© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 083/15 Irreguläre Migration in die EU über das Mittelmeer Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 2 Irreguläre Migration in die EU über das Mittelmeer Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 083/15 Abschluss der Arbeit: 4. Mai 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Begriffsklärung 4 3. Aktuelle Situation 5 3.1. Zahl der irregulären Migranten 5 3.2. Herkunftsländer 6 3.3. Opferzahlen 6 4. Der Aspekt Menschenrechte 9 5. Der Zehn-Punkte-Plan der EU und die Reaktionen darauf 10 5.1. Afrikanische Reaktionen 11 5.2. Europäische Reaktionen 13 5.3. Reaktionen auf den Zehn-Punkte-Plan 14 5.3.1. Reaktionen aus der Politik 14 5.3.2. Reaktionen aus der Zivilgesellschaft 15 5.3.3. Reaktionen der Medien 16 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 4 1. Einleitung Dieser Sachstand dient der Vorbereitung auf das Gipfeltreffen der Präsidien der Parlamente der Parlamentarischen Versammlung der Union für das Mittelmeer am 11. Mai 2015 in Lissabon. Thema des Gipfeltreffens ist „Einwanderung, Asyl und Menschenrechte in der euro-mediterranen Region.“ Angesichts der aktuellen Ereignisse – der Tod von womöglich über 1.200 Menschen beim Versuch , das Mittelmeer in Richtung EU zu überqueren alleine im Zeitraum 13. - 19. April 2015 – wird diese Arbeit sich auf die Darstellung der jüngsten Daten und Zahlen zum Thema Migration in die EU über den Mittelmeerraum sowie auf die Darstellung verschiedener Reaktionen von Seiten der Politik und Zivilgesellschaft konzentrieren. 2. Begriffsklärung Im Rahmen dieser Arbeit werden die Menschen, die ohne Visum und/oder nicht über einen regulären Grenzübergang über das Mittelmeer in die EU zu gelangen versuchen, primär als „irreguläre Migranten“ bezeichnet. Irregulär bezieht sich allein auf die Tatsache, dass diese Menschen nicht über den regulären Weg, also über offizielle Grenzübergänge und mit einem vorab erteilten Visum (sofern dies aufgrund ihres Herkunftslandes für die EU erforderlich ist) einzureisen versuchen . Es wird damit keine Bewertung der Motive für die Einreise vorgenommen. „Migration“ folgt der Definition des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und bedeutet daher nur, dass Menschen ihren Aufenthaltsort von einem Land in ein anderes verlagern. Binnenmigration wird hier – wie beim BAMF – ausgeklammert.1 Die Begriffe „Flucht“ und „Flüchtling“ werden vermieden, sofern sich ihre juristisch korrekte Verwendung nicht aus dem Sinnzusammenhang ergibt oder in einem Zitat vorkommt. Dies erfolgt deshalb, weil der Status „Flüchtling“ auf die Menschen, um die es geht, nicht konsequent angewandt werden kann: nach der Genfer Flüchtlingskonvention sind Flüchtlinge nur Menschen, die aufgrund von „begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ fliehen, und ihnen muss nach internationalem Recht Asyl gewährt werden.2 Nationale Gesetzgebungen haben aber zum Teil weiter gefasste Regelungen (so die Bundesrepublik bis 1993). Unabhängig von der (völker-)rechtlichen Situation kann die Praxis aber so aussehen, dass tatsächlich gemäß Flüchtlingskonvention verfolgten Menschen kein Asyl gewährt wird, sie also nach dem Recht des Staates, bei dem sie um Asyl ersuchten, kein Flüchtling sind. Diese komplizierte Situation wird noch durch die unterschiedliche Verwendung der Begriffe in den Medien und der Politik erschwert, sowie dadurch, dass es 1 Oliver Raczum und Jacob Spallek, Definition von Migration und von der Zielgruppe "Migranten", Kurzdossier für die Bundeszentrale Politische Bildung vom 1. April 2009, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers /57302/definition (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 2 Vereinte Nationen, Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/dokumente /03_profil_begriffe/genfer_fluechtlingskonvention/Genfer_Fluechtlingskonvention_und_New_Yorker_Protokoll .pdf (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 5 sich bei den Menschen, die über das Mittelmeer in die EU zu gelangen versuchen, um keine homogene Gruppe handelt. „Irreguläre Migranten“ bezieht sich somit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. 3. Aktuelle Situation 3.1. Zahl der irregulären Migranten Laut EU-Grenzschutzbehörde FRONTEX betrugen die Zahlen der aufgegriffenen irregulären Migranten auf den drei Seerouten (Westliches, Mittleres und Östliches Mittelmeer) WM MM ÖM Insgesamt im Jahre 2010 5.000 4.500 55.700 65.200 im Jahre 2011 8.450 64.300 57.000 129.750 im Jahre 2012 6.400 15.900 37.200 59.500 im Jahre 2013 6.800 40.000 24.800 71.600 im Jahre 2014 7.840 170.760 50.830 229.430.3 Teilweise sprunghafte Anstiege bei der Zahl der irregulären Migranten in verschiedenen Jahren lassen sich Ereignissen wie dem Ausbruch des Krieges in Syrien oder dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Libyen unter anderem als Folge der internationalen Intervention zuordnen .4 Weltweit gelten aktuell5 51 Millionen Menschen als Asylsuchende oder (Binnen-)Flüchtlinge, wobei ein großer Teil der Menschen, die sich gezwungen sahen, ihren Heimatort zu verlassen, innerhalb des jeweiligen Staates verbleibt, d.h. den Status von IDPs (Internally Displaced Persons ) hat.6 Der überwiegende Teil der Migranten in die EU reist mit Visum bzw. ausreichenden Reisedokumenten per Flugzeug ein und bleibt dann unter Bruch der Visumsregelung in der EU, erst dann 3 FRONTEX, Migratory Routes Map, 2014, http://frontex.europa.eu/trends-and-routes/migratory-routes-map/ /zuletzt abgerufen am 22. April 2015). Die – hauptsächlich auf dem Landwege laufende Route – über den Balkan sowie die vergleichsweise sehr gering genutzte kanarische Route wurden nicht mit aufgeführt. 4 FRONTEX, aaO. 5 Ein dramatischer Anstieg in den letzten Jahren wird vor allem auf den Krieg in Syrien zurückgeführt. 6 Europäische Kommission – Humanitäre Hilfe und Zivilschutz, Refugees and Internally Displaced Persons, ECHO Factsheet 2014, http://ec.europa.eu/echo/files/aid/countries/factsheets/thematic/refugees_en.pdf (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 6 werden sie zu irregulären Migranten.7 Die jüngsten Schätzungen zur Zahl dieser Menschen in den 27 EU-Staaten stammen aus dem Jahre 2009 und reichen von 1,9 Mio. bis 3, 8 Mio.8 3.2. Herkunftsländer9 Die Herkunftsländer, aus denen die meisten irregulären Migranten kommen, ändern sich von Jahr zu Jahr. Für das erste Quartal 2015 gibt FRONTEX für die drei wichtigsten Seerouten jeweils die drei Hauptherkunftsländer wie folgt an: Westliches Mittelmeer: Syrien, Guinea, Elfenbeinküste Zentrales Mittelmeer: Syrien, Eritrea, subsaharisches Afrika10 Östliches Mittelmeer: Syrien, Afghanistan, Irak. Insgesamt (unter Hinzunahme der Migranten, die die EU über den Landweg erreichen) bilden in den letzten zwei Jahren Syrer, Afghanen, Eritreer, Malier und Somalier die fünf größten Gruppen. Die Zahl der aus Syrien stammenden Menschen, die über das Mittelmeer in die EU zu gelangen versuchen, ist seit Mitte 2013 deutlich angestiegen, d.h. seitdem die EU die Grenzen zur Türkei in Bulgarien sowie die zu den Nicht-EU-Staaten des Balkan strenger bewacht. Vorher war ein großer Teil der vor dem Bürgerkrieg fliehenden Syrer über den Landweg in die EU gekommen. Auch andere, zum Teil temporäre, Anstiege bei den Migrantenzahlen lassen sich in Verbindung mit bestimmten Ereignissen bringen: so gab es z.B. nach der israelischen Militäraktion in Gaza im Sommer 2014 einen deutlichen Anstieg palästinensischer Migranten. Die meisten Überfahrten werden im Frühling und Sommer gewagt.11 3.3. Opferzahlen Seit Beginn des Jahres 2015 bis heute (Stand dieser Arbeit: 29. April 2015) sind beim Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren, nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 1.750 Menschen ums Leben gekommen; achtzehn Mal mehr als im Vorjahreszeitraum. Dabei wurden im Jahr 2014 bereits Rekordzahlen sowohl bei den in 7 FRONTEX, aaO. 8 Europäische Komission, CLANDESTINO Research Project, Size and Development of Irregular Migration to the EU, Oktober 2009, http://irregular-migration.net/fileadmin/irregular-migration/dateien/4.Background_Information /4.2.Policy_Briefs_EN/ComparativePolicyBrief_SizeOfIrregularMigration_Clandestino_Nov09_2.pdf (zuletzt abgerufen am 4. Mai 2015). 9 FRONTEX, aaO., sowie unter Berufung auf die FRONTEX-Zahlen, DIE ZEIT Online, Wer steigt in die Flüchtlingsboote ?, DIE ZEIT Online vom 22. April 2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/fluechtlingemittelmeer -herkunftslaender (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 10 FRONTEX liefert hierzu keine weiteren Angaben, sondern gibt die genaue Herkunft nur als „unspezifiziert“ an. 11 FRONTEX aaO. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 7 Europa auf diesem Wege eintreffenden als auch bei den tödlich verunglückten Menschen verzeichnet .12 Die meisten der Unglücke geschahen im zentralen Mittelmeer, wo sich zwischen Libyen und Süditalien bzw. Malta eine der Hauptrouten der Boote aus Afrika befindet. Angaben zu den Todesopferzahlen sind ungenau und vermutlich niedriger als die tatsächlichen Zahlen, da sie sich nur auf die Anzahl der geborgenen Toten beziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Teil der Leichen nicht geborgen werden kann, ist hoch, Schätzungen der Dunkelziffer lassen sich schwer seriös bewerten. Eine offizielle Statistik der Toten führt die EU nicht. Auch die EU-Grundrechte-Agentur (FRA) gibt an, dass „Schätzungen aus den Reihen der Zivilgesellschaft die einzigen öffentlich zugänglichen Zahlen sind, die einen Vergleich (der Opferzahlen) über die Jahre zulassen.“13 Laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) starben im Zeitraum von 2011 bis 15. September 2014 ungefähr 5.000 Menschen auf dem Mittelmeer. Das Blog Fortress Europe gibt, ausgehend von der Auswertung von Medienartikeln, die Zahl der geborgenen Toten zwischen 1988 und 4. Oktober 2014 mit 21.439 an.14 Die Zahlen sind seit den frühen 2000er Jahren, insbesondere seit 2006, stetig angestiegen.15 Ein deutlicher Anstieg der Zahlen wurde nach Beendigung der italienischen Rettungsaktion Mare Nostrum verzeichnet. Mare Nostrum hatte vom 18. Oktober 2013 bis zu seiner Einstellung am 31. Oktober 2014 durch die italienische Regierung (aufgrund der Weigerung der EU, die Kosten für die Operation zu übernehmen) über 100.000 Menschen aus Seenot gerettet.16 Die Operation Triton unter Führung von FRONTEX, die Mare Nostrum ersetzte, wird weithin nicht als adäquater Ersatz angesehen; ihr Budget, ihre Reichweite (nur bis 50 Kilometer vor der italienischen Küste) und die Zahl der eingesetzten Schiffe ist deutlich geringer als die der italienischen Operation .17 Bis zum Februar 2015 hatte Triton nach Angaben von FRONTEX 22.300 Menschen aus 12 Al Jazeera, IOM: Mediterranean death toll could top 30,000 in 2015, Al Jazeera am 21. April 2015, http://www.aljazeera.com/news/2015/04/iom-mediterranean-death-toll-top-30000-2015-150421232012080.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 13 FRA, Fundamental rights at Europe’s southern sea borders, S. 30, 2013, http://fra.europa.eu/sites/default/files /fundamental-rights-europes-southern-sea-borders-jul-13_en.pdf (zuletzt abgerufen am 21. April 2015, Übersetzung durch den Verfasser). 14 Gabriele Del Grande, La Fortezza, Fortress Europe, Oktober 2014, http://fortresseurope.blogspot.de/p/la-fortezza .html (zuletzt abgerufen am 22. April 2015). 15 Amnesty International, Lives adrift - Refugees and migrants in peril in the central Mediterranean, Amnesty International , September 2014, http://www.amnesty.org.uk/sites/default/files/eur050062014en.pdf (zuletzt abgerufen am 22. April 2015). 16 Pro Asyl, Europas Schande: „Triton“ und „Mare Nostrum“ im Vergleich, 17. Oktober 2014, http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/europas_schande_triton_und_mare_nostrum_im_vergleich/ (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 17 Judith Eisinger, Operation Triton: Europe blind on immigration reality, Le Journal International am 10. Februar 2015, http://www.lejournalinternational.fr/Operation-Triton-Europe-blind-on-immigration-reality_a2377.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 8 Seenot gerettet.18 Angesichts einer insgesamt viel höheren Zahl von irregulären Migranten relativiert sich diese Zahl jedoch. Bei einer Dringlichkeitssitzung des Europäischen Rates am 23. April 2015 hat sich am Volumen und Auftrag der Operation Tritom nur wenig geändert. Beschlossen wurde lediglich eine „Erhöhung der Mittel“ für Triton, das in etwa ein Drittel des Etats von Mare Nostrum hat. Auch die vergleichbare Operation Poseidon in griechischen Gewässern soll aufgestockt werden.19 Das zum Verzicht auf eine Fortführung von Mare Nostrum durch die EU vorgebrachte Argument, dass die Verkleinerung der Seenotrettungsoperation und damit einhergehen- 18 FRONTEX, Joint Operation Triton extended to the end of 2015, 21. Februar 2015, http://frontex.europa .eu/news/joint-operation-triton-extended-to-the-end-of-2015-NXCwpk 19 Karsten Polke-Majewski, Ein Dokument der Unentschlossenheit, Zeit Online am 21. April 2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/fluechtlinge-mittelmeer-eu-zehn-punkte-plan (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Abbildung 1: Daily Chart: The cruel sea, 1 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 9 den geringeren Chancen eines Migranten, gerettet zu werden, einen geringeren Anreiz zum Antritt der Reise und damit weniger Todesopfer zur Folge haben würde, hat sich im Nachhinein nicht als stichhaltig erwiesen.20 4. Der Aspekt Menschenrechte Unterschiedliche Menschenrechte werden durch die aktuelle Situation berührt: das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Wasser, Nahrung und auf angemessene Unterkunft sowie das Recht auf Asyl. Zum einen ist die Situation in Nordafrika, wo die Menschen auf die Boote warten, äußerst gefährlich , insbesondere im zerfallenden Staat Libyen. Migranten drohen Raub, Erpressung und sexuelle Gewalt, eine geregelte Unterkunft oder die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser oder Medizin werden ihnen von den Behörden oder den mafiös organisierten Schleppern nicht zuteil.21 Zuweilen werden sie in Lagern eingesperrt, wo die Bedingungen keinem menschenrechtlichen Anspruch genügen.22 Bis ein Boot nach Europa bestiegen werden kann, vergehen zum Teil Monate, in denen die Migranten oft obdachlos sind.23 Zum anderen ist die Situation in den Aufnahmelagern insbesondere im Libanon (der alleine über 1,5 Mio. syrische Flüchtlinge aufgenommen hat) zum Teil katastrophal.24 Die Entscheidung der EU, auf eine Seenotrettungsmission nach dem Muster des italienischen Mare Nostrum zu verzichten, was die Hinnahme daraus resultierender Todesfälle beinhaltete, kann aus der Perspektive des Völker- und des Menschenrechts als problematisch betrachtet werden .25 Nicht zuletzt deswegen mahnten unter anderem auch VN-Generalsekretär Ban Ki Moon, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge António Guterres, und der VN-Sicherheitsrat eine systematische, robuste und dauerhafte Seenotrettungsoperation an und forderten die EU auf, mehr Möglichkeiten zu einer geregelten Einwanderung oder zumindest für eine sichere Einreise in die EU zu schaffen, damit weniger Menschen sich gezwungen sehen, in die 20 The Economist, The Economist explains: Everything you want to know about migration across the Mediterranean , The Economist vom 21. April 2015, http://www.economist.com/blogs/economist-explains/2015/04/economist -explains-20 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 21 Joseph D’Urso, Migrants in Libya say face beatings, rape awaiting Mediterranean crossing, Reuters am 22. April 2015, http://uk.reuters.com/article/2015/04/22/uk-mediterranean-migrants-rape-idUKKBN0ND24920150422 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 22 Siehe Ayoub Almadani, Mirco Keilberth, Juliane von Mittelstaedt und Kurt Pelda, Die Toten von Garabulli, Der Spiegel vom 29. April 2015. 23 Joseph D’Urso, aaO. 24 UNHCR, 2015 UNHCR country operations profile – Lebanon, UNHCR 2015, http://www.unhcr.org/pages /49e486676.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 25 Siehe dazu Ruth Weinzierl und Urszula Lisson, Grenzschutz und Menschenrechte. Eine europarechtliche und seerechtliche Studie, S.12-13 u. 43 ff., Deutsches Institut für Menschenrechte, Oktober 2007, http://www.institut -fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Studie/studie_grenzschutz_und_menschenrechte .pdf (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 10 Boote zu steigen und damit ihr Leben zu riskieren.26 Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, forderte explizit eine Mission nach dem Muster Mare Nostrums und beschrieb Triton als „vollkommen inadäquat“ sowie die Politik der EU als „gefühllos“ (im engl. Original: callous). Hussein führte weiterhin aus: „Menschenrechtsverletzungen bilden den Hintergrund dieser verzweifelten Seereisen. Wir haben wiederholt unterstrichen , dass niemand, der genug zu essen hat, der sicher ist vor Folter, Vergewaltigung und fallenden Bomben, der Gesundheitsversorgung für seine Familie hat, dessen Kinder Zugang zu Bildung haben, der eine anständige und produktive Arbeit hat, sich bereitwillig auf so eine Reise begeben würde. Inmitten all dieses Geredes von Pull-Faktoren sollten wir verstehen, dass dies die Push- Faktoren sind und dass die Migration über das Mittelmeer äußerst selten ganz und gar freiwillig im Wortsinne erfolgt. Europa kehrt einigen der verletzlichsten Migranten der Welt den Rücken zu, anstatt anzuerkennen, dass […] Flüchtlinge ein Recht darauf haben, um Asyl zu bitten oder dass Familien ein Recht darauf haben, zusammen zu leben und anstatt sichere und legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen.”27 Gelingt die Überfahrt, erwarten die Migranten in den jeweiligen Ankunftsländern unterschiedliche , oft menschenrechtlich problematische Situationen. Zumindest für Griechenland wurde in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) von 2009 sowie in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes in den jeweilig verhandelten Fällen festgestellt, es gäbe „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme [...], dass der betreffende Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden .“28 5. Der Zehn-Punkte-Plan der EU und die Reaktionen darauf Die Häufung der Schiffsunglücke und die steigenden Opferzahlen haben im April 2015 zu einer Vielzahl von Reaktionen aus Politik und Zivilgesellschaft geführt. In einem am 21. April 2015 vorgelegten Zehn-Punkte-Plan der EU werden Grundzüge möglicher Lösungen skizziert.29 Der Plan umfasst (hier in aller Kürze dargestellt) folgende Punkte: 26 Deutsche Welle, Europe must prioritize asylum, protection in Mediterranean: UN, DW am 22. April 2015, http://www.dw.de/europe-must-prioritize-asylum-protection-in-mediterranean-un/a-18397828 (zuletzt abgerufen am 23. April 2015) und Deutsche Welle, More calls to prevent migrant deaths in Mediterranean, DW am 23. April 2015, http://www.dw.de/more-calls-to-prevent-migrant-deaths-in-mediterranean/a-18402229 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 27 United Nations, Office of the High Commissioner for Human Rights, “Callous” EU politics on migrants costing lives – Zeid, VN am 20. April 2015, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/Media.aspx?IsMedia- Page=true&LangID=E (zuletzt abgerufen am 29. April, Übersetzung durch den Verfasser). 28 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer), Urteil v. 21.1.2011, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Rn. 205 ff. (NVwZ 2011, S. 413) sowie Europäischer Gerichtshof, Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) am 14. November 2013 in der Sache C‑4/11, Bundesrepublik Deutschland gegen Kaveh Puid, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=144489&pageIndex=0&doclang =DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=757511 (zuletzt abgerufen am 29. April 2105). 29 Siehe dazu für Details die entsprechende Ausarbeitung von Janeta Mileva, Referat PE 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 11 1. Aufstockung der Mittel für Triton und Poseidon, 2. Vernichtung von Schlepperbooten im Herkunftsland 3. Stärkere Kooperation von EU-Grenzschutz- und Kriminalbehörden 4. Effizientere Asylverfahren: Das Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) soll bereits in Italien und Griechenland Asylanträge bearbeiten 5. Erfassung aller irregulären Migranten in einer Fingerabdruckdatei 6. Es sollen Möglichkeiten ausgelotet werden, ob Flüchtlinge im Notfall über einen Sondermechanismus verteilt werden können. 7. Pilotprojekt zur Verteilung von zunächst 5.000 Flüchtlingen in die EU-Staaten (Resettlement) 8. Schnellere Abschiebung abgelehnter Asylbewerber 9. Mehr Kooperation mit den Nachbarländern Libyens 10. Verbindungsbeamte: In wichtigen Drittstaaten könnten sogenannte Verbindungsbeamte für Immigrationsfragen eingesetzt werden, die zum Beispiel Informationen zu Flüchtlingsbewegungen sammeln.30 Am 23. April fand eine Sondersitzung des Rates der Europäischen Union statt, in dem über die Ausgestaltung und Umsetzung dieses Planes diskutiert wurde. Im Folgenden die wichtigsten Reaktionen darauf. Allgemein war das Echo auf den auf der Sitzung erarbeiteten Kompromiss negativ . 5.1. Afrikanische Reaktionen Es fällt auf, dass sich afrikanische Politiker bzw. die Afrikanische Union (AU) in Hinblick auf die Situation im allgemeinen und die Unglücksfälle der vergangenen Wochen sowie den Zehn- Punkte- Plan im Besonderen nicht oder nur sehr knapp äußerten, sofern dies aus den zugänglichen Quellen ersichtlich war. Am 21. April 2015 kondolierte die Vorsitzende der Kommission der AU, Nkosazana Dlamini-Zuma, den Familien der Toten und rief in einem Communiqué die Staaten der AU dazu auf, die „Anstrengungen, eine Lösung dieser verhinderbaren Tragödien zu 30 Süddeutsche Zeitung, Hintergrund: Was im Zehn-Punkte-Plan der EU-Kommission steht, SZ am 20. April 2015, http://www.sueddeutsche.de/news/politik/migration-hintergrund-was-im-zehn-punkte-plan-der-eu-kommission -steht-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150420-99-10929 (zuletzt abgerufen am 4. Mai 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 12 finden, zu verstärken.“31 Sie unterstrich, „dass eine solche Lösung im Kontext mit Armutsbekämpfung und nachhaltiger Entwicklung gefunden werden müsse.“32 Der senegalesische Präsident Macky Sall drückte in einer Erklärung sein Mitgefühl mit den Angehörigen der Toten aus und rief zu einer „Mobilisierung auf afrikanischer und internationaler Ebene“ auf.33 Ähnlich äußerte sich Mahamadou Issoufou, der Präsident Nigers, während Denis Sassou Ngessou, Präsident der Republik Kongo, die Führer der AU zu einer Debatte über die afrikanische Antwort auf die Situation aufrief.34 Diese Statements wurden aber in der über sie berichtenden Zeitung Afronline als Ausnahme vom Schweigen afrikanischer Politiker gewertet. Ähnlich erkennt die südafrikanische Zeitung The Daily Maverick ein „dröhnendes Schweigen afrikanischer Regierender“: Während die AU sonst täglich Presseerklärungen abgebe, hätte es Tage gedauert, bis eine Reaktion auf die jüngsten Todesfälle kam.35 Die Rolle der AU in Hinblick auf die Katastrophen war auch Thema einer Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am 22. April 2015. Dabei äußerte der stellvertretende Ausschussvorsitzende Dr. Karamba Diaby, MdB, ebenfalls seinen Eindruck , afrikanische Regierende reagierten wenig bis gar nicht auf die Vorkommnisse.36 Einzelne afrikanische Kommentare, so die nigerianische Zeitung The Daily Times, beschuldigen die afrikanischen Regierungen der Gleichgültigkeit und Unfähigkeit.37 Die senegalesische Zeitung Le Quotidien warf unter der Überschrift „Über tausend Tote im Mittelmeer in einer Woche: Schiffbruch für afrikanische Regierende“ denselben politisches Versagen vor.38 In einer Analyse der Berichterstattung in afrikanischen Ländern stellt die Deutsche Welle fest, dass viele afrikanische Medien nur spärlich berichten und dann oft keinen Bezug zu Afrika herstellen, sondern die Situation als Problem Europas darstellen. Kritische Stimmen seien nur vereinzelt zu finden, eine 31 Afrikanische Union, Directorate of Communication and Information, Press Release Nº 106 /2015, AU Commission Chairperson’s condolence message following deaths in the Mediterranean seas, Addis Abeba am 21. April 2015, http://cpauc.au.int/en/sites/default/files/Condolence%20message%20-%20AU%20Commission %20Chairperson%20%20-%2021%20April%202015.pdf (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 32 Afrikanische Union, aaO. 33 Siré Diagne, Drame de la Méditerranée: Macky Sall exprime sa douleur et appelle à une mobilisation à l’échelle africaine et international, SeneNews vom 23. April 2015, http://www.senenews.com/2015/04/23/drame-de-lamediterranee -macky-sall-exprime-sa-douleur-et-appelle-a-une-mobilisation-a-lechelle-africaine-et-internationale _123833.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 34 Kevin Hind, A Deafening Silence from African Leaders on the Recent Tragedies in the Mediterranean, Afronline am 23. April 2015, http://www.afronline.org/?p=38884 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 35 Simon Allison, Analysis: The migrant boat crisis is not just Europe’s problem, The Daily Maverick am 22. April 2015, http://www.dailymaverick.co.za/article/2015-04-22-analysis-the-migrant-boat-crisis-is-not-just-europesproblem /#.VT3zJvmKWG6 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 36 Da es sich um eine nichtöffentliche Sitzung handelte, ist diese Information VS-NfD. 37 Daily Times, Ending The Mediterranean Boat Tragedy, Daily Times vom 22. April 2015, http://dailytimes .com.ng/ending-the-mediterranean-boat-tragedy/ (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 38 Aly Fall und Aïssatou Ly, Plus d’un millier de morts en Méditerranée en une semaine : Naufrage des dirigeants africains, Le Quotidien am 21. April 2015, http://www.lequotidien.sn/index.php/sports/plus-d-un-millier-demorts -en-mediterranee-en-une-semaine-naufrage-des-dirigeants-africains (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 13 öffentliche Debatte finde in keinem Land statt.39 Zum Zehn-Punkte-Plan konnten keine afrikanischen Reaktionen gefunden werden. 5.2. Europäische Reaktionen Größer fällt das Echo in Europa aus. Zahlreiche Persönlichkeiten der nationalen und europäischen Politik40, der Zivilgesellschaft41, Kirchen42 und auch der Wirtschaft43 äußerten nach den Unglücken ihr Entsetzen und forderten die europäischen Staaten bzw. die EU dazu auf, die jüngsten Unglücke zum Anlass zu nehmen, zu handeln. Deutsche Politiker waren sich parteiübergreifend darin einig, dass Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Unglücke schnell ergriffen werden sollten. Die Stimmen aus der Wirtschaft kommen insbesondere von Reedern, die mehr staatliche Unterstützung bzw. staatliche Seenotrettungsoperationen verlangen, da ihre Handelsschiffe zwar völkerrechtlich zur Rettung Schiffbrüchiger verpflichtet sind, aber nicht die Kapazitäten haben, so viele Menschen, wie sich auf den havarierten Booten befinden, zu versorgen.44 39 Deutsche Welle, Todesfalle Mittelmeer: In Afrikas Medien spärlich behandelt, Deutsche Welle am 27. April 2015, http://www.dw.de/todesfalle-mittelmeer-in-afrikas-medien-sp%C3%A4rlich-behandelt/a-18410229 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 40 Bundesregierung, Merkel: "Weitere Opfer verhindern", Pressemitteilung der Bundesregierung am 21. April 2015, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/04/2015-04-20-fluechtlingsunglueck-mittelmeer .html. Siehe auch die Mitteilungen des Bundesministers des Innern, Thomas de Maizière, Schiffsunglück im Mittelmeer, vom 19. April 2015, http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen /DE/2015/04/fluechtlingsunglueck-im-mittelmeer.html sowie von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, Zum Flüchtlingsunglück im Mittelmeer, vom 20. April 2015, http://www.auswaertigesamt .de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2015/150420_BM_Unglueck_Mittelmeer.html. Reaktionen aus dem Bundestag (Bundetagsvizepräsidentin Roth, MdBs Schwabe, Korte, Özoğuz) siehe FAZ, „Eine Schande für Europa und für uns alle“, FAZ am 19. April 2015, http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingsdrama-im-mittelmeer -eine-schande-fuer-europa-und-uns-alle-13546768.html . Für die Reaktion der EU-Kommission siehe Europäische Kommission, Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: EU muss gemeinsam handeln, vom 20. April 2015, http://ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/13243_de.htm (alle zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 41 Siehe als eine Stellungnahme unter vielen Amnesty Deutschland, EU muss Flüchtlinge im Mittelmeer retten, Amnesty Deutschland am 21. April 2014, https://www.amnesty.de/2015/4/22/eu-muss-fluechtlinge-im-mittelmeer -retten (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 42 Domradio, Erneut Flüchtlingsboot im Mittelmeer gekentert - Papst ruft zum Gebet auf, Domradio am 19. April 2015, http://www.domradio.de/themen/soziales/2015-04-19/erneut-fluechtlingsboot-im-mittelmeer-gekentert und Liane Koßmann, Bedford-Strohm: Aus Lampedusa nichts gelernt, NDR Radio vom 19. April 2015, http://orig .www.ndr.de/info/Bedford-Strohm-Aus-Lampedusa-nichts-gelernt,audio240514.html(zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 43 Ansgar Siemens, Reeder zur Flüchtlingskatastrophe: "Es ist grausam", Spiegel Online am 20. April 2015, http://www.spiegel.de/panorama/justiz/fluechtlinge-hamburger-reeder-zur-fluechtlingskatastrophe-a- 1029587.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 44 Ansgar Siemens, (Anm. 39). Siehe auch NDR, Immer mehr Flüchtlinge: Reeder schlagen Alarm, NDR am 21. April 2015, https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Immer-mehr-Fluechtlinge-Reeder-schlagen- Alarm,fluechtlinge1588.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 14 Der Tenor ähnelte dem, der schon z.B. im Oktober 2013 nach dem Tod hunderter Menschen vor Lampedusa zu vernehmen war, oder davor etwa im Jahre 2009.45 5.3. Reaktionen auf den Zehn-Punkte-Plan Nach Auswertung der Quellen lässt sich feststellen, dass der Zehn-Punkte-Plan sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern überwiegend kritisch kommentiert wurde, insbesondere drei Punkte: die Nichtwiederaufnahme von Mare Nostrum, die geplante militärische Zerstörung von Schlepperbooten und der Verzicht auf ein neues, EU-weites System zur Verteilung von anerkannten Flüchtlingen zugunsten eines Pilotprojektes für ein sogenanntes Resettlement von lediglich 5.000 Menschen. 5.3.1. Reaktionen aus der Politik Die Reaktionen aus der Politik sind zahlreich und können im Rahmen dieses Sachstandes nicht umfassend dokumentiert werden. Im Folgenden daher nur eine kleine Auswahl von Stellungnahmen von international und im sachlichen Kontext bedeutsamen Politikern: Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), António Guterres, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR), Zeid Ra’ad al Hussein, der Vorsitzende der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Peter Sutherland und der Sondergesandte des VN-Generalsekretärs für Migration und Menschenrechte, William L. Swing, bezeichneten den Plan in einer gemeinsamen Erklärung als „minimalistisch“ und forderten substantielle Ergänzungen: „Eine Einwanderungspolitik, die reale Arbeitsmarktbedürfnisse berücksichtigt; mehr sichere und reguläre Möglichkeiten der Einreise, […]; eine kohärentere Arbeitsweise des gemeinsamen europäischen Asylsystems, insbesondere durch innereuropäische Solidarität; höhere, evidenzbasierte und zielgerechtere Entwicklungsinvestitionen in den Ursprungs - und Transitländern; eine Revision der Handelspraktiken und der Arbeitsmigration; Verringerung des Waffenhandels; […] Bekämpfung aller Formen von Rassismus, religiöser Intoleranz und Fremdenhass.“46 45 Amnesty Deutschland, Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer – Wie viele Menschen müssen noch sterben?, Amnesty Deutschland am 7. Oktober 2013, https://www.amnesty.de/2013/10/7/fluechtlingskatastrophe-im-mittelmeer -wie-viele-menschen-muessen-noch-sterben sowie Amnesty Deutschland, Mit verschränkten Armen, Amnesty Deutschland im April 2009, http://www.amnesty.de/journal/2009/april/mit-verschraenkten-armen (zuletzt abgerufen am 29. April 2015) 46 Im engl. Original: „…setting in place migration policies that meet real labour market needs; increasing the provision of safe and regular channels for entry, […] making the Common European Asylum System work more cohesively , especially though intra-EU solidarity measures; making evidence-based and better targeted development investments in origin and transit countries; revisiting measures relating to trade practices and labour migration ; stemming arms trafficking […] and vigorously combatting all forms of racism, religious intolerance and xenophobia”, UN High Commissioner for Refugees António Guterres, UN High Commissioner for Human Rights Zeid Ra'ad Al Hussein, Special Representative of the UN Secretary-General for International Migration and Development Peter Sutherland und Director-General of the International Organization for Migration William Lacy Swing, Joint Statement on Protection in the Mediterranean in Light of the EU Council’s Decision of 23 April 2015, OHCHR am 23. April 2015, http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/Display- News.aspx?NewsID=15896&LangID=E (zuletzt abgerufen am 29. April 2015, Übersetzung durch den Verfasser). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 15 Die stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Europäischen Parlament, Barbara Lochbihler, MdEP, nannte die Ergebnisse des Gipfels „erbärmlich, fahrlässig und falsch“ und kritisierte insbesondere die Zuständigkeit von FRONTEX für die Seenotrettung von irregulären Migranten, da die Agentur „Flüchtlinge […] als Bedrohung, die abgewehrt gehört“ wahrnehme .47 Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich nach dem Gipfel insbesondere zum Scheitern der Reform der Dublin-Regeln zur Verteilung von Asylbewerbern bzw. Flüchtlingen in der EU: „Ich glaube, dass die Dublin-Regeln verändert werden müssen […] Das konnte auf dem Rat hier nicht geleistet werden."48 5.3.2. Reaktionen aus der Zivilgesellschaft Auch aus der Zivilgesellschaft gab es eine Vielzahl von Reaktionen. Im Folgenden eine kleine Auswahl von Stellungnahmen von Organisationen, die sich mit der Thematik befassen. Das katholische Hilfswerk Misereor und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zeigten sich in ihren Stellungnahmen enttäuscht. Der Geschäftsführer von Misereor, Martin Bröckelmann -Simon, kommentierte, die EU bleibe hinter den Notwendigkeiten wie auch ihren Möglichkeiten zurück. Den Zehn-Punkte-Plan erfülle weiterhin ein "Geist von Abwehr, der den Ursachen von Flucht und Migration nicht gerecht wird". Die Leiterin der EKD-Vertretung in Brüssel, Katrin Hatzinger, kommentierte, die Beschlüsse würden dem Ernst der Lage nicht gerecht. Werde das Einsatzgebiet der EU-Operation Triton nicht vergrößert, seien weitere Todesfälle im Mittelmeer programmiert.49 Pro Asyl e.V. lehnt sämtliche Punkte des Planes ab und begründet dies unter anderem damit, dass er entweder gar keine Neuerungen bringe (so würden ohnehin die Fingerabdrücke von irregulären Migranten abgenommen und im EURODAC-System gespeichert) und immer noch kein eindeutiger Fokus auf die Seenotrettung lege. Sieben der Maßnahmen hätten rein restriktiven Charakter und zielten nur auf Abschreckung, Rückführung oder Abwälzung von Verantwortung weg von der EU.50 47 Barbara Lochbihler, EU-Sondergipfel in Brüssel - Erbärmlich, fahrlässig und falsch, Pressemitteilung vom 23. April 2015, http://barbara-lochbihler.de/1/presse/mitteilungen/eu-sondergipfel-in-bruessel-erbaermlich-fahrlaessig -und-falsch.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 48 Christoph Schulte, EU-Beschlüsse zur Flüchtlingshilfe: Worte ohne Taten, Spiegel Online am 24. April 2015, http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-eu-sondergipfel-nicht-vielmehr-als-show-a-1030340.html (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 49 Domradio, Kritik an Ergebnissen des EU-Gipfels zur Seenotrettung: "Beschlüsse werden dem Ernst der Lage nicht gerecht", Domradio am 24. April 2015, http://www.domradio.de/themen/soziales/2015-04-24/kritik-ergebissen -des-eu-gipfels-zur-seenotrettung (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 50 Pro Asyl, Flüchtlingssterben auf dem Mittelmeer: Kommt der politische Richtungswechsel?, Pro Asyl am 21. April 2015, http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/fluechtlingssterben_auf_dem_mittelmeer _kommt_der_politische_richtungswechsel/ (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 16 Amnesty International betrachtet den Plan als „vollkommen inadäquat“ und betont in erster Linie seine Forderung nach Wiederaufnahme einer echten Seenotrettungsmission nach dem Muster von Mare Nostrum. Amnesty-Vertreterin Gauri van Gulik nannte den die Abschreckung betonenden Charakter des Planes „eine Beleidigung der Tausenden, die gestorben sind und einen kaltschnäuzigen Affront gegenüber allen, die keine andere Wahl haben, als diese Seereise anzutreten ”.51 Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) beschäftigt sich in mindestens zwei Kommentaren mit dem Plan. Steffen Angenendt und Daniela Kietz beklagen ähnlich wie die Vertreter der Vereinten Nationen und der IOM das Vage und Unbestimmte des Plans und plädieren für deutliche Ergänzungen und eine Abkehr vom Paradigma der Abschreckung und Abwehr sowie zu großer Vorsicht beim Plan, Schlepperboote aktiv zu zerstören. Ähnlich sehen es ihre Kolleginnen Ronja Kempin und Ronja Scheeler, die sich vor allem kritisch mit diesem Punkt befassen und darauf verweisen, dass der Vergleich mit ATALANTA, den die EU explizit zieht, nur dann greife, wenn man auch die die Militäroperation flankierenden zivilen und entwicklungspolitischen Initiativen berücksichtige und ähnliches auch in Hinblick auf den Zehn-Punkte-Plan beabsichtige.52 5.3.3. Reaktionen der Medien Die größte Zahl von Reaktionen, Kommentaren und Analysen stammt von den Medien. Wie im Abschnitt „Reaktionen aus der Zivilgesellschaft“ wird hier nur eine kleine Auswahl, bei der auf unterschiedliche Blickwinkel geachtet wurde, dargestellt. In ZEIT Online vom 21. April 2015 kommentiert Karsten Polke-Majewski den Plan als „uneindeutig “ und „vage“. So verschleiere der Punkt „Aufstockung des Gerätes“, dass FRONTEX über gar keine eigenen Schiffe oder Hubschrauber verfüge und sie sich jeweils von einem Staat leihen müsse. Auch sei nicht ersichtlich, was die Sammlung von Fingerabdrücken mit einer Seenotrettungsoperation zu tun habe. Anders als bei vielen anderen Kommentatoren wird aber die geplante Militäroperation zur Zerstörung von Schlepperbooten als sinnvoll erachtet und auf diesbezügliche Einschätzungen von Militärexperten verwiesen.53 51 Im engl. Original: „…an insult to the thousands who have died and a callous affront to those who have no choice but to make this perilous journey”, Amnesty International, Brussels Summit proposals inadequate but leaders still have a chance to end Med crisis, Amnesty am 23. April 2015, https://www.amnesty.org/en/articles /news/2015/04/brussels-summit-proposals-inadequate-but-leaders-still-have-a-chance-to-end-med-crisis/ (zuletzt abgerufen am 29. April 2015, Übersetzung durch den Verfasser). 52 Steffen Angenendt und Daniela Kietz, EU-Krisengipfel: Die kraftlose Reaktion der EU auf die Mittelmeertragödie , 22. April 2015, http://www.swp-berlin.org/publikationen/kurz-gesagt/eu-krisengipfel-die-kraftlose-reaktion -der-eu-auf-die-mittelmeertragoedie.html sowie Ronja Kempin und Ronja Scheeler, Migration nach Europa: Mehr außenpolitisches Engagement der EU in ihrer Nachbarschaft nötig, 28. April 2015, http://www.swp-berlin .org/publikationen/kurz-gesagt/eu-muss-migration-nach-europa-mit-mehr-aussenpolitischem-engagement-inihrer -nachbarschaft-begegnen.html (beide zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 53 Karsten Polke-Majewski (Anm. 19). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 083/15 Seite 17 Christoph Schulte kommentiert am 24. April auf Spiegel Online den Gipfel als „nichts als Show“ und weist auf die politischen Hintergründe hin: insbesondere Großbritannien, das nur 143 syrische Flüchtlinge aufgenommen habe, bremse eine Einigung54 über eine gerechtere Verteilung von Asylbewerbern in der EU. Der Fokus des Plans liege nicht auf der Rettung von Menschenleben, insofern habe sich nichts Substantielles geändert, auch, wenn selbst die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, die sich bisher einer neuen Einwanderungs - und Asylpolitik verweigere, mittlerweile Ansätze zu einem Umdenken in der Frage zeige.55 Der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung Eric Gujer kommentiert die Politik der EU in der am 24. April kritisch. Die Reaktionen auf die Unglücke seien „ein Schauspiel von beschämender Vorhersehbarkeit.“ Es gebe aber keine einfachen Lösungen. Weder sei eine Politik der Abschottung nützlich, noch ein Polemisieren gegen „die Festung Europa“. Tatsächlich existiere ein „unlösbarer Zielkonflikt […] zwischen dem Anspruch auf Humanität und der Notwendigkeit, die europäische Identität zu bewahren.“ Es gelte, an „drei zentralen Parametern des Flüchtlingselends anzusetzen: bei der Lage in den Herkunftsstaaten, den Transitrouten und der Politik der Aufnahmeländer .“ Gujer plädiert für mehr Entwicklungs- und Krisenpolitik, Aufnahmelager in Nordafrika zur Bearbeitung von Asylanträgen, eine robuste Bekämpfung der Schlepper und eine Reform von Dublin-II.56 54 Laut Medienberichten stehen daneben auch die osteuropäischen EU-Staaten einer Neuregelung ablehnend gegenüber ; siehe ZEIT Online, Juncker fordert legalen Zugang für Flüchtlinge nach Europa, ZEIT Online am 29. April 2015, http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/juncker-einwanderung-fluechtlinge-europa (zuletzt abgerufen am 29. April 2015). 55 Christoph Schulte (Anm. 47). 56 Eric Gujer, Die Stunde der Heuchler, NZZ am 24. April 2015, http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/diestunde -der-heuchler-1.18529145 (zuletzt abgerufen am 29. April 2015).