WD 2 - 3000 - 084/17 (19. September 2017) © 2017 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Einführung der Todesstrafe Die (Wieder-)Einführung der Todesstrafe in der Türkei wäre nach aktuellem Stand völkerrechtswidrig , da die Türkei das Zusatzprotokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (Europäische Menschenrechtskonvention, 6. ZP zur EMRK) 1, das Zusatzprotokoll Nr. 13 zur EMRK (13. ZP zur EMRK)2 sowie den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)3 unterzeichnet hat und damit völkervertragliche Verpflichtungen eingegangen ist. Diese zielen auf das Verbot der Wiedereinführung und der Vollstreckung der Todesstrafe. Nach Art. 1 des 6. ZP zur EMRK und Art. 1 des 13. ZP zur EMRK ist die Todesstrafe sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten abgeschafft. Die Verpflichtungen aus dem 13. ZP zur EMRK umfassen inhaltlich auch die aus dem 6. ZP zur EMRK. Art. 6 IPBPR verbietet die Todesstrafe zwar nicht kategorisch, normiert gleichwohl, dass diese nur für „schwerste Verbrechen auf Grund von Gesetzen verhängt werden (darf), die zur Zeit der Begehung der Tat in Kraft waren“. Um sich von diesen völkervertraglichen Verpflichtungen zu lösen, könnte die Türkei ihre Mitgliedschaft zur EMRK jederzeit nach Art. 58 EMRK mit einer Frist von sechs Monaten kündigen. Damit wären automatisch auch die Zusatzprotokolle gekündigt. Eine isolierte Kündigung der Zusatzprotokolle zur EMRK ist dagegen nicht vorgesehen. 1 Europarat, „Chart of Signatures and Ratifications of Treaty 114“ (Stand: 14. September 2017), verfügbar unter: http://www.coe.int/en/web/conventions/search-on-treaties/- /conventions/treaty/114/signatures?p_auth=hVTzHU8a (zuletzt aufgerufen am 14. September 2017). 2 Europarat, „ Chart of Signatures and Ratifications of Treaty 187” (Stand: 14. September 2017), verfügbar unter: http://www.coe.int/en/web/conventions/search-on-treaties/- /conventions/treaty/187/signatures?p_auth=DiTDbaxA (zuletzt aufgerufen am 14. September 2017). 3 United Nations Treaty Collection, “Human Rights” (Stand: 12. September 2017), verfügbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=IND&mtdsg_no=IV-4&chapter=4&clang=_en (zuletzt aufgerufen am 13. September 2017). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Einführung einer rückwirkenden Todesstrafe in der Türkei Kurzinformation Einführung einer rückwirkenden Todesstrafe in der Türkei Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Eine Kündigung der EMRK hätte zwar keinen automatischen Verlust der Mitgliedschaft im Europarat zur Folge, würde die Türkei in der europäischen Staatengemeinschaft aber weiter isolieren . Abgesehen von dem vorübergehenden Austritt Griechenlands aus der EMRK (griech. Militärdiktatur 1969-1974) ist das Instrument der Vertragskündigung bislang nicht genutzt worden. Anders als die EMRK ist der IPBPR nicht kündbar. Damit ist jedenfalls das Rückwirkungsverbot aus Art. 6 Abs. 2 IPBPR für die Türkei unverrückbar.4 Über völkervertragliche Regelungen hinaus ist das Verbot der Todesstrafe noch nicht zum Bestandteil des geltenden Völkergewohnheitsrechts geworden.5 Zum Teil wird jedoch argumentiert , dass die Ächtung der Todesstrafe in Europa bereits regionales Völkergewohnheitsrecht darstellt .6 Rückwirkende Anwendung der Todesstrafe Art. 7 der EMRK („Keine Strafe ohne Gesetz“) und Art. 6 Abs. 2 IPBPR verbieten gleichermaßen die rückwirkende Anwendung der Todesstrafe auf Taten, die zur Zeit ihrer Begehung noch nicht mit Todesstrafe bewährt waren. Eine rückwirkende Anwendung der Todesstrafe ist damit völkerrechtswidrig . Handlungsmöglichkeiten Deutschlands Deutschland stehen auf internationaler Ebene verschiedene politische und rechtliche Handlungsmöglichkeiten als Reaktion auf eine (etwaige) Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei zur Verfügung. 4 Grund hierfür ist, dass der IPBPR keine Kündigungs- oder Rücktrittsklausel enthält. Damit richtet sich das das Kündigungs- oder Rücktrittsrecht nach den allgemeinen völkerrechtlichen Regeln, wie sie in Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 56 Abs. 1 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge niedergelegt sind. Hiernach ist ein Vertrag, der eine Kündigung oder Rücktritt nicht vorsieht, nicht kündbar, sofern (a) nicht feststeht, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit einer Kündigung oder eines Rücktritts zuzulassen beabsichtigen, oder (b) ein Kündigungs- oder Rücktrittsrecht sich nicht aus der Natur des Vertrages herleiten lässt. Beides ist bei IPBPR nicht der Fall, siehe VN-Menschenrechtsausschuss, General Comment No. 26 (61), (8. Dezember 1997), VN-Dok. CCPR/C/21/Rev.1/Add.8/Rev.1. 5 Scheinin, „Death Penalty“ (2008), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 14. September 2017). 6 Peters, „Die Mißbilligung der Todesstrafe durch die Völkerrechtsgemeinschaft“, (1999) Europäische Grundrechte -Zeitschrift, Bd. 26, Heft 23-24, S. 650 (656); Schmahl, „Die Abschaffung der Todesstrafe“, (2011) DTIEV- Online Nr. 2/2011, verfügbar unter: https://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/rewi/iev/schmahldtievonline 2011nr2.pdf (zuletzt aufgerufen am 13. September 2017), S. 16; EGMR, Soering v. The United Kingdom (7. Juli 1989) Beschwerdenr. 14038/88, Sondervotum des Richters De Meyer. Kurzinformation Einführung einer rückwirkenden Todesstrafe in der Türkei Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Zunächst könnte Deutschland, ebenso wie jeder andere Mitgliedstaat der EMRK, eine Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg erheben. Hierfür muss der beschwerdeführende Staat keine Verletzung eigener Rechte geltend machen. Die Zahl der bisher beim EGMR geführten Staatenbeschwerden ist gering, da diese Beschwerden tendenziell in politischen, konfliktgeladenen Kontexten erhoben werden. Deutschland war bisher an keinem Staatenbeschwerdeverfahren beteiligt.7 Auch der Internationale Zivilpakt (IPBPR) sieht in Art. 41 ein (fakultatives) Staatenbeschwerdeverfahren für diejenigen Staaten vor, die eine Erklärung betreffend die Anerkennung der entsprechenden Zuständigkeit des Ausschusses abgegeben haben. Nach einer nicht-öffentlichen Beratung erstellt der Menschenrechtsausschuss innerhalb einer Frist von 12 Monaten einen den Beteiligten zu übermittelnden Bericht mit einer Darstellung des Sachverhalts, einer schriftlichen Stellungnahme sowie einem Protokoll über die mündlichen Äußerungen der Parteien. Eine eigentliche Entscheidung, ob eine Vertragsverletzung vorliegt, enthält der Bericht jedoch nicht. Bislang hat das Staatenbeschwerdeverfahren, anders als im regionalen Völkerrecht, bislang kaum praktische Bedeutung gehabt. Ein Gutachterverfahren nach Art. 47 Abs. 1 EMRK stellt hingegen keine Handlungsoption Deutschlands dar, weil Art. 47 Abs. 2 EMRK Individual- und Staatenbeschwerden grundsätzlich für vorrangig erklärt. Fragen zum materiellen Recht der EMRK sind als Gegenstand des Gutachterverfahrens ausgeschlossen, weil der EGMR davor bewahrt werden soll, im Gutachterverfahren die spätere Prüfung einer Rechtsfrage im Individual- und Staatenbeschwerdeverfahren zu präjudizieren.8 Im Übrigen bleiben Deutschland diplomatische und wirtschaftspolitische Handlungsoptionen. So könnte im Europarat oder in der NATO ebenso Druck auf die Türkei ausgeübt werden wie durch die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen zur EU. Wirtschaftspolitisch wird zudem die Aussetzung von deutschen Hermes-Bürgschaften diskutiert. *** 7 Karpenstein und Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten: Kommentar (2. Aufl., Beck, München, 2015), Art. 33, S. 529, Rn. 2. 8 Ibid., Art. 47, S. 693, Rn. 3.