Bundesregierung bislang nicht; gleichwohl ist in den Medien von „diplomatischen Verwicklungen mit Bagdad“ berichtet worden.8 Der vorliegende Sachstand erörtert, wie eine Verbringung von flüchtigen Tatverdächtigen aus dem Hoheitsgebiet anderer Staaten in die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich zu bewerten ist und ob sich die Art und Weise der Verbringung eines Tatverdächtigen aus dem Irak möglicherweise auf seinen anstehenden Strafprozess in Deutschland auswirken könnte. Die Berichterstattung zum Fall Ali B. einschließlich der Vorgänge in Erbil befindet sich immer noch im Fluss und ist hinsichtlich einiger Details und Fakten auch nicht völlig eindeutig. Eine restlose Aufklärung der Lage bleibt dem gerichtlichen Strafverfahren gegen Ali B. vorbehalten. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages legen für ihre juristische Bewertung die öffentlich zugänglichen aktuellen Quellen, Medienberichte und Presseerklärungen staatlicher Organe zugrunde – wohl wissend, dass eine nachträgliche Änderung der Sachlage auch eine Änderung in der rechtlichen Bewertung nach sich ziehen kann. 2. Völkerrechtliche Einordnung von Verbringungen flüchtiger Tatverdächtiger aus dem Hoheitsgebiet anderer Staaten Bei der Frage, ob Hoheitsrechte desjenigen Staates verletzt sind, in dem der flüchtige Tatverdächtige aufgegriffen wird (im Folgenden „Aufenthaltsstaat“), ist danach zu differenzieren, ob die ausländischen Sicherheitskräfte auf fremdem Staatsgebiet einseitig gehandelt (2.1.) oder ob diese mit den lokalen Sicherheitskräften des Aufenthaltsstaates zusammengearbeitet haben (2.2.). 7 Spiegel Online, „Irak kritisiert Übergabe von Ali B. an Deutschland als Rechtsverstoß“ (13. Juni 2018), verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/fall-susanna-irak-kritisiert-uebergabe-von-ali-b-an-deutschlandals -rechtsverstoss-a-1212621.html; FAZ, „Wie aus einer Wiedereinreise ein Stunt wurde“ (13. Juni 2018), verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/mordfall-susanna-f-rueckfuehrung-von-ali-basharwurde -zum-stunt-15638441.html; Deutsche Welle, „Mordfall Susanna: Wie die Abschiebung von Ali B. wirklich ablief“ (15. Juni 2018), verfügbar unter: http://www.dw.com/de/mordfall-susanna-wie-die-abschiebung-von-alib -wirklich-ablief/a-44248811; Welt, „Strafverteidiger sehen Rückführung von Ali B. als problematisch“ (15. Juni 2018), verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article177597312/Fall-Susanna-F-Strafverteidiger -sehen-Rueckfuehrung-von-Ali-B-als-problematisch.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 18. Juni 2018). 8 FAZ, „Wie aus einer Wiedereinreise ein Stunt wurde“ (Fn. 7). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 6 2.1. Einseitiges Handeln ausländischer Sicherheitskräfte Die Verbringung von flüchtigen Tatverdächtigen aus dem Hoheitsgebiet eines Staates in einen anderen Staat durch staatliche Sicherheitskräfte stellt nach dem geltenden Völkerrecht nur dann eine Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität des betroffenen Staates dar, wenn dieser keine Einwilligung in den Vorgang erteilt hat.9 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Beamte eines Staates in Ausübung hoheitlicher Funktion ohne die Erlaubnis des anderen Staates dessen Staatsgebiet betreten und Festnahmen zum Zwecke der Strafverfolgung vornehmen.10 Prominente Fälle sind die des Josef Eichmann11, Antoine Argoud12 oder Alvarez-Machain.13 Die Einwilligung des Aufenthaltsstaates kann im Wege formloser Absprachen oder völkerrechtlicher Verträge in allgemeiner Weise – gleichsam „vorab“ – erteilt werden; in der Regel wird sie aber ad hoc im konkreten Einzelfall erteilt.14 Protestiert der Aufenthaltsstaat nachträglich gegen die Verbringung eines flüchtigen Tatverdächtigen oder verlangt dessen Rückgabe, so ist davon auszugehen, dass keine Einwilligung erteilt wurde. Das Ausbleiben von Protest wird in der Literatur unterschiedlich bewertet.15 9 Wilske, „Abduction, Transboundary“ (2012), in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2018), Rn. 2; Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung (Duncker und Humblot, Berlin, 1968), S. 69 ff. 10 Orakhelashvili, „Governmental Activities on Foreign Territory“ (2010), in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2018), Rn. 14 f. 11 Villalpando, „Eichmann Case“ (2007), in: Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2018). 12 Kirchner, „Der Fall Argoud und das Auslieferungsrecht“ (1964), NJW, S. 853. 13 Wilske, „Abduction, Transboundary“ (Fn. 9), Rn. 17 ff. 14 Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen (Duncker und Humblot, Berlin, 2000), S. 34 ff. 15 Während einige Kommentatoren das Ausbleiben als bewusstes, „beredtes“ Schweigen ausgelegen (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen [Fn. 14], S. 43, Fn. 57), argumentieren andere, dass bei der Auslegung als stillschweigende Einwilligung die Gründe für das Schweigen ausgeblendet würden (ibid., S. 44). So könne das zuständige Organ den Protest für sinnlos halten oder wirtschaftliche Nachteile seitens des anderen Staates vermeiden wollen (ibid.). Nach dieser Ansicht könne das Ausbleiben von Protest als Indiz, nicht aber als Beleg dafür gewertet werden, dass eine Einwilligung in die Verbringung eines flüchtigen Tatverdächtigen vorlag (Ibid., S. 45). Dem ist entgegenzuhalten, dass die Motivlage des zuständigen Organs aus völkerrechtlicher Sicht unerheblich sein dürfte, solange die Entscheidung zum Schweigen ohne Betrug oder Zwang herbeigeführt und damit in wirksamer Weise erteilt wurde (in diesem Sinne auch EGMR, Öcalan v. Turkey [Urteil vom 12. Mai 2005], siehe unten, Fn. 44). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 7 2.2. Freiwillige Kooperation der lokalen Sicherheitskräfte Ferner liegt kein Völkerrechtsverstoß vor, wenn lokale Sicherheitskräfte des Aufenthaltsstaates den Beamten des anderen Staates behilflich sind, einen flüchtigen Tatverdächtigen festzunehmen , vorausgesetzt, die Hilfe wurde nicht durch Betrug oder Zwang veranlasst.16 Eine solche freiwillige Kooperation beider Staaten ist in der Staatenpraxis anerkannt.17 Da in Fällen der Verbringung von Tatverdächtigen aus dem Hoheitsgebiet regelmäßig staatliche Organe des Aufenthaltsstaates auf irgendeiner Ebene in eine extraterritoriale Polizeiaktion des anderen Staates einwilligen, muss die einwilligende Behörde gleichwohl zuständig sein.18 In Fällen, in denen lokale Polizei- oder Militärkräfte gar aktiv an der Aktion mitwirken, ist entscheidend , ob diese Mitwirkung eine konkludente Einwilligung der (Zentral-)Regierung darstellt oder eine solche kraft völkerrechtlicher Vertretungsbefugnis ersetzt.19 Die Einwilligung muss grundsätzlich bei der nach nationalem Recht zuständigen Stelle eingeholt werden.20 Ausnahmen sind dort anerkannt, wo die landesrechtlichen Kompetenzzuweisungen tatsächlich anders gehandhabt werden und diese stillschweigende Kompetenzverlagerung dauerhaft geduldet wird.21 In der Praxis werden flüchtige Tatverdächtige häufig durch Kooperation mit lokalen, nachgeordneten Dienststellen ins Ausland verbracht, ohne dass die nach nationalem Recht zuständigen Organe hiervon Kenntnis haben.22 Tolerieren die zuständigen Organe dieses Vorgehen über einen längeren Zeitraum, muss sich der Aufenthaltsstaat nach Treu und Glauben (sog. estoppel-Prinzip) an der eigentlich kompetenzwidrigen Praxis festhalten lassen.23 16 Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung (Duncker & Humblot, Berlin, 1968), S. 69 ff. 17 Ibid. 18 Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen (Fn. 14), S. 34. 19 Ibid. 20 Ibid., S. 45. 21 Ibid., S. 45 f. 22 Ibid., S. 46. 23 Ibid. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 8 3. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für eine Kooperation der Bundespolizei mit der kurdischen Autonomiebehörde im Irak Für eine völkerrechtliche Bewertung von Handlungen nationaler Behörden und Sicherheitsorgane im zwischenstaatlichen Verhältnis von Deutschland und dem Irak – insbesondere mit Blick auf das Interagieren kurdischer, irakischer und deutscher Amtsträger – ist auch das nationale Verfassungsrecht des Staates maßgebend, auf dem sich die zu bewertenden Vorgänge abgespielt haben. In diesem Zusammenhang erscheinen folgende staats- und verfassungsrechtlichen Aspekte relevant: • Das irakische Verfassungsrecht kennt in Art. 21 der irakischen Verfassung von 2005 – ebenso wie das deutsche Grundgesetz in Art. 16 Abs. 2 S. 1 GG – ein Auslieferungsverbot eigener Staatsangehöriger an ausländische Staaten. Art. 21 Abs. 1 der irakischen Verfassung (2005) lautet: „No Iraqi shall be surrendered to foreign entities and authorities“.24 • Zwischen Deutschland und dem Irak existiert kein völkerrechtliches Auslieferungsabkommen . • Bei der Autonomen Region Kurdistan, mit deren Behörden die Bundespolizei die Übernahme des Tatverdächtigen in Erbil abstimmte, handelt es sich nicht um einen souveränen Staat (Völkerrechtssubjekt), sondern verfassungsrechtlich um eine föderale Untergliederung der Republik Irak. Art. 117 der irakischen Verfassung (2005) sieht insoweit vor: “This Constitution shall recognize the region of Kurdistan, along with its existing authorities, as a federal region.” • Auch die kurdischen Autonomiebehörden sind an die irakische Verfassung von 2005 – und damit an das Auslieferungsverbot irakischer Staatsbürger gem. Art. 21 irakische Verfassung – gebunden und dürfen sich darüber nicht hinwegsetzen.25 Art. 120 der irakischen Verfassung stellt in diesem Zusammenhang klar: “Each region shall adopt a constitution of its own that defines the structure of powers of the region, its authorities, and the mechanisms for exercising such authorities, provided that it does not contradict this Constitution.” • Die lokalen kurdischen Sicherheitsorgane und Ministerien in Erbil waren für die Verbringung des Tatverdächtigen ins Ausland offensichtlich nicht zuständig, da ein solches Handeln die Beziehungen des Iraks zu auswärtigen Staaten betrifft und damit in den Zuständigkeitsbereich der Zentralregierung in Bagdad fällt.26 24 Verfassungstext verfügbar unter: https://www.constituteproject.org/constitution/Iraq_2005.pdf?lang=en (zuletzt aufgerufen am 18. Juni 2018). 25 So auch Hartwig, „Es fand ein klarer Bruch der irakischen Verfassung statt“ (13. Juni 2018), Cicero, verfügbar unter: https://www.cicero.de/innenpolitik/ueberfuehrung-ali-b-irak-susanna-f-fluechtlinge-rechtsbruch-deutschland -romann-prozess. 26 Ibid.; Pekárek und Wegner, „Wurde Ali B. rechtswidrig aus dem Irak nach Deutschland geholt?“ (16. Juni 2018), Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 9 In der irakischen Verfassung von 2005 finden sich keine Anhaltspunkte für eine derartige Kompetenz einer Autonomen Region.27 Die kurdischen Behörden waren insoweit nicht befugt, in internationalen Rechtshilfeangelegenheiten (insb. Auslieferungen) stellvertretend für den irakischen Zentralstaat und völkerrechtswirksam nach außen zu handeln – anders ließe sich der Protest der irakischen Zentralregierung in Bagdad gegen das Vorgehen der kurdischen Autonomiebehörden rechtlich auch nicht erklären. • Eine gewohnheitsrechtlich verfestigte Staatspraxis, wonach die Autonome Region Kurdistan eigenmächtig – oder mit mutmaßlicher Einwilligung der Zentralregierung in Bagdad – den Rechtshilfeverkehr mit Drittstaaten „abwickelt“ und dabei irakische Staatsbürger an ausländische Sicherheitskräfte übergibt, lässt sich nicht feststellen.28 Solche Überstellungen sind, soweit ersichtlich, bislang nur in Fällen von Doppelstaatlern bekannt geworden, und auch hier hat, soweit ersichtlich, die Zentralregierung in Bagdad regelmäßig gegen ein derartiges Vorgehen der Regionalregierung protestiert. • Durch das Zusammenwirken der kurdischen Sicherheitskräfte und der deutschen Bundespolizei bei der Übergabe des Tatverdächtigen auf dem Flughafen Erbil wurde der irakischen Zentralregierung – unter Verstoß gegen Art. 21 der irakischen Verfassung – faktisch die Möglichkeit genommen, ihre eigenen zentralstaatlichen Kompetenzen auszuüben und über das Schicksal eines irakischen Staatsbürgers in dem dafür vorgesehenen nationalen Verwaltungsverfahren im konkreten Fall zu entscheiden. Die deutschen Behörden waren damit an einem Verstoß gegen irakisches (Verfassung-)Recht beteiligt.29 verfügbar unter: https://verfassungsblog.de/wurde-ali-b-rechtswidrig-aus-dem-irak-nach-deutschland-geholt/ (zuletzt aufgerufen am 22. Juni 2018). 27 Die Autonomierechte u.a. der Region Kurdistan werden in Art. 117 ff. der irakischen Verfassung von 2005 niedergelegt . Die Regionalregierung von Kurdistan führt ein eigenes Parlament mit Sitz in Erbil (Hewlêr) und beschäftigt eigene Streitkräfte, die Peschmerga. Vgl. überdies die Homepage des Department of Foreign Relations of the Kurdistan Regional Government (http://dfr.gov.krd/p/p.aspx?p=25&l=12&s=010000&r=332). So gibt es neben den Botschaften in Bagdad ausländische Konsulate im kurdischen Erbil; außerdem existieren Repräsentanzen der kurdischen Regionalregierung im Ausland (u.a. in Berlin, http://dfr.gov.krd/p/p.aspx?p=40&l=12&s=020100&r=364). 28 So Pekárek und Wegner, „Wurde Ali B. rechtswidrig aus dem Irak nach Deutschland geholt?“ (Fn. 26). 29 Insoweit ließe sich diskutieren, inwieweit hier das völkergewohnheitsrechtlich geltende (zwischenstaatliche) Interventionsverbot – also eine Einmischung in die Verfassungsordnung (sog. domaine réservé) als ausschließlichem Zuständigkeitsbereich der inneren Angelegenheiten eines anderen Staates – berührt sein könnte (vgl. allgemein Athen, Der Tatbestand des völkerrechtlichen Interventionsverbotes [Nomos, Baden-Baden, 2017]; Ipsen, Völkerrecht [6. Aufl., Beck, München, 2014), § 51 Rn. 47 ff.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 10 4. Verletzung der territorialen Souveränität des Iraks Fraglich ist, wie die Entgegennahme des von den kurdischen Sicherheitskräften festgenommenen irakischen Tatverdächtigen Ali B. durch die Bundespolizei am Flughafen Erbil rechtlich zu bewerten ist. Inwieweit eine Entgegennahme als hoheitliche Maßnahme auf fremdem Staatsgebiet zu qualifizieren ist – die dann ohne Einwilligung der irakischen Zentralregierung und unter Verstoß gegen irakisches Verfassungsrecht erfolgt wäre – hängt von Umständen der konkreten Beteiligung deutscher Staatsorgane vor Ort ab. Entgegen teils anderslautender Verlautbarungen gilt nach dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip irakisches Recht auch an Bord einer deutschen Maschine auf irakischem Boden und muss von den deutschen Sicherheitsorganen entsprechend beachtet werden.30 Von daher ist es für die rechtliche Bewertung im Grunde irrelevant, ob die Bundespolizisten das Flugzeug verlassen haben31 oder nicht. Bei der Festnahme und Verbringung von Ali B. nach Deutschland handelt es sich faktisch um ein zweiaktiges Geschehen, bei dem die Sicherheitskräfte der kurdischen Autonomiebehörde und der Bundespolizei einvernehmlich zusammengewirkt haben. Unstreitig ist in diesem Zusammenhang, dass die kurdischen Sicherheitskräfte den Tatverdächtigen in der Autonomen Region Kurdistan festgenommen und am Flughafen Erbil an die Bundespolizei übergeben haben und dass die Bundespolizei ihn dann auf dem Frankfurter Flughafen gemäß deutschem Recht vorläufig „festgenommen“ hat.32 Fraglich ist, wie dann der Zeitraum des Fluges von Erbil nach Frankfurt rechtlich zu beurteilen wäre. Es erscheint lebensfremd anzunehmen, dass der Tatverdächtige von den kurdischen Sicherheitsbehörden am bzw. im Flugzeug formal wieder „freigelassen“ wurde, damit er – wie einige Darstellung in den Medien glauben machen – als „freier Mann“ den Flug absolvieren33 und in Frankfurt von der Bundespolizei „erneut vorläufig festgenommen“ werden konnte. 30 Siehe Pekárek und Wegner, „Wurde Ali B. rechtswidrig aus dem Irak nach Deutschland geholt?“ (Fn. 26). Selbst wenn der Präsident der Bundespolizei die irakische Rechtslage nicht kannte, hätte er es bei Anstrengung der erforderlichen Sorgfalt kennen oder sich zumindest im Vorfeld der Aktion Rechtsauskunft beim Bundesinnenministerium oder beim Auswärtigen Amt einholen müssen. 31 So die Berichterstattung „Der Chef macht‘s selbst“ (Fn. 3), S. 28. 32 Pressemitteilung der Bundespolizei, verfügbar unter: https://www.bundespolizei.de/Web/DE/04Aktuelles /01Meldungen/2018/06/180611_ueberfuehrung.html (zuletzt aufgerufen am 22. Juni 2018). 33 In diese Richtung die Berichterstattung in der FAZ „Wie aus einer Wiedereinreise ein Stunt wurde“ (Fn. 7), wonach der Tatverdächtige „ungefesselt im Flugzeug übergeben wurde und freiwillig nach Frankfurt geflogen sei“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 11 Oder sollte die Festnahme der kurdischen Sicherheitsbehörden am Ende gar bis zum Erreichen des Frankfurter Flughafens noch „fortwirken“ und von den deutschen Sicherheitsbeamten stellvertretend für die kurdischen Behörden ausgeübt werden? In ihren Kommentierungen des Falles „Ali B.“ gehen Völkerrechtler davon aus, dass der aus Deutschland vor dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden in sein Heimatland geflüchtete „Ali B. nicht freiwillig nach Deutschland kam. Er wurde gewaltsam und wahrscheinlich gegen seinen Willen in Gewahrsam genommen und aus dem Irak herausgebracht.“34 Insoweit erscheint es überzeugender anzunehmen, dass am Flughafen Erbil eine Übergabe der Verantwortung für den festgenommenen Ali B. von den irakisch-kurdischen auf die deutschen Sicherheitsorgane stattfand. Mit der Übergabe des Tatverdächtigen an die Bundespolizei sollte auch die effektive Kontrolle über die festgenommene Person auf diese übergehen. Die kurdischen Sicherheitskräfte hatten mit Verlassen des Flugzeugs ihren Teil der Aktion geleistet. Die deutsche Bundespolizei sollte sicherstellen, dass der Verdächtige vom Irak nach Deutschland verbracht wurde. Entscheidend ist daher, wie die „Entgegennahme“ / Übergabe des Tatverdächtigen an die Bundespolizei rechtlich zu bewerten ist. Die Bundespolizei berief sich dabei auf den – vermeintlichen – „Präzedenzfall“ Demjanjuk.35 Der Fall eignet sich als „Präzedenz“ indes nicht wirklich, da deutsche Behörden bei der Auslieferung des ehemaligen KZ-Aufsehers aus den USA nach Deutschland auf amerikanischem Territorium nicht tätig geworden sind.36 34 Hartwig, „Es fand ein klarer Bruch der irakischen Verfassung statt“ (Fn. 25). 35 „Rückführung von Ali B. Bundespolizei bezieht sich auf Präzedenzfall“ (16. Juni 2018), ntv, verfügbar unter: https://www.n-tv.de/politik/Bundespolizei-bezieht-sich-auf-Praezedenzfall-article20483384.html (zuletzt aufgerufen am 22. Juni 2018). 36 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juni 2009, 2 BvR 1076/09 - Rn. 1-20, verfügbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2009/06/rk20090617_2bvr107609.html. Das BVerfG stellte klar, dass „die Anordnung und Durchführung der erfolgten Abschiebung bzw. Überstellung [...] in alleiniger Zuständigkeit und Verantwortung“ der amerikanischen Behörden getroffen worden sei und die von der Bundesrepublik abgegebene „Einverständniserklärung zur anschließenden Aufnahme [...] – ebenso wie ein Einlieferungsersuchen in einem förmlichen Auslieferungsverfahren –“ für Demjanjuk „keine unmittelbaren Rechtswirkungen“ enthalte und insbesondere „weder unmittelbar noch mittelbar einen der Bundesrepublik Deutschland zurechenbaren Eingriff in die Freiheit“ Demjanjuks bewirkt habe (Rn. 16). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 12 Die „Entgegennahme“ des Tatverdächtigen durch die Bundespolizei mag formal keine „vorläufige Festnahme“ i.S.v. § 127 StPO gewesen sein; sie lässt sich aber rechtlich als Freiheitsentziehung bzw. Ingewahrsamnahme qualifizieren.37 Ein solches „In-Gewahrsam-Halten“ (vgl. Art. 104 Abs. 2 GG) ist als verfassungsrechtlich relevante Ausübung von Hoheitsgewalt zu bewerten;38 einer Anwendung von Waffengewalt, Handschellen oder einer Uniformierung der handelnden Sicherheitsorgane bedarf es dazu ebenso wenig wie bei einer „vorläufigen Festnahme“ im Sinne der deutschen Strafprozessordnung.39 Geht man im Ergebnis von einer Ausübung von Hoheitsgewalt der Bundespolizei auf fremden Staatsgebiet ohne Einwilligung der Zentralregierung aus, so lässt sich darin eine Verletzung der territorialen Souveränität des Irak (Art. 2 Nr. 1 VN-Charta) sehen. 37 Für die Gewahrsamsbegründung kommt es lediglich darauf an, ob die Polizei in tatsächlicher Hinsicht die Herrschaft über die Freiheitsentziehung innehat (so Kunig, in v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar [5. Aufl., Beck, München, 2003] Bd. 3, Art. 104, Rn. 26). Besonders im Bereich der Piraterie-Bekämpfung durch die Deutsche Marine ist die Ingewahrsamnahme eines mutmaßlichen Piraten und dessen anschließende Übergabe an die Strafverfolgungsbehörden eines anderen EU- Mitgliedstaates gängige Praxis (vgl. dazu König, Die Bekämpfung von Terroristen und Piraten“ [Rechtspolitisches Forum, Universität Trier, 2009] Bd. 48, S. 24 ff., verfügbar unter: https://www.uni-trier.de/fileadmin /fb5/inst/IRP/Rechtspolitisches_Forum/48_Koenig_EBook_geschuetzt.pdf). 38 Art. 104 GG unterscheidet die Begriffe „Freiheitsbeschränkung“ und „Freiheitsentziehung“. Dürig schreibt zum Kern des Begriffs der Freiheitsentziehung wie folgt (Maunz und Dürig, Grundgesetz-Kommentar [82. EL, 2018], Rn. 5 ff.): „Beide Ausdrücke erfassen jede Beeinträchtigung der körperlichen Bewegungsfreiheit ohne Rücksicht auf Art und Intensitätsgrad. Die „Freiheitsentziehung“ i.S. von Art. 104 II bis IV ist ein Unterfall der Freiheitsbeschränkung . Die beiden Begriffe unterscheiden sich nicht qualitativ, sondern graduell. Freiheitsentziehung bedeutet die allseitige Beschränkung der Freiheit; die bis zur vollständigen Beseitigung der Freiheit intensivierte Form der Freiheitsbeschränkung (…). Eine Freiheitsentziehung liegt dann vor, wenn jemand gegen oder ohne seinen Willen durch die öffentliche Gewalt an einem bestimmten, eng umgrenzten Ort festgehalten wird (…). Entscheidend ist der Erfolg. Er besteht in der Tatsache, daß eine Person durch die öffentliche Gewalt daran gehindert wird, einen bestimmten Ort zu verlassen. Unbeachtlich ist es dabei, mit welchen Mitteln die Freiheitsentziehung durchgeführt wird. In den meisten Fällen wird der Betroffene eingeschlossen und sonach mit äußeren Zwangsmitteln festgehalten werden. Dies ist jedoch begrifflich nicht erforderlich. Es genügt, daß jemand durch psychische Mittel, z.B. durch Strafdrohung, daran gehindert wird, einen bestimmten, eng umgrenzten Raum zu verlassen. 39 Der EGMR beurteilt das Vorliegen einer Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 EMRK anhand einer Gesamtwürdigung des konkreten Einzelfalles. Der Gerichtshof untersucht eine Reihe von Kriterien, wie z.B. die Art, Dauer, Wirkungen und die Durchführungsmodalitäten der betreffenden Maßnahme (siehe etwa EGMR, Amuur gegen Frankreich [Urteil vom 25. Juni 1996], Beschwere-Nr. 19776/92, Rn. 42). Auch wenn der EGMR keine statische Definition vorgibt, dürfte es entscheidend ankommen auf die Begrenzung eines Individuums gegen seinen Willen und unter Anwendung staatlichen Zwangs auf einen eng begrenzten Raum für eine gewisse Dauer (Dörr, „Freiheit der Person“ in Dörr, Grote und Marauhn, EMRK/GG: Konkordanzkommentar [2. Aufl., Mohr Siebeck, Tübingen, 2013], Bd. I, S. 632 [688], Rn. 120). In Fällen, in denen das Vorliegen einer Freiheitsentziehung tatsächlich unklar ist, verschiebt der EGMR die Darlegungs- und Beweislast zu Lasten des Staates, d.h. sobald der Betroffene nachweisen kann, dass er in den tatsächlichen Machtbereich einer staatlichen Instanz geraten war bzw. sich in einen solchen begeben hatte, ist es Sache des Staates zu erklären, was dort mit ihm geschah und dass u.U. keine Freiheitsentziehung vorlag (ibid., m.w.N.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 13 Eine Verletzung der Gebietshoheit des Iraks würde gleichwohl nur im Verhältnis der beiden involvierten Staaten Rechtsfolgen auslösen.40 Ali B. könnte aus einem Völkerrechtsverstoß keine Rechtsfolgen für sein Strafverfahren in Deutschland herleiten. Denn es besteht keine allgemeine Regel des Völkerrechts, der zufolge die Durchführung eines Strafverfahrens gegen eine Person wegen Verletzung einer völkerrechtlichen Norm gehindert ist (s.u. 6.).41 5. Menschenrechtliche Bewertung Eine Verbringung von flüchtigen Tatverdächtigen aus dem Hoheitsgebiet anderer Staaten könnte gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit aus Art. 5 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK) verstoßen . Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits 1986 im Fall Öcalan gegen die Türkei in einem Urteil der Großen Kammer entschieden, dass die EMRK „einer Zusammenarbeit zwischen Staaten im Rahmen von Auslieferungsabkommen oder in Abschiebungssachen mit dem Ziel, flüchtige Straftäter vor Gericht zu bringen, nicht entgegen(steht), vorausgesetzt , sie verstößt nicht gegen ein spezifisches Recht der Konvention“.42 Die EMRK, so der Gerichtshof weiter, „regelt nicht die Voraussetzungen, unter denen eine Auslieferung bewilligt werden kann, und auch nicht das Auslieferungsverfahren. Wenn sie das Ergebnis einer Zusammenarbeit der betreffenden Staaten ist und für die Festnahme des Geflüchteten ein Haftbefehl der Behörden seines Heimatstaates vorliegt, kann selbst eine atypische Auslieferung nicht als konventionswidrig angesehen werden. (…) Unabhängig davon, ob die Festnahme gegen das Recht des Fluchtstaates verstößt - eine Frage, die der Gerichtshof nur zu prüfen hat, wenn er Konventionsstaat ist -, bedarf es des Beweises in Form von überzeugenden Anhaltspunkten, dass die Behörden des Staates, dem der Betroffene übergeben wurde, außerhalb ihres Hoheitsgebiets in einer Art und Weise vorgegangen sind, die mit der Souveränität des Aufnahmestaates unvereinbar ist, also dem Völkerrecht zuwiderläuft.“43 40 Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung (Fn. 16), S. 123-125, siehe auch S. 100 ff.; Völkerrechtler Ambos zitiert im Spiegel Nr. 25 (Fn. 3), S. 29. 41 So auch BVerfG (Beschluss vom 17. Juli 1985), Az. 2 BvR 1190/84, (1986), NJW, S. 1427 (Leitsatz). Zum Grundsatz male captus, bene detentus siehe auch Pekárek und Wegner, „Wurde Ali B. rechtswidrig aus dem Irak nach Deutschland geholt?“ (Fn. 26). 42 EGMR, Öcalan v. Turkey (Urteil vom 12. Mai 2005), Beschwerde-Nr. 46221/99, in deutscher Übersetzung verfügbar in (2006) NVwZ, S. 1267 (1268), Rn. 86. 43 Ibid., Rn. 89 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 14 Demnach prüft der EGMR im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 EMRK inzident, ob die Ingewahrsamnahme durch die Sicherheitskräfte eines EMRK-Mitgliedstaates Hoheitsrechte des Aufenthaltsstaates verletzt, also insbesondere, ob die hoheitliche, extraterritoriale Handlung mit Einwilligung des Aufenthaltsstaates erfolgte. Im Fall Öcalan gegen die Türkei hatten türkische Sicherheitskräfte Öcalan an Bord eines Flugzeugs auf dem Flughafen von Nairobi (Kenia) ohne vorherige, ausdrückliche Einwilligung Kenias festgenommen. Der Gerichtshof stellte fest, dass kein Umstand der Festnahme „zu einem internationalen Streit zwischen Kenia und der Türkei geführt oder zu einer Verschlechterung ihrer diplomatischen Beziehungen (geführt hatte). Die Behörden Kenias haben keine Protestnote in dieser Sache an die Regierung der Türkei gerichtet oder Wiedergutmachung verlangt, etwa die Rückkehr des (Beschwerdeführers) oder Schadensersatz. (Daher sei) davon auszugehen, dass die Behörden Kenias seinerzeit beschlossen haben, den (Beschwerdeführer) den türkischen Behörden zu übergeben oder eine solche Übergabe zu erleichtern.“44 Nach Überzeugung des EGMR sah Kenia in der Festnahme Öcalans keine Verletzung seiner Souveränität .45 Folglich waren die Festnahme des Beschwerdeführers und dessen anschließende Haft „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise” im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfolgt und Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht verletzt.46 Damit lässt sich feststellen, dass die Festnahme durch Beamte eines Mitgliedstaates der EMRK auf dem Gebiet eines Nicht-EMRK-Mitgliedstaates dann konventionswidrig ist, wenn nachgewiesenermaßen Rechte dieses Staates verletzt sind.47 Die Beteiligung (privater) Dritter an der Inhaftierung – etwa durch Entführung über die Grenze in einen Mitgliedstaat der EMRK – kann eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK darstellen, wenn sie mit Wissen der Behörden erfolgt oder wenn die Dritten schwere Menschenrechtsverletzungen begehen.48 44 Ibid., Rn. 95, 97. 45 Ibid., Rn. 95. 46 Ibid., Rn. 99. 47 Elberling, „Art. 5“, in Karpenstein und Mayer (Hrsg.), EMRK, Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Beck, München, 2012), S. 103, Rn. 27. 48 Ibid., S. 104, Rn. 27 mit Verweis auf EGMR, Stocké gegen Deutschland (Urteil vom 19. März 1991), Beschwerde- Nr. 11755/85, Rn. 54 sowie EGMR, Al-Moayad gegen Deutschland (Urteil vom 20. Februar 2007), Beschwerde- Nr. 35865/03, in deutscher Übersetzung verfügbar in (2008) NVwZ, S. 761. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 15 Anders dürfte der Fall liegen, wenn deutsche Beamte den flüchtigen Tatverdächtigen nicht selbst auf fremdem Staatsgebiet festnehmen, sondern ihn von ortsansässigen Sicherheitsbehörden übergeben bekommen. Diese Fallkonstellation wurde bis dato noch nicht vom EGMR entschieden ; gleichwohl ist höchstrichterlich gesichert, dass für deutsche Beamten die EMRK auch extraterritorial gilt, sodass ab dem Zeitpunkt, in dem diese unmittelbare Gewalt über eine Person ausüben , die menschenrechtlichen Standards der EMRK bei einer Festnahme oder sonstigen Ingewahrsamnahme eingehalten werden müssen.49 Geschehnisse im Vorfeld der Übergabe im Aufenthaltsstaat – also etwaige Menschenrechtsverletzungen durch die lokale Sicherheitsbehörden – dürften den Organen des EMRK-Staates nicht zurechenbar sein, solange diese nicht mit dessen Wissen und Wollen erfolgten. 6. Strafprozessuale Konsequenzen Die außerhalb eines förmlichen Auslieferungsverfahrens erfolgende Übergabe eines Beschuldigten im Ausland an deutsche Polizeibeamte zum Zweck der Abschiebung und seine anschließende Verbringung in das Bundesgebiet begründet kein Verfahrenshindernis.50 Selbst bei einer völkerrechtswidrigen Entführung aus fremden Hoheitsgebiet kommt nach der Rechtsprechung51 und der wohl überwiegenden Auffassung im wissenschaftlichen Schrifttum52 ein Verfahrenshindernis nur ausnahmsweise in Betracht. Eine solche Ausnahmesituation wurde sowohl vom Bundesgerichtshof als auch vom Bundesverfassungsgericht in einem Fall abgelehnt, in dem ein Tatverdächtiger auf niederländischem Hoheitsgebiet gegen seinen Willen von einem deutschen Kriminalbeamten unter vorgehaltener Pistole festgenommen, in den Fond eines bereitstehenden Pkw verbracht und über die Grenze nach Deutschland gefahren wurde, wo ihm der gegen ihn erlassene Haftbefehl eröffnet wurde.53 49 Johann, „Art. 1“, in Karpenstein und Mayer (Hrsg.), ibid., S. 50, Rn. 28. 50 Fischer, in Karlsruher Kommentar: StPO (7. Aufl. 2013), Einleitung, Rn. 412. 51 BGH (1985), NStZ, S. 464; BVerfG (1986), NJW, S. 3021 f.; ähnlich zuvor schon BGH (1984), NStZ, S. 563 f.; BVerfG (1986), NStZ, S. 178 f. in einem Fall, in dem ein Tatverdächtiger „mittels List“ in die Bunderepublik verbracht wurde. 52 Fischer (Fn. 50); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, (60. Aufl. 2017), Einl Rn. 149 m.w.N.; vgl. ferner Kudlich, in Münchener Kommentar: stopp (2014), Einleitung Rn. 387: „Verstöße gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts , etwa bei einer völkerrechtswidrigen Festnahme und Verschleppung“ seien „Fälle, in denen – jeweils freilich nur für extreme Konstellationen – Verfahrenshindernisse diskutiert werden“. Für ein weitergehendes Verfahrenshindernis: Paeffgen, in SK-StPO, Bd. IV (5. Aufl. 2015), Anh. 206a, Rn. 32; Schubarth, StV (1987), S. 173 (174 f.); Vogler, in Festschrift für Dietrich Oehler (1985), S. 379 ff. Kritisch zur Rechtsprechung auch: Schünemann, in Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (1993), S. 215 (229 ff.). 53 BGH (Fn. 51) (mit Sachverhaltsschilderung); BVerfG (Fn. 51). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 16 Der Bundesgerichtshof hat hierzu ausgeführt: „Die Verletzung holländischer Hoheitsrechte könnte nur dann als Verfahrenshindernis gemäß Art. 25 GG in Betracht kommen, wenn die Niederlande Ansprüche aus der völkerrechtlichen Verletzung ihrer Gebietshoheit gegenüber der Bundesrepublik geltend machen würden und diese Ansprüche ihrer Art nach der Durchführung des Strafverfahrens entgegenstünden, so wenn die Niederlande Wiedergutmachung in Form der unverzüglichen Rückführung des Entführten verlangen würden.“54 Das Bundesverfassungsgericht hat bekräftigt, dass „keine allgemeine Regel des Völkerrechts [besteht], derzufolge die Durchführung eines Strafverfahrens gegen eine Person, die unter Verletzung der Gebietshoheit eines fremden Staates in den Gerichtsstaat verbracht worden ist, gehindert wäre, weil der völkerrechtliche Anspruch des verletzten Staates auf eine unverzügliche Übergabe bereits entstanden oder schon durch die Verbringung als solche ein völkerrechtswidriger Unrechtstatbestand verwirklicht worden ist.“ Das gelte jedenfalls dann, wenn der abzuurteilende Sachverhalt eine „gewisse Mindestbeziehung “ zum Hoheitsbereich des Staates, der das Strafverfahren durchführe, aufweise. Im vom Bundesverfassungsgericht zu beurteilenden Fall hat nach seiner Auffassung sogar eine „sehr enge Beziehung“ zum Hoheitsbereich der Bundesrepublik bestanden, weil der Tatverdächtige deutscher Staatsangehöriger war und die ihm zur Last gelegten Straftaten auf dem Gebiet der Bundesrepublik begangen hatte. Die Frage, ob wenigstens dann, wenn der durch die Entführung verletzte Staat die unverzügliche Rücklieferung des Entführten fordere, ein völkerrechtlich begründetes Verfahrenshindernis bestehe, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassen .55 Das Bundesverfassungsgericht hat neben der Frage eines völkerrechtlichen Verfahrenshindernisses auch die Frage aufgeworfen, ob die „Umstände der Ergreifung“ des Tatverdächtigen die Durchführung des strafgerichtlichen Verfahrens von Rechtstaats wegen oder im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG hinderten. Hierzu hat es ausgeführt, dass die „Art und Weise, in der die Strafverfolgungsbehörden eines Tatverdächtigen habhaft werden,“ wenn überhaupt, nur in „extrem gelagerten Ausnahmefällen“ zu einem Verfahrenshindernis unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips oder des Art. 1 Abs. 1 GG führen könnten. Solch ein Fall sei vorliegend nicht gegeben . Zwar sei der Tatverdächtige „mit Hilfe von Maßnahmen körperlichen Zwangs auf niederländischem Hoheitsgebiet unter Verletzung seines strafrechtlich geschützten Freiheitsrechts (§ 239 Abs. 1 StGB) festgenommen“ worden. Jedoch habe zum Zeitpunkt seiner Ergreifung ein Haftbefehl vorgelegen. Es habe ein Tatverdacht von nicht unerheblichem Gewicht bestanden. Der strafrechtliche Unrechtsgehalt der „Entführung“ wiege zudem weniger schwer gegenüber der Schuld 54 BGH (Fn. 51). 55 BVerfG (Fn. 51). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 085/18, WD 7 - 3000 - 144/18 Seite 17 des Tatverdächtigen56, dessen hohe kriminelle Energie auch seine erheblichen Vorstrafen belegen würden. Schließlich stehe die „Entführung“ in keinem materiellen Zusammenhang mit der Tatbegehung und dem Maß der Schuld des Tatverdächtigen. Diese Umstände schlössen jedenfalls in ihrer Gesamtheit die Annahme aus, dass ein verfassungsrechtlich anerkennenswertes Interesse an einer Strafverfolgung nicht mehr bestanden habe und die Durchführung des strafgerichtlichen Verfahrens gegen ihn somit unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips oder des Art. 1 Abs. 1 GG nicht mehr hinnehmbar gewesen sei.57 *** 56 Zur Last gelegt wurden ihm Hehlerei und versuchter Diebstahl (vgl. BGH, Fn. 51). 57 BVerfG (Fn. 51), S. 3022.