WD 2 - 3000 – 078/16 (18. Mai 2016) © 2016 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Am 17. Mai 2016 hatte das türkische Parlament im Rahmen einer Vor-Abstimmung mit einfacher Mehrheit (348 Stimmen bei 155 Gegenstimmen und acht Enthaltungen) für eine vorübergehende Verfassungsänderung, mit der die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben werden soll, gestimmt . Die nötige Zweidrittelmehrheit (367 Stimmen) für eine direkte Verfassungsänderung wurde dabei jedoch nicht erreicht. Die endgültige Abstimmung über den Gesetzentwurf der Regierungspartei AKP soll am 20. Mai 2016 (Freitag) erfolgen. Die AKP hatte diesen sich vor allem gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP richtenden Antrag auf Verfassungsänderung eingebracht. Deren Abgeordneten wirft Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vor, „verlängerter Arm“ der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK im Parlament zu sein. 1 Von der Aufhebung der Immunität wären zwar alle vier im Parlament vertretenen Parteien betroffen , und daher argumentieren AKP-Politiker wie Mustafa Yeneroglu am 18. Mai 2016 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, 2 dass mit der geplanten Aufhebung der Immunität von Abgeordneten nicht die HDP als Partei angegriffen werden solle. Dennoch träfe die Maßnahme, so das Handelsblatt 3 in einem Artikel vom 17. Mai 2016, die HDP besonders schwer. Denn 50 ihrer 59 Abgeordneten soll vor allem wegen Terrorvorwürfen die Immunität entzogen werden. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir, der zu den Volksvertretern zählt, deren Immunität aufgehoben werden soll, befürchtet, dass Parlamentarier seiner Partei nach einem Aufheben der Immunität 1 Türkisches Parlament stimmt vorerst für Immunitätsverlust. Handelsblatt vom 17. Mai 2016. Abrufbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik-tuerkisches-parlament-stimmt-vorerst-fuer-immunitaetsverlust /13607028.html (letzter Zugriff: 18. Mai 2016). 2 AKP-Politiker zur geplanten Immunitätsaufhebung: „Es geht um den politischen Arm einer terroristischen Organisation .“ Mustafa Yeneroğlu im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann. Deutschlandfunk vom 18. Mai 2016. Abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/akp-politiker-zur-geplanten-immunitaetsaufhebung-es-gehtum .694.de.html?dram:article_id=354363 (letzter Zugriff: 18. Mai 2016). 3 Türkisches Parlament stimmt vorerst für Immunitätsverlust, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Zur vorübergehenden Änderung der türkischen Verfassung zum Zweck der Aufhebung der Immunität türkischer Abgeordnete Kurzinformation Zur vorübergehenden Änderung der türkischen Verfassung zum Zweck der Aufhebung der Immunität türkischer Abgeordnete Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Tel: (030) 227-32444 Wissenschaftliche Dienste Seite 2 festgenommen werden. „Das wäre eine Katastrophe nicht nur für unsere politische Arbeit, sondern für den Rechtsstaat und die Demokratie in der Türkei“ 4 sagte Pir am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. „Ich weiß nicht, was das in den Kurdengebieten für dramatische Auswirkungen haben wird.“ 5 Der Europarat hat zu den Plänen einer vorübergehenden Änderung der türkischen Verfassung, die Immunität für einen Teil der Abgeordneten aufzuheben, bisher noch keine Stellung genommen . Die die Immunität und ihre Aufhebung regelnden Artikel 83 bis 85 der türkischen Verfassung (siehe Anlage) 6 ähneln „auf dem Papier“ weitgehend dem deutschen Recht. Allerdings bedarf es in Deutschland des Antrags einer Strafverfolgungsbehörde. Eine Partei kann – wie nun in der Türkei geschehen – einen solchen Antrag nicht stellen. Ob dies dort in Übereinstimmung mit den bestehenden Rechtsgrundlagen erfolgt ist, lässt sich nicht abschließend beurteilen, da beispielsweise die Geschäftsordnung des türkischen Parlaments hier nicht vorliegt. Ende der Bearbeitung 4 Verfassungsänderung in der Türkei – Abstimmung: Warum Erdogan die Immunität von Abgeordneten aufheben will. shz.de vom 18. Mai 2016. Abrufbar unter: http://www.shz.de/deutschland-welt/politik/abstimmung-warumerdogan -die-immunitaet-von-abgeordneten-aufheben-will-id13729201.html (letzter Zugriff: 18. Mai 2016). 5 Ebd. 6 Vgl. http://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf (letzter Zugriff: 18. Mai 2016). Kurzinformation Zur vorübergehenden Änderung der türkischen Verfassung zum Zweck der Aufhebung der Immunität türkischer Abgeordnete Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Tel: (030) 227-32444 Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Anlage Türkische Verfassung 4. Immunität und Indemnität Artikel 83 Die Mitglieder der Großen Nationalversammlung der Türkei dürfen für ihr Abstimmungsverhalten und ihre Worte während der Tätigkeit der Nationalversammlung, wegen ihrer in der Nationalversammlung vorgetragenen Meinungen und, wenn in der betreffenden Sitzung auf Vorschlag des Präsidiums von der Nationalversammlung nicht eine anderer Beschluss gefasst wurde, wegen deren Wiederholung und öffentlichen Bekundung außerhalb der Nationalversammlung nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ein Abgeordneter, der verdächtigt wird, vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen zu haben, darf ohne Beschluss der Nationalversammlung nicht festgehalten, verhört, verhaftet oder einem Strafverfahren ausgesetzt werden. Der Fall einer auf frischer Tat entdeckten Straftat, auf welche eine Zuchthausstrafe steht, und – unter der Voraussetzung, dass das Ermittlungsverfahren vor den Wahlen begonnen wurde – die Fälle in Artikel 14 der Verfassung werden von dieser Vorschrift nicht erfasst. In diesem Fall hat jedoch die zuständige Behörde die Lage sofort und unmittelbar der Großen Nationalversammlung der Türkei mitzuteilen. Die Vollstreckung eines vor oder nach der Wahl gegen ein Mitglied der Großen Nationalversammlung der Türkei verhängten Strafurteils wird bis zum Ende des Mandats aufgeschoben; während der Fortdauer des Mandats ist der Fristablauf gehemmt. Ermittlungen und Strafverfolgung gegen einen wiedergewählten Abgeordneten sind von der erneuten Aufhebung der Immunität durch die Nationalversammlung abhängig. Die Fraktionen innerhalb der Großen Nationalversammlung der Türkei dürfen über die Immunität nicht verhandeln und keine Beschlüsse fassen. 5. Verlust des Mandats Artikel 84 Über den Verlust des Mandats desjenigen Abgeordneten, der das Mandat niederlegt, wird nach Feststellung der Gültigkeit der Mandatsniederlegung seitens des Präsidiums der Großen Nationalversammlung der Türkei durch das Plenum der Großen Nationalversammlung der Türkei entschieden . Kurzinformation Zur vorübergehenden Änderung der türkischen Verfassung zum Zweck der Aufhebung der Immunität türkischer Abgeordnete Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Tel: (030) 227-32444 Wissenschaftliche Dienste Seite 4 Im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung oder Beschränkung der Geschäftsfähigkeit entfällt das Mandat mit der Bekanntgabe gegenüber dem Plenum. [...] 6. Anfechtungsverlangen Artikel 85 Wird ein Beschluss auf Aufhebung der Immunität oder gemäß Art. 84 Abs.1, 3 oder 4 auf Verlust des Mandats gefasst, so kann innerhalb von sieben Tagen von dem Zeitpunkt des Beschlusses des Plenums des Parlaments an das betroffene Mitglied oder ein anderes Mitglied zur Anfechtung des Beschlusses das Verfassungsgericht mit der Behauptung seiner Verfassungswidrigkeit, Gesetzwidrigkeit oder Unvereinbarkeit mit der Geschäftsordnung anrufen. Das Verfassungsgericht entscheidet über das Anfechtungsverlangen unanfechtbar innerhalb von fünfzehn Tagen.