© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 071/17 Völkerrechtliche Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-polnischen Situation Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 2 Völkerrechtliche Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung der deutsch-polnischen Situation Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 071/17 Abschluss der Arbeit: 28. August 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Allgemeine materiell-rechtliche Aspekte von Reparationsansprüchen 5 2.1. Der völkerrechtliche Reparationsbegriff 5 2.2. Der Zeitpunkt der Entstehung völkerrechtlicher Reparationsansprüche 6 3. Spezifische Vertragsregelungen 8 3.1. Vertragliche Regelungen nach Kriegsende 9 3.2. Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (1990) 11 3.2.1. Positionen zur Regelung der Reparationsfrage durch den Zweiplus -Vier-Vertrag 12 3.2.2. Zur allgemeinen Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge 13 3.2.3. Zur besonderen Drittwirkung des Zwei-plus-Vier-Vertrages 13 3.3. Charta von Paris für ein neues Europa (1990) 15 3.4. Deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag (1991) 16 3.5. Zwischenergebnis 16 4. Der Verlust von Reparationsansprüchen durch die Einrede der Verwirkung 16 4.1. Ausdrückliche unilaterale Verzichtserklärung 17 4.2. Implizite unilaterale Verzichtserklärung 19 4.3. Stillschweigende Zustimmung im Völkerrecht 20 5. Verjährung 22 6. Forderungen polnischer Vertriebener gegen Deutschland 23 7. Schlussbetrachtung 26 7.1. Zwischenstaatliche Ansprüche 26 7.2. Individuelle Ansprüche 27 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 4 1. Einleitung Die am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten trafen 1945 keine umfassende Vereinbarung bezüglich der Reparationspflichten des Deutschen Reichs.1 So war die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht nicht mit einer inhaltlich hinreichend konkretisierten Anerkennung von Reparationspflichten des Deutschen Reichs verbunden. Diese sollte erst im Rahmen eines abschließenden Friedensvertrages geregelt werden. Die Potsdamer Konferenz endete 1953 mit dem Abschluss eines Abkommens, in welchem die Alliierten das deutsche Staatsgebiet in Besatzungszonen aufteilten und beschlossen, Reparationen im Wesentlichen in Form von Entnahmen aus der jeweiligen Besatzungszone zu befriedigen. Das Potsdamer Abkommen stellt jedoch keinen Friedensvertrag dar. Im gleichen Jahr verzichteten die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und Polen mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf alle Reparationsansprüche gegen Deutschland als Ganzes. Schließlich regelt der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 („Zwei-plus-Vier-Vertrag“), der anstelle eines Friedensvertrages geschlossen wurde, nach Auffassung der Bundesregierung abschließend alle Rechtsfragen bezüglich der Kriegsfolgen und Reparationspflichten. Zwar hat die erste Kammer des polnischen Parlaments schon am 10. September 2004 die Auffassung vertreten, dass Polen weder einen angemessenen finanziellen Ausgleich noch angemessene Kriegsreparationen erhalten habe. Soweit aus öffentlich zugänglichen Quellen ersichtlich, hat Polen seit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags jedoch auf internationaler Ebene kein rechtsförmiges Verfahren eingeleitet, um Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland geltend zu machen. Anfang August 2017 stieß die polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) erneut eine öffentliche Debatte über angeblich noch offene Reparationsforderungen an. Laut Presseberichten bat sie den Wissenschaftlichen Dienst des Polnischen Parlaments Sejm zu klären, in welcher Höhe Reparationsforderungen gegen Deutschland bestehen und wie diese durchsetzbar seien.2 Deutschland geht davon aus, dass Polen 1953 verbindlich auf Reparationszahlungen verzichtet hat. Dementsprechend erklärte eine Regierungssprecherin am 2. August 2017 auf Nachfrage: „Natürlich steht Deutschland politisch, moralisch und finanziell zu seiner Verantwortung im Zweiten Weltkrieg. Es hat in erheblichem Umfang Reparationen für allgemeine Kriegsschäden geleistet - auch an Polen - und leistet immer noch in großem Umfang Wiedergutmachung für NS-Unrecht. 1 Zu den historischen Hintergründen vgl. Pierre d’Argent, „Reparations after World War II“ (2009), in Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law (EPIL), verfügbar unter: http://opil.ouplaw .com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 2 Der Tagesspiegel „Polen prüft Forderungen auf Entschädigung“ (4. August 2017), S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 5 Die Frage der deutschen Reparationen für Polen ist in der Vergangenheit abschließend geregelt worden, rechtlich und politisch. Polen hat im August 1953 verbindlich und mit Wirkung für ganz Deutschland auf weitere Reparationsleistungen verzichtet und dies auch nachfolgend immer wieder bestätigt.“3 Vor diesem Hintergrund beschreibt der vorliegende Sachstand die aus völkerrechtlicher Sicht wesentlichen Voraussetzungen und Grenzen etwaiger Reparationsansprüche für Schäden, die im Zweiten Weltkrieg entstanden sind (Kapitel 2). Kern der Ausarbeitung ist die Frage nach speziellen völkervertraglichen Rechtsgrundlagen (Kapitel 3), der Verlust möglicher Ansprüche durch Verzicht (Kapitel 4) sowie die Unmöglichkeit der Anspruchsdurchsetzung auf Grund von Verjährung (Kapitel 5). Da in der öffentlichen Diskussion die Frage nach zwischenstaatlichen Reparationszahlungen oft mit der Problematik individuellen Schadensersatzes für die Opfer von Vertreibungen verknüpft wird, skizziert die Ausarbeitung auch die Völkerrechtslage in diesem Bereich (Kapitel 6).4 Die vorliegende Ausarbeitung behandelt die Reparationsfrage auf der Grundlage von rechtswissenschaftlicher Fachliteratur und Presseberichten. Eine Analyse der Akten der nationalen Regierungen konnte im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht durchgeführt werden. Dies wäre jedoch erforderlich, um den tatsächlichen Stand der bilateralen Rechtsbeziehungen wissenschaftlich umfassend aufarbeiten zu können. 2. Allgemeine materiell-rechtliche Aspekte von Reparationsansprüchen5 2.1. Der völkerrechtliche Reparationsbegriff Das Völkerrecht der Gegenwart bezeichnet als „Reparationen“ jede Zahlung, die ein Staat leistet, um eine Verletzung des Völkerrechts wiedergutzumachen.6 Soweit die völkerrechtliche Literatur den Reparationsbegriff auf die Wiedergutmachung von Kriegsfolgen bezieht, verwendet sie den Begriff nicht einheitlich: 3 Die Bundesregierung, Regierungspressekonferenz vom 2. August, verfügbar unter: https://www.bundesregierung .de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/08/2017-08-02-regpk.html (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 4 Innerstaatliches Recht bleibt im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung weitgehend außer Betracht: Deutsche Gesetze entfalten ihre rechtlichen Wirkungen innerhalb der deutschen Rechtsordnung; im Völkerrecht begründete Reparationsansprüche hingegen können durch innerstaatliches, einseitig erlassenes Recht nicht verkürzt werden oder untergehen. 5 Die folgenden Ausführungen zu den allgemeinen materiell-rechtlichen Aspekten von Reparationsansprüchen (Kapitel 2), zu spezifischen Vertragsregelungen (Kapitel 3) sowie zum möglichen Verlust völkerrechtlicher Reparationsansprüche (Kapitel 4) wurden teilweise der Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses “ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13 entnommen. 6 Die Darstellung folgt Shelton, „Reparations“ (2015), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 6 (a) Zum Teil werden alle Kompensationszahlungen des unterlegenen/ reparationsverpflichteten Staates an den obsiegenden/ reparationsberechtigten Staat als Reparationen bezeichnet. Es wird also nicht danach differenziert, ob der reparationsverpflichtete Staat gegenüber dem reparationsberechtigten Staat das Völkerrecht verletzt hat. Dieses Verständnis des Reparationsbegriffs scheint allerdings zunehmend außer Gebrauch zu fallen. (b) Zum Teil bezeichnet die völkerrechtliche Literatur auch im Kontext der Kriegsfolgen als Reparationen alle Zahlungen, die geleistet werden, um eine Völkerrechtsverletzung zu kompensieren , sei es eine Verletzung in Gestalt eines rechtswidrigen Angriffs oder durch ein Verbrechen im weiteren Kriegsverlauf. Die vorliegende Darstellung folgt diesem neueren Reparationsbegriff. 2.2. Der Zeitpunkt der Entstehung völkerrechtlicher Reparationsansprüche Die Frage nach dem Bestehen von Reparationsansprüchen ist zunächst untrennbar verknüpft mit der Problematik, zu welchem Zeitpunkt und wodurch derartige Ansprüche rechtliche Existenz erlangen. Daher soll hier in Grundzügen erläutert werden, wann und wie ein völkerrechtlicher Reparationsanspruch entsteht. In bestimmten Rechtsgebieten erwächst die Pflicht, Schadensersatz zu leisten, bereits mit dem Eintritt des schädigenden Ereignisses, auch wenn die genaue Höhe des Schadensersatzes zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht.7 Weite Teile der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur vertreten die Auffassung, der Reparationsanspruch entstehe „dem Grunde nach zwischen den kriegsführenden Staaten mit dem schadensstiftenden Ereignis“.8 Dafür, dass der Rechtsgrundsatz einer zeitgleichen Entstehung von Schaden und Ersatzpflicht auch im Völkerrecht gilt, könnte auch Art. 1 des Entwurf der Völkerrechtskommission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit von 2001 sprechen: Danach verpflichtet jede Völkerrechtsverletzung eines Staates diesen zur Wiedergutmachung des daraus erwachsenen Schadens.9 Auf die vorliegende Fragestellung angewandt, würde dieser Ansatz die rechtliche Möglichkeit eröffnen, dass ein völkerrechtlicher Reparationsanspruch eines Gläubigerstaates bereits während 7 Eine entsprechende Regelung findet sich im deutschen Zivilrecht in § 823 Abs. 1 BGB, verfügbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__823.html (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 8 Statt vieler: Eichhorn, Reparation als völkerrechtliche Deliktshaftung (Baden-Baden, 1992), S. 189. 9 Im Wortlaut: „Every internationally wrongful act of a State entails the international responsibility of that state“, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/9_6_2001.pdf (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). Der Entwurf der ILC bildet den gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts ab, vgl. Hobe, Einführung in das Völkerrecht (9. Aufl., Tübingen, 2008), S. 249. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 7 des den Anspruch begründenden Krieges entstanden sein könnte, und zwar unabhängig von einer späteren Feststellung durch eine zwischenstaatliche vertragliche Vereinbarung. Allerdings ist zu bedenken, dass die 2001 von der ILC festgestellten Grundsätze zur Beurteilung, wann aus Sicht des Völkergewohnheitsrechts Reparationsansprüche entstehen, nur zum Teil der Staatenpraxis bis 1945 und damit letztlich der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Völkerrechtslage entsprochen haben. Soweit ersichtlich, war die Staatenpraxis zum Recht der Kriegsreparationen 1945 noch nicht im Sinne des ILC-Entwurfs abgesichert. Historisch betrachtet10 wurde der Reparationsanspruch zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als Recht des Siegers verstanden, der sich für seine Kriegskosten schadlos hielt. Auf die Rechtmäßigkeit oder -widrigkeit eines etwaigen Angriffs bzw. weiterer Kriegshandlungen kam es dabei nicht an.11 Folgte man dieser nach überwiegender Ansicht nicht mehr zeitgemäßen Doktrin, so wären Reparationsansprüche infolge des Zweiten Weltkriegs jedenfalls nicht zum Zeitpunkt des schadensbegründenden Verhaltens, sondern erst mit oder nach Kriegsende entstanden. Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg verknüpften Kriegsschuld und Reparationspflicht .12 Die Tatsache, dass Höhe und Dauer der Reparationszahlungen erst später durch eine zu diesem Zweck eingerichtete Kammer13 bestimmt werden sollten, ändert nichts daran, dass die Reparationspflichten der Schuldnerstaaten dem Grunde nach bereits bestanden. Denn hier ist zwischen der vorgelagerten Entstehung eines Reparationsanspruches dem Grunde nach und dessen späterer konkreten Bezifferung zu differenzieren. Der Wortlaut des die Reparationspflicht begründenden Art. 231 Versailler Vertrag legt nahe, dass die vertragliche Regelung als konstituierend für den Anspruch verstanden wurde.14 Desweiteren führt eine Zusammenschau der Staatenpraxis zwischen den beiden Weltkriegen nicht zum Nachweis konsistenten Völkergewohnheitsrechts , wonach in diesem Zeitraum Reparationspflichten unabhängig von einer friedensvertraglichen Regelung anerkannt worden wären.15 Wollte man die überwiegende Staatenpraxis der Zwischenkriegszeit zur Grundlage machen, so wäre daraus wohl eher der Schluss zu ziehen, dass 10 Die nachstehenden rechtsgeschichtlichen Ausführungen folgen im wesentlichen Lesaffer und van der Linden, „Peace Treaties after World War I“ (2015), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), (m.w.N.). 11 Dies lag nicht zuletzt darin begründet, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen von der Doktrin des „ius ad bellum“, d.h. der Vorstellung der Möglichkeit eines gerechten Kriegs, geprägt waren und das umfassende Gewaltverbots von Art. 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen noch keine Geltung beanspruchte. Anders die gegenwärtige Rechtslage: Der Angreifer haftet für alle Schäden, die aus einer illegalen Aggression oder im Zuge der Kriegsführung aus Verletzungen des humanitären Völkerrechts erwachsen, vgl. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts (München, 1962), Bd. II: Kriegsrecht, § 48, S. 238 f. 12 Art. 231 Versailler Vertrag, (1919) 225 Command Treaty Series (CTS) 188, http://www.documentarchiv .de/wr/vv.html (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 13 Art. 233 und 234 Versailler Vertrag (Fn. 12). 14 Art. 231 Versailler Vertrag: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an…“ (Fn. 12). Die Formulierung impliziert die Idee der Begründung einer Verbindlichkeit durch übereinstimmende Willenserklärungen, also eine vertragliche Grundlage. 15 Vgl. Lesaffer und van der Linden, (Anm. 10). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 8 ein Gläubigerstaat auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs etwaige Reparationsansprüche noch auf ausdrückliche friedensvertragliche Regelungen stützten musste. Sofern Reparationsforderungen eines Gläubigerstaates gegenüber einem Schuldnerstaat an ein Ereignis oder Verhalten im 21. Jahrhundert anknüpfen, lässt sich argumentieren, dass Völkerrechtsverletzungen eines Staates unmittelbar dessen Pflicht auslösen, den hieraus entstandenen Schaden wiedergutzumachen.16 Hingegen ist in Bezug auf ein Ereignis oder Geschehen vor bzw. bis 1945 mit überzeugenden Gründen vertretbar, dass die rechtliche Existenz von Reparationsansprüchen zum damaligen Zeitpunkt von deren völkervertraglicher Konkretisierung abhing. Dies spricht für die Vermutung, dass es einer ausdrücklichen internationalen Vereinbarung bedurfte , um Grund und Höhe der Reparationspflichten eines Schuldnerstaates gegenüber einem Gläubigerstaat spezifisch festzustellen. 3. Spezifische Vertragsregelungen Wie bekannt, schlossen Deutschland und seine ehemaligen Kriegsgegner unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Friedensvertrag. Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht war ein völkerrechtlich bindender unilateraler Akt, der lediglich die militärischen Feindseligkeiten beendete, Reparationsfragen jedoch aussparte.17 Dass in den folgenden Jahren kein Friedensvertrag geschlossen wurde, lag nicht zuletzt in der Auseinanderentwicklung der alliierten Siegermächte begründet.18 Eine umfassende vertragliche Regelung der Reparationspflichten Deutschlands gegenüber allen Kriegsgegnern blieb somit vorerst aus. Folgt man der völkerrechtlich im Hinblick auf die Ereignisse vor bzw. bis 1945 nach wie vor vertretbaren Position, dass Reparationsansprüche nur und erst durch deren friedensvertragliche Feststellung entstehen19, so wären entsprechende Forderungen eines Gläubigerstaates in Ermangelung einer Vereinbarung als gegenstandslos zu betrachten. Denn entsprechende endgültige Feststellungen wurden weder in den vertraglichen Vereinbarungen der Kriegsbeteiligten direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (3.1) noch im Zwei-plus-Vier-Vertrag (3.2), in der Charta von Paris für ein neues Europa (3.3) oder im Deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag (3.4) getroffen. 16 Dies entspricht dem gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts, wie er in Art. 1 des zitierten ILC-Entwurfs von 2001 zum Ausdruck kommt, siehe bereits oben (Fn. 9). 17 Vgl. hierzu den 4. Punkt der Kapitulationserklärung: „Diese Kapitulationserklärung ist ohne Praejudiz für irgendwelche an ihre Stelle tretenden allgemeinen Kapitulationsbestimmungen, die durch die Vereinten Nationen und in deren Namen Deutschland und der Deutschen Wehrmacht auferlegt werden mögen“, verfügbar unter : http://web.archive.org/web/20070926235313/http://www.museum-karlshorst.de/html/sammlung/img/Kapitulationsurkunde _KH1.jpg (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 18 Wasum-Rainer, „Völkerrechtsfreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Exekutive“, in Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren (Berlin, 2010), S. 125 (126). 19 Siehe oben, Kapitel 2.2. (am Ende). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 9 3.1. Vertragliche Regelungen nach Kriegsende Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 194520 hatten sich die alliierten Siegermächte darauf verständigt, das deutsche Staatsgebiet in verschiedene Zonen einzuteilen. Nach Ziffer IV Nr. 1 Potsdamer Abkommen sollten die Reparationsansprüche der UdSSR durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden. Gleichzeitig sollte die UdSSR mit 10 Prozent an den Entnahmen aus den Westgebieten beteiligt werden. Die Reparationsansprüche Polens sollten wiederum aus dem Anteil der Reparationen der UdSSR befriedigt werden (Ziffer IV Nr. 2 Potsdamer Abkommen). Da das Potsdamer Abkommen jedoch keine konkreten Regelungen darüber enthielt, wie die Reparationsansprüche durch die Leistungsberechtigten realisiert werden sollten, mussten anschließend weitere Übereinkommen (sogenannte Globalabkommen) verhandelt werden.21 Auf der Potsdamer Konferenz war bereits eine deutliche Verschlechterung des Klimas zwischen den Ost- und West-Alliierten zu verzeichnen, sodass die Einigung auf das Potsdamer Abkommen mit einigen Anstrengungen verbunden war. Im Wesentlichen insistierte Moskau auf einen massiven Transfer deutscher Produktionsgüter, um die erlittenen Kriegsschäden zu kompensieren. Demgegenüber versuchten die westlichen Alliierten, ein erneutes Ausbluten der deutschen Wirtschaft wie nach dem Versailler Vertrag zu verhindern und dem deutschen Volk genügend Mittel zu belassen, um ohne Hilfe von außen existieren zu können. Das Potsdamer Abkommen war somit schon aus Sicht der beteiligten Verhandlungspartner kein abschließender Friedensvertrag , sondern Teil der „vorbereitenden Arbeit zur friedlichen Regelung und zur Beratung anderer Fragen“ (Kapitel II Absatz 1 Potsdamer Abkommen).22 Die andauernden politischen Spannungen führten letztlich dazu, dass keine weiteren Vereinbarungen getroffen wurden, an denen alle vier Siegermächte gemeinsam beteiligt waren. Nach Kriegsende wurde etwa das Pariser Abkommen vom 14. Januar 194623 geschlossen. Gegenstand des Abkommens war die Herstellung eines Modus, um die deutschen Vermögenswerte unter den westlichen Siegermächten aufzuteilen. Jedoch waren weder die UdSSR noch Polen Vertragsparteien des Abkommens. 20 Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin (Potsdamer Abkommen) vom 2. August 1945, verfügbar unter: http://www.documentarchiv.de/in/1945/potsdamer-abkommen.html (zuletzt aufgerufen am 24. August 2017). 21 Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“, (2005) The Polish Quarterly of International Affairs, Vol. 14, Nr. 1, S. 69 (76 f.). 22 Zur rechtlichen Qualifizierung des Potsdamer Abkommens siehe etwa Frowein, „Potsdam Conference (1945)“ (2009), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 10. 23 Pariser Abkommen vom 14. Januar 1946, Anlage D zum Stenographischen Bericht der 217. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 10. Juni 1952, S. 9552 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 10 Im Rahmen des Abkommens über deutsche Auslandsschulden vom 27. Februar 1953 (Londoner Abkommen)24 wurden zwischen den Vertragsparteien alle möglicherweise bestehenden Forderungen auf unbestimmte Zeit gestundet.25 Jedoch waren auch hier als Vertragsparteien lediglich Deutschland, die drei Westmächte Frankreich, Großbritannien und die USA sowie weitere Staaten26 beteiligt – nicht aber die UdSSR oder Polen. Vertragliche Regelungen der Bundesrepublik mit osteuropäischen Staaten oder der UdSSR als ganzer, welche Reparationsansprüche regelten, fehlten fast weitgehend.27 Da man in Zeiten des „Kalten Krieges“ aus politischen Gründen vermeiden wollte, dem kommunistisch regierten Block Entschädigungszahlungen in irgendeiner Form zukommen zu lassen, schloss die Bundesrepublik auch kein Globalabkommen mit Polen.28 Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) wiederum sah sich nach ihrem Selbstverständnis nicht als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches an und erkannte daher keine Rechtsverpflichtung zur Zahlung von Entschädigungsleistungen an.29 Gleichwohl fanden in erheblichem Umfang Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion als Wiedergutmachung der DDR gegenüber der UdSSR statt.30 Zudem fielen diejenigen Reparationen, die der UdSSR aus den Westzonen zugesprochen waren, nach Kriegende dem Ost-West-Konflikt zum Opfer.31 Es blieb daher bei den Entnahmen der UdSSR aus dem Gebiet der DDR. Aus diesen musste Polen nach Ziffer IV Nr. 2 Potsdamer Abkommen seine Reparationsforderungen gegenüber der UdSSR befriedigen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein zur Reparation verpflichteter Staat keinen Einfluss darauf 24 BGBl. 1953 II 331. 25 Siehe hierzu eingehend Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 9 f. 26 Belgien, Ceylon, Dänemark, Griechenland, Iran, Irland, Italien, Jugoslawien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, Norwegen, Pakistan, Schweden, Schweiz, Spanien und Südafrikanische Union. 27 Es lassen sich lediglich Friedensverträge mit ehemaligen Ostblockstaaten finden, die im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland verbündet waren. So haben etwa Rumänien, Bulgarien und Ungarn am 10. Februar 1947 auf alle Ansprüche gegen Deutschland verzichtet, die zwischen dem 1. September 1939 und dem 8. Mai 1945 entstanden sind. Rumpf, „Die deutsche Frage und die Reparationen“ (1973) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 33, S. 344 (351). 28 Hockerts, „Wiedergutmachung in Deutschland: Eine historische Bilanz 1945 - 2000“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 91 (118 f., 121). Das Bundesarchiv, „Bilaterale Verträge und Kalter Krieg (1956 - 1974)“ (2010), verfügbar unter: https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit /leistungen/leistungen_bis_2000/bilaterale_vertraege/ (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 29 Hockerts, „Wiedergutmachung in Deutschland: Eine historische Bilanz 1945 - 2000“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 91 (134 f.). 30 Ibid. 31 Rombeck-Jaschinski, Das Londoner Schuldenabkommen (Oldenbourg Verlag, München, 2005), S. 54. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 11 hat, wie die erbrachten Leistungen unter Siegermächten im Innenverhältnis aufgeteilt werden. Der Ausgleich bleibt vielmehr ihnen selbst überlassen.32 Dementsprechend wurden die vertraglichen Regelungen über die Realisierung von Reparationszahlungen, die nach Ziffer IV Nr. 2 Potsdamer Abkommen zwischen der UdSSR und Polen erforderlich wurden, zunächst im sowjetischpolnischen Abkommen vom 16. August 194533 niedergelegt. Die Durchführung der Zahlungen wurde durch ein „Final Protocol“ vom 4. Juli 1957 zum Abschluss gebracht. Im Rahmen des Protokolls erkannte Polen offiziell die Erfüllung der sowjetischen Verpflichtungen aus dem Potsdamer Abkommen an. Damit war auch nach Ansicht des Legal Advisory Committee on Polish World War II-related Reparation Claims with Respect to Germany, welches dem polnischen Außenministerium 2005 ein Positionspapier vorlegte, die Reparationsfrage im Verhältnis UdSSR-Polen geklärt: „(…) by signing the 1957 Final Protocol Poland recognized fulfillment by the USSR of its obligations under the Potsdam Agreement to be complete; thus Polish practice offers conclusive evidence that the question of collection of reparations was regarded as closed.“34 3.2. Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (1990) Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 („Zwei-plus-Vier-Vertrag“)35 trat nach Art. 9 Zwei-plus-Vier-Vertrag „für das vereinte Deutschland, die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika am Tag der Hinterlegung der letzten Ratifikations- oder Annahmeurkunde durch diese Staaten in Kraft.“ 32 Doehring, „Reparationen für Kriegsschäden“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 9 (20). 33 Agreement between the Government of the Union of Socialist Soviet Republics and the Provisional Government of National Unity of the Republic of Poland on the Compensation of Damages Caused by German Occupation (16. August 1945), abgedruckt in der übersetzten Fassung in Von Mangoldt, San Francisco Charta der Vereinten Nationen: Potsdamer Erklärungen und andere Dokumente aus der Übergangszeit zwischen Krieg und Frieden (RStV, Hamburg, 1948), S. 137. 34 Ministry of Foreign Affairs Legal Advisory Committee on Polish World War II-related Reparation Claims with Respect to Germany, Position Paper, 10. Februar 2005, (2005) The Polish Quarterly of International Affairs, Vol. 14, Nr. 1, S. 138 (140). 35 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, BGBl. 1990, Teil II, S.1318; in Kraft seit dem 15. März 1991, BGBl. 1991, Teil II, S. 585. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 12 3.2.1. Positionen zur Regelung der Reparationsfrage durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag Der Zwei-plus-Vier-Vertrag erwähnt Reparationsansprüche nicht ausdrücklich: weder in einem diese bestätigenden, noch in einem sie versagenden Sinne. Nach Ansicht der Bundesregierung36, der sich auch die deutsche Rechtsprechung37 angeschlossen hat, regelt der Vertrag gleichwohl auch Reparationsansprüche: So sei das in Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen vorgesehene Moratorium bezüglich etwaiger Reparationsansprüche ausgelaufen, als der Zwei-plus-Vier-Vertrag in Kraft trat. Eine weitere friedensvertragliche Regelung hinsichtlich der Rechtsfolgen des Zweiten Weltkrieges werde es nicht mehr geben.38 Es entspreche dem Willen aller Vertragspartner des Zwei-plus-Vier-Vertrages, dass die Reparationsfrage in bezug auf Deutschland nicht mehr vertraglich geregelt werden solle.39 Der Bundesgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang u.a. auch auf die Erklärung der Bundesregierung vom 27. Oktober 1997 im Bundestag. Danach sei es zwar wegen der bekannten Gegensätze der vier Hauptsiegermächte in der Nachkriegszeit nicht zu der im Londoner Schuldenabkommen vorgesehenen endgültigen Regelung der Reparationszahlungen gekommen, die Reparationsfrage sei gleichwohl fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges obsolet geworden, der Zwei-plus-Vier-Vertrag beantworte die Reparationsfrage abschließend und endgültig.40 Andererseits finden sich im völkerrechtlichen Schrifttum vereinzelt Stimmen, die den reparationsrechtlichen Regelungsgehalt des Zwei-plus-Vier-Vertrages bezweifeln. So wird vorgetragen, eine abschließende Regelung würde ausdrückliche Bestimmungen erfordern; eine implizite Regelung genüge nicht; der Zwei-plus-Vier-Vertrag schweige jedoch zur Frage möglicher Reparationsansprüche .41 36 BT-Drs. 13/8840 (27. Oktober 1997), S. 2 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/088/1308840.pdf) sowie Plenardebatte des Bundestages am 6. Juli 2000, BT-Plenarprotokoll 14/114, S. 10755, http://dip21.bundestag .de/dip21/btp/14/14114.pdf (jeweils zuletzt aufgerufen am 8. August 2017). 37 BGH, Urteil vom 26. Juni 2003, AZ III ZR 245/98, 2. Leitsatz. 38 Ibid., Rn. 30. 39 Ibid. 40 Ibid. mit Verweis auf BT-Drs.13/8840, S. 2 (Fn. 36) sowie die Plenardebatte des Bundestages am 6. Juli 2000, BT-Plenarprotokoll 14/114, S. 10755 (Fn. 36). 41 Siehe etwa Jacob, “London Agreement on German External Debts (1953)” (2013), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 42:“Any final settlement would arguably require some form of regulation rather than complete silence on the matter.” Andere wiederum ziehen Art. 3 Abs. 3 des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika über die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vom 26. Oktober 2000 (BGBl. 2000, Teil II, Nr. 34, S. 1372) heran und argumentieren, dass sogar nach dem Inkrafttreten des Zwei-Plus-Vier-Vertrages das Vorbringen von Reparationsforderungen möglich war (Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“ [Fn. 21], S. 79 f.). Gegenstand des Abkommens waren allerdings keine Reparationsforderungen in völkerrechtlichen Sinne, sondern individuell geltend zu machende Ansprüche. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 13 3.2.2. Zur allgemeinen Drittwirkung völkerrechtlicher Verträge Folgt man der Position der Bundesregierung, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag durch Auslassung die Reparationsfrage implizit regele (3.2.1), so stellt sich aus völkerrechtlicher Sicht die Frage, wie sich Vereinbarungen von Vertragsparteien auf Nicht-Vertragsstaaten auswirken. Gemäß Art. 34 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) begründet ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte. Ein Drittstaat ist dabei nach Art. 2 (h) WVK jeder Staat, der nicht Vertragspartei geworden ist, selbst wenn er zuvor bei der Aushandlung des Vertrags eine gewisse Rolle gespielt haben mag.42 In dem völkerrechtlichen Grundsatz, dass völkerrechtliche Verträge keine vertraglich begründeten Rechtsverluste von Drittstaaten ohne deren Zustimmung herbeiführen können, schlägt sich die souveräne Gleichheit der Staaten nieder.43 Dass Verträge keine rechtlichen Nachteile oder Pflichten Dritter begründen können, galt bereits im Römischen Recht.44 Dieser Grundsatz, der oft kurz als „pacta tertiis-Prinzip“ bezeichnet wird, ist nahezu weltweit nachweisbar und im Völkerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Sinne von Art. 38 (1) (c) IGH Statut anerkannt. Zudem ist er durch zahlreiche Gerichtsentscheidungen bestätigt und als Völkergewohnheitsrecht akzeptiert . Der pacta tertiis-Grundsatz ist mithin in seiner systematischen Stellung in der Völkerrechtsordnung mehrfach abgesichert: vertraglich, als allgemeiner Rechtsgrundsatz, gewohnheitsrechtlich und als Konkretisierung der souveränen Gleichheit der Staaten. Hieraus folgt, dass er auch als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts im Sinne vom Art. 25 Grundgesetz zu werten ist.45 Damit ist die völkerrechtliche Regel, dass völkervertragliche Vereinbarungen nicht zu Lasten Dritter gehen dürfen, Bestandteil des deutschen Bundesrechtes. 3.2.3. Zur besonderen Drittwirkung des Zwei-plus-Vier-Vertrages Das einzige im Zwei-plus-Vier-Vertrag namentlich erwähnte bilaterale Rechtsverhältnis zu einem Drittstaat (Nicht-Vertragsstaat) ist das zwischen Polen und Deutschland: Art. 1 Abs. 2 Zwei-plus- Vier-Vertrag verweist auf eine selbständige völkerrechtliche Vereinbarung zwischen den beiden Staaten zur Bestätigung der bestehenden Grenzen.46 42 Vukas, “Treaties, Third-Party Effect” (2011), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 1. 43 Dieses elementare und durch die VN-Charta bestätigte Prinzip der Völkerrechtsordnung impliziert, dass kein Staat für einen anderen eine Regelung treffen kann („par in parem non habet imperium“), siehe Artikel 2 Nr. 1 VN-Charta. 44 Der Absatz folgt im Wesentlichen den Ausführungen von Vukas, „Treaties, Third-Party Effect“ (Fn. 42), Rn. 2. 45 Die Anerkennung als Völkergewohnheitsrecht oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Sinne von Art. 38 (1) (c) IGH-Statut sind in ständiger Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bestätigte Geltungsgründe i.S.v. Art. 25 GG, siehe die Nachweise bei Jarass und Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar (München, 2009), Art. 25, Rn. 5 und 7. 46 Siehe oben (Fn. 35). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 14 Aus völkerrechtlicher Sicht schließt sich an die obigen Ausführungen (siehe Kapitel 3.2.2) die Frage an, ob die Anwendung des pacta tertiis-Grundsatzes eine Modifikation erfährt, weil die Parteien des Zwei-plus-Vier-Vertrages diesen „statt eines Friedensvertrages“ schlossen. Die Kompetenz der vier Hauptsiegermächte, bei der friedensvertraglichen Regelung der Kriegsfolgen des Zweiten Weltkrieges stellvertretend für alle ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands aufzutreten , wurde im zeitlichen Zusammenhang des Zwei-plus-Vier-Vertrages von keinem anderen hierdurch mittelbar betroffenen Staat in einem rechtsförmigen Verfahren infrage gestellt. Auch Polen hat zu diesem Zeitpunkt keinen förmlichen Protest gegen den Abschluss des Zwei-plus-Vier- Vertrages an Stelle eines Friedensvertrages erhoben.47 Gleichwohl ist für das Argument, dass bei Friedensverträgen bzw. Verträgen, die an deren Stelle geschlossen werden, allgemein eine Ausnahme vom pacta tertiis-Grundsatz gelten solle, keine völkerrechtliche Basis im Sinne einer entsprechenden Staatenpraxis erkennbar. Teile des völkerrechtlichen Schrifttums argumentieren, das völkerrechtliche Verbot der Verträge zu Lasten Dritter sei auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht anwendbar, weil es sich bei diesem Vertrag um einen sogenannten Statusvertrag handele.48 Unter einem Status versteht das Völkerrecht in diesem Zusammenhang Rechtsverhältnisse wie etwa die territoriale Zugehörigkeit eines Gebiets zu einem Staat oder seine für alle Staaten verbindliche Qualifikation als entmilitarisierte Zone.49 Das Wesentliche an einem in diesem Sinne verstandenen Status ist, dass dieser allen Staaten gegenüber gleichen Inhalts ist und nur gleichen Inhalts sein kann. Dem könnte entgegen gehalten werden, dass ein Reparationsverhältnis keinen völkerrechtlichen Status in diesem Sinne, sondern lediglich eine bilaterale Zahlungspflicht zum Inhalt hat. Um dies anhand eines Beispiels zu verdeutlichen: Jeder Staat, der sich eines (aus dem Zweiten Weltkrieg oder einem anderen Sachverhalt herrührenden) Reparationsanspruches berühmt, ist an die Festlegung der deutschen Ostgrenze durch die Vertragsparteien des Zwei-plus-Vier-Vertrages gebunden, selbst wenn ihm dadurch in einer besonderen Fallkonstellation ein rechtlicher Nachteil erwachsen sollte. Dies berührt jedoch nicht die Frage, ob ein Reparationsanspruch überhaupt entstanden ist und gegebenenfalls noch fortbesteht. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies konkret: Folgt man der Position, dass ein Gläubigerstaat aus dem Zweiten Weltkrieg herrührende Reparationsansprüche erworben haben kann, ohne dass diese Ansprüche in einem Friedensvertrag ausdrücklich festgestellt wurden, so ließe sich hieran anschließend aus völkerrechtlicher Sicht argumentieren, diese Ansprüche seien zumindest nicht schon durch den bloßen Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages erloschen. 47 Vgl. allg. zu den Rechtsfolgen eines Protests: Eick, „Protest“ (2006), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1). 48 Kempen, „Der Fall Distomo: griechische Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland“, in Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger (Berlin, 2002), S. 179 (194). 49 Grundlegend Klein, Statusverträge im Völkerrecht: Rechtsfragen territorialer Sonderregime (Berlin, 1980), S. 21 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 15 3.3. Charta von Paris für ein neues Europa (1990) Die von Polen mit unterzeichnete „Charta von Paris für ein neues Europa“ von 199050 enthält unter der Überschrift „Einheit“ nachfolgende Ausführungen: „Wir nehmen mit großer Genugtuung Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland und begrüßen aufrichtig , dass das deutsche Volk sich in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in einem Staat vereinigt hat. Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist ein bedeutsamer Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für ein geeintes demokratisches Europa, das sich seiner Verantwortung für Stabilität, Frieden und Zusammenarbeit bewusst ist.“ Die rechtliche Bedeutung der „Kenntnisnahme mit großen Genugtuung“ durch die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Pariser Konferenz bedarf der Auslegung: Einerseits ließe sich deren Zustimmung zur Charta von Paris als uneingeschränkte Akzeptanz des Zwei-plus-Vier-Vertrages verstehen, die den Verzicht auf Reparationen mit umfasste. Ein starkes Argument für diese Position ist zunächst der Wortlaut der Charta, der auf den Zwei-plus-Vier- Vertrag als abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland verweist. Desweiteren ließe sich diese Interpretation darauf stützen, dass die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Pariser Konferenz keinerlei Vorbehalt zur Charta von Paris äußerten. Ein Vorbehalt wäre aus völkerrechtlicher Sicht das am besten geeignete und klarste Mittel gewesen, wenn der Vertreter eines Teilnehmerstaates hätte deutlich machen wollen, dass sein Staat die Reparationsfrage nach wie vor nicht für erledigt erachte. Andererseits ließe sich argumentieren, die „Kenntnisnahme“ durch die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Pariser Konferenz stehe unter der allgemeinen Überschrift der deutschen „Einheit“. Sowohl dieser Wortlaut als auch der systematische Zusammenhang sprechen nicht unbedingt dafür, die „Kenntnisnahme mit großer Genugtuung“ als umfassenden und endgültigen Verzicht eines jeden einzelnen Teilnehmerstaates auf Reparationen auszulegen. Die „Genugtuung“ über die abschließende Regelung könnte insofern auch einfach nur dahingehend ausgelegt werden, dass die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten die Wiedervereinigung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bei gleichzeitig endgültigem Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete begrüßten. Zweifel an einer extensiven 50 Charta von Paris für ein neues Europa, angenommen am 21. November 1990 als Schlussakte der KSZE-Sondergipfelkonferenz vom 19.-21. November 1990 in Paris. Teilnehmerstaaten: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Heiliger Stuhl, Irland, Island, Italien - Europäische Gemeinschaft , Jugoslawien, Kanada, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, San Marino, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechische und Slowakische Föderative Republik, Türkei, Ungarn, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern, verfügbar unter: http://www.osce.org/de/mc/39518 (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 16 Auslegung der „Kenntnisnahme mit großer Genugtuung“ ließen sich nicht zuletzt damit begründen , dass in der gesamten Charta kein einziger ausdrücklicher Hinweis auf Reparationsfragen oder vergleichbare konkrete Rechtsfolgen des Zweiten Weltkriegs enthalten ist. 3.4. Deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag (1991) Die Wiedervereinigung gab Deutschland und Polen Anlass, ihre bilateralen Beziehungen neu zu regeln. So wurde u.a. der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 199151 geschlossen , welcher sich jedoch explizit nicht mit Vermögensfragen befasste.52 Als freiwillige Leistungen Deutschlands wurde ein Fonds für die Entschädigung polnischer Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet. Weiterhin wurde die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung gegründet. Die Stiftung erhielt von Deutschland Zahlungen in Millionenhöhe, die sie an Opfer des NS-Regimes auszahlten – jedoch aus rein humanitären Gründen.53 Diese Leistungen erfolgten damit rechtsdogmatisch nicht in Anerkennung einer zwischenstaatlichen Rechtspflicht (Deutschland – Polen), sondern als moralischer Ausgleich der von polnischen Bürgern erlittenen materiellen und immateriellen Schäden. 3.5. Zwischenergebnis Damit lassen sich auch im speziellen deutsch-polnischen Kontext keine völkerrechtlichen Friedensverträge finden, die die Reparationsfrage zum Gegenstand haben. 4. Der Verlust von Reparationsansprüchen durch die Einrede der Verwirkung Geht man von der für den Fortgang der Untersuchung notwendigen Arbeitshypothese aus, dass Reparationsansprüche auch vor bzw. bis 1945 unabhängig von einer friedensvertraglichen Feststellung entstehen konnten, so ist gleichwohl zu klären, ob entsprechende Ansprüche nach wie vor bestehen. Auch im Völkerrecht können Einreden Ansprüche vernichten, z.B. infolge einer ausdrücklichen Verzichtserklärung (4.1.), einer impliziten Verzichtserklärung (4.2.) oder einer stillschweigenden Zustimmung (4.3.). 51 BGBl. 1991, Teil II, Nr. 33, S. 1315. 52 Bundesminister des Auswärtigen, Briefwechsel vom 17. Juni 1991, Nr. 5 BGBl. 1991, Teil II, Nr. 33, S. 1326 sowie Republik Polen, Minister für Auswärtige Angelegenheiten, Briefwechsel vom 17. Juni 1991, Nr. 5 BGBl. 1991, Teil II, Nr. 33, S. 1327. 53 Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung, „Der Weg zur polnisch-deutschen Aussöhnung“, verfügbar unter: http://www.fpnp.pl/wystawa/de8.php (zuletzt aufgerufen am 22. August 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 17 Zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die im Völkerrecht ebenso wie in nationalen Rechtsordnungen gelten, zählt der Gedanke, dass die Forderung eines Gläubigers rechtsmissbräuchlich werden kann. So kann ein Anspruch durch Verwirkung untergehen, so dass er rechtlich nicht mehr existiert, oder seiner Befriedigung kann eine dauerhafte Einrede des Schuldners entgegenstehen , so dass der Anspruch zwar rechtlich („theoretisch“) noch existiert, er aber vom Schuldner nicht mehr erfüllt werden muss. Beide Gegenrechte werden in Teilen der Völkerrechtswissenschaft und -praxis unter dem Begriff estoppel erörtert.54 Der Internationale Gerichtshof (IGH) definiert estoppel wie folgt: „[T]he principle operates to prevent a State contesting before the Court a situation contrary to a clear and unequivocal representation previously made by it to another State, either expressly or impliedly, on which representation the other State was, in the circumstances, entitled to rely and in fact did rely, and as a result that other State has been prejudiced or the State making it has secured some benefit or advantage for itself.”55 Zu betonen ist, dass im Völkerrecht der Gedanke der Verwirkung eher restriktiv ausgelegt wird.56 4.1. Ausdrückliche unilaterale Verzichtserklärung Eine ausdrückliche unilaterale Verzichtserklärung, muss nach den allgemeinen Maßstäben des IGH für einseitige Rechtsakte den völkerrechtlichen Bindungswillen des erklärenden Staates deutlich erkennen lassen (clear, unequivocal and express representation) und dem Empfängerstaat der Erklärung zur Kenntnis gebracht werden.57 Sie führt in ihren Rechtsfolgen zur Verwirkung (estoppel) von Forderungen. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 beendete die UdSSR ihre Reparationsentnahmen aus der DDR und sprach einen Reparationsverzicht aus, und zwar ohne dabei zwischen Kriegsschäden im engeren Sinn und nationalsozialistischer Verfolgung zu unterscheiden.58 Auch die polnische Regierung erklärte am 23. August 1953 ausdrücklich: 54 Zur Verwirkung im Völkerrecht siehe eingehend Cottier und Müller, „Estoppel“ (2007), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1). 55 IGH, Case concerning the Temple of Preah Vihear, (Cambodia v. Thailand), Merits, Judgment of 15 June 1962, Dissenting Opinion of Sir Percy Spender, verfügbar unter: http://www.icj-cij.org/en/case/45 (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017). 56 Vgl. hierzu Kokott, „Missbrauch und Verwirkung von Souveränitätsrechten bei gravierenden Völkerrechtsverstößen “ in Beyerlin u.a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung, Festschrift für Rudolf Bernhardt (Berlin, 1995), S. 135. 57 Hobe, Einführung in das Völkerrecht (9. Aufl., Tübingen, 2008), S. 210. 58 Das Bundesarchiv, „Bilaterale Verträge und Kalter Krieg (1956 - 1974)“ (2010), verfügbar unter: https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/leistungen/leistungen_bis_2000/bilaterale_vertraege/ (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017); Hockerts, „Wiedergutmachung in Deutschland: Eine historische Bilanz 1945 - 2000“, Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 18 „Mit Rücksicht darauf, daß Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist und daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands im Interesse seiner friedlichen Entwicklung liegt, hat die Regierung der Volksrepublik Polen den Beschluß gefaßt, mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten, um damit einen Beitrag zur Lösung der deutschen Frage (…) zu leisten“.59 Die Sowjetunion verzichtete damit mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf Reparationsforderungen in Form von Warenlieferungen und jeder anderen Form, um die Wirtschaftslage der DDR zu verbessern und die Voraussetzung für eine Wiedervereinigung zu schaffen. Der Verzicht galt als Verzicht gegenüber Deutschland als Ganzem, nicht nur gegenüber der DDR.60 Dies ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des „Protokoll(s) über den Erlaß der deutschen Reparationszahlungen und über andere Maßnahmen zur Erleichterung der finanziellen und wirtschaftlichen Verpflichtungen der DDR, die mit den Folgen des Krieges verbunden sind“.61An dessen Ende erklärte die Sowjetregierung, dass ausdrücklich „Deutschland“ von der Zahlung staatlicher Nachkriegsschulden an die Sowjetunion frei sei. Da die Sowjetregierung im vorangehenden Text des Protokolls Regelungen über den Verzicht von Reparationsleistungen gegenüber der „Deutschen Demokratischen Republik“ sprach und auch die Präambel des Protokolls die Freistellung beider Teile „Deutschlands“ in Bezug nahm, folgt, dass Deutschland als Ganzes begünstigt werden sollte. Zwar wurde im Nachgang eine Reihe von Begründungen vorgebracht, die die rechtsverbindliche Wirkung dieser Erklärungen in Frage stellte.62 U.a. wurde etwa argumentiert, die Erklärung sei von der polnischen Regierung, nicht aber vom polnischen Parlament, abgegeben worden und könne den polnischen Staat daher nicht binden.63 Ferner sei die polnische Regierung zum damaligen Zeitpunkt keine souveräne Regierung gewesen.64 Völkerrechtlich können diese Argumente in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 91 (119). 59 BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1975, 1 BvR 274; (1976) BVerfGE 40, S. 141 (169). Siehe auch (1953) Europa-Archiv , 2. Halbjahr, S. 5974 f. (Sowjetunion) und S. 5981 (Polen). 60 Interview mit Prof. Dr. Schweisfurth vom 2. August 2017, verfügbar unter: https://sptnkne.ws/fc92 (zuletzt aufgerufen am 7. August 2017); Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“ (Fn. 21), S. 78; BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1975, 1 BvR 274; (1976) BVerfGE 40, S. 141 (169); Liesem, Die Reparationsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung der Zwangsarbeiterentschädigung (Peter Lang, 2005), S. 52; Randelzofer und Dörr, Entschädigung für Zwangsarbeit? (Duncker & Humblot, 1994), S. 70. 61 (1953) Europa-Archiv, 2. Halbjahr, S. 5974 f. 62 Eingehend Jarząbek, “The Authorities of the Polish People’s Republic and the Problem of Reparations and Compensation from the Federal Republic of Germany 1953–1989”, (2005) The Polish Foreign Affairs Digest, S. 151; Sandorski, “Polnisch-deutsche Vermögensfragen: Eine polnische Sicht”, in WeltTrends, Ansprüche? Die Eigentumsfrage in den deutsch-polnischen Beziehungen (2007) WeltTrends-Papiere, Vol. 3, S. 33 (46 ff.). 63 Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“ (Fn. 21), S. 78. 64 Ibid., S. 79. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 19 jedoch nicht überzeugen, weil der Staat Polen als solcher nach dem Ersten Weltkrieg nie in Frage gestellt wurde. Dementsprechend konnte auch die polnische Regierung völkerrechtlich bindende Erklärungen abgeben.65 Zudem bestätigte der stellvertretende Außenminister Winiewicz im Jahre 1970 den Verzicht auf Reparationen Polens gegen Deutschland offiziell während der Vertragsverhandlungen zum Warschauer Vertrag.66 Seither hat die Bundesregierung die Ansicht vertreten, dass keine juristische Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen mehr besteht, wohl aber eine moralische Pflicht zur Vergangenheitsbewältigung : „Polen und die Sowjetunion haben 1953 für sich und ihre Staatsangehörigen auf weitere Reparationen verzichtet. Fast 55 Jahre nach Kriegsende haben Reparationsforderungen ihre Berechtigung verloren . Bereits seit Anfang der 70er Jahre hat die Bundesregierung vielmehr stets betont, dass auch Fragen der Vergangenheit im Zuge der Zusammenarbeit zur Bewältigung von Zukunftsaufgaben gelöst werden sollen.“67 4.2. Implizite unilaterale Verzichtserklärung In Anwendung der zitierten Rechtsprechung des IGH könnte sich die Verwirkung entsprechender Ansprüche bzw. eine dauerhafte Einrede hiergegen, im vorliegenden sachlichen Zusammenhang möglicherweise daraus ergeben, dass einer Darlegung des Gläubigerstaates der Erklärungswert eines impliziten, klaren und unmissverständlichen Forderungsverzichts (clear, unequivocal and implied representation) beizumessen ist, sofern der Schuldnerstaat sich auf diesen Erklärungswert verlassen durfte und verlassen hat (entitled to rely and in fact did rely) und entweder ihm dadurch ein rechtlicher Nachteil (prejudice) erwachsen, oder dem Gläubigerstaat ein Vorteil (benefit or advantage) zugewachsen ist.68 65 Eingehend hierzu Sandorski, “Polnisch-deutsche Vermögensfragen“ (Fn. 62), S. 21 ff. 66 Bulletin der Bundesregierung vom 8. Dezember 1970, Sonderausgabe, S. 1818 (1819); Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“ (Fn. 21), S. 79. 67 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung vom 13. Oktober 1999, BT-Drs. 14/1786, S. 5. 68 Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 17. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 20 4.3. Stillschweigende Zustimmung im Völkerrecht Wie andere (Teil-)Rechtsordnungen kennt auch das Völkerrecht in spezifischen Zusammenhängen die Rechtsfigur der stillschweigenden Zustimmung (tacit consent69 bzw. acquiescence70). Die ausdrückliche, völkerrechtlich bindende Zustimmung eines Staates kann in der Regel durch seine stillschweigende Zustimmung (tacit consent) ersetzt werden, wenn dies für den Anwendungsbereich eines bestimmten völkerrechtlichen Vertrages ausdrücklich vorgesehen ist.71 Es gibt jedoch keine für die Frage von Reparationsansprüchen infolge des Zweiten Weltkriegs einschlägigen völkerrechtlichen Verträge, in denen eine entsprechende tacit consent-Klausel vereinbart worden wäre. Daher ist vorliegend vor allem die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Zustimmung durch bloße Duldung, der der Erklärungswert einer stillschweigenden Zustimmung beigemessen wird, in Betracht zu ziehen. Eine spezifisch völkerrechtliche Definition der stillschweigenden Zustimmung (acquiescence) lautet wie folgt: „In international law, the term ‘acquiescence’ – from the Latin quiescere (to be still) – denotes consent. It concerns a consent tacitly conveyed by a State, unilaterally, through silence or inaction, in circumstances such that a response expressing disagreement or objection in relation to the conduct of another State would be called for. Acquiescence is thus consent inferred from a juridically relevant silence or inaction. Qui tacit consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset (he who keeps silent is held to consent if he must and can speak).“72 Die völkerrechtlichen Voraussetzungen einer Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung umfassen mithin das Schweigen oder die Untätigkeit eines Staates im Hinblick auf das Handeln eines anderen Staates, soweit konkrete Einzelfallumstände vorliegen, aufgrund derer eine ausdrückliche Reaktion des schweigenden bzw. untätigen Staates erwartet werden durfte. Die Feststellung, ob in einer bestimmten Situation von einem Staat eine ausdrückliche Reaktion erwartet werden darf, ist stark von Billigkeitserwägungen (aequitas) getragen. So spielt bei der Konkretisierung der Verhaltenserwartungen die Pflicht der Staaten, nach Treu und Glauben zu handeln, eine entscheidende Rolle.73 Insgesamt betrachtet sind Inhalt und Grenzen des völkerrechtlichen Instituts der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung stark durch unbestimmte Rechtsbegriffe und weite Beurteilungsspielräume geprägt. Die Verwirkung durch stillschweigende Zustimmung bezieht ihre Legitimität aus den übergeordneten Zielen des Völkerrechts: Dieses soll die Verhältnisse zwischen den Staaten stabilisieren, 69 Eingehend König, “Tacit Consent/Opting Out Procedures” (2013), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1). 70 Eingehend Marques Antunes, „Acquiescence” (2006), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1). 71 König, “Tacit Consent/Opting Out Procedures” (Fn. 69), Rn. 3. 72 Marques Antunes, „Acquiescence” (Fn. 70), Rn. 2. 73 Marques Antunes, „Acquiescence” (Fn. 70), Rn. 19 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 21 Frieden erhalten, Konflikte vermeiden und Rechtssicherheit herstellen. Ob im einzelnen Fall eine Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung zu bejahen ist, ist nicht zuletzt im Lichte dieser übergeordneten Ziele der Völkerrechtsordnung zu beurteilen. Ein stillschweigender Verzicht kann im Interesse eines Staates liegen, wenn ein ausdrücklicher Verzicht innenpolitisch schwer durchsetzbar wäre. In die Billigkeitserwägungen ist daher der Gesichtspunkt einzustellen, dass das völkerrechtliche Institut der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung – entgegen erstem Anschein – oft keine unzumutbare Härte darstellt gegenüber dem Staat, der einen Anspruch verliert, sondern durchaus den innenpolitischen Interessen der Regierung des stillschweigend verzichtenden Staates entsprechen kann. Ob im Einzelfall Umstände dafür sprechen, dass ein Staat nach Treu und Glauben hätte ausdrücklich protestieren74 müssen, um der stillschweigenden Zustimmung zu entgehen, ist letztlich eine Tatsachenbewertung. Unterschiedliche Völkerrechtswissenschaftler vertreten daher in konkreten Einzelfällen oft einander widersprechende Ergebnisse. Eine solche stillschweigende Zustimmung kann indes vertretbar in dem Verhalten Polens im Rahmen der Vertragsverhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag gesehen werden.75 Polen wurde an den Gesprächen beteiligt, welche zum Abschluss des Vertrages sowie zum Untergang aller Forderungen der Alliierten führten, hat aber im Rahmen dessen keine eigenen Reparationsforderungen vorgebracht oder gegen den offensichtlich bevorstehenden Untergang der Forderungen protestiert.76 Aus diesem Verhalten kann der Rückschluss gezogen werden, dass Polen selbst der Ansicht war, keine Reparationsforderungen mehr vorbringen zu können. Die Nichtgeltendmachung steht vielmehr im Einklang mit den ausdrücklichen Verzichtserklärungen aus den Jahren 1953 und 1970. Spätestens nach Abschluss des Vertrages musste Deutschland nicht mehr erwarten , mit Reparationsforderungen Polens konfrontiert zu werden (Vertrauensschutz). Denn das erklärte Ziel des Zwei-plus-Vier-Vertrages war die abschließende Regelung der sich aus dem Kriegszustand ergebenden Forderungen.77 Dies bestätigt nicht zuletzt der offizielle Titel „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“. Ferner kann aus völkerrechtlicher Sicht allein die Tatsache der deutschen Wiedervereinigung als ein Umstand zu werten sein, aufgrund dessen eine ausdrückliche Reaktion Polens in den üblichen Handlungsformen zwischenstaatlicher Beziehungen erwartet werden durfte.78 74 Zum Protest siehe bereits oben Eick (Fn. 47). 75 Czapliński, „The Concept of War Reparations in International Law and Reparations after World War II“ (Fn. 21), S. 79; Interview mit Schweisfurth (Fn. 60). 76 Ibid.; Liesem, Die Reparationsverpflichtungen (Fn. 60), S. 131; Doehring, „Reparationen für Kriegsschäden“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 9 (28). 77 Ibid.; Liesem, Die Reparationsverpflichtungen (Fn. 60), S. 130. 78 Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 22 Wie aus offiziellen Verlautbarungen deutscher Regierungsvertreter hervorgeht, haben sich diese auf das Ausbleiben weiterer Forderungen verlassen. Völkerrechtliche Gründe, warum sich Deutschland nicht auf den Erklärungswert der bisherigen polnischen Unterlassung einer rechtsförmigen Geltendmachung von Ansprüchen hätte verlassen dürfen, sind nicht ersichtlich.79 In diesem Sinne schlussfolgerte 2005 auch das Legal Advisory Committee on Polish World War II-related Reparation Claims with Respect to Germany des polnischen Außenministeriums: „Undoubtedly, the cutoff was (…) the Two Plus Four Treaty under which all World War II-related mutual claims were in the eyes of the law closed; this was accompanied by the provision for matters still outstanding in a moral and humanitarian sense to be resolved on the political plane (ex gratia). The general conclusion to be drawn from the above considerations is unambiguous: both the Declaration of 23 August 1953 and (above all) the underlying state practice have, in the sphere of international relations, lasting consequences for Poland as a subject of international law; in accordance with the estoppel principle Poland is effectively precluded from going back on the position express implicit in this practice.”80 5. Verjährung Im Unterschied zur Verwirkung geht bei (der Einrede) der Verjährung der Anspruch nicht unter, sondern kann trotz seines Fortbestehens nicht mehr durchgesetzt werden. Das Rechtsinstitut der Verjährung genießt den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, da es in den innerstaatlichen Rechtsordnungen der meisten Staaten in der einen oder anderen Form existiert.81 Es soll nach Ablauf einer langen Zeit ohne Geltendmachung einer Forderung Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schaffen. Da eine Verjährung im Spannungsverhältnis mit dem allgemeinen Grundsatz der Vertragstreue (pacta sunt servanda) steht, kennt das Völkerrecht keine generellen Verjährungsfristen. In Bezug auf Reparationsforderungen gegen Deutschland wird gleichwohl argumentiert, dass diese nach Ablauf von mehr als 50 Jahren als verjährt angesehen werden müssen.82 79 Ibid., S. 21 f. 80 Ministry of Foreign Affairs Legal Advisory Committee on Polish World War II-related Reparation Claims with Respect to Germany, Position Paper, 10. Februar 2005, (2005) The Polish Quarterly of International Affairs, Vol. 14, Nr. 1, S. 138 (140). 81 Doehring, „Reparationen für Kriegsschäden“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 9 (22); Wouters und Verhoeven, „Prescription“ (2008), in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 2. 82 Doehring, „Reparationen für Kriegsschäden“, in Doehring, Fehn und Hockerts, Jahrhundertschuld, Jahrhundertsühne (Olzog, 2001), S. 9 (22). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 23 6. Forderungen polnischer Vertriebener gegen Deutschland Ansprüche auf Schadensersatz, die von individuellen Opfern von Kriegsverbrechen unmittelbar gegen einen anderen Staat gestellt werden, spielen in der öffentlichen und medialen Diskussion um die Wiedergutmachung von Kriegsfolgen eine wichtige Rolle. Nach dem Verständnis Deutschlands umfassten Reparationen für Kriegsschäden sowohl die Ansprüche von staatlicher als auch privater Seite.83 Dieser Logik zufolge bezog sich die Verzichterklärung Polens vom 23. August 1953 gegenüber Deutschlands nicht nur auf Reparationsforderungen des polnischen Staates, sondern umfasste auch die Wiedergutmachung von Schäden, die polnische Staatsbürger durch die deutsche Besatzung erlitten haben.84 Nach anderem Verständnis sind individuelle Schadensersatzansprüche aber völkerrechtsdogmatisch und begrifflich von dem rein zwischenstaatlich zu verstehenden Reparationsverhältnis zu trennen.85 So argumentieren Teile des völkerrechtlichen Schrifttums im Gegensatz zur deutschen Bundesregierung, es gebe im Völkerrecht einen Trend hin zur Anerkennung individueller Schadensersatzansprüche , welcher sich u.a. in „Grundprinzipien und Leitlinien betreffend das Recht der Opfer von groben Verletzungen der internationalen Menschenrechtsnormen und schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht auf Rechtsschutz und Wiedergutmachung“ der VN- Generalversammlung widerspiegele.86 Noch lange nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Rechtslage in dieser Hinsicht eindeutig: Das Völkerrecht erkannte individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden nicht an.87 Erst in den letzten Jahrzehnten, im Zuge des sich wandelnden Verständnisses der Menschenrechte und des damit einhergehenden verbesserten Individualrechtsschutzes, wurden individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden vorstellbar – wenngleich diese Ansprüche nicht auf die damalige Rechtslage zurückprojiziert werden können.88 83 Siehe etwa Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung vom 13. Oktober 1999, BT-Drs. 14/1786, S. 5: „Ausgleich für Kriegsschäden – dazu gehören auch Ansprüche ehemaliger Kriegsgefangener – erfolgt regelmäßig durch Reparationsvereinbarungen“. 84 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung vom 13. Oktober 1999, BT-Drs. 14/1786, S. 5. Dies ergibt zudem die Auslegung des authentischen polnischen Wortlauts der Verzichtserklärung, siehe hierzu eingehend Randelzofer und Dörr, Entschädigung für Zwangsarbeit? (Fn. 60), S. 70 f. 85 Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 27. 86 Fischer-Lescano und Gericke, „Der IGH und das transnationale Recht“, (2010) Kritische Justiz, Heft 1, (Jahrgang 43), S. 78 (81). 87 Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 27. Siehe auch Sachstand, „Der Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904-1908): Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen“ (27. September 2016), WD 2 - 3000 - 112/16, S. 14 f. 88 Ibid.; Hofmann, “Compensation for Personal Damages Suffered during World War II” (2013) in Wolfrum (Hrsg.), Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 24 Große internationale Aufmerksamkeit fand in diesem Zusammenhang vor allem die gerichtliche Auseinandersetzung um die Wiedergutmachung für das SS-Massaker in dem griechischen Dorf Distomo (1944). In diesem Fall hatten die griechischen Kläger vor verschiedenen nationalen und internationalen Gerichten versucht, Schadensersatz nicht nur von den Tätern selbst, sondern auch von der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Urteile griechischer Zivilgerichte, die den Nachfahren der Opfer Schadensersatz zusprachen, durften bisher nicht vollstreckt werden. Die Unzulässigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen hat 2002 zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany89 sowie 2012 der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece Intervening)90 bestätigt. Vollstreckungsmaßnahmen wären auf der Grundlage der beiden Entscheidungen nur dann rechtlich zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland freiwillig auf ihre Staatenimmunität verzichtete und sich der Vollstreckung unterwürfe . Es gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Bundesregierung in diesem Sinne zu handeln gedenkt.91 Deutsche Zivilgerichte lehnen individuelle Ansprüche auf Schadensersatz oder Entschädigung für Kriegsschäden, höchstrichterlich bestätigt, bereits im Erkenntnisverfahren ab. Zum einen schließen sie eine Amtshaftung nach § 839 BGB für militärische Handlungen im Ausland aus.92 Zum anderen ist ständige Rechtsprechung, dass das Völkerrecht trotz seiner Fortentwicklung nach 1945 – weg von der Mediatisierung des Individuums durch den Staat hin zur Anerkennung der partiellen Völkerrechtssubjektivität des Individuums – keinen Anspruch von Einzelpersonen auf Schadensersatz oder Entschädigung begründet.93 Dies hat der Bundesgerichtshof sowohl für Schadensersatzansprüche griechischer Opfer bzw. derer Nachfahren im Zusammenhang mit SS-Massakern im Dorf Distomo94 als auch für zivile Opfer von Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte im Kosovo (1999, Varvarin)95 und in Afghanistan (2016, Kunduz)96 bestätigt. Auch das Bundesverfassungsgericht führte im Jahre 2013 aus, dass das Völkerrecht bis dato keine EPIL (Fn. 1), Rn. 31. 89 EGMR, Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany (12. Dezember 2002), Individualbeschwerdenr. 59021/00, verfügbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-23539 (zuletzt aufgerufen am 23. August 2017). 90 IGH, Jurisdictional Immunities of the State, (Germany v. Italy: Greece Intervening) (3. Februar 2012) (Urteil), verfügbar unter: http://www.icj-cij.org/en/case/143 (zuletzt aufgerufen am 23. August 2017). 91 Ausarbeitung „Zu den völkerrechtlichen Grundlagen und Grenzen kriegsbedingter Reparationen unter besonderer Berücksichtigung des griechisch-deutschen Verhältnisses“ (26. Juni 2013), WD 2 - 3000 - 041/13, S. 27. 92 Aktueller Begriff, „Das Urteil des BGH vom 6. Oktober 2016 zum Fall Kunduz“ (9. Dezember 2016), Nr. 29/16, verfügbar unter: https://www.bundestag.de (zuletzt aufgerufen am 23. August 2017). 93 Ibid. 94 BGH, Urteil vom 26. Juni 2003, Az. III ZR 245/98. 95 BGH, Urteil vom 2. November 2006, Az. III ZR 190/05. 96 BGH, Urteil vom 6. Oktober 2016, Az. III ZR 140/15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 25 rechtsgültige Norm kennt, nach welcher Individuen Ansprüche gegen Staaten geltend machen könnten: „(Es) gab und gibt (…) jedoch weder im Jahr 1999 noch gegenwärtig eine allgemeine Regel des Völkerrechts, nach der dem Einzelnen bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht ein Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung gegen den verantwortlichen Staat zusteht. Derartige Ansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen stehen – nach wie vor – grundsätzlich nur dem Heimatstaat des Geschädigten zu oder sind von diesem geltend zu machen.“97 Ein weiterer Aspekt, der im konkreten deutsch-polnischen Kontext gegen ein Bestehen individueller Entschädigungs- oder Schadensersatzansprüche gegen den deutschen Staat spricht, ist das Verhalten der polnischen Regierungsvertreter im Rahmen der Verhandlungen zum deutschpolnischen Nachbarschaftsvertrag 1991. Zum damaligen Zeitpunkt war den Delegationen klar, dass eine Regelung individueller Entschädigungsansprüche nur auf außervertraglichem Wege möglich sein würde.98 Die Entschädigungsproblematik wurde aus verschiedenen Gründen nicht zum Gegenstand des Nachbarschaftsvertrages gemacht. So gab es zwischen beiden Seiten grundlegende Meinungsverschiedenheiten in rechtlicher und politischer Hinsicht, insbesondere sah Deutschland individuelle Ansprüche als Teil der Kriegsreparationen an.99 Ferner hätte in einer solchen Vereinbarung das völkerrechtliche Gegenseitigkeitsprinzip gewahrt werden müssen, nach welchem die Anerkennung individueller Ansprüche von einer Seite nur unter der Bedingung erfolgen kann, dass auch die andere Seite individuelle Ansprüche gegen sich gelten lässt. Dies hätte jedoch gleichsam für Polen bedeutet, dass es Ansprüche deutscher Bürger auf Grund von Vertreibung oder Zwangsaussiedlung aus Polen hätte anerkennen müssen. Daher einigte man sich auf den pragmatischen Weg einer außervertraglichen Lösung der Entschädigungsfrage.100 Auch wenn diese Lösung von einzelnen Stimmen aktuell als für Polen nachteilig bezeichnet wird,101 so dürfte es im Fall eines (Welt-)Krieges kaum möglich sein, sich auf Zahlungen zu einigen , welche von allen Betroffenen als gerecht empfunden werden. Gerade um eine gegenseitige Aufrechnung der entstandenen Schäden zu vermeiden,102 scheint in diesen speziellen Fällen eine 97 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 13. August 2013, 2 BvR 2660/06, Rn. 41. So auch Hofmann, “Compensation for Personal Damages Suffered during World War II” (2013) in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 31 sowie Sullo und Wyatt, „War Reparations“ (2015) in Wolfrum (Hrsg.), EPIL (Fn. 1), Rn. 41 f. 98 Sułek, „Von den individuellen Entschädigungen zur humanitären Hilfe und finanziellen Leistungen. Eine Bilanz der Auszahlungen von Deutschland aus den Jahren 1991-2011 für die Opfer des Nationalsozialismus in Polen, in Góralski (Hrsg.), Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft (Elipsa, Warschau, 2011), S. 551 (552). 99 Ibid. 100 Ibid. 101 So der Vorsitzende der Stiftung Polnisch-deutsche Aussöhnung, zitiert in der Frankfurter Rundschau, „Polen prüft deutsche Reparationszahlungen“ (24. August 2017), S. 6. 102 So argumentiert etwa Liesem, dass Deutschland im Rahmen des Zwei-Plus-Vier-Vertrages die Provinzen Schlesien, Pommern und Ostpreußen endgültig und unwiderruflich an Polen abtrat. Der Wert dieser ehemals deutschen Provinzen, die Verluste der deutschen Bevölkerung durch Enteignung ihres Privateigentums sowie Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 26 pauschalierte Lösung am ehesten geeignet, um Streitigkeiten abschließend zu beenden und Rechtsfrieden wiederherzustellen. Jedenfalls dürften Individualansprüche gegen Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung erloschen sein.103 7. Schlussbetrachtung 7.1. Zwischenstaatliche Ansprüche „Nach den Reparationsentnahmen, Gebiets- und Vermögensverlusten, nach einem Zeitablauf von über 50 Jahren seit Kriegsende sowie nach Abschluss des Vertrags zur abschließenden Regelung in Bezug auf Deutschland (sog. 2+4-Vertrag) sieht die Bundesregierung den Schwerpunkt ihrer politischen Ziele in der Bewältigung von Zukunftsaufgaben im Rahmen ihrer internationalen Friedenspolitik.“104 Die Haltung der Bundesregierung in Bezug auf das Nichtbestehen staatlicher Reparationsansprüche im Verhältnis Deutschland-Polen dürfte dem geltenden Völkerrecht entsprechen. Zunächst lässt sich vertretbar argumentieren, dass Reparationsansprüche nach dem Stand des Völkerrechts bis 1945 erst durch eine endgültige, vertragliche Konkretisierung begründet werden konnten,105 welche, wie festgestellt, nach dem Zweiten Weltkrieg nicht existierte. Weder das Pariser Abkommen von 1945106 noch die Charta von Paris für ein neues Europa von 1990107 oder der Deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag von 1991108 haben die Regelung von zwischenstaatlichen Reparationsansprüchen zum Gegenstand. Vielmehr betrachteten die Parteien des Zwei- Plus-Vier-Vertrags von 1990 den Vertrag als Schlussstrich unter die Reparationsfrage.109 Man war sich einig, dass es in Bezug auf Deutschland keine vertragliche Regelung mehr über Reparationen die Zwangsarbeit deutscher Kriegsgefangener nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges müssten als geleistete Reparationen verstanden werden und damit in eine genaue Berechnung etwaiger Reparationsverpflichtungen einbezogen werden. Liesem, Die Reparationsverpflichtungen (Fn. 60), S. 131. 103 Liesem, Die Reparationsverpflichtungen (Fn. 60), S. 130. 104 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung vom 13. Oktober 1999, BT-Drs. 14/1786, S. 8. 105 Siehe oben „2.2 Der Zeitpunkt der Entstehung völkerrechtlicher Reparationsansprüche“, S. 6. 106 Siehe oben „3.1 Vertragliche Regelungen nach Kriegsende“, S. 9. 107 Siehe oben „3.3 Charta von Paris für ein neues Europa (1990)“, S. 15. 108 Siehe oben „3.4 Deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag (1991)“, S. 16. 109 Siehe oben „3.2.1 Positionen zur Regelung der Reparationsfrage durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag“, S. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 071/17 Seite 27 geben sollte, weshalb der Zwei-Plus-Vier-Vertrag bis heute jegliche Reparationsforderungen gegen Deutschland sperrt. Vertritt man die neuere Rechtsauffassung, nach welcher Reparationsansprüche im Völkerrecht bereits mit dem schadensstiftenden Ereignis begründet werden, so sind etwaige Reparationsansprüche mit der 1953 abgegebenen (und 1970 bestätigten), ausdrücklichen Verzichtserklärung Polens untergegangen.110 Die Argumentation, die Erklärung sei unter Druck abgegeben worden oder aus sonstigen Gründen unwirksam, ist in der Literatur hinreichend widerlegt worden. Selbst wenn man auch hier anderer Ansicht ist, so sind etwaige Reparationsansprüche spätestens 1990 mit Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrages untergangen, da Polen im Rahmen der Vertragsverhandlungen zumindest stillschweigend auf deren Geltendmachung verzichtet hat.111 Schließlich wäre eine Durchsetzung etwaiger Reparationsansprüche wegen Verjährung ausgeschlossen .112 7.2. Individuelle Ansprüche Die Bundesregierung sieht die Entschädigung individueller Opfer aus Polen als Teil der gesamten Reparationsfrage an, welche mit dem Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrags obsolet geworden ist. Dieser begriffliche Ansatz kann aus völkerrechtlicher Perspektive durch zusätzliche rechtsdogmatische Argumente ergänzt werden. Denn das Völkerrecht kannte und kennt keinen Anspruch auf Schadensersatz oder Entschädigung von Einzelpersonen gegen Staaten.113 Zwar wurden individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden in den letzten Jahrzehnten im Zuge des sich wandelnden Verständnisses der Menschenrechte und des damit einhergehenden verbesserten Individualrechtsschutzes vorstellbar. Diese Tendenz hat sich aber weder in der Staatenpraxis noch in der Völkerrechtswissenschaft durchsetzen können. Selbst wenn sich das Völkerrecht in diesem Punkt künftig fortentwickeln sollte, können diese Entwicklungen nicht rückwirkend auf Sachverhalte aus dem Zweiten Weltkrieg angewendet werden. *** 110 Siehe oben „4.1 Ausdrückliche unilaterale Verzichtserklärung“, S. 18. 111 Siehe oben „4.3 Stillschweigende Zustimmung im Völkerrecht“, S. 20. 112 Siehe oben „5 Verjährung“, S. 22. 113 Siehe oben „6 Forderungen polnischer Vertriebener gegen Deutschland“, S. 23.