Deutscher Bundestag Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 – 078/13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 2 Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 078/13 Abschluss der Arbeit: 31. Oktober 2013 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Seevölkerrechtliche Schutzpflichten 4 2.1. Seevölkerrechtliche Hilfsverpflichtungen von Küstenund Flaggenstaaten 5 2.2. Recht eines Flüchtlingsschiffes in Seenot auf Hafenzugang 6 3. Menschenrechtliche Gewährleistungen und Aufnahmepflichten 7 3.1. Universelle Menschenrechtsinstrumente 7 3.2. Universelles Völkerrecht zum Schutz von Flüchtlingen 7 3.3. Schutzverantwortung 9 3.4. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 9 3.5. Charta der Grundrechte der Europäischen Union 10 3.6. Mögliche Menschenrechtsverletzungen 10 4. Besondere Einrichtungen im Rahmen der Europäischen Union 11 4.1. FRONTEX 11 4.2. EUROSUR 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 4 1. Einleitung Aufgrund der aktuellen Ereignisse vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, bei denen zahlreiche Flüchtlinge und/oder Migranten in Seenot gerieten und in großer Zahl ihr Leben verloren,1 stellt sich die Frage, welche Schutzpflichten das Völkerrecht normiert, um gleichartige humanitäre Katastrophen zu vermeiden. Aus seevölkerrechtlicher Sicht kommen Schutzpflichten in Gestalt von Rettungspflichten (auf See) und Aufnahmepflichten (an Land) in Betracht . Daneben stellt sich angesichts der Todesfälle die Frage, ob der Anwendungsbereich menschenrechtlicher Schutzpflichten betroffen ist. Diese ergeben sich aus internationalen Menschenrechtsabkommen und dem allgemeinen Völkerrecht. Nationale Stellen und europäische Einrichtungen zum Schutz der Außengrenzen der Europäischen Union (EU) sind hier zur Verantwortung gerufen. 2. Seevölkerrechtliche Schutzpflichten Die seevölkerrechtlichen Rechte und Pflichten der Staaten gegenüber Flüchtlingen und/oder Migranten sind in erster Linie im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) geregelt .2 Daneben kommt im Seevölkerrecht dem Völkergewohnheitsrecht weiterhin große Bedeutung zu.3 Allgemein gilt, dass das Seevölkerrecht schon immer Hilfspflichten für Menschen in Seenot umfasste. Ist ein Flaggen- oder Küstenstaat völkerrechtlich verpflichtet, so ist es dessen innere Angelegenheit und mithin seinem Ermessen freigestellt, durch welche Einrichtungen und Verfahren er seiner völkerrechtlichen Pflicht nachkommt. Er kann dies durch Behörden (z.B. nationale Küstenwachen) oder in anderer Rechtsform (z.B. durch beliehene oder zivilrechtlich Beauftragte ) tun, solange die von ihm getroffenen Vorkehrungen angemessen und wirksam sind. Das Seevölkerrecht bestimmt mithin keinen rechtlichen Rahmen für die nationale Ordnung innerstaatliche Zuständigkeiten. Vorausgeschickt sei, dass die seevölkerrechtlichen Verpflichtungen zur Hilfeleistung bei Seenot über die unmittelbaren Lebensrettungspflichten keine Ansprüche der geretteten Menschen auf dauerhaften Aufenthalt oder Gewährung von Asyl begründen. 1 Vgl. hierzu die zahlreichen Stellungnahmen internationaler Organiosationen sowie Presseberichte, u.a. UN News Center, After latest Lampedusa tragedy, Ban calls for action to protect human rights of migrants, http://www.un.org/apps/news/story.asp?NewsID=46255&Cr=lampedusa&Cr1=#.Um5HtqyLFD0 (letzter Zugriff 28.10.2013). 2 BGBl 1994 II 1799; Sartorius II Nr. 350; http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements/texts/unclos/closindx.htm (letzter Zugriff 25.10.2013). 3 Siehe im einzelnen Tullio Treves, Law of the Sea, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Rz. 55 ff., http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1186#law-9780199231690-e1186-div1-6 (letzter Zugriff 25.10.2013). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 5 2.1. Seevölkerrechtliche Hilfsverpflichtungen von Küsten- und Flaggenstaaten Für die seevölkerrechtlichen Schutzpflichten der Flaggenstaaten gegenüber Flüchtlingen findet Art. 98 SRÜ Anwendung:4 Art. 98 Pflicht zur Hilfeleistung (1) Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, a) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann; c) nach einem Zusammenstoß dem anderen Schiff, dessen Besatzung und dessen Fahrgästen Hilfe zu leisten und diesem Schiff nach Möglichkeit den Namen seines eigenen Schiffes, den Registerhafen und den nächsten Anlaufhafen mitzuteilen . (2) Alle Küstenstaaten fördern die Errichtung, den Einsatz und die Unterhaltung eines angemessenen und wirksamen Such- und Rettungsdienstes, um die Sicherheit auf und über der See zu gewährleisten; sie arbeiten erforderlichenfalls zu diesem Zweck mit den Nachbarstaaten mittels regionaler Übereinkünfte zusammen . Wie aus der zitierten Rechtsnorm ersichtlich, spielt es aus seevölkerrechtlicher Sicht keine Rolle, welche Staatsangehörigkeit die in Seenot geratenen Menschen haben und ob es sich bei ihnen um Flüchtlinge oder Migranten handelt: Die Hilfspflicht gilt unterschiedslos für alle Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden. Ebenso wenig kommt es für die seevölkerrechtlichen Pflichten, die den Flaggenstaat eines potentiell zu Hilfe kommenden Schiffes binden, darauf an, wo sich ein in Seenot geratenes Schiff 4 Eingehend zu den Pflichten der Staaten gegenüber Flüchtlingen auf See siehe Sicco Rah, Asylsuchende und Migranten auf See - staatliche Rechte und Pflichten aus völkerrechtlicher Sicht, Berlin 2009, http://download.springer.com/static/pdf/978/bok%253A978-3-540-92931- 4.pdf?auth66=1383128179_10adceca616df9e43658e97fac5d6d55&ext=.pdf (letzter Zugriff 25.10.2013); Hartmut v. Brevern/Jens M. Bopp, Seenotrettung von Flüchtlingen, in: ZaöRV 2002, S. 843 ff., S. 846, http://www.zaoerv.de/62_2002/62_2002_1_b_841_852.pdf (letzter Zugriff 25.10.2013). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 6 befindet: Die Pflichten gelten auf Hoher See5 ebenso wie im Küstenmeer6 und der sich hieran anschließenden Ausschließlichen Wirtschaftszone7. Weitere Pflichten der Küstenstaaten sind im Übereinkommen für den Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS)8 normiert. Hierzu zählen insbesondere der Betrieb von Seenotrettungsdiensten (siehe bereits oben, Art. 98 Abs. 2 SRÜ) sowie die Verpflichtung von Kapitänen , in Seenot geratene Personen ohne Rücksicht auf ihren Status aufzunehmen.9 2.2. Recht eines Flüchtlingsschiffes in Seenot auf Hafenzugang Die völkerrechtliche Pflicht, Flüchtlinge auf See aufzunehmen, führt nicht notwendigerweise auch zu einer Pflicht, den Geretteten Zugang zu einem nationalen Hafen zu gewähren. Allerdings ist im Völkergewohnheitsrecht ein Notrecht auf Hafenzugang verankert.10 Die gewohnheitsrechtlichen Bedingungen dieses Notrechts sind jedenfalls dann erfüllt, wenn sich ein Schiff in Seenot befindet, d.h. wenn eine unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren des Schiffes droht. Völkervertragsrechtlich wird das Notfallrecht zudem durch Art. 18 Abs. 2 S. 2 SRÜ gestützt: Diese Regelung macht deutlich, dass in Notsituationen die Hoheitsrechte eines Staates innerhalb seiner inneren Gewässer eingeschränkt werden können. Das Nothafenrecht kann bestimmten Einschränkungen unterliegen, insbesondere wenn die Beeinträchtigung vitaler Interessen des Küstenstaates droht. Sofern aber eine Gefährdung von Menschenleben zu befürchten ist, sind für eine erfolgreiche Geltendmachung der Beeinträchtigung vitaler Interessen höchste Maßstäbe anzulegen. Im Falle eines in Seenot geratenen Flüchtlingsbootes dürfte die Verwehrung des Hafenzugangs aus seevölkerrechtlicher Sicht in aller Regel unverhältnismäßig und daher völkerrechtswidrig sein. 5 Zu Begriff und Ausdehnung der Hohen See siehe Art. 86 ff. SRÜ. 6 Zu Begriff und Ausdehnung des Küstenmeeres siehe Art. 3 ff. SRÜ. 7 Zu Begriff und Ausdehnung der Ausschließlichen Wirtschaftszone siehe Art. 55 ff. SRÜ. 8 International Convention for the Safety of Lives at Sea, 1184 UNTS 3, http://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%201184/volume-1184-I-18961-English.pdf (letzter Zugriff 25.10.2013). 9 Sicco Rah (Anm. 4) verweist in diesem Zusammenhang auf Kapitel V Regel 7.1 sowie Regel 33 Absatz 1 der Anlage zum SOLAS-Übereinkommen (Anm. 8) 10 Vgl. hierzu Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Auflage, Berlin 2013, Kap. V Rn. 40 [BT Bibliothek Sig. P 5142501]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 7 3. Menschenrechtliche Gewährleistungen und Aufnahmepflichten 3.1. Universelle Menschenrechtsinstrumente Angesichts der zahlreichen Todesfälle unter Flüchtlingen und/oder Migranten in Seenot drängt sich die Frage auf, ob die Ereignisse in den Anwendungsbereich der der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AllgErklMR)11 fallen. Art. 3 AllErklMR garantiert jedem das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Art. 5 AllgErklMR verbietet es, einen Menschen unmenschlicher Behandlung zu unterwerfen. Art. 13 AllgErklMR normiert das Menschenrecht, jedes Land, einschließlich des eigenen Herkunftslandes, zu verlassen. Art. 14 AllgErklMR bestätigt das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Nach Art. 22 AllgErklMR hat jeder als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind. Auch der Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)12 normiert Menschenrechte, die im vorliegenden Sachverhalt Anwendung finden: Art. 6 IPbpR bestätigt das Recht auf Leben. Nach Art. 7 IPbpR darf niemand grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Art. 9 Abs. 1 IPbpR normiert jedermanns Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. Art. 12 Abs. 2 IPbpR stellt es jedermann frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen. Die genannten Menschenrechte begründen allerdings für sich genommen kein ausdrückliches und unmittelbar anwendbares Asyl- bzw. Aufenthaltsrecht im Land des Hafens, den ein aus Seenot geretteter Flüchtling zuerst anläuft. 3.2. Universelles Völkerrecht zum Schutz von Flüchtlingen In Seenot geratene Personen können unter den völkerrechtlichen Flüchtlingsbegriff fallen. Dieser wird durch das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge13 bestimmt und begründet völkerrechtliche Schutzpflichten der einzelnen Staaten gegenüber jeder Person, die 11 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948; Sartorius II Nr. 15; http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Documents/UDHR_Translations/ger.pdf (letzter Zugriff 28.10.2013). 12 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, BGBl 1973 II 1534; Sartorius II Nr. 20; http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/360794/publicationFile/3613/IntZivilpakt.pdf (letzter Zugriff 25.10.2013). 13 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl 1953 II 559, http://www.unhcr.de/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html (letzter Zugriff 28.10.2013). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 8 „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität , Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet , in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“14 Menschen, die vor Bürgerkriegen oder gleichartigen von Menschen verursachten Katastrophen fliehen, genießen ebenfalls den Schutz des im Rahmen der Vereinten Nationen angenommenen Flüchtlingsschutzrechts.15 Das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge verbietet das sogenannte Refoulement , d.h. die Zurückweisung von Flüchtlingen in Staaten, in denen ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit gefährdet sind.16 Die Völkerrechtsliteratur geht davon aus, dass das Verbot des Refoulement auch Sachverhalte betrifft, welche sich außerhalb des Staatsgebietes abspielen, so dass auch eine Zurückweisung von Flüchtlingen jenseits der Seegrenzen auf Hoher See untersagt ist.17 Das Exekutiv-Komitee des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) hat im Zusammenhang mit der Rettung von Asylsuchenden aus Seenot u.a. folgenden Beschlüsse gefasst: Kapitäne sind grundsätzlich völkerrechtlich verpflichtet, alle Personen einschließlich Asylsuchender, die in Seenot geraten sind, zu retten und ihnen jede notwendige Unterstützung zuteil werden zu lassen; seefahrende Staaten sollten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Kapitäne dieser Verpflichtung strikt nachkommen; alle Länder sollten fortfahren, für aus Seenot gerettete Asylsuchende Dauerlösungen zur Verfügung zu stellen; auf See gerettete Personen sollen im Normalfall im nächsten Hafen, der angelaufen wird, an Land gebracht werden.18 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aus Seenot gerettete Flüchtlinge auf der Grundlage des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie weiterer internationaler 14 Art. 1 A 2. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Anm. 13). 15 Siehe Dieter Kugelmann, Refugees, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Rz. 4, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e866?rskey=d1ulvR&result=1&q=refugees&prd=EPIL (letzter Zugriff 28.10.2013). 16 Art. 33 Nr.1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Anm. 13). 17 Siehe Sicco Rah (Anm. 4), S.179 m.w.N. 18 Beschluss Nr. 23 (XXXII) 1981 UNHCR-Exekutiv-Komitee: Probleme im Zusammenhang mit der Rettung von Asylsuchenden aus Seenot, Abs. 3, http://www.unhcr.de/recht/i1-internat-fluechtlingsrecht/11- voelkerrecht.html (letzter Zugriff 25.10.2013). Siehe hierzu auch Sicco Rah (Anm. 2), S.102. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 9 Vereinbarungen zum Schutz von Flüchtlingen einen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling sowie ein damit verbundenes Aufenthaltsrecht haben können. Dieser Anspruch besteht rechtlich völlig unabhängig von der Tatsache einer etwaigen vorherigen Rettung aus Seenot. 3.3. Schutzverantwortung In den letzten Jahren gewinnt das völkerrechtliche Prinzip der Schutzverantwortung („responsibility to protect“) zunehmend an Bedeutung.19 Ein zentraler Rechtsgedanke der Schutzverantwortung ist die Beschränkung staatlicher Souveränität, insofern als die Vermeidung bzw. Verhinderung schwerwiegender und systematischer Menschenrechtsverletzungen (Völkermord , Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberungen) als Grenze dessen erachtet wird, was der Staat aus völkerrechtlicher Sicht tun und lassen darf.20 Die Schwelle zum Anwendungsbereich der Schutzverantwortung ist im vorliegenden Sachverhalt trotz des Ausmaßes der Todesfälle unter in Seenot geratenen Flüchtlingen bzw. Migranten nicht erfüllt. Der völkerrechtsdogmatischen Entwicklung der Schutzverantwortung ist indes zu entnehmen, dass die Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit die Wahrung und Verwirklichung der Menschenrechte unabhängig von der Staatsangehörigkeit der einzelnen Menschen als ihre Aufgabe begreift. 3.4. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Rettungs- und Aufnahmepflichten könnten sich aus der Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergeben.21 Die darin enthaltenen Rechte gelten für alle Personen, die der Hoheitsgewalt der EMRK-Vertragsstaaten unterfallen. Art. 2 Abs. 1 EMRK begründet die staatliche Pflicht, das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich zu schützen. Art. 3 EMRK sieht ferner vor, dass niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werde darf. Art. 5 Abs. 1 S. 1 EMRK gewährt jeder Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sind zugleich Vertragsstaaten der EMRK. 19 Grundlegend siehe ICISS, The Responsibility to Protect, S. 11 ff., http://responsibilitytoprotect.org/ICISS%20Report.pdf (letzter Zugriff 28.10.2013). 20 Siehe im einzelnen Ingo Winkelmann, Responsibility to protect, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e1464?rskey=6INTCr&result=1&q=responsibility%20to%20protect&prd=EPIL (letzter Zugriff 25.10.2013) 21 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung des Protokolls Nr. 11; Sartorius II Nr. 130; http://conventions.coe.int/Treaty/ger/Treaties/Html/005.htm (letzter Zugriff 25.10.2013). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 10 3.5. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta)22 erklärt die Menschenwürde für unantastbar, sie ist zu achten und zu schützen. Gemäß Art. 2 Abs. 1 Charta hat jeder Mensch das Recht auf Leben, gemäß Art. 3 Abs. 1 Charta auf körperliche Unversehrtheit. Nach Art. 4 Charta darf niemand unmenschlicher Behandlung unterworfen werden. Laut Art. 6 Charta genießt jeder Mensch das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Art. 18 Charta gewährleistet das Asylrecht nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Gemäß Art. 19 Charta sind Kollektivausweisungen nicht zulässig, niemand darf in einen Staat abgeschoben werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen Behandlung besteht. Die Charta bindet sowohl die Mitgliedstaaten der EU als auch sämtliche Organe und Untereinrichtungen der EU. 3.6. Mögliche Menschenrechtsverletzungen Ein Verstoß gegen die AllErklMR, den IPbpR, die EMRK oder die Charta würde zunächst u.a. ein staatliches Verhalten (d.h. eine Handlung oder eine Unterlassung) voraussetzen, das einem Vertragsstaat dieser Menschenrechtsinstrumente zurechenbar ist. Die völkerrechtliche Zurechnung erfordert in diesem Zusammenhang ein Verhalten von Amtsträgern dieses Staates.23 Ein staatlicher Eingriff in Menschenrechte wäre somit je nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zum Beispiel dann vorstellbar, wenn Amtsträger ein Boot mit Flüchtlingen zurückweisen und diese Zurückweisung Eingriffe in menschenrechtlich geschützte Rechtspositionen (Würde, Leben, körperliche Unversehrtheit, Schutz vor erniedrigender Behandlung) zur Folge hat. Der Eingriff ist als Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren, wenn und soweit er durch ein den Staaten physisch und technisch mögliches Einschreiten vermeidbar gewesen wäre. Aus den genannten Menschenrechtsinstrumente lässt sich eine allgemeine Schutzpflicht der Vertragsstaaten entnehmen, die sich in der Pflicht konkretisiert, Einrichtungen bereitzustellen, um Seenotrettungsmaßnahmen durchführen zu können. 22 Charta der Grundrechte der europäischen Union, ABl. C 364/1 vom 18.12.2000, http://eurlex .europa.eu/de/treaties/dat/32007X1214/htm/C2007303DE.01000101.htm (letzter Zugriff 29.10.2013). 23 Siehe im einzelnen James R. Crawford, State Responsibility, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1093#law-9780199231690-e1093-div1-3 (letzter Zugriff 29.10.20134) Rz. 18: „In international law the general rule is that conduct attributed to the State at the international level is that of its organs of government, or of others who have acted under the direction, instigation, or control of those organs, that is, as agents of the State”. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 11 Wie im Seevölkerrecht (s.o., Kapitel 2) spielt es auch im Anwendungsbereich der Menschenrechtsinstrumente keine Rolle, welche Staatsangehörigkeit die gefährdeten oder potentiell in ihren Menschenrechten verletzten Personen haben. Die menschenrechtlichen Schutzpflichten stehen neben den seevölkerrechtlichen, die beiden Regime schränken einander nicht ein. 4. Besondere Einrichtungen im Rahmen der Europäischen Union 4.1. FRONTEX Im Jahre 2004 errichtete die EU die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ (FRONTEX).24 Die EU übertrug der FRONTEX-Agentur folgende Aufgaben und Zuständigkeiten: a) Koordinierung der operativen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der Außengrenzen; b) Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten einschließlich der Festlegung gemeinsamer Ausbildungsnormen; c) Durchführung von Risikoanalysen; d) Verfolgung der Entwicklungen der für die Kontrolle und Überwachung der Außengrenzen relevanten Forschung; e) Unterstützung der Mitgliedstaaten in Situationen, die eine verstärkte technische und operative Unterstützung an den Außengrenzen erfordern; f) Bereitstellung der notwendigen Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Organisation gemeinsamer Rückführungsaktionen.25 Neben der genannten Verordnung sind weitere Rechtsgrundlagen der Tätigkeit von FRONTEX: die Gründungsverträge der EU26, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union27, der Schengen-Besitzstand28 und die FRONTEX-Einsatzrichtlinien in der Fassung von 2011.29 24 Verordnung (EG) 2007/2004 des Rates vom 26. Oktober 2004, Abl. L 349/1 vom 25.11.2004, http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:349:0001:0011:DE:PDF (letzter Zugriff 29.10.2013). 25 Art. 2 VO (EG) 2007/2004. 26 Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 325/35 vom 24.12.2002, http://eurlex .europa.eu/de/treaties/dat/12002E/pdf/12002E_DE.pdf (letzter Zugriff 29.10.2013). 27 Siehe oben (Anm. 22). 28 Zum Schengener Abkommen siehe im einzelnen: Schengen-Besitzstand gemäß Artikel 1 Absatz 2 des Beschlusses 1999/435/EG des Rates vom 20. Mai 1999, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 22.9.2000, http://www.auswaertigesamt .de/cae/servlet/contentblob/350358/publicationFile/3763/SchengenBesitzstand.pdf (letzter Zugriff 29.10.2013). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 12 Der erste Erwägungsgrund der FRONTEX-Einsatzrichtlinien bringt deren Verankerung in ihrem völker- und europarechtlichen Zusammenhang zum Ausdruck: Die Entwicklung einer vorausschauenden und umfassenden europäischen Migrationspolitik , die auf Menschenrechten, Solidarität und Verantwortlichkeit beruht , insbesondere für jene Mitgliedstaaten, die besonderem und unverhältnismäßigem Druck ausgesetzt sind, ist weiterhin eines der politischen Hauptziele der Europäischen Union.30 Das Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen findet sich in den FRONTEX- Einsatzrichtlinien mehrfach bestätigt.31 Dies entspricht auch dem Verständnis der deutschen Bundesregierung.32 Eine rechtliche Bewertung der Tätigkeit von FRONTEX ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass FRONTEX nicht an die Stelle der nationalen Küstenwachen getreten ist. Deren Zuständigkeiten im Bereich der Seenotrettung lässt FRONTEX grundsätzlich unberührt. Politische Forderungen nach dem Aufbau einer europäischen Küstenwache wurden gelegentlich erhoben, bisher jedoch nicht umgesetzt.33 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die FRONTEX- Agentur in erster Linie darauf abzielt, die EU-Mitgliedstaaten beim nationalen Schutz der EU-Außengrenzen fachlich und logistisch zu unterstützen, wobei die Bekämpfung illegaler Migration im Vordergrund steht.34 4.2. EUROSUR Im Oktober 2013 schuf die EU durch eine legislative Entschließung des Europäischen Parlaments 35 mit dem Europäischen Grenzüberwachungssystem (EUROSUR) eine weiteres Instru- 29 Verordnung (EU) Nr. 1168/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011, ABl. L 304/1 vom 22.11.2011, http://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:349:0001:0011:DE:PDF (letzter Zugrioff 29.10.2013). 30 A.a.O. (Anm. 29). 31 9. und 29. Erwägungsgrund, Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 2 Abs. 1a Verordnung (EU) Nr. 1168/2011 (Anm. 29). 32 Siehe BT-Drucksache 17/847 vom 26.02.2010, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/008/1700847.pdf (letzter Zugriff 29.10.2013). 33 Siehe hierzu „Polizeigewerkschaften fordern Aufbau einer EU-Küstenwache“, in: Focus online vom 16.02.2011, http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/fluechtlinge-polizeigewerkschaften-fordernaufbau -einer-eu-kuestenwache_aid_600413.html (letzter Zugriff 29.20.2013). 34 Vgl. die Selbstdarstellung auf der FRONTEX Webseite, http://www.frontex.europa.eu/about-frontex/missionand -tasks (letzter Zugriff 29.11.2013). 35 Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Oktober 2013 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) (COM(2011)0873 – C7-0506/2011 – 2011/0427(COD)), Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 13 ment zur Überwachung der Außengrenzen des Geltungsbereichs des Schengener Abkommens .36 EUROSUR soll den Behörden der EU-Mitgliedstaaten sowie der FRONTEX-Agentur die Infrastruktur und die Instrumente bereitstellen, die sie benötigen, um ihr Lagebewusstsein und ihre Reaktionsfähigkeit beim Aufspüren und Verhindern von irregulärer Migration und grenzüberschreitender Kriminalität sowie beim Schutz und bei der Rettung von Migranten an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union zu verbessern.37 Dabei verfolgen die EU-Mitgliedstaaten im Rahmen von EUROSUR vor allem die Schaffung eines gemeinsamen Informationsraums für die Überwachung des maritimen Bereichs der EU.38 Besondere Bedeutung misst EUROSUR den menschenrechtlichen Rahmenvorgaben bei: Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und den Grundsätzen , die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, insbesondere mit der Würde des Menschen, dem Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, dem Recht auf Freiheit und Sicherheit, dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten, den Grundsätzen der Nichtzurückweisung und der Nichtdiskriminierung sowie den Rechten des Kindes. Die Verordnung sollte von den Mitgliedstaaten im Einklang mit diesen Rechten und Grundsätzen angewandt werden.39 Auch die Kompetenzordnung innerhalb der EU wird durch EUROSUR grundsätzlich nicht infrage gestellt: Die Durchführung dieser Verordnung berührt nicht die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und lässt die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See, dem Internationalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See, dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2013- 0416+0+DOC+XML+V0//DE&language=DE (letzter Zugriff 31.10.2013). 36 Zu den Zielen und Instrumenten von EUROSUR siehe im einzelnen die Angaben auf der FRONTEX- Webseite, http://www.frontex.europa.eu/eurosur (letzter Zugriff 29.10.2013). 37 1. Erwägungsgrund der vorgeschlagenen Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR) /* KOM/2011/0873 Endgültig - 2011/0427 (COD) */, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011:0873:FIN:DE:HTML (letzter Zugriff 29.10.2013). 38 4. Erwägungsgrund der vorgeschlagenen EUROSUR-Verordnung (Anm. 37). 39 6. Erwägungsgrund der vorgeschlagenen EUROSUR-Verordnung (Anm. 37). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 078/13 Seite 14 grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und dem dazugehörigen Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, Luft- und Seeweg , dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und anderen einschlägigen internationalen Übereinkünften unberührt.40 Im Hinblick auf EUROSUR ist zusammenfassend festzuhalten, dass die EU-Mitgliedstaaten mit diesem Instrument erstmals ausdrücklich u.a. das Ziel verfolgen, Todesfälle von Flüchtlingen und/oder Migranten in Seenot zu vermeiden. Allerdings handelt es sich auch bei EUROSUR im wesentlichen um ein Informationsnetzwerk. Die genuinen Zuständigkeiten nationaler Stellen zur Küstenwache und Seenotrettung bleiben unangetastet. 40 16. Erwägungsgrund der vorgeschlagenen EUROSUR-Verordnung (Anm. 37).