© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 083/16 Vereinbarkeit einer allgemeinen Dienstpflicht mit Art. 4 EMRK Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 2 Vereinbarkeit einer allgemeinen Dienstpflicht mit Art. 4 EMRK Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 083/16 Abschluss der Arbeit: 15. Juni 2016 (auch letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Verbot der Zwangsarbeit nach Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention 4 2.1. Begriff der Zwangsarbeit 4 2.2. Ausnahmen 5 2.2.1. Wehr- und Wehrersatzdienst 6 2.2.2. Dienst bei Notständen oder Katastrophen 6 2.2.3. Dienst im Rahmen normaler Bürgerpflichten 6 2.3. Verstoß gegen Art. 4 EMRK 7 3. Zusammenfassung 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 4 1. Einführung Der vorliegende Sachstand erörtert die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) mit Blick auf eine mögliche Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht im nationalen Recht. 2. Verbot der Zwangsarbeit nach Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention Gemäß Art. 4 Abs. 2 EMRK ist Zwangs- und Pflichtarbeit verboten, wobei den beiden Begriffen dieselbe Bedeutung zukommt1. 2.1. Begriff der Zwangsarbeit Die EMRK selbst enthält keine Definition der Zwangsarbeit. Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Bestimmung des Begriffs der Zwangsarbeit das Übereinkommen über Zwangs- oder Pflichtarbeit2 heranzuziehen3. Nach Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens ist Zwangsarbeit jede Art von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe4 verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat. Unzulässig ist daher jede höchstpersönliche Dienstleistung körperlicher oder geistiger Art, wenn die Verpflichtung nicht freiwillig übernommen wurde5. Eine allgemeine Dienstpflicht stellt eine solche unfreiwillige Inanspruchnahme der Arbeitskraft der Betroffenen durch den Staat dar. Würde der Staat für den Fall der Nichtableistung des Dienstes eine Sanktion androhen, so läge ein Fall von Zwangsarbeit vor. 1 Birk, Rolf, Art. 4 EMRK, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention , Köln, 10. Lieferung Dezember 2007, S. 13, Rn. 20. 2 Übereinkommen Nr. 29 der Internationalen Arbeitsorganisation über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930. 3 EGMR, Entscheidung vom 23. November 1983 – van der Mussele gegen Belgien, Beschwerde-Nr. 8919/80, Rn. 32, http://hudoc.echr.coe.int/tur?i=001-57591#{"itemid":["001-57591"]}; dazu Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK- Kommentar, München, 2. Auflage 2015, S. 101, Rn. 15; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München, 6. Auflage 2016, § 20, Rn. 88, 91. 4 Der Begriff der „Strafe“ ist im Übrigen weit auszulegen und erfasst nicht nur strafrechtliche Sanktionen, Karpenstein /Mayer (Fn. 3), S. 101, Rn. 15; Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 15, Rn. 27. 5 Grabenwarter/Pabel (Fn. 3), S. 223, Rn. 91. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 5 Weiterhin ist zu prüfen, ob neben den mit einer Arbeit verbundenen Belastungen für den / die Dienstverpflichtete/n auch Vorteile (z.B. im Hinblick auf eine berufliche Ausbildung) zu erwarten sind und ob die Nachteile hierzu außer Verhältnis stehen6. Stellten sich die Belastungen als unverhältnismäßig dar, so liegt ein Fall von Zwangsarbeit vor7. Eine unverhältnismäßige Belastung ist gegeben, wenn die Tätigkeit mit einem Nachteil verbunden ist, der so unverhältnismäßig ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Dienstverpflichtete aus freien Stücken in diese Tätigkeit eingewilligt hätte8. Dies ist insbesondere der Fall, wenn es sich um eine Tätigkeit ohne Verbindung zu dem jeweiligen Beruf des Dienstverpflichteten handelt9. Eine allgemeine Dienstpflicht für junge Frauen und Männer kann je nach ihrer Zielsetzung und Ausgestaltung die unterschiedlichsten Tätigkeiten zum Inhalt haben10. Zwar besteht die Möglichkeit , dass sich die ausgeübte Tätigkeit für den (zukünftig) ausgeübten Beruf als nützlich erweisen könnte. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine Dienstverpflichtung, die berufsinhärent ist11. Vielmehr stünde die Dienstverpflichtung mit dem (angestrebten) Beruf in keinem direkten Zusammenhang . Eine allgemeine Dienstpflicht stellt damit Zwangsarbeit im Sinne der EMRK dar12. 2.2. Ausnahmen Eine allgemeine Dienstpflicht würde gegen Art. 4 EMRK verstoßen, wenn kein Ausnahmetatbestand nach Art. 4 Abs. 3 EMRK vorliegt. 6 EGMR, Entscheidung vom 23. November 1983 (Fn. 3), Rn. 37; Karpenstein/Mayer (Fn. 3), S. 101, Rn. 16; Grabenwarter /Pabel (Fn. 3), S. 223, Rn. 91; Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 16/17, Rn. 29; Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar , Kehl am Rhein, 3. Auflage 2009, S. 65, Rn. 9. 7 EGMR (Fn. 3), Rn. 37. 8 EGMR (Fn. 3), Rn. 37. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob die Verpflichtung zum Rechtsbeistand durch Junganwälte dem Anwendungsbereich des Art. 4 EMRK unterfällt. 9 EGMR (Fn. 3), Rn. 37. 10 Vgl. Köhler, Michael, Allgemeine Dienstpflicht für junge Erwachsene?, in: Zeitschrift für Recht und Politik 1995, Heft 4, S. 140 – 44 (143); Karl, Wolfram, Zur Verfassungsmäßigkeit eines verpflichtenden Sozialdienstes in Österreich, in: Staat und Recht in europäischer Perspektive – FS Heinz Schäffer, Wien 2006, S. 343 – 360 (357 f.). 11 Vgl. Köhler, Michael (Fn. 11), S. 143, und EGMR (Fn. 3), Rn. 37. 12 Köhler, Michael (Fn. 11), S. 143; Schindler, Roxane, Die allgemeine Dienstpflicht, Zürich 1997, S. 62/63; Ausarbeitung „Rechtliche Würdigung der Möglichkeit einer Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Frauen und junge Männer“, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 15. August 2003, WF III - 180/03, S. 11, https://www.bundestag.de/blob/407416/b3d790fb6fcd9e4a6c4ce444c91aef0c/wf-iii-180-03-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 6 2.2.1. Wehr- und Wehrersatzdienst Insbesondere der Wehr- und der Wehrersatzdienst stellen ausdrücklich keine Zwangsarbeit dar. Während der Wehr- und der Wehrersatzdienst gemäß Art. 12a GG a.F. unter den Ausnahmetatbestand des Art. 4 Abs. 3 EMRK fielen, wäre die Einführung eines vom Wehrdienst losgelöst angeordneten , allgemeinen Dienstes kein solcher „Ersatzdienst“13. Denn in diesem Fall würden nicht nur Kriegsdienstverweigerer, sondern alle jungen Männer und Frauen zur Ableistung dieses Dienstes verpflichtet. 2.2.2. Dienst bei Notständen oder Katastrophen Ebenfalls nicht unter den Begriff der Zwangsarbeit fallen Dienstleistungen, die von den Bürgern im Fall von Notständen oder Katastrophen, welche das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen, zu erbringen sind. Ein Notstand ist ein Zustand ernster Gefährdung von Menschen oder lebenswichtigen Gütern, der mit den gewöhnlichen Mitteln nicht abgewendet werden kann14. Maßgeblich ist, dass es sich um einen akuten, existenziellen Notstand vorübergehender Natur handelt15. Die allgemeine Dienstpflicht begründet demgegenüber eine Verpflichtung, die unabhängig von einem akuten, konkreten Anlass besteht. Würde die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht angesichts eines allgemeinen oder eines branchenbezogenen Bedarfes nach Arbeitskräften erfolgen und in diesem Bereich Abhilfe schaffen, so wäre auch dies ein Fall der Zwangsarbeit16. Denn die Ausnahme des Art. 4 Abs. 3 c) EMRK erfasst keine dauerhaften, strukturbedingten bedrohlichen Zustände, d.h. keine wirtschaftlichen oder einen besonderen Industriezweig (z.B. die Pflege) betreffenden Krisen17. 2.2.3. Dienst im Rahmen normaler Bürgerpflichten Schließlich stellen solche Arbeiten oder Dienstleistungen keine Zwangsarbeit dar, die zu den normalen Bürgerpflichten gehören. Es handelt sich um Dienstpflichten, die in einer freiheitlichen Demokratie als „normal“ angesehen werden18. Dies sind z.B. Dienste, die - in einer Gemeinde traditionell den Bürgern abverlangt werden (z.B. Pflicht zur Deichhilfe )19, 13 Grabenwarter/Pabel (Fn. 3), S. 225/226, Rn. 95; Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 29, Rn. 58; Karpenstein/Mayer (Fn. 3), S. 105, Rn. 29; Vasek, Markus, Verpflichtender Sozialdienst und MRK, Österreichische Juristenzeitung 2001, Heft 4, S. 158 – 163 (161). 14 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 30, Rn. 62. 15 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 30, Rn. 62. 16 Köhler, Michael (Fn. 11), S. 143. 17 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 31, Rn. 63. 18 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 31, Rn. 64. 19 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 31, Rn. 65. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/16 Seite 7 - alle Bürger eines Staates gleichermaßen verrichten müssen (z.B. allgemeine Meldeplichten , Streupflicht), - sich als Hilfeleistung in Notsituationen darstellen, soweit kein Notstand im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EMRK gegeben ist (z.B. Feuerlöschpflicht)20. Diesen Beispielen lässt sich entnehmen, dass die „normale“ Dienstpflicht regelmäßig an einen bestimmten Umstand (z.B. Hochwasser, Brand, Schneefall, Umzug) anknüpft, entsprechend auf einen relativ kurzen Zeitraum begrenzt und daher mäßig belastend ist. Dies ist bei einer allgemeinen Dienstpflicht, der die Dienstverpflichteten meist für ein Jahr nachkommen müssen, nicht der Fall. Vor diesem Hintergrund stellt sie sich nicht als „normale Bürgerpflicht“ dar21. 2.3. Verstoß gegen Art. 4 EMRK Jede staatliche Maßnahme, die in den Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 2 EMRK fällt und keine Ausnahme gemäß Art. 4 Abs. 3 EMRK darstellt, bedeutet einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 4 Abs. 2 EMRK22. Dieser Eingriff beinhaltet aufgrund der Absolutheit der normierten Verbote gleichzeitig auch eine Rechtsverletzung der Betroffenen23. Art. 4 EMRK enthält darüber hinaus – anders als beispielsweise Art. 10 Abs. 2 EMRK für die freie Meinungsäußerung – keine Vorgaben, nach denen die aus Art. 4 EMRK folgenden Rechte zulässig eingeschränkt oder eine Verletzung dieser Rechte gerechtfertigt werden könnten. Aus Art. 15 Abs. 2 EMRK ergibt sich vielmehr, dass ein Verstoß gegen das Verbot der Zwangsarbeit nur im Fall des Notstands zulässig ist. 3. Zusammenfassung Die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht in Deutschland – sei es durch einfaches (Bundes -)Gesetz oder durch eine Verfassungsänderung (z.B. Schaffung eines Art. 12b GG) – würde gleichermaßen gegen das Verbot der Zwangsarbeit nach Art. 4 Abs. 2 EMRK verstoßen24. 20 Pabel/Schmahl (Fn. 1), S. 32, Rn. 65. 21 Zu diesem Ergebnis gelangt auch die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (Fn. 12), S. 11. Anders wohl Pietzcker, Jost, Das soziale Pflichtjahr – rechtlich gesehen, in: Gedächtnisschrift Meinhard Heinze, München 2005, S. 637 – 647 (645 f.). 22 Karpenstein/Mayer (Fn. 3), S. 102, Rn. 19. 23 Ebenda. 24 Ebenso Schmidt-Radefeldt, Roman, Art. 12 a GG, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, München, 2. Auflage 2013, S. 445, Rn. 8.