© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 074/20 Das griechisch-ägyptische Abkommen vom 6. August 2020 über die Abgrenzung ihrer Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) im östlichen Mittelmeer Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 2 Das griechisch-ägyptische Abkommen vom 6. August 2020 über die Abgrenzung ihrer Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) im östlichen Mittelmeer Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 074/20 Abschluss der Arbeit: 28. August 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetlinks) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Inhalt des griechisch-ägyptischen Abkommens 4 2. Verhältnis zum türkisch-libyschen Memorandum of Unterstanding von 2019 5 3. Seerechtliche Einordnung 8 3.1. Rechtliche Rahmenbedingungen für die maritime Abgrenzung von AWZs im östlichen Mittelmeer 8 3.2. Bilaterale Verträge zur Abgrenzung maritimer Einflusszonen 10 3.3. Rolle von Drittstaaten in maritimen Abgrenzungsprozessen 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 4 1. Inhalt des griechisch-ägyptischen Abkommens Am 6. August 2020 haben Griechenland und Ägypten in Kairo ein Abkommen1 über die Abgrenzung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ)2 beider Staaten im östlichen Mittelmeer unterzeichnet. Das Abkommen, dessen Verhandlungen bereits 2005 nach der Entdeckung fossiler Rohstoffe im östlichen Mittelmeer begannen,3 ist seinem Rechtscharakter nach ein völkerrechtlicher Vertrag i.S.d. Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK). Nach Maßgabe der Ratifikationsklausel (Art. 5) ist das Abkommen bereits vom ägyptischen Parlament ratifiziert worden;4 es tritt nach Austausch beider Ratifikationsurkunden in Kraft. Gemäß Art. 1 des Abkommens wird entlang bestimmter geographischer Punkte im Mittelmeer, die im Annex 1 zum Abkommen festgelegt und auf einer entsprechenden Seekarte verzeichnet sind,5 eine Abgrenzung der AWZ beider Staaten vorgenommen. Von der Aufteilung umfasst ist ein Korridor im östlichen Mittelmeer, der von den griechischen Inseln Kreta und Rhodos im Norden bis zur Küste Westägyptens im Süden reicht. Die in dem Abkommen festgelegte Grenzlinie im Mittelmeer teilt diesen Korridor in zwei Teile. Die zwischen Griechenland und Ägypten vereinbarte Aufteilung klammert allerdings die östlich dieses Korridors gelegenen Seegebiete aus, die sich südlich der griechischen Insel Kastellorizo / Meyisti (unmittelbar an der türkischen Südküste gelegen) bis nach Ägypten hin erstrecken. Die Verhandlungen über die Aufteilung dieser Seegebiete wurden – möglicherweise aus Rücksicht auf eine mögliche Konfrontation mit der Türkei – vertagt oder dauern noch an. Im Ergebnis handelt es sich bei dem griechischägyptischen Abkommen (nur) um ein Teilabkommen (Art. 1 Abs. b des Abkommens spricht von „partial delimitation“). 1 Das Abkommen ist diesem Sachstand als Anhang beigefügt. 2 Die in den Art. 55 ff. des VN-Seerechtsübereinkommens (SRÜ) von 1982 (Text abrufbar unter: https://eurlex .europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1998:179:0003:0134:DE:PDF) geregelte AWZ bezeichnet das Meeresgebiet seewärts des Küstenmeeres bis maximal 200 Seemeilen (ca. 370 km) ab der Basislinie. Die AWZ liegt gleichsam über dem Festlandssockel. Innerhalb der AWZ kann ein Küstenstaat, soweit er diese Zone für sich in Anspruch nimmt, in begrenztem Umfang souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse wahrnehmen. Dazu zählen u.a. die Erforschung und wirtschaftliche Ausbeutung der AWZ. Anders als der Festlandssockel, über den jeder Staat gem. Art. 77 Abs. 3 SRÜ verfügt, muss der Küstenstaat durch einseitigen Akt eine solche Zone bis zu einer Breite von 200 sm für sich in Anspruch nehmen. Hat der Küstenstaat keine AWZ errichtet, bleiben die Gewässer über dem Festlandssockel Teil der Hohen See. Bei engeren Meeren und Gewässern wird eine Abgrenzung zu den AWZs anderer Küstenstaaten erforderlich. Die Abgrenzung begründet nicht die Rechte der Staaten an der AWZ, sondern setzt deren Existenz voraus (näher Proelß, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts , München 2006, Kap. 3 Rdnr. 220 f. und 280 f.). 3 Vgl. zu den Hintergründen Constantinos Yiallourides, “Some Observations on the Agreement between Greece and Egypt on the Delimitation of the Exclusive Economic Zone”, Blog of the European Journal of International Law vom 25. August 2020, Teil I: https://www.ejiltalk.org/18969- 2/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. 4 https://www.athina984.gr/de/2020/08/18/nai-apo-zu-aigyptiako-koinovoylio-stin-oriothetisi-aoz-elladasaigyptoy /, 18. August 2020, „´Ja` vom ägyptischen Parlament zur Abgrenzung der griechisch-ägyptischen AWZ“. 5 Link zur Seekarte: “Greece and Egypt sign historic agreement for delimitation of EEZ”, https://www.keeptalkinggreece.com/2020/08/06/greece-egypt-eez-agreement-signed/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 5 2. Verhältnis zum türkisch-libyschen Memorandum of Unterstanding von 2019 Das griechisch-ägyptische AWZ-Abkommen vom 6. August 2020 stellt gewissermaßen die politische und seerechtliche Antwort Griechenlands auf das international umstrittene6 Memorandum of Unterstanding (MoU)7 über die Abgrenzung der maritimen Einflusszonen im Mittelmeer dar, das die Türkei und Libyen bereits am 27. November 2019 unterzeichnet haben.8 Tatsächlich zieht das griechisch-ägyptische Abkommen vom 6. August 2020 eine Linie durch eben jene Zone, welche auch die Türkei und Libyen nach Maßgabe ihres MoU für sich beanspruchen. Ein Blick auf die Seekarte des östlichen Mittelmeers macht deutlich, dass sich beide Einflusssphären großenteils überlappen.9 Damit existieren also zwei völkerrechtliche Abkommen zwischen vier verschiedenen Staaten, die ihre Interessenssphären teilweise auf dasselbe Seegebiet erstrecken. Griechenland und Ägypten10 sehen in dem türkisch-libyschen MoU von 2019 eine massive Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Interessen im östlichen Mittelmeer sowie eine Verletzung des internationalen Seerechts. Das Abkommen vom 6. August 2020, das nunmehr auch die griechischen und ägyptischen „Claims“ im Mittelmeer absteckt, ist insoweit auch als Signal in Richtung Ankara zu verstehen.11 6 ZEIT online vom 13. Dezember 2019, „EU-Staaten kritisieren türkisch-libysches Seeabkommen“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/seerecht-tuerkei-libyen-seeabkommen-eu-staaten. 7 Das MoU ist abrufbar unter: https://www.nordicmonitor.com/2019/12/the-full-text-of-turkey-libya-maritimeagreement -revealed/. Vgl. dazu: Sachstand WD 2 – 3000 - 143/19 vom 17. Januar 2020, „Seevölkerrechtliche Bewertung der türkischlibyschen Vereinbarung über die Abgrenzung ihrer maritimen Interessenssphären im östlichen Mittelmeer“, https://www.bundestag.de/resource/blob/678992/e6247b1311a73d6058a5d50ea7eb2682/WD-2-143-19-pdfdata .pdf. Talmon, Stefan / Lobo, Mary, „The intricacies of maritime boundary delimitation: Germany’s one-sided response to the Turkey-Libya MoU on delimitation of the maritime jurisdiction areas in the Mediterranean", GPIL – German Practice in International Law, 9. März 2020, https://gpil.jura.uni-bonn.de/2020/03/the-intricacies-ofmaritime -boundary-delimitation-germanys-one-sided-response-to-the-turkey-libya-mou-on-delimitation-of-themaritime -jurisdiction-areas-in-the-mediterranean/. Mesut Hakki Casin, “Analysis – Strategic, Legal Aspects of Turkey-Libya Deal”, Anadolu Agency, 13. Dezember 2019, https://www.aa.com.tr/en/africa/analysis-strategic-legal-aspects-of-turkey-libya-deal/1673079. 8 So soll das türkisch-libysche MoU den Abschluss der Verhandlungen zwischen Griechenland und Ägypten sogar beschleunigt haben. 9 Vgl. z.B. Seekarte im Beitrag „Turkey-Greece tensions escalate over Turkish Med drilling plans“, BBC News v. 25.8.2020, https://www.bbc.com/news/world-europe-53497741. 10 Vgl. dazu die Analyse von Khaled Fouad, „Demarcation of Maritime Borders and Egyptian Strategic Interests, Egyptian Institute for Studies, 10. Dezember 2019, https://en.eipss-eg.org/wpcontent /uploads/2019/12/Demarcation-of-Maritime-Borders-and-Egyptian-Strategic-Interests.pdf. Der Beitrag analysiert die politischen und wirtschaftlichen Interessen Ägyptens und erklärt auch, warum ein Abgrenzungsvertrag nicht mit der geographisch näher gelegenen Türkei, die 2013 mit Ägypten Verhandlungen aufnehmen wollte, sondern mit Griechenland zustande kam. 11 So der Nahostexperte der SWP Stephan Roll im Interview mit der DW vom 10. August 2020: „Dieser Konflikt ist viel, viel größer“, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-griechenland-mittelmeer-konflikt-%C3%A4gypten/a- 54509811. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 6 Die Äußerungen aus dem griechischen und türkischen Außenministerium zeugen von einer eigentümlichen „Fixierung“ auf das Abkommen der jeweils anderen Seite und unterstreichen dabei den (scheinbar) unversöhnlichen Antagonismus beider Staaten in Bezug auf ihre Interessen im östlichen Mittelmeer sowie auf die seerechtliche Bewertung der Lage. Nach griechischer Lesart annulliert das griechisch-ägyptische Abkommen das türkisch-libysche MoU von 2019. In einer Erklärung des griechischen Außenministers heißt es: “Our agreement today confirms and secures the right and influence of our islands on a continental shelf and in an Exclusive Economic Zone. (…) This agreement has been concluded in the framework of International Law. It respects the provisions of International Law and of the Law of the Sea. (…) The agreement between Greece and Egypt is the exact opposite of the illegal, null and void memorandum of understanding between Turkey and Tripoli. Following the signing of today’s agreement, the null and void Turkey-Libya agreement has ended up where it belonged from the very first moment: in the rubbish bin.”12 Das griechische Außenministerium resümiert die wesentlichen Elemente des griechischägyptischen Abkommens in Bezug auf das türkisch-libysche MoU von 2019:13 Confirms the invalidity of the Turkish-Libyan Memorandum. Effective action that bury the Turkish-Libyan pact. Now, in addition to the practical confirmation of the invalidity of the illegal Turkish-Libyan memorandum, we guarantee our legal rights, in agreement with a neighboring country. Our diplomatic position is further strengthened, highlighting with absolute clarity that the Turkish claims are completely illegal and ungrounded . Libya is now between two perfectly legal borders (Greece-Italy and Greece-Egypt). The Libyan government has absolutely no legal basis to reject the discussion with Greece in order to legally complete the demarcation between the EEZs in the region south of Crete. This demarcation is the only legal one and it serves the interest of both our countries. The illegal attempt of Turkey to delimit EEZ directly with Egypt, violating the sovereign rights of the Greek islands in sea zones, is effectively dealt with.” 12 Hellenic Republic, Ministry of Foreign Affairs, Statement of the Minister of Foreign Affairs, Nikos Dendias, following the signing of the agreement on the delimitation of EEZ between Greece and Egypt (Cairo, 6. August 2020), https://www.mfa.gr/en/current-affairs/top-story/statement-of-the-minister-of-foreign-affairs-nikosdendias -following-the-signing-of-the-agreement-on-the-delimitation-of-eez-between-greece-and-egypt-cairoaugust -2020.html. 13 “An agreement on the delimitation of maritime zones was signed between Greece and Egypt”, 6. August 2020, https://www.athina984.gr/en/2020/08/06/ypegrafi-symfonia-oriothetisis-thalassion-zonon-metaxy-elladasaigyptoy /. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 7 Das türkische Außenministerium kritisiert, dass die von Griechenland beanspruchten Seegebiete über dem türkischen Festlandssockel lägen und daraus resultierenden Rechte der Türkei beeinträchtigt würden. Das Abkommen sei daher „null und nichtig“.14 “A maritime boundary between Greece and Egypt does not exist. With respect to Turkey, the so-called maritime delimitation agreement signed today is null and void. This understanding will reflect on the ground and at the table. The supposedly-delimited area lies within the Turkish continental shelf as declared to the United Nations. Egypt, who surrendered an area of 11.500 km² with the so-called agreement it signed with the Greek Cypriot Administration in 2003, once again suffers losses at the expense of the Egyptian people with this move. This so-called agreement also attempts to usurp the rights of Libya. It is without a doubt that Turkey will not allow any activity at the area in question and will resolutely continue to defend its legitimate rights and interests as well as those of the Turkish Cypriots in the Eastern Mediterranean .” Auch Libyen verwahrt sich türkischen Medienberichten zufolge gegen eine Verletzung seiner maritimen Rechte.15 Der vorliegende Sachstand versucht, die rechtlichen Argumente Griechenlands und der Türkei sowie die beiden bilateralen Abkommen zur Abgrenzung der maritimen Interessenssphären seerechtlich einzuordnen. Eine rechtliche Bewertung des seit Jahrzehnten andauernden griechischtürkischen Streits über die maritimen Einflusszonen im Mittelmeer bleibt ausgeklammert. 14 Turkey Ministry for Foreign Affairs, Press Release No. 165, 6 August 2020, Regarding the Signing of a So-Called Maritime Delimitation Agreement between Greece and Egypt, http://www.mfa.gov.tr/no_-165_-yunanistan-ilemisir -arasinda-sozde-deniz-yetki-alanlari-anlasmasi-imzalanmasi-hk.en.mfa. Daily News vom 10. August 2020, “Turkey says Greek-Egypt deal endorses Turkish thesis over maritime rights”, https://www.hurriyetdailynews.com/turkey-says-greek-egypt-deal-endorses-turkish-thesis-over-maritime-rights- 157250. 15 Anadolu Agency, 7. August 2020, “Libya slams Greece, Egypt 'so-called' maritime deal”, https://www.aa.com.tr/en/africa/libya-slams-greece-egypt-so-called-maritime-deal-/1934153#. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 8 3. Seerechtliche Einordnung 3.1. Rechtliche Rahmenbedingungen für die maritime Abgrenzung von AWZs im östlichen Mittelmeer Die Abgrenzung maritimer Einflusszonen (maritime delimitation process) gestaltet sich in der Praxis nicht selten rechtlich komplex und politisch kontrovers, so dass am Ende zahlreiche Abgrenzungsfälle vor internationalen Gerichten und Tribunalen landen.16 Nicht zuletzt die Abgrenzung der AWZs im östlichen Mittelmeer wird durch den Ägäis-Konflikt und die unversöhnlichen Rechtspositionen der Türkei und Griechenlands überschattet, auch wenn es in der jüngeren Zeit an interessanten politischen und rechtlichen Analysen bzw. Lösungsvorschlägen (auch von „neutraler“ Seite) nicht gemangelt hat.17 Da die Anrainerstaaten des östlichen Mittelmeers nur teilweise Mitglieder des VN-Seerechtsübereinkommens (SRÜ) sind,18 müssen Rechtsfragen zum Teil auch auf der Basis des Völkergewohnheitsrechts geklärt werden. Die geographischen Gegebenheiten im östlichen Mittelmeer, das zwischen der nordafrikanischen , der kleinasiatischen, der griechischen und der türkischen Küste sowie den griechischen Inseln und Zypern an keiner Stelle kaum breiter als 400 km ist, führt zwangsläufig zu Überschneidungen von maritimen Einflusssphären, wenn die Ausdehnung und Inanspruchnahme einer AWZ bis max. 200 Seemeilen erfolgt.19 Knackpunkt der griechisch-türkischen Divergenzen ist dabei vor allem das Rechtsregime von Inseln im maritimen Abgrenzungsprozess.20 16 Näher z.B. Evans, Malcolm D., „Maritime Boundary Delimitation“, in: Rothwell/Elferink/Scott/Stephens (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Law of the Sea, Oxford 2017, Kap. 12, S. 254-279 (262 f.). Rothwell, Donald / Stephens, Tim, The International Law of the Sea, Oxford, 2. Aufl. 2016, S. 437. 17 Vgl. zuletzt Roudi Baroudi, “Unlocking Peace and Prosperity: How to Resolve Maritime Border Disputes in the Eastern Mediterranean Sea?”, Issam Fares Institute for Public Policy and International Affairs at the American University of Beirut (AUB), März 2020 (69 Seiten), abrufbar unter: https://www.aub.edu.lb/ifi/Documents/publications/research_reports/2019- 2020/20200330_unlocking_peace_and_prosperity.pdf. Emete Gözügüzelli, “Kick Off Maritime Boundary Disputes: Published Maps, Not Drawn With Agreement, Compatible to the International Law?”, in: International Relations and Diplomacy, September 2019, Vol. 7, No. 9, S. 418-430, http://davidpublisher.com/Public/uploads/Contribute/5d8d8740754d4.pdf. Der Beitrag setzt sich eingehend mit den Argumenten der Streitparteien auseinander (S. 423 f.). 18 Mitglieder des SRÜ sind z.B. Zypern, Ägypten, Griechenland und Libanon; nicht ratifiziert haben das SRÜ dagegen Israel, Syrien, Libyen und die Türkei. Ratifikationsstand abrufbar unter: https://treaties.un.org/pages/ViewDetailsIII.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXI- 6&chapter=21&Temp=mtdsg3&lang=en. 19 Proelß, in: Vitzthum (Hrsg.), Handbuch des Seerechts, München: Beck 2006, Kap. 3, Festlandssockel und AWZ, Rdnr. 219 f. 20 Vgl. zur völkerrechtlichen Diskussion für viele Talmon, Stefan, in: Proelß, A. (Hrsg.), UN Convention on the Law of the Sea. A Commentary, München: Beck 2017, Art. 121, insb. Rdnr. 53 ff. Rothwell, Donald / Stephens, Tim, The International Law of the Sea, Oxford, 2. Aufl. 2016, S. 437 ff. Bowett, Derek W., „Islands, Rocks, Reef and Low-Tide Elevation in Maritime Boundary Delimitation”, in: Charney J. / Alexander L. (Hrsg.), International Maritime Boundaries, Vol. I (1991), S. 131-151. Bowett, Derek W., The Legal Regime of Islands in International Law, Alphen aan den Rijn, Netherl. 1997. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 9 Die rechtliche Sichtweise der Türkei,21 wonach die Ägäis gewissermaßen eine Situation sui generis darstellt und daher die griechischen Inseln – jedenfalls soweit sie jenseits der griechischtürkischen Äquidistanzlinie über dem türkischen Festlandssockel liegen (z.B. Kastellorizo) – gewohnheitsrechtlich keine AWZ generieren, widerspricht freilich der herrschenden Auffassung in Literatur22 und Rechtsprechung.23 Auch Überlegungen, wonach sich die Türkei als persistent objector24 einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des Art. 121 Abs. 2 SRÜ25 widersetzen könnte,26 erscheinen mit Blick auf die türkische Staatspraxis nur wenig überzeugend.27 Aber auch die Maximalforderung Griechenlands, wonach auch kleinere Inseln vor der türkischen Küste eine bis zu 200 sm große AWZ generieren, könnte hinter den Postulaten des maritimen Abgrenzungsrechts zurückbleiben: Danach muss das Abgrenzungsergebnis unter Berücksichtigung der geographischen Gegebenheiten (Größe und Lage der Insel) sowie – mit Einschränkungen – anderer nicht-geographischer Faktoren (z.B. ökonomische oder sicherheitspolitische Bedeutung der Insel) den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit, der Fairness und Billigkeit (equity) entsprechen .28 21 Letter dated 18 March 2020 from the Permanent Representative of Turkey to the United Nations addressed to the Secretary-General, UN-Doc. A/74/757 vom 18. März 2020, https://undocs.org/en/a/74/757. 22 Tanaka, Yoshifumi, The International Law of the Sea, Cambridge, 3. Aufl. 2019, S. 84 f. Talmon, in: Proelß (Hrsg.), United Nation Convention on the Law of the Sea. A Commentary, München: Beck 2017, Art. 121 Rdnr. 6. Evans, Malcolm D., „Maritime Boundary Delimitation“, in: Rothwell/Elferink/Scott/Stephens (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Law of the Sea, Oxford 2017, Kap. 12, S. 254 ff. (263) 23 Vgl. IGH, Territorial and Maritime Dispute between Nicaragua and Columbia, ICJ Rep. 2012, S. 674 para. 139. 24 Mit persistent objector wird im Völkerrecht ein Staat bezeichnet, dass sich von Anfang an ausdrücklich einer zu Völkergewohnheitsrecht führenden Völkerrechtsübung beharrlich widersetzt bzw. sich dagegen verwahrt. Damit verhindert der persistent objector die Bindung an das entstehende Völkergewohnheitsrecht. Vgl. i.e. Dörr, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 19 Rdnr. 29 ff. Olufemi Elias, „Persistent Objector“, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: Sept. 2006, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1455?prd=EPIL. Vgl. auch Schlussfolgerung 15 der Resolution der Generalversammlung vom 20. Dezember 2018 zur Feststellung von Gewohnheitsrecht, A/RES/73/203, https://www.un.org/depts/german/gv-73/band1/ar73203.pdf. 25 Art. 121 Abs. 2 SRÜ besagt: „Sofern in Absatz 3 nichts anderes vorgesehen ist, bestimmen sich das Küstenmeer, die Anschlusszone, die ausschließliche Wirtschaftszone und der Festlandsockel einer Insel nach den für andere Landgebiete geltenden Bestimmungen dieses Übereinkommens.“ 26 Vgl. dahingehend Talmon, Stefan / Lobo, Mary, „The intricacies of maritime boundary delimitation: Germany’s one-sided response to the Turkey-Libya MoU on delimitation of the maritime jurisdiction areas in the Mediterranean ", GPIL – German Practice in International Law, 9. März 2020, https://gpil.jura.uni-bonn.de/2020/03/theintricacies -of-maritime-boundary-delimitation-germanys-one-sided-response-to-the-turkey-libya-mou-ondelimitation -of-the-maritime-jurisdiction-areas-in-the-mediterranean/. 27 Ebenso Andrew Norris, “Troubled Waters in the Eastern Mediterranean”, Blog of the European Journal of International Law, 24. August 2020, https://www.ejiltalk.org/troubled-waters-in-the-easternmediterranean /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. 28 Tanaka, Yoshifumi, The International Law of the Sea, Cambridge, 3. Aufl. 2019, S. 258 f. m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 10 Die Rechtsprechung internationaler Gerichte29 und Schiedsgerichte30 zeigt keineswegs eine einheitliche Linie bei der Bewertung der Relevanz von Inseln und ihrer womöglich „verzerrenden Effekte“ im maritimen Abgrenzungsprozess: So wurden kleinere Inseln von den Gerichten zum Teil in den Abgrenzungsprozess einbezogen oder ignoriert.31 Insbesondere für den Fall „Ägäis“ lassen sich keine gesicherten Aussagen darüber treffen, wie ein damit befasstes Gericht entscheiden würde oder zu welchem Ergebnis etwaige Verhandlungen zwischen den Streitparteien führen könnten.32 Schon die Frage, ob es zu einer seegerichtlichen Klärung der griechisch-türkischen Streitigkeiten im Mittelmeer kommt, lässt sich derzeit kaum verlässlich beantworten.33 3.2. Bilaterale Verträge zur Abgrenzung maritimer Einflusszonen Als Ausfluss ihrer Vertragsschlussfreiheit sind Staaten berechtigt, bilaterale Verträge über die Abgrenzung der von ihnen beanspruchten AWZs zu schließen. Das Seevölkerrecht sieht in Art. 74 Abs. 1 SRÜ dafür eine rechtliche Grundlage vor: 29 IGH, Territorial and Maritime Dispute between Nicaragua and Columbia, ICJ Rep. 2012, para. 177 f. Die IGH-Rechtsprechung tendiert offenbar dazu, auch kleinere Inseln, die weit weg vom Mutterland belegen sind, zugunsten des Mutterlandes in den maritimen Abgrenzungsprozess einzubeziehen. 30 Vgl. zuletzt das Schiedsverfahren zwischen den Philippinen und China aus dem Jahre 2016 über die maritime Abgrenzung im südchinesischen Meer und die Relevanz der Spratly-Inseln, vgl. dazu Tanaka, Yoshifumi, “Reflections on the Interpretation and Application of Article 121 (3) in the South China Sea Arbitration (Merits)”, in: Ocean Development & International Law, Vol. 48 (2017), S. 365-385, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/00908320.2017.1349529. Gutachten WD 2 – 3000 – 093/12 vom 26. Juni 2012, „Zu den Möglichkeiten friedlicher Streitbeilegung bei Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer“, https://www.bundestag.de/resource/blob/412704/64bd5aca9b264a5a2e06370a98a4009a/wd-2-093-12-pdfdata .pdf. 31 Überblicksartig Constantinos Yiallourides, “Some Observations on the Agreement between Greece and Egypt on the Delimitation of the Exclusive Economic Zone”, Blog of the European Journal of International Law, 25. August 2020, Teil II https://www.ejiltalk.org/part-ii-some-observations-on-the-agreement-between-greeceand -egypt-on-the-delimitation-of-the-exclusive-economiczone /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. 32 Vgl. insoweit auch DW vom 21. Juli 2020, „Turkey's maritime claims in the Mediterranean Sea raise thorny legal questions”, https://www.dw.com/en/turkeys-maritime-claims-in-the-mediterranean-sea-raise-thorny-legalquestions /a-54256300. In einem Interview äußerte der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu, “it was unacceptable that the small island of Kastellorizo, which lies just off the Turkish mainland and is more than 500 kilometers (311 miles) from Athens, has a maritime jurisdiction area extending 200 nautical miles (230 miles, 370 kilometers) in every direction. What country would accept such a situation?” 33 Eine Befassung durch den Internationalen Seegerichtshof (IntSeeGH) in Hamburg scheidet aus, da die Türkei nicht Mitglied des SRÜ ist. Für eine Befassung des IGH in Den Haag ist eine Unterwerfungserklärung beider Streitparteien erforderlich (Art. 36 IGH-Statut). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 11 „Die Abgrenzung der ausschließlichen Wirtschaftszone zwischen Staaten mit gegenüberliegenden oder aneinander angrenzenden Küsten erfolgt durch Übereinkunft auf der Grundlage des Völkerrechts im Sinne des Artikels 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs, um eine der Billigkeit entsprechende Lösung zu erzielen.“ Das griechisch-ägyptische Abkommen vom 6. August 2020 dient – ebenso wie das türkischlibysche MoU vom 27. November 2019 – der Abgrenzung maritimer und wirtschaftlicher Interessenssphären im östlichen Mittelmeer. Beide Abkommen sind der Sache nach nichts Neues: Sie ergänzen eine Reihe bereits bestehender – zum Teil ähnlich formulierter – bilateraler Abgrenzungs -Abkommen zwischen anderen Mittelmeeranrainerstaaten.34 Soweit sich in diesen Abkommen Maximalansprüche der beteiligten Staaten manifestierten, stießen sie gleichsam auf Kritik und Widerspruch anderer Anrainer.35 Auch das überrascht nicht wirklich. Das vertragliche Festschreiben von Maximalpositionen und -ansprüchen macht einen völkerrechtlichen Vertrag per se noch nicht unwirksam oder völkerrechtswidrig. Tanaka stellt zu recht fest, dass „(…) States may freely conclude any agreements, even if they are not equitable.“36 Erst wenn ein Fall vor Gericht kommt, ist dieses gehalten, einen gerechten Ausgleich nach den Prinzipien der Fairness und Billigkeit zu schaffen und dabei auch die legitimen Interessen unbeteiligter dritter Staaten zu berücksichtigen.37 Was die Berücksichtigung der Interessen Griechenlands angeht, so wirft das türkisch-libysche MoU von 2019 deutlich größere rechtliche Fragen auf 34 Vgl. z.B. Agreement between the Republic of Cyprus and the Arab Republic of Egypt on the delimitation of the Exclusive Economic Zone, 17. Februar 2003, https://www.un.org/Depts/los/LEGISLATIONANDTREATIES/PDFFILES/TREATIES/EGY-CYP2003EZ.pdf; Agreement between the Government of the State of Israel and the Government of the Republic of Cyprus on the delimitation of the Exclusive Economic Zone v. 17. Dezember 2010; https://www.un.org/Depts/los/LEGISLATIONANDTREATIES/PDFFILES/TREATIES/cyp_isr_eez_2010.pdf; zuletzt Agreement on delimitation of maritime zones between Greece and Italy v. 9. Juni 2020, “Greece, Italy ink agreement on Exclusive Economic Zone”, https://www.ekathimerini.com/253758/opinion/ekathimerini/comment/delineating-maritime-zones. Ein Abkommen zwischen Zypern und dem Libanon aus dem Jahre 2007 (https://www.mees.com/2012/9/28/oped -documents/cyprus-lebanon-cyprus-israel-offshore-delimitation/f994d750-6d1a-11e7-9675-d5a0b0510107) ist noch nicht in Kraft. 35 Filis, Andrew / Leal-Arcas, Rafael, “Legal Aspects of Inter-State Maritime Delimitation in the Eastern Mediterranean Basin”, online Publ. April 2013, m.N. Fn. 8, https://www.researchgate.net/profile/Rafael_Leal- Arcas/publication/256061151_Legal_Aspects_of_Inter- State_Maritime_Delimitation_in_the_Eastern_Mediterranean_Basin/links/0046352b9bb848047f000000/Legal- Aspects-of-Inter-State-Maritime-Delimitation-in-the-Eastern-Mediterranean-Basin.pdf?origin=publication_detail. Arasil Eissler, “Maritime Boundary Delimitation in the Eastern Mediterranean”, in: The RUSI Journal No. 159, Mai 2014, https://www.researchgate.net/publication/262580667_Maritime_Boundary_Delimitation_in_the_Eastern_Medite rranean. 36 Tanaka, in: Proelß, A. (Hrsg.), UN Convention on the Law of the Sea. A Commentary, München: Beck 2017, Art. 74 Rdnr. 14 m.w.N. in Fn. 55. 37 Dazu Tanaka, Yoshifumi, The International Law of the Sea, Cambridge, 3. Aufl. 2019, S. 261 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 12 als das griechisch-ägyptische Abkommen von 2020 in Bezug auf die türkischen Interessen: So negiert das türkisch-libysche MoU ganz offensichtlich das Rechtsregime der griechischen Inseln Rhodos und Kreta, die zwischen der Türkei und Libyen liegen, während das griechischägyptische Abkommen eine offensichtlich bestehende Seegrenze zwischen der Südküste Rhodos und dem ägyptischen Festland bilateral justiert. Einigkeit besteht indes darüber, dass völkerrechtliche Verträge, welche die Rechtspositionen und Interessen von Drittstaaten beeinträchtigen, diesen rechtlich nicht entgegengehalten werden können.38 Verträge zulasten Dritter begründen gem. Art. 34 WVRK für diesen ohne dessen Zustimmung keine Pflichten (lat. Grundsatz der res inter alios acta). Dies gilt sowohl für das türkisch-libysche MoU mit Blick auf Griechenland als auch für das griechisch-ägyptische Abkommen mit Blick auf die Türkei. Auch kann ein bilateraler Vertrag einen anderen Vertrag, der zwischen zwei ganz anderen Vertragsparteien geschlossen wurde, rechtlich nicht „aufheben“ oder „außer Kraft“ setzen.39 Beide Abkommen bestehen vorerst weiter – jedenfalls so lange sie nicht durch eine einvernehmliche Regelung aller Beteiligten revidiert werden. Angesichts der geographischen Überschneidung der maritimen Interessenssphären mehrerer Küstenstaaten des östlichen Mittelmeers könnte allein ein multilaterales Vertragswerk zwischen allen Mittelmeeranrainern – unter Einschluss der „Antagonisten“ Griechenland und der Türkei – zu einer für alle gleichermaßen verbindlichen Abgrenzung ihrer AWZs im Mittelmeer führen. Eine solche Lösung wäre politisch wünschenswert und wird offenbar auch von der Bundesregierung favorisiert. Doch ist eine multilaterale Verständigung derzeit weder realistisch noch völkerrechtlich zwingend: In Art. 74 SRÜ, der einen Vertragsschluss zur AWZ-Abgrenzung fordert, deutet nichts darauf hin, dass im Falle mehrerer betroffener Küstenstaaten eine multilaterale Vereinbarung – anstatt mehrerer bilateraler Abkommen – zwingend gefordert wäre.40 Der Seevölkerrechtler Talmon von der Universität Bonn führt insoweit aus: 38 Vgl. grundsätzlich Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck 7. Aufl. 2018, § 15 Rdnr. 26 ff. Mit Blick auf die Abgrenzung der AWZs siehe Talmon, Stefan / Lobo, Mary, „The intricacies of maritime boundary delimitation: Germany’s one-sided response to the Turkey-Libya MoU on delimitation of the maritime jurisdiction areas in the Mediterranean", GPIL – German Practice in International Law, 9. März 2020, https://gpil.jura.uni-bonn.de/2020/03/the-intricacies-of-maritime-boundary-delimitationgermanys -one-sided-response-to-the-turkey-libya-mou-on-delimitation-of-the-maritime-jurisdiction-areas-in-themediterranean /. Matz-Lück, Nele, in: DW vom 21. Juli 2020, „Turkey's maritime claims in the Mediterranean Sea raise thorny legal questions”, https://www.dw.com/en/turkeys-maritime-claims-in-the-mediterranean-sea-raise-thorny-legalquestions /a-54256300. 39 Die Wiener Vertragsrechtskonvention sieht in Art. 46 ff. einige wenige Gründe (z.B. Zwang, Betrug, Bestechung etc.) vor, die zur Ungültigkeit von völkerrechtlichen Verträgen führen können. Art. 53 WVRK regelt überdies die Ungültigkeit eines Vertrages wegen Widerspruchs zu einer ius cogens-Norm des Völkerrechts. All dies ist hier nicht einschlägig. 40 Vgl. Tanaka, in: Proelß, A. (Hrsg.), UN Convention on the Law of the Sea. A Commentary, München: Beck 2017, Art. 74 Rdnr. 14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 13 “(…) There is no legal basis for the requirement stipulated by the German Federal Government that all affected coastal States are to be involved in this process of maritime boundary delimitation. Articles 74(1) and 83(1) UNCLOS, which are reflective of customary international law, provide only that the delimitation of the EEZ and continental shelf between States with opposite or adjacent coasts shall be effected by agreement. These provisions do not require that, in case of three or more States with potentially overlapping claims, all delimitations are to be agreed upon at the same time and in the same agreement. On the contrary , State practice shows that in such situations maritime zones are delimited in a number of bilateral agreements. This process is not prejudicial to the rights of the other coastal State not party to an agreement, as these bilateral delimitation agreements are not binding on third States.”41 3.3. Rolle von Drittstaaten in maritimen Abgrenzungsprozessen Sowohl das türkisch-libysche als auch das griechisch-ägyptische Abkommen zur Abgrenzung der AWZs im Mittelmeer entfalten im Grunde erst dadurch politische und rechtliche Relevanz, dass man sie im Lichte konträrer Interessen von Drittstaaten betrachtet. So erheben sowohl Griechenland als auch die Türkei Ansprüche auf jene Seegebiete, die von den entsprechenden bilateralen Abkommen des jeweils anderen Staates umfasst sind. Die Präsenz von Drittstaaten und ihrer legitimen rechtlichen Interessen hat sich in den letzten Jahren zu einem relevanten Faktor im maritimen Abgrenzungsprozess entwickelt.42 Um die Interessen von Drittstaaten bei maritimen Abgrenzungsverfahren auch jenseits der inter partes- Wirkung von Urteilen (vgl. Art. 59 IGH-Statut) zu schützen, sind internationale Gerichte dazu übergegangen, im Falle von Streitigkeiten zwischen zwei Staaten, maritime Abgrenzungsprozesse dort „abzuschneiden“ (sog. „cutt-off-approach“), wo mögliche Ansprüche seitens von Drittstaaten berührt sein könnten.43 Drittstaaten können einem Verfahren vor dem IGH auch gem. Art. 62 IGH-Statut beitreten. Das griechisch-ägyptische Abkommen vom 6. August 2020 berücksichtigt etwaige Interessen von Drittstaaten, indem es nach Art. 1 Ziff. d) eine Revision der vereinbarten Grenzlinie ermöglicht, sofern es in Zukunft zu einer Abgrenzung der AWZs mit Drittstaaten kommen sollte. 41 Talmon, Stefan / Lobo, Mary, „The intricacies of maritime boundary delimitation: Germany’s one-sided response to the Turkey-Libya MoU on delimitation of the maritime jurisdiction areas in the Mediterranean", GPIL – German Practice in International Law, 9. März 2020, https://gpil.jura.uni-bonn.de/2020/03/theintricacies -of-maritime-boundary-delimitation-germanys-one-sided-response-to-the-turkey-libya-mou-ondelimitation -of-the-maritime-jurisdiction-areas-in-the-mediterranean/. 42 Vgl. grundlegend Xu Qi, “Reflections on the Presence of Third States in International Maritime Boundary Delimitation”, in: Chinese Journal of International Law, Vol. 18, March 2019, S. 91-128, https://academic.oup.com/chinesejil/article/18/1/91/5435908. 43 Vgl. zur Praxis des IGH Tanaka, Yoshifumi, The International Law of the Sea, Cambridge, 3. Aufl. 2019, S. 262. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 14 Überdies statuiert das Abkommen eine gegenseitige Notifizierungspflicht für den Fall, dass ein Vertragspartner Abgrenzungsverhandlungen mit einem Drittstaat beabsichtigt. Art. 1 Ziff. e) des griechisch-ägyptischen Abkommens von 2020 lautet: “(…) if either of the two Parties is engaged in negotiations aimed at the delimitation of its Exclusive Economic Zone with another State that shares with the two parties their maritime zones, that Party, before reaching the final agreement with the third State, shall notify and consult the other Party.” Eine ähnliche Formulierung findet sich in Art. IV Ziff. 3 des türkisch-libyschen MoU von 2019. Diese Vertragsklauseln machen deutlich, dass die Vertragspartner die vertraglich vollzogene Abgrenzung ihrer AWZs nicht als das „letzte Wort“ in Sachen AWZ-Abgrenzung im östlichen Mittelmeer betrachten und künftige Verhandlungen mit anderen Staaten zumindest für denkbar halten. Eingedenk der Tatsache, dass ein bilaterales Abkommen einem Drittstaat rechtlich nicht entgegen gehalten werden kann, liegt der rechtliche und politische „Wert“ eines solchen Abkommens wohl eher darin, dass zumindest der jeweilige Vertragspartner die eigenen (Maximal-) Ansprüche mit dem Abschluss des Abkommens völkerrechtlich anerkennt.44 So ging es der Türkei und Griechenland offenbar darum, zunächst einmal „verbündete“ Staaten zu finden, die ihren maritimen Ansprüchen im Mittelmeer durch ein bilaterales Abkommen gewissermaßen Ausdruck verleihen. In diesem Sinne hat Griechenland mit dem Abkommen vom 6. August 2020 gewissermaßen „nachgezogen“. Noch einen Schritt weiter geht der in Oxford lehrende griechische Seevölkerrechtler Papastavridis, der auch in die Verhandlungen des griechisch-ägyptischen Abkommens eingebunden war. In einem Beitrag für den griechischen Think Tank Hellenic Foundation for European & Foreign Policy analysiert er mögliche Argumentationslinien der Türkei und Griechenlands bei künftigen Verhandlungen zwischen beiden Staaten über die Abgrenzung ihrer maritimen Interessenssphären im östlichen Mittelmeer.45 Der Beitrag stellt die These zur Diskussion, dass die Türkei und Griechenland bei künftigen Verhandlungen ihre jeweiligen bilateralen Abkommen mit Ägypten bzw. Libyen – und damit die rechtlichen Interessen von Drittstaaten – in den griechisch-türkischen Abgrenzungsprozess einbringen könnten: “The paper (…) proceeds with the assumption that Turkey would invoke this MoU before a court or tribunal in a future 44 So der IGH im Urteil vom 19. November 2012 – Territorial and Maritime Dispute (Nicaragua v. Colombia), Judgment, ICJ Reports 2012 (II), S. 695-696, para. 227, https://www.icj-cij.org/files/case-related/124/124- 20121119-JUD-01-00-EN.pdf – hinsichtlich der Abgrenzungs-Abkommen zwischen Kolumbien und Panama. 45 Efthymios Papastavridis, „The Greek-Turkish Maritime Disputes: An International Law Perspective”, Hellenic Foundation for European & Foreign Policy, Policy Paper No. 36/2020, Juli 2020, S. 26 ff. (33), https://www.eliamep.gr/wp-content/uploads/2020/07/Policy-paper-36-Papastavridis-final.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 074/20 Seite 15 delimitation case in order to exclude the MoU area from the area to be delimited between Greece and Turkey.”46 Präzedenzfall sind maritime Grenzstreitigkeiten zwischen Nicaragua und Kolumbien aus den 2000er Jahren, bei denen sich Kolumbien auf seine bilateralen Abgrenzungsabkommen mit den Nachbarstaaten Jamaika, Costa Rica und Panama berufen und argumentiert hatte, „that these agreements amounted to a recognition by those states of Colombian entitlements in parts of the relevant area, which the ICJ should take into account.“47 In seinem Urteil vom 19. November 2012 ist der IGH dem Argument zwar so nicht gefolgt.48 Gleichwohl hält Papastavridis fest: “Regardless whether there are agreements in the region, there might be maritime entitlements of a third State overlapping or potentially overlapping with the entitlements claimed by the parties to that case. A Court or Tribunal delimiting a boundary in such a situation must take a position on whether the existence of overlapping claims of third states should be taken into account.”49 Die weitere Entwicklung im Mittelmeerstreit zwischen der Türkei und Griechenland bleibt insoweit abzuwarten. Die bilateralen Abkommen der beiden Staaten mit Libyen bzw. Ägypten zur Abgrenzung ihrer AWZs in der Region könnten – auch wenn sie in Ankara und Athen erwartungsgemäß für diplomatischen Unmut gesorgt haben – als Ausgangspunkt für künftige Verhandlungen zwischen der Türkei und Griechenland dienen, die politisch und rechtlich längst überfällig sind. *** 46 Efthymios Papastavridis, „The Greek-Turkish Maritime Disputes: An International Law Perspective”, Hellenic Foundation for European & Foreign Policy, Policy Paper No. 36/2020, Juli 2020, S. 31 Fn. 192. 47 Vgl. zu den Verhandlungen vor dem IGH https://www.icj-cij.org/en/case/124 und zu den Einlassungen Kolumbiens https://www.icj-cij.org/files/case-related/124/13868.pdf. 48 Territorial and Maritime Dispute (Nicaragua v. Colombia), Judgment, ICJ Reports 2012 (II), S. 695-696, para. 227, https://www.icj-cij.org/files/case-related/124/124-20121119-JUD-01-00-EN.pdf. 49 Efthymios Papastavridis, „The Greek-Turkish Maritime Disputes: An International Law Perspective”, Hellenic Foundation for European & Foreign Policy, Policy Paper No. 36/2020, Juli 2020, S. 32.