© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 070/15 Die Rolle von Parlamenten in internationalen Vertragsverhandlungen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 2 Die Rolle von Parlamenten in internationalen Vertragsverhandlungen Verfasser: Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 070/15 Abschluss der Arbeit: 13. April 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Funktionsverteilung zwischen den Verfassungsorganen beim Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen 4 3. Rechtliche Spielräume für eine Parlamentarisierung der völkerrechtlichen Vertragsgewalt 5 4. Ansätze für eine Stärkung des Parlaments in internationalen Vertragsverhandlungen 7 4.1. Informations- und Konsultationspflichten der Exekutive 7 4.2. Parlamentarische Beobachter bei den Vertragsverhandlungen 8 4.3. Parlamentarische Stellungnahmen 9 4.4. Folgerungen für die deutsche Parlamentspraxis 9 5. Zusammenfassung 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 4 1. Einführung Die öffentliche und mediale Begleitung der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP artikuliert ein gestiegenes Bedürfnis der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz, Bürgerbeteiligung , parlamentarischer Begleitung und öffentlicher Kontrolle von völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen . Diese Forderungen sind verhältnismäßig neu, denn nach der klassischen Gewaltenteilungslehre des Grundgesetzes besteht eine Prärogative der Regierung im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten . Die Frage nach einer Mitwirkung von Parlamenten im Bereich der völkerrechtlichen Vertragsgestaltung gerät insoweit zunehmend in ein Spannungsfeld zwischen der gerechten Funktionsverteilung unter den Verfassungsorganen einerseits (dazu 2.) und der Forderung nach stärkerer Einbindung der Parlamente in außenpolitische Entscheidungen (insbesondere nach einer Parlamentarisierung der völkerrechtlichen Vertragsgewalt) sowie nach demokratischer Legitimation völkerrechtlicher Bindungen andererseits. Vor diesem Hintergrund sollen rechtliche Spielräume für eine verstärkte parlamentarische Mitwirkung und eine begleitende parlamentarische Kontrolle von völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen ausgelotet werden (dazu 3.). Insbesondere die parlamentarische Praxis des Europäischen Parlaments enthält innovative Ansätze für eine Verstärkung der Rolle des Parlaments in den internationalen Vertragsverhandlungen (dazu 4.). 2. Funktionsverteilung zwischen den Verfassungsorganen beim Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen Art. 59 Abs. 2 GG regelt für Deutschland das Verfahren der innerstaatlichen Willensbildung beim Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen. Nach der funktionellen Aufgabenverteilung der Staatsgewalten ist das Führen von Verhandlungen über einen völkerrechtlichen Vertrag (sog. „Vertragsgewalt“) Angelegenheit der Exekutive und kann verfassungsrechtlich ohne formelle Befassung der Legislative vorgenommen werden.1 Den gesetzgebenden Körperschaften hingegen gibt das Grundgesetz mit dem Zustimmungserfordernis in Art. 59 Abs. 2 GG (lediglich) ein nachträgliches Kontroll- und Vollzugssicherungsinstrument an die Hand. Dabei kann das Parlament einen (bereits ausgehandelten) völkerrechtlichen Vertrag nicht einseitig abändern, sondern nur als Ganzes („en bloc“) billigen oder ablehnen .2 1 Fastenrath/Groh, in: Berliner Kommentar zum GG, Bd. 3, Loseblatt, 22. Erg.-Lfg. Art. 59, Rdnr. 83. Dabei gelten die §§ 72 und 73 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. 2 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, München: Beck, 6. Aufl. 2011, Art. 59, Rdnr. 51. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 5 Diese Rechtslage ist eine Folge der traditionellen Unterordnung der Gesetzgebungskörperschaften unter die Regierung als Trägerin der auswärtigen Gewalt3 und soll sicherstellen, dass die Bundesregierung ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht einbüßt. § 82 Abs. 2 GOBT bestimmt insoweit, dass Änderungsanträge zu völkerrechtlichen Verträgen im Rahmen des Ratifikationsverfahrens unzulässig sind. Eine ähnliche Regelung findet sich in Art. 108 Nr. 7 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (GO-EP), wonach der Abschluss einer internationalen Übereinkunft der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf (Art. 218 Abs. 6 AEUV).4 Die vertragsbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten eines Parlaments de lege lata sind damit begrenzt . Denn selbst durch Ablehnung der Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages wird es kaum möglich sein, eine Wiederaufnahme der Vertragsverhandlungen unter Berücksichtigung der Positionen eines Parlaments zu erreichen.5 Wohl aber kann eine entsprechende Ausgestaltung des Vertragsgesetzes darauf gerichtet sein, die parlamentarische Zustimmung nur mit der Maßgabe zu erteilen, dass die Regierung einen bestimmten Vorbehalt zu einem Vertrag anbringt. Die im Bereich der europäischen Integration existierenden besonderen Mitwirkungsrechte der gesetzgebenden Körperschaften (Art. 23 Abs. 2 GG) lassen sich nicht pauschal auf den Bereich der auswärtigen Angelegenheiten und auf die völkerrechtliche Vertragsgewalt übertragen. Die Sonderregelung in Art. 23 GG trägt dem spezifischen Charakter der Europäischen Union Rechnung ; eine vergleichbare Regelung für den Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat der Verfassungsgeber bewusst nicht geschaffen.6 3. Rechtliche Spielräume für eine Parlamentarisierung der völkerrechtlichen Vertragsgewalt Die Prärogative der Regierung im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunehmend relativiert. Folgte das Gericht in der „Nachrüstungsentscheidung“ vom 18. Dezember 1984 noch der klassischen Gewaltenteilungslehre und stellte fest, dass die eng auszulegende Vorschrift des Art. 59 Abs. 2 GG dem Bundestag „keine Initiativ-, Gestaltungs- oder Kontrollbefugnis im Bereich der auswärtigen Beziehungen“ 3 Nach der Argumentation des BVerfG (BVerfGE 68, 84 ff.) beruht die grundsätzliche Zuordnung der auswärtigen Gewalt zum Kompetenzbereich der Exekutive auf der Annahme, dass institutionell typischerweise allein die Regierung in hinreichendem Maße über die personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten verfügt , um die auswärtigen Angelegenheiten bestmöglich wahrnehmen zu können. 4 Im Gegensatz zu Art. 59 Abs. 2 GG, der die parlamentarische Zustimmungspflicht pauschal auf „politische Verträge “ erstreckt, findet sich in Art. 218 Abs. 6 AEUV eine präzise Aufzählung aller zustimmungspflichtigen Abkommen (Assoziierungsabkommen, Beitrittsverträge, Übereinkünfte mit erheblichen finanziellen Folgen für die EU usw.). 5 Klein, Eckard, Gesetzgebung ohne Parlament, Berlin: Gruyter 2003, S. 9. 6 So Fuchs, Michael, Art, 23 GG in der Bewährung - Anmerkungen aus der Praxis, in: DÖV 2001, S. 233 (235). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 6 verleihe,7 so setzte das Gericht in den letzten Jahren zunehmend neue Akzente bei der funktionellen Deutung des Vertragsgesetzes. Nach Auffassung des BVerfG überträgt Art. 59 Abs. 2 GG dem Bundestag ein „Mitentscheidungsrecht“ bzw. ein „Recht auf Teilhabe“ im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten.8 Dies bedeutet, dass Regierung und Legislative im Bereich der auswärtigen Gewalt zusammenwirken und die auswärtige Gewalt „zur gesamten Hand“ ausüben.9 Die Vorstellung einer gemeinsamen Verantwortung von Exekutive und Legislative für das Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge ebnet den Weg für eine extensivere Auslegung der parlamentarischen Vertragsgewalt. Zwar wird man aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes kein generalisierendes Gebot möglichst umfassender und unmittelbarer parlamentarischer Beteiligung an den Vertragsverhandlungen ableiten können10 – jedoch ließen sich Exekutivgewalt und Legislativfunktion im Bereich der Vertragsgewalt durchaus neu justieren. Entsprechende Regelungen ließen sich – je nach Intensität der „Neujustierung“ – durch Änderung der Geschäftsordnung oder der Verfassung schaffen. Eine Verschiebung der Gewichte der politischen Macht zu Lasten der Exekutive wird sich ohne Verfassungsänderung jedoch kaum realisieren lassen. Kernbereiche exekutiver Eigenverantwortlichkeit müssen in jedem Fall respektiert werden. Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt für eine Verstärkung der Rolle des Parlaments in internationalen Vertragsverhandlungen ist die Wertung des Art. 59 Abs. 2 GG. Die Verfassungsnorm trifft eine Grundentscheidung für die funktionelle Aufteilung der auswärtigen Gewalt in die Elemente „Gestaltung“ (Exekutivfunktion) und „Kontrolle“ (Legislativfunktion). Aus rechtlicher Sicht denkbar ist insoweit eine Ausweitung der begleitenden parlamentarischen Kontrolle von Vertragsverhandlungen (insb. im Bereich von Information und Konsultation). Problematischer erscheinen dagegen parlamentarische Mitwirkungsrechte, welche den Verhandlungsspielraum der Exekutive substantiell einengen oder rechtlich „präjudizieren“. 7 BVerfGE 68, 1 (Rz. 142) – Nachrüstung. 8 Ständige Rechtsprechung – vgl. BVerfGE 104, 151 (194, 209); BVerfGE 118, 244 (258 ff.); ebenso Baade, Hans W., Das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg: Hanseatischer Gildenverlag 1962, S. 115 ff. 9 Die Schweizer Bundesverfassung von 1999, die in der Außenpolitik keine starre Kompetenzaufteilung zwischen Parlament und Bundesrat kennt, sondern ein partnerschaftliches Zusammenwirken beider Organe voraussetzt , hat diese Idee einer „kooperativen“ auswärtigen Gewalt wie folgt ausformuliert: Die Bundesversammlung beteiligt sich an der Gestaltung der Außenpolitik und beaufsichtigt die Pflege der Beziehungen zum Ausland . Der Bundesrat besorgt die auswärtigen Angelegenheiten unter Wahrung der Mitwirkungsrechte der Bundesversammlung (Art. 166 und 184 BV). 10 So auch Rojahn, in: v.Münch/Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, München: Beck, 6. Aufl. 2012, Art. 59, Rdnr. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 7 Dabei bedeutet ein „Mehr“ an parlamentarischen Befugnissen bei den Vertragsverhandlungen regelmäßig eine Zunahme an politischer Verantwortung und (faktischer) Selbstbindung des Parlaments . Die aktive Wahrnehmung von Kontrollaufgaben, die Art. 59 Abs. 2 GG dem Parlament eigentlich zuschreibt, gerät damit unter Druck. Will heißen: Je förmlicher und intensiver parlamentarische Mitgestaltung im Verhandlungsprozess ausgeübt wird, desto mehr wird der nachträgliche parlamentarische Bewertungsspielraum eingeschränkt. Intensive parlamentarische Teilhabe an den Vertragsverhandlungen nimmt eine abschließende parlamentarische Gesamtbewertung des Verhandlungsergebnisses – etwa in Gestalt einer abschließenden Ratifizierungsdebatte – praktisch vorweg.11 Umgekehrt schränkt eine Zunahme parlamentarischer Kontrolle der Vertragsverhandlungen auch den Spielraum der Regierung ein. Wer gezwungen ist, seine Verhandlungsstrategie und -taktik im Parlament offenzulegen, schwächt möglicherweise die eigene Verhandlungsposition gegenüber dem ausländischen Vertragspartner. Ein formeller Zugewinn an parlamentarischen Kontrollrechten muss nicht zuletzt – um effektiv zu sein – von gesteigerter Sachkunde sowie von einem verstärkten Zugang des Parlaments zu vertragsrelevanten Informationen flankiert werden. 4. Ansätze für eine Stärkung des Parlaments in internationalen Vertragsverhandlungen In der Praxis des Europäischen Parlaments finden sich eine Reihe weitgehender parlamentarischer Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse, die deutlich über die Regelungen für den Deutschen Bundestag hinausgehen. Die Befugnisse betreffen Informations- und Konsultationspflichten der Exekutive sowie die Teilhabe an Vertragsverhandlungen durch parlamentarische Beobachter und parlamentarische Stellungnahmen. 4.1. Informations- und Konsultationspflichten der Exekutive Die EU-Verträge sowie die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments12 stellen sicher, dass dem Europäischen Parlament in allen Verfahrensphasen der Verhandlung und des Abschlusses 11 Tebbe, Gerd, Der Ruf nach begleitender parlamentarischer Kontrolle von Vertragsverhandlungen – eine Überforderung des Parlaments ?, in: Gramlich, Ludwig (Hrsg.), Zwischen Legitimität und Effektivität – zur Rolle des Parlaments im Bereich des außenpolitischen Handelns, Chemnitz 2006, S. 37-41 (40). 12 Geschäftsordnung der 8. Wahlperiode vom Januar 2015, http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+RULES-EP+20150101+ANN- 09+DOC+XML+V0//DE. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 8 internationaler Abkommen unverzüglich und regelmäßig, erforderlichenfalls vertraulich, umfassende Informationen übermittelt werden.13 Eine Rahmenvereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission aus dem Jahre 201014 präzisiert die Informationspflicht der Kommission gegenüber dem Parlament und erstreckt diese auf praktisch alle verhandlungsrelevanten Dokumente, welche die Kommission auch dem Rat zur Verfügung stellt. Dazu gehören Verhandlungsleitlinien und deren Änderungen, Entwürfe von Verhandlungstexten, vereinbarte Artikel sowie alle einschlägigen Unterlagen, die die Kommission von Dritten erhalten hat, vorbehaltlich der Zustimmung des jeweiligen Urhebers.15 Nach Maßgabe der Rahmenvereinbarung hat die Unterrichtung des Parlaments so rechtzeitig zu erfolgen, dass das Parlament erforderlichenfalls seinen Standpunkt zum Ausdruck bringen kann und die Kommission den Standpunkten des Parlaments im Rahmen des Möglichen Rechnung tragen kann. Diese Unterrichtung des Parlaments erfolgt in der Regel über den zuständigen Ausschuss des Parlaments und erforderlichenfalls im Plenum.16 4.2. Parlamentarische Beobachter bei den Vertragsverhandlungen Die Rahmenvereinbarung des Europäischen Parlaments mit der EU-Kommission eröffnet die Möglichkeit, Mitglieder des Europäischen Parlaments als Beobachter zu Vertragsverhandlungen einzuladen. In der Vereinbarung heißt es: „In den Fällen, in denen die Kommission die Union bei internationalen Konferenzen vertritt , erleichtert die Kommission auf Ersuchen des Parlaments die Aufnahme einer Delegation von Mitgliedern des Europäischen Parlaments als Beobachter in die Delegationen der Union, so dass das Parlament unverzüglich und umfassend über den Fortgang der Konferenz unterrichtet werden kann. Die Kommission verpflichtet sich, die Delegation des Parlaments gegebenenfalls systematisch über die Ergebnisse der Verhandlungen zu unterrichten. 13 Vgl. Art. 218 Abs. 10 AEUV und Art. 108 Nr. 1 GO-EP. 14 Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission, ABl. L 304 vom 20.11.2010, S. 47. 15 Vgl. Anhang 3 Nr. 5 zur Kommission/EP-Rahmenvereinbarung v. 20.11.2010. Im Anhang 3 über „Verhandlungen zu und Abschluss von internationalen Übereinkünften“ werden die Modalitäten für die Bereitstellung von Informationen für das Parlament gemäß den Nr. 23-25 der Kommission/EP-Rahmenvereinbarung festgelegt. 16 Vgl. Rz. 24 der Kommission/EP-Rahmenvereinbarung v. 20.11.2010 (Anm. 14). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 9 Die Mitglieder des Europäischen Parlaments dürfen nicht unmittelbar an diesen Verhandlungen teilnehmen. Nach Maßgabe der rechtlichen, technischen und diplomatischen Möglichkeiten kann ihnen von der Kommission ein Beobachterstatus gewährt werden. Im Falle einer Weigerung wird die Kommission dem Parlament die Gründe dafür mitteilen. Darüber hinaus erleichtert die Kommission die Teilnahme von Mitgliedern des Europäischen Parlaments als Beobachter bei allen einschlägigen Sitzungen unter ihrer Verantwortung vor und nach den Verhandlungssitzungen.“ Das „Beobachter-Verfahren“ wurde beim Vertrag über der Europäischen Fiskalpakt (2011) sowie beim Europäischen Verfassungskonvent (2002/2003) praktiziert. Faktisch saßen die Europaparlamentarier mit am Verhandlungstisch, konnten mitreden und zu jeder beschlossenen Maßnahme eine (rechtlich jedoch nicht bindende) Stellungnahme abgeben. 4.3. Parlamentarische Stellungnahmen Das Parlament hat schließlich die Möglichkeit, im Wege von Stellungnahmen zu einem Verhandlungsmandat der EU-Kommission einen gewissen Einfluss auf die Vertragsverhandlungen zu nehmen. Art. 108 Nr. 4 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments bestimmt insoweit: „Zu jedem Zeitpunkt der Verhandlungen sowie nach Beendigung der Verhandlungen bis zum Abschluss des internationalen Abkommens kann das Parlament auf der Grundlage eines Berichts des zuständigen Ausschusses (…) Empfehlungen annehmen mit dem Ersuchen , diese vor Abschluss des Abkommens zu berücksichtigen.“ „Die Kommission hält den zuständigen Ausschuss des Parlaments über Entwicklungen in den Verhandlungen unterrichtet und erläutert insbesondere, wie die Standpunkte des Parlaments berücksichtigt worden sind.“17 4.4. Folgerungen für die deutsche Parlamentspraxis Die Einführung von Informations- und Konsultationspflichten der Exekutive gegenüber dem Deutschen Bundestag im Bereich von völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen – also eine Übertragung der ratio legis des Art. 23 Abs. 2 GG – wäre verfassungsrechtlich unbedenklich, bedürfte aber neben einer Änderung der GOBT wohl auch einer Änderung des Art. 59 Abs. 2 GG. Das Hinzuziehen parlamentarischer Beobachter (ohne Stimmrecht) zu völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen ließe sich rechtlich dagegen allein auf der Grundlage einer entsprechenden 17 Vgl. Anhang 3 Nr. 5 zur Kommission/EP-Rahmenvereinbarung v. 20.11.2010 (Anm. 14). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 10 Regelung in der GOBT praktizieren; einer Zustimmung des ausländischen Vertragspartners bedürfte es dabei nicht, da die Vertragsstaaten über die Zusammensetzung ihrer Verhandlungsdelegationen souverän entscheiden können. Die parlamentarische Mitwirkung an den Vertragsverhandlungen im Wege von Stellungnahmen greift bereits deutlich in die exekutiven Gestaltungsbefugnisse ein. Selbst wenn solche parlamentarischen Stellungnahmen rechtlich nicht bindend sind, erzeugen sie doch einen nicht unerheblichen politischen Druck. Eine noch weitergehende substantielle parlamentarische Mitwirkung an den Vertragsverhandlungen – etwa in Gestalt einer verbindlichen „Verhandlungsmarschroute “ oder in Form von Stimmrechten für die parlamentarischen Beobachter – würde Kernbereiche exekutiver Eigenverantwortlichkeit berühren und wäre mit der verfassungsrechtlich vorgegebenen Funktionsverteilung bei der völkerrechtlichen Vertragsgewalt kaum mehr vereinbar . 5. Zusammenfassung Die Frage nach einer Mitwirkung von Parlamenten im Bereich der völkerrechtlichen Vertragsgestaltung bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der gerechten Funktionsverteilung unter den Verfassungsorganen einerseits und der Forderung nach stärkerer Parlamentarisierung völkerrechtlichen Vertragsgewalt andererseits. Art. 59 Abs. 2 GG regelt das Verfahren der innerstaatlichen Willensbildung beim Zustandekommen von völkerrechtlichen Verträgen. Nach der traditionellen funktionellen Aufgabenverteilung der Staatsgewalten ist das Führen von Verhandlungen über einen völkerrechtlichen Vertrag (sog. „Vertragsgewalt“) Angelegenheit der Exekutive und soll sicherstellen, dass die Bundesregierung ihre außenpolitische Handlungsfähigkeit nicht einbüßt. Die Prärogative der Regierung im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts indes zunehmend relativiert. Nicht zuletzt die Vorstellung einer gemeinsamen Verantwortung von Exekutive und Legislative für das Zustandekommen völkerrechtlicher Verträge vermag den Weg für eine „Neujustierung“ von Exekutivgewalt und Legislativfunktion im Bereich der Vertragsgewalt zu ebnen. Entsprechende Regelungen ließen sich – je nach Intensität der „Neujustierung“ – durch Änderung der Geschäftsordnung oder der Verfassung schaffen. Aus rechtlicher Sicht denkbar erscheint insoweit eine Ausweitung der begleitenden parlamentarischen Kontrolle von Vertragsverhandlungen (insb. im Bereich von Information und Konsultation). Problematischer sind dagegen parlamentarische Mitwirkungsrechte, welche den Verhandlungsspielraum der Exekutive substantiell einengen oder rechtlich „präjudizieren“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 070/15 Seite 11 Ein „Mehr“ an parlamentarischen Befugnissen bei den Vertragsverhandlungen bedeutet regelmäßig eine Zunahme an politischer Verantwortung und (faktischer) Selbstbindung des Parlaments . Je förmlicher und intensiver parlamentarische Mitgestaltung im Verhandlungsprozess ausgeübt wird, desto mehr wird der nachträgliche parlamentarische Bewertungsspielraum eingeschränkt . Intensive parlamentarische Teilhabe an den Vertragsverhandlungen nimmt eine abschließende parlamentarische Gesamtbewertung des Verhandlungsergebnisses – etwa in Gestalt einer abschließenden Ratifizierungsdebatte – praktisch vorweg. In der Praxis des Europäischen Parlaments finden sich eine Reihe weitgehender parlamentarischer Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse, die deutlich über die Regelungen für den Deutschen Bundestag hinausgehen. Die Befugnisse betreffen Informations- und Konsultationspflichten der Exekutive sowie die Teilhabe an Vertragsverhandlungen durch parlamentarische Beobachter und parlamentarische Stellungnahmen. Eine Übernahme dieser Regelungen für die deutsche Parlamentspraxis wäre durch entsprechende Änderungen der Geschäftsordnung bzw. des Grundgesetzes rechtlich möglich.