© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 077/16 Zulässigkeit rotierender Truppen in den östlichen Mitgliedstaaten der NATO Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 2 Zulässigkeit rotierender Truppen in den östlichen Mitgliedstaaten der NATO Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 077/16 Abschluss der Arbeit: 24. Mai 2016 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Vereinbarkeit mit der NATO-Russland-Grundakte 5 2.1. Bindungswirkung der Grundakte 5 2.2. Inhaltliche Vorgaben der Grundakte 7 2.2.1. Zusätzliche substantielle Kampftruppen 7 2.2.2. Dauerhafte Stationierung 8 2.2.3. Einschränkungen 8 3. Vereinbarkeit mit sonstigen Regelwerken 10 4. Schlussbetrachtung 11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 4 1. Einführung Auf dem NATO-Gipfel in Warschau Anfang Juli 2016 soll unter anderem über die künftige Präsenz von NATO-Truppen in den östlichen Mitgliedstaaten des Bündnisses entschieden werden. Die bislang bekannt gewordenen Vorschläge der NATO-Militärführung sehen vor, jeweils ein multinationales Bataillon in jeden baltischen Staat sowie nach Polen zu entsenden. Insgesamt soll es sich um bis zu 4.000 Soldaten handeln, die ständig rotieren.1 Darüber hinaus wollen die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) im Jahr 2017 zu Übungszwecken eine vollständige Panzerbrigade an die Ostflanke der NATO verlegen, die circa 4.000 Soldaten , 250 Panzer, sowie Haubitzen, Kampffahrzeuge und weitere 1.700 Fahrzeuge umfasst.2 Auch diese Brigade soll durch verschiedene Länder rotieren, wobei als Standorte die baltischen Staaten , Polen, Rumänien und Bulgarien in Betracht kommen. Alle neun Monate sollen die Soldaten vollständig ausgetauscht und auch neues Material nach Europa gebracht werden.3 Schließlich planen die USA, die Ausrüstung für eine weitere Panzerbrigade in Europa zu stationieren, nämlich in Deutschland (Mannheim und Grafenwöhr), in den Niederlanden, in Belgien und wohl auch in Polen (bei Posen). Die zugehörigen Soldaten müssten im Konfliktfall eingeflogen werden.4 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit die geplanten Truppenbewegungen mit der aus dem Jahr 1997 stammenden „Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“ (im Folgenden : NATO-Russland-Grundakte bzw. Grundakte)5 und mit sonstigen Regelwerken vereinbar sind. 1 Süddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2016, S. 7; FAZ.net vom 14. Mai 2016, 12:46 Uhr, online abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/nato-orientiert-sich-um-und-probt-neue-szenarien- 14220420-p3.html (letzter Abruf am 17. Mai 2016). 2 FAZ.net vom 14. Mai 2016, 12:46 Uhr, online abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa /nato-orientiert-sich-um-und-probt-neue-szenarien-14220420-p3.html (letzter Abruf am 17. Mai 2016). 3 Tagesschau.de vom 31. März 2016, 07:32 Uhr, online abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/usapanzerbrigade -101.html (letzter Abruf am 17. Mai 2016). 4 FAZ.net vom 14. Mai 2016, 12:46 Uhr, online abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa /nato-orientiert-sich-um-und-probt-neue-szenarien-14220420-p3.html (letzter Abruf am 17. Mai 2016); Military Times vom 30. März 2016, 8:18 Uhr, online abrufbar unter http://www.militarytimes.com/story/military /2016/03/30/army-plans-9-month-deployments-armored-brigades-europe/82415792/ (letzter Abruf am 18. Mai 2016). 5 Der Volltext des Dokuments ist online abrufbar unter http://www.nato.int/cps/de/natohq/official _texts_25468.htm (letzter Abruf am 17. Mai 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 5 2. Vereinbarkeit mit der NATO-Russland-Grundakte 2.1. Bindungswirkung der Grundakte Ob die Grundakte einen völkerrechtlichen Vertrag oder lediglich eine politische Vereinbarung darstellt, d.h., ob ihr Inhalt rechtlich bindend ist oder nur politische Verbindlichkeit entfaltet, ist umstritten. Zwar deuten manche Umstände auf einen vertraglichen Charakter der Grundakte hin: So entspricht das Zustandekommen der Grundakte dem Prozedere beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge, wonach die beteiligten Völkerrechtssubjekte – durch ihre hierzu ermächtigten Vertreter – übereinstimmend erklären, dass zwischen ihnen bestimmte Regelungen gelten sollen.6 Die Grundakte wurde am 27. Mai 1997 von den Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Mitgliedstaaten sowie dem Präsident der Russischen Föderation – mithin von den nach Art. 7 Abs. 2 lit. a) WVK7 zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge bevollmächtigten Vertretern der genannten Staaten – feierlich im Pariser Elysee-Palast unterzeichnet.8 Hierdurch haben die Unterzeichner den übereinstimmenden Willen bekundet, dass der Inhalt der Grundakte zwischen den beteiligten Staaten Geltung beanspruchen soll. Zudem weist die Grundakte einige Passagen vertragstypischen Inhalts auf. So enthält Kap. I Abs. 5 der Grundakte eine Abgrenzung ihres Anwendungsbereichs vom dem anderer Regelungskomplexe . Auch zeichnet sich die Grundakte in ihrer deutschen, französischen und englischen Fassung an mehreren Stellen durch Formulierungen aus, die einen vertraglichen Bindungswillen zum Ausdruck bringen können (z.B. „verpflichten“ bzw. „Verpflichtung“ / „engagement“ bzw. “s’engager“ / „commitment“ bzw. „commit“9 in Kap. I Abs. 7 und Kap. IV Abs. 5 der Grundakte). Überzeugender ist jedoch die Annahme, dass die Grundakte lediglich eine politische Vereinbarung darstellt: Zu berücksichtigen ist zunächst ihr Eingangssatz. Er lautet: „Die Nordatlantikvertrags-Organisation und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Russische Föderation andererseits, (…), gestützt auf eine auf höchster politischer Ebene eingegangene dauerhafte politische Verpflichtung, werden gemeinsam im euro-atlantischen Raum einen dauerhaften und umfassenden Frieden auf der Grundlage der Prinzipien der Demokratie und der kooperativen Sicherheit schaffen.“ Auch wenn dieser Passus seinem Wortlaut nach nicht zu dem Schluss zwingen mag, dass keine vertragliche 6 Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 10. Auflage, 2014, S. 191. 7 Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926. 8 Kamp, NATO-Russland-Grundakte Trojanisches Pferd oder Meilenstein des Ausgleichs?, Außenpolitik 1997 (Jahrgang 48) S. 315. 9 Das in englischen Vertragsfassungen zur Verdeutlichung der rechtlichen Bindungswirkung gebräuchliche Verb „shall“ findet dagegen an keiner Stelle Verwendung. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 6 Bindung gewollt war, so ist die gewählte Formulierung in völkerrechtlichen Verträgen eher ungewöhnlich . Hinzu kommt die im völkerrechtlichen Rechtsverkehr ebenfalls ungewöhnliche Bezeichnung als „Grundakte“. Diese Wortwahl stellt einen Kompromiss dar, der den vor Unterzeichnung bestehenden Meinungsverschiedenheiten über den Charakter der Grundakte Rechnung trug. Während Russland die von der NATO bevorzugte Bezeichnung als „Charta“ ablehnte, da dies die Bedeutung der Sache nicht ausreichend würdige, wandte sich die NATO gegen die von Russland gewünschte Bezeichnung als „Vertrag“, da befürchtet wurde, dass dies darauf hinauslaufe, Russland ein echtes Recht zur Mitbestimmung über bündnisinterne Angelegenheiten einzuräumen.10 Zudem ist dem Umstand Gewicht beizumessen, dass die Grundakte in ihrer englischen bzw. französischen Fassung statt des bei Verträgen üblichen Inkrafttretens („to enter into force“ / „entrer en vigueur“) lediglich ihr Wirksamwerden („to take effect" / „prendre effet“) regelt.11 Des Weiteren ist zu beachten, dass der Abschluss der Grundakte in den wichtigen NATO-Mitgliedstaaten USA und Deutschland keine parlamentarische Zustimmung in Form eines Vertragsgesetzes erfahren hat.12 Wäre der deutsche Gesetzgeber im Jahr 1997 davon ausgegangen, dass die Grundakte einen völkerrechtlichen Vertrag darstellt, wäre ein solches Vorgehen aber zu erwarten gewesen. Denn ihrem Inhalt nach dürfte die Grundakte die Beziehungen des Bundes i.S.d. Art. 59 Abs. 2 GG regeln, sodass ein Zustimmungsgesetzes erforderlich gewesen wäre. Auch in den USA war von Anfang an keine formelle Ratifikation beabsichtigt.13 Darüber hinaus zeichnet sich die Grundakte an entscheidenden Stellen durch die Verwendung stark ausfüllungsbedürftiger Begriffe aus,14 ohne zugleich handhabbare Leitlinien für deren Ausfüllung zur Verfügung zu stellen. Dies spricht dafür, dass zumindest nicht alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien eine rechtlich verbindliche Regelung schaffen wollten. Denn das Eingehen vertraglicher Bindungen verfolgt regelmäßig den Zweck, ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit herzustellen und diesem Zweck kann die Grundakte an den betreffenden Stellen kaum gerecht werden. Schließlich kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Grundakte einen Baustein der strategischen Neuausrichtung der NATO während der 1990er Jahre darstellt. Diese wurde ganz über- 10 Kamp, NATO-Russland-Grundakte Trojanisches Pferd oder Meilenstein des Ausgleichs?, Außenpolitik 1997 (Jahrgang 48) S. 315, 317 f. 11 Anders die deutsche Fassung, die vom Inkrafttreten der Grundakte spricht. Die Urschriften wurden jedoch nur in englischer, französischer und russischer Sprache ausgefertigt. 12 Nach einer schriftlichen Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 20. Mai 2016 hat keine Ratifikation stattgefunden . Auch eine Anfrage bei dem innerhalb der Bundestagsverwaltung für die Parlamentsdokumentation zuständigen Referat hat keinen Hinweis auf ein parlamentarisches Ratifizierungsverfahren ergeben. 13 Kamp, NATO-Russland-Grundakte Trojanisches Pferd oder Meilenstein des Ausgleichs?, Außenpolitik 1997 (Jahrgang 48) S. 315, 319 f. 14 Dies gilt etwa für den Bereich der Vorgaben betreffend Kampftruppen, siehe dazu unten 2.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 7 wiegend unter Vermeidung einer formalen Modifikation des bestehenden Vertragsgerüsts vollzogen . Eindeutige Anhaltspunkte dafür, dass die NATO-Mitgliedstaaten die Absicht hatten, mit dem Abschluss der Grundakte von diesem System abzuweichen, sind nicht ersichtlich. 2.2. Inhaltliche Vorgaben der Grundakte Kapitel IV der Grundakte (Überschrift: Politisch-Militärische Angelegenheiten) enthält den folgenden Passus: „Die NATO wiederholt, dass das Bündnis in dem gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben eher dadurch wahrnimmt , dass es die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet , als dass es zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert. Das Bündnis wird sich dementsprechend auf eine angemessene, den genannten Aufgaben gerecht werdende Infrastruktur stützen müssen. In diesem Zusammenhang können, falls erforderlich, Verstärkungen erfolgen für den Fall der Verteidigung gegen eine Aggressionsdrohung und für Missionen zur Stützung des Friedens im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und den Leitprinzipien der OSZE sowie für Übungen im Einklang mit dem angepassten KSE-Vertrag, den Bestimmungen des Wiener Dokuments von 1994 sowie gegenseitig vereinbarten Transparenzmaßnahmen .“ Diese Vorgaben dürften durch die derzeit geplanten Truppenbewegungen nicht verletzt werden. Im Einzelnen: 2.2.1. Zusätzliche substantielle Kampftruppen Was unter dem Begriff „substantielle Kampftruppen“ zu verstehen ist, ist nicht abschließend geklärt . Die Grundakte enthält keine entsprechende Definition und trotz diesbezüglicher Forderungen Russlands15 haben sich die Unterzeichnerstaaten auch nicht anderweitig über die Auslegung des Begriffs „substantielle Kampftruppen“ verständigt. Es besteht allerdings Grund zur Annahme , dass sowohl die USA – als einflussreichster NATO-Mitgliedstaat – als auch die Russische Föderation die Grenze bei der Stärke einer Brigade ziehen: Nach der US-amerikanischen Heeresvorschrift AR 600-8-22 (Stand: 25. Juni 2015)16 bestehen substantielle Kampftruppen „typischerweise aus mindestens einer Brigade oder deren Äquivalent an Kampftruppen, sofern diese nicht 15 Siehe Durkalec, The Russian Approach towards Revival of Conventional Arms Control Regime in Europe, in: The Polish Institute of International Affairs (Hrsg.), BULLETIN No. 134 (210) vom 22. November 2010, S. 384, online abrufbar unter: http://kms2.isn.ethz.ch/serviceengine/Files/ESDP/124577/ipublicationdocument_singledocument /aa8bd62d-a94e-4b8c-9b86-90f676ecddc4/en/a210-2010.pdf (letzter Abruf am 17. Mai 2016). 16 Die Vorschrift befasst sich mit militärischen Auszeichnungen und ist online abrufbar unter http://www.apd.army.mil/pdffiles/r600_8_22.pdf (letzter Abruf am 17. Mai 2016). In Ziffer 7-18 lit. d) Abs. 4 heißt es: “The operation required deployment of substantial Army forces (typically defined as consisting of at least a brigade or equivalent of combat forces, provided they did not consist solely of provisional organizations) for at least 30 consecutive days.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 8 nur vorübergehend organisiert sind“. Die Russische Föderation scheint ebenfalls diesem Ansatz folgen.17 Auch wenn sich die auf Kampftruppen bezogenen Vorgaben der Grundakte nach dem Wortlaut des Kap. IV an das „Bündnis“ richten, dürften nicht nur solche Kampftruppen einzubeziehen sein, die explizit unter NATO-Kommando stehen, sondern auch solche, die ein NATO-Mitgliedstaat unter eigenem Kommando in das Territorium eines anderen NATO-Mitgliedstaates entsendet , um so die Schlagkraft des Bündnisses zu unterstreichen. Dafür spricht zum einen die Formulierung des Eingangssatzes der Grundakte (s.o. 1.2.), wonach nicht nur die NATO selbst, sondern auch ihre Mitgliedstaaten Adressaten der anschließenden Vereinbarungen sind. Zum anderen bezweckt die Grundakte ersichtlich eine mengenmäßige Begrenzung aller an der Ostgrenze des NATO-Gebietes stationierten Kampftruppen, die zur Durchsetzung von NATO-Interessen eingesetzt werden können. Daher dürften die zu der eingangs erwähnten, unter US-amerikanischem Kommando stehenden rotierenden Panzerbrigade gehörenden Truppen miteingerechnet werden müssen. Die geplante Stationierung der bloßen Ausrüstung für eine weitere US-amerikanische Brigade dürfte demgegenüber nicht berücksichtigt werden müssen. Denn hierbei handelt es sich nicht um „Kampftruppen“, sondern lediglich um militärisches Gerät, das ohne Zutun der zugehörigen Truppen nicht im Kampf eingesetzt werden kann. Geht man davon aus, dass die Grenze zu „substantiellen Kampftruppen“ bei Soldaten in der Stärke einer Brigade zu ziehen ist und dabei sowohl Soldaten unter NATO-Kommando als auch zur Demonstration der Bündnisstärke in einen anderen NATO-Mitgliedstaat entsendete Soldaten unter nationalem Kommando zu berücksichtigen sind, überschreitet die geplante Kombination aus vier Bataillonen unter NATO-Kommando und einer zusätzlichen US-amerikanischen Panzerbrigade diese Grenze. 2.2.2. Dauerhafte Stationierung Eine dauerhafte Stationierung dürfte voraussetzen, dass die Truppen festen Standorten zugeordnet sind. Dies trifft weder auf die vier geplanten NATO-Bataillone noch auf die US-amerikanische Panzerbrigade zu, die sämtlich einer regelmäßigen Rotation unterworfen sind. 2.2.3. Einschränkungen Die auf Kampftruppen bezogenen Vorgaben werden nach Kap. IV der Grundakte gleich in mehrfacher Hinsicht eingeschränkt: 17 Siehe Durkalec, The Russian Approach towards Revival of Conventional Arms Control Regime in Europe, in: The Polish Institute of International Affairs (Hrsg.), BULLETIN No. 134 (210) vom 22. November 2010, S. 385, online abrufbar unter: http://kms2.isn.ethz.ch/serviceengine/Files/ESDP/124577/ipublicationdocument_singledocument /aa8bd62d-a94e-4b8c-9b86-90f676ecddc4/en/a210-2010.pdf (letzter Abruf am 17. Mai 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 9 Erstens wird dem betreffenden Passus durch die Einfügung des Wortes „eher“ der Charakter einer bloßen Sollbestimmung verliehen. Zweitens stehen die betreffenden Vorgaben ausdrücklich unter der Prämisse des „gegenwärtigen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeldes“.18 Im Jahr 1997 war dieses durch einen Prozess der Annäherung und Kooperation zwischen der NATO und der Russischen Föderation geprägt. Teil dieses Prozesses war auch der Abschluss der Grundakte selbst,19 deren Kap. I unter anderem die Verpflichtung umfasst, die gegenseitigen Beziehungen an folgenden Grundsätzen auszurichten: Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist. Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker , wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen. Die Entwicklung der letzten Jahre war demgegenüber durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, eine erhebliche russische Einflussnahme auf die inneren Angelegenheiten der Ukraine, irritierende russische Äußerungen gegenüber einzelnen NATO-Mitgliedstaaten20 und etliche militärische Zwischenfälle bei Übungsmanövern über der Ostsee21 geprägt. In Anbetracht dessen dürfte sich das derzeitige Sicherheitsumfeld nicht mehr mit dem bei Unterzeichnung der Grundakte vorhandenen und vorhersehbaren Sicherheitsumfeld decken. 18 Teile der Literatur bezeichneten die Grundakte schon 1997 als „Dokument des Übergangs“, siehe Wenger / Perovic , Russland und die Osterweiterung der NATO – Herausforderungen für die russische Außen- und Sicherheitspolitik , S. 123, in: ETH Zürich Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (Hrsg.), Zürcher Beiträge zur Sicherheits- und Konfliktforschung, 1997 (Heft Nr. 43), online abrufbar unter http://e-collection .library.ethz.ch/eserv/eth:22525/eth-22525-01.pdf (letzter Abruf am 17. Mai 2016). 19 Kamp, NATO-Russland-Grundakte Trojanisches Pferd oder Meilenstein des Ausgleichs?, Außenpolitik 1997 (Jahrgang 48) S. 315, 323). 20 So etwa die im März 2015 durch den russischen Botschafter in Dänemark ausgesprochene Warnung, im Fall eines dänischen Beitritts zum NATO-Raketenabwehrschirm würden dänische Kriegsschiffe zu Zielen russischer Atomraketen, siehe dazu Spiegel online vom 22. März 2015 – 09:39 Uhr, online abrufbar unter http://www.spiegel .de/politik/ausland/russland-droht-daenemark-mit-atomraketen-a-1024907.html (letzter Abruf am 23. Mai 2016). 21 So etwa das Bedrängen eines amerikanischen Aufklärungsflugzeug durch Annäherung eines russischen Jagdflugzeugs auf bis zu 15 Meter, siehe dazu Spiegel online vom 17. April 2016 – 16:25 Uhr, online abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ostsee-russischer-kampfjet-bedraengt-us-flugzeug-a-1087664.html (letzter Abruf am 23. Mai 2016). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 10 Drittens lässt die Grundakte unter bestimmten Voraussetzungen (s.o. 2.2.) Truppenverstärkungen ausdrücklich zu. Inwieweit die geschilderten Veränderungen des Sicherheitsumfeldes diese Voraussetzungen erfüllen, kann im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung zwar nicht abschließend erörtert werden. Ausgeschlossen erscheint eine solche Bewertung aber nicht. 3. Vereinbarkeit mit sonstigen Regelwerken Dass die geplanten Truppenbewegungen gegen anderweitige Regelwerke verstoßen würden, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Insbesondere verletzen die geplanten Truppenbewegungen nicht den Zwei-plus-Vier-Vertrag22. Dieser sieht unter anderem vor, dass Deutschland auf atomare, biologische und chemische Waffen verzichtet (Art. 2 S. 3) und nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus dem Gebiet der ehemaligen DDR und Berlins dort weder Kernwaffenträger noch ausländische Streitkräfte und Atomwaffen stationiert werden (Art. 5 Abs. 3). Diese Vorgaben werden im Zuge der geplanten Truppenbewegungen eingehalten. Ein Verbot der Entsendung deutscher Truppen in andere Staaten im Rahmen eines Bündnissystems enthält der Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht. Die geplanten Truppenbewegungen unterfallen auch nicht dem wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt . Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip, wonach jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen Bundestages bedarf .23 Dies gilt auch für bewaffnete Außeneinsätze deutscher Soldaten innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne von Art. 24 Abs. 2 GG24, zu denen die NATO zählt25. Allerdings greift der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt nur dann, wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist und deutsche Soldaten deshalb bereits in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind.26 Da die geplanten Truppenbewegungen nur Übungscharakter haben und eine bewaffnete Auseinandersetzung nicht konkret zu erwarten steht, sind diese Voraussetzungen derzeit nicht erfüllt. 22 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, BGBl. 1990 II S. 1317, online abrufbar unter: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit /43784/2-plus-4-vertrag (letzter Abruf am 23. Mai 2016). Unterzeichnerstaaten waren die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik sowie die vier Siegermächte (Frankreich, die Sowjetunion , das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten von Amerika). 23 BVerfG, Urteil vom 23. September 2015 – 2 BvE 6/11 –, juris Rn. 69 m.w.N. 24 BVerfG, Urteil vom 23. September 2015 – 2 BvE 6/11 –, juris Rn. 69 m.w.N. 25 BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92 u. a. –, NJW 1994, 2207, 2210. 26 BVerfG, Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –, DÖV 2008, 594, 598; Depenheuer in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, 75. Ergänzungslieferung September 2015, Art. 87a Rn. 149 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 077/16 Seite 11 4. Schlussbetrachtung Wie dargelegt, resultieren aus der Grundakte weder Rechtspflichten, die einer Teilnahme deutscher Truppen an den im Rahmen der NATO geplanten Maßnahmen entgegenstehen, noch verstoßen die geplanten Truppenbewegungen gegen die durch die Grundakte begründeten politischen Vereinbarungen. Auch steht keine Verletzung sonstiger Regelwerke zu befürchten. In Anbetracht des in jüngerer Zeit zu beobachtenden russischen Verhaltens gegenüber der NATO und ihren Mitgliedern sowie angesichts der bestehenden Diskussion um die fortschreitende Erweiterung des Bündnisses ist davon auszugehen, dass Russland die geplanten Maßnahmen kritisieren wird. Welche politischen Implikationen dies für die deutsch-russischen Beziehungen hat, kann im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht abschließend beurteilt werden. Allerdings ist zu berücksichtigen , dass die deutschen Sicherheitsinteressen nicht allein vom deutsch-russischen Verhältnis abhängen, sondern ebenso von den Beziehungen zu den übrigen NATO-Mitgliedstaaten, die teilweise vehement auf eine stärkere Präsenz der NATO an deren Ostgrenze drängen. Ende der Bearbeitung