© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 068/17 Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer Völker-, europa- und strafrechtliche Aspekte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 2 Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer Völker-, europa- und strafrechtliche Aspekte Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 068/17 Abschluss der Arbeit: 31. Juli 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Seenotrettung nach den Regeln des Völkerrechts 6 2.1. Begriff der Seenot 6 2.2. Regeln der Seenotrettung 7 2.2.1. Einfahrt von Schiffen in fremde Küstengewässer 8 2.2.2. Senden von Lichtsignalen 9 2.2.3. Nutzung von Telekommunikation 10 2.2.4. Umschlag von Geretteten auf ein anderes Schiff 10 2.2.5. Zugang zu einem nationalen Hafen 12 3. Rechtliche Grundlagen für die Vorschriften des Verhaltenskodexes 13 4. Sanktionsmöglichkeiten 13 5. Das Vorhaben der „Identitären Bewegung“ 14 5.1. Eingreifen in oder Verhindern von Seenotrettungen anderer Schiffe 14 5.2. Rückführung der Geretteten nach Libyen 15 5.3. Zuständigkeit deutscher Gerichte 17 5.4. Zuständigkeit internationaler Gerichte 19 6. Schlussbetrachtung 19 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 4 1. Einleitung Vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Migranten und Flüchtlingen, die im Mittelmeer aufgegriffen und von Rettungsschiffen in italienische Häfen gebracht wurden und werden, mahnt die italienische Regierung gegenüber den europäischen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (EU) seit Langem an, sie könne die Lage bei ungehindertem Fortlaufen nicht mehr allein bewältigen.1 Nachdem 2013 vor Lampedusa mehr als 360 Flüchtlinge und Migranten ertrunken waren, hatte Italien den Marineeinsatz „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen, welcher von Oktober 2013 bis Oktober 2014 lief. Das Operationsgebiet reichte bis vor die Küste Libyens. Andere EU-Mitgliedstaaten , darunter auch Deutschland2, kritisierten bereits damals den Einsatz, weil dieser nach ihrer Ansicht von Schlepperbanden systematisch ausgenutzt werden würde und zusätzliche Anreize zur Flucht nach Europa setze.3 Im November 2014 wurde „Mare Nostrum“ durch die Operation „Triton“ abgelöst, welche unter die Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex gestellt wurde. Die Operation umfasst nunmehr ein verkleinertes Einsatzgebiet von 30 Seemeilen vor der italienischen Küste und um den Bereich der Insel Lampedusa. Zudem liegt deren Fokus auf der Grenzsicherung.4 Um die Migration einzudämmen, nahm die EU seit Juni 2015 im Rahmen der Operation „EUNAVFOR MED“ auch die sogenannte libysche Küstenwache in die Pflicht, welche Schleuser, Migranten und Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer abhalten sollte.5 1 Darüber hinaus hatte Italien u.a. angekündigt, von der europäischen Richtlinie 2001/55 Gebrauch zu machen, nach welcher es temporäre „Not-Visa“ zur Weiterreise im Schengen-Raum ausstellen könnte. Siehe Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (20. Juli 2001), (2001) OJ L 212, S. 12. 2 Thomas de Maizière: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“, zitiert u.a. im Handelsblatt, „So funktionierte ‚Mare Nostrum‘“ (20. April 2015), verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik/international/eingestellte-rettungsmission-so-funktionierte-mare-nostrum /11660108.html (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 3 Handelsblatt, „So funktionierte ‚Mare Nostrum‘“ (20. April 2015), verfügbar unter: http://www.handelsblatt .com/politik/international/eingestellte-rettungsmission-so-funktionierte-mare-nostrum/11660108.html; Deutschlandfunk, „Italien beendet Rettungsaktion ‚Mare Nostrum‘“ (31. Oktober 2014), verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-italien-beendet-rettungsaktion-mare-nostrum.1818.de.html?dram :article_id=301920 (jeweils zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 4 Süddeutsche Zeitung, „Das Mittelmeer wird wieder unsicherer“ (31. Oktober 2014), verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/seenotrettung-fuer-fluechtlinge-das-mittelmeer-wird-wieder-unsicherer- 1.2199997 (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 5 BMVg, „Einsatz im Mittelmeer gegen Schleusernetzwerke“ (21. April 2017), verfügbar unter: https://afrika .bmvg.de/afrika-de/einsaetze-ueberblick/eunavfor-med-sophia (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 5 Seit Anfang 2015 waren (und sind) private Seenotretter wie der Sea-Watch e.V., Ärzte ohne Grenzen, Jugend Rettet e.V., Sea-Eye oder SOS Méditerranée außerhalb der libyschen Küstengewässer im Einsatz, um die Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen, die es mit ihren Booten bis auf hohe See geschafft haben. Von dort aus bringen die privaten Seenotretter die Geretteten nach Italien. Nach eigenen Aussagen füllen die Seenotrettungsorganisationen damit ein Vakuum, das durch die Beendigung von Einsätzen wie „Mare Nostrum“ entstanden sei.6 Das Vorgehen stößt allerdings bei einigen europäischen Regierungen auf teils heftige Kritik, weil es, so die Vorwürfe, das Risiko für Flüchtlinge und Migranten vermindere und damit eine zusätzliche Sogwirkung erzeuge .7 Ferner wurde den Seenotrettern vorgeworfen, möglicherweise mit Schleppern zu kooperieren oder gar von ihnen finanziert zu werden.8 Da mittlerweile geschätzte 40 Prozent der Seenotrettungseinsätze von privaten Seenotrettern durchgeführt werden,9 legte die italienische Regierung auf einem Gipfel der EU-Innenminister im Juni 2017 ein Papier vor, welches das Vorgehen ziviler Seenotretter normieren soll: Den Code of Conduct for NGOs Involved in Migrants‘ Rescue Operations at Sea (Verhaltenskodex)10. Um eine Rechtsbindung zu erzeugen, sollen private Seenotrettungsorganisationen den Verhaltenskodex unterzeichnen. Tun sie dies nicht oder halten sie sich nach der Unterzeichnung nicht an die Regularien, soll der italienische Staat berechtigt sein, den Hafenzugang unter Einhaltung des geltenden Völkerrechts zu verweigern. Schließlich hat sich 2017 die private Gruppe „Identitäre Bewegung“ organisiert, um mit einem eigens gecharterten Schiff die nach eigenen Aussagen „illegale Kooperation“ der privaten Seenotrettungsorganisationen mit den libyschen Schleusern im Mittelmeer zu dokumentieren und 6 Siehe etwa Sea-Watch, „Humans of Sea-Watch“ (2017), verfügbar unter: https://sea-watch.org/das-projekt /ueber-uns/ (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 7 Bayrischer Rundfunk, „Seenotretter im Fadenkreuz der Kritik“ (27. Juni 2017), verfügbar unter: http://www.br.de/nachrichten/seenotretter-ngo-report-100.html; Heise, „Migranten aus Libyen: Vorwürfe gegen NGOs und Schleuser“ (9. Mai 2017), verfügbar unter: https://www.heise.de/tp/features/Migranten-aus-Libyen- Vorwuerfe-gegen-NGOs-und-Schleuser-3707829.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 17. Juli 2017). 8 Focus Online, „Italienisches Parlament verdächtigt Seenotretter: Erhalten sie Geld von Schleppern?“ (11. Mai 2017), verfügbar unter: http://www.focus.de/politik/ausland/sea-watch-sea-eye-und-jugend-rettet-italienischesparlament -verdaechtigt-seenotretter-erhalten-sie-geld-von-schleppern_id_7111985.html; Zeit Online, „Österreich wirft Helfern Kooperation mit Schleusern vor“ (18. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.zeit.de/politik /ausland/2017-07/fluechtlingskrise-innenminister-schlepper-ngo-mittelmeer (jeweils zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 9 Pro Asyl, „Sie nennen es ‚Verhaltenskodex‘: EU will zivile Seenotrettungsorganisationen an die Kette legen“ (12. Juli 2017), verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/sie-nennen-es-verhaltenskodex-eu-will-zivileseenotrettungsorganisationen -an-die-kette-legen/ (zuletzt aufgerufen am 14. Juli 2017). 10 Code of Conduct for NGOs Involved in Migrants‘ Rescue Operations at Sea (2017), verfügbar unter: http://www.statewatch.org/news/2017/jul/italy-eu-sar-code-of-conduct.pdf (zuletzt aufgerufen am 14. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 6 gegebenenfalls zu intervenieren.11 Dieser Sachstand untersucht, welche (Verhaltens-)Regeln bei der Seenotrettung einzuhalten sind (2.), auf welchen rechtlichen Grundlagen der von Italien vorgelegte Verhaltenskodex basiert (3.) und welche Sanktionsmöglichkeiten bei Zuwiderhandlung bestehen (4.). Schließlich soll das Vorhaben der „Identitären Bewegung“ unter völker- und strafrechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet werden (5.). 2. Seenotrettung nach den Regeln des Völkerrechts 2.1. Begriff der Seenot Wann Seenot vorliegt, ist weder völkervertraglich noch gewohnheitsrechtlich definiert. Generell wird jedoch von Seenot ausgegangen, wenn die begründete Annahme besteht, dass ein Schiff und die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von außen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen.12 Hierzu gehören etwa eine Manövrierunfähigkeit des Schiffes, ein Mangel an Bordrettungsmitteln, eine die Gesundheit der Passagiere oder die Sicherheit des Schiffes gefährdende Überbelegung oder eine mangelnde Versorgung der Passagiere mit Nahrung, Trinkwasser und notwendigen Medikamenten.13 Dagegen herrscht regelmäßig keine Seenot, wenn ein Wasserfahrzeug Beschädigungen aufweist, von denen weder für dieses selbst noch für Leben und Gesundheit der Passagiere eine unmittelbare Gefahr ausgeht, etwa im Fall eines Mastbruchs einer Segelyacht, die unter eigenem Antrieb bei ruhigem Wetter einen Hafen erreichen kann.14 Irrelevant ist, ob die Notlage von den zu rettenden Personen selbst und/oder schuldhaft herbeigeführt wurde. Denn die Pflicht zur Seenotrettung ist eine unbedingte Verpflichtung, die 11 Identitäre Bewegung, Defend Europe, „Our Mission“ (2017), verfügbar unter: http://defendeurope.net/en/themission _fr/ (zuletzt aufgerufen am 25. Juli 2017). 12 Sachstand, „Rechtliche Konsequenzen einer Behinderung von Seenotrettern“ (11. November 2016), WD 2 - 3000 - 138/16, S. 7; Sachstand, „Internationale Seenotrettungsabkommen“ (28. November 2014) WD 2 - 3000 - 215/14, S. 4; Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea: A Commentary (Beck, München, 2017), Art. 98, Rn. 9; Rah, Asylsuchende und Migranten auf See (2007), S. 102; von Brevern und Bopp, “Seenotrettung von Flüchtlingen” (2002) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 62, S. 841 (845). 13 Sachstand „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 5 f.; Noyes, „Ships in Distress“ (2007), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter : http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017), Rn. 1. 14 Sachstand „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 7 lediglich an das Schutzbedürfnis der in Seenot geratenen Menschen anknüpft.15 Bei der Beurteilung kommt dem Kapitän ein Ermessensspielraum zu.16 Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Seenot finden sich in Art. 9 Abs. 2 lit. f) der EU-Verordnung 656/201417, welche Regelungen für die Seenotrettung im Rahmen von Frontex-Einsätzen festlegt. Hiernach sollen die beteiligten Einsatzkräfte u.a. folgende Informationen berücksichtigen : - ob das Schiff seetüchtig ist und wie wahrscheinlich es ist, dass das Schiff seinen Zielort nicht erreichen wird; - ob die Anzahl der an Bord befindlichen Personen in einem angemessenen Verhältnis zur Art und zum Zustand des Schiffs steht; - ob die notwendigen Vorräte wie Treibstoff, Wasser und Nahrungsmittel für die Weiterfahrt bis zur Küste vorhanden sind; - ob eine qualifizierte Besatzung und Schiffsführung vorhanden sind; - ob Personen an Bord sind, die dringend medizinische Hilfe benötigen; - ob Tote an Bord sind; - ob Schwangere oder Kinder an Bord sind; und - wie Wetterbedingungen und Seegang, einschließlich Wetter- und Seewettervorhersage, sind. 2.2. Regeln der Seenotrettung Die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot ist als Ausdruck der Menschlichkeit tief verankert in der Jahrhunderte alten, maritimen Tradition und gilt gemeinhin als ungeschriebenes Völkergewohnheitsrecht.18 Sie gilt in jedem Bereich der See.19 Der klassische Fall einer Seenotrettung betraf Seefahrer, die auf ihrer Route mehr oder weniger zufällig Schiffe in Gefahr 15 Rah, Asylsuchende und Migranten auf See (Springer, Berlin, 2009), in Basedow, Jürgen, et al. (Hrsg.), Hamburg Studies on Maritime Affairs, Vol. 15, S. 102. 16 Nandan und Rosenne, UNCLOS 1982: A Commentary (1995), Vol. III, S. 170 (175). 17 Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit (15. Mai 2014), OJ L 189, S. 93. 18 Nandan und Rosenne, UNCLOS 1982: A Commentary (1995), Vol III, S. 170 (171 f.); International Maritime Organization, „Note by the Secretariat: Place of Refuge” (20. Februar 2002), Dok. Nr. LEG 84/7, S. 2; Sachstand “Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 - 3000 - 078/13, S. 4; Barnes, „Refugee Law at Sea“, ILCQ, 2004, Vol. 53, S. 47 (49); Noyes, „Ships in Distress“ (2007), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Rn. 8; Rah, Asylsuchende und Migranten auf See (2007), S. 100; v. Brevern und Bopp, „Seenotrettung von Flüchtlingen“, ZaöRV, 2002, S. 841; von der Mühll, Hilfeleistung und Bergung in Seenot (1948), S. 52 f. 19 Sachstand „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 8 antrafen. Seefahrer, die hingegen aufbrechen, um gezielt nach Schiffbrüchigen zu suchen (wie im Falle der privaten Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer), unterliegen jedoch denselben gewohnheitsrechtlichen Verpflichtungen. Denn auch sie sind an die humanitären Prinzipien der Seenotrettung gebunden. Kodifiziert wurde die Pflicht zur Seenotrettung erstmals 1910 im Brüsseler Abkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über Hilfeleistung und Bergung in Seenot20. Praktisch jede nachfolgende Übereinkunft über die Sicherheit auf See enthält eine entsprechende Vorschrift, etwa: 1974: Internationales Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See – SOLAS (Anlage, Kapitel V, Bestimmung 10)21; 1979: Internationales Übereinkommen über Seenotrettung – SAR (Anlage, Kapitel 2, Nr. 2.1.10)22; oder 2004: VN-Seerechtsübereinkommen – SRÜ (Art. 98)23. Während die Konventionen das Prozedere für den Fall einer Seenotrettung vergleichsweise detailliert regeln (siehe sogleich „2.1. Die Einfahrt von Schiffen in fremde Küstengewässer“, „2.2. Das Senden von Lichtsignalen“, „2.3. Die Nutzung von Telekommunikation“), lassen sie die Frage, was mit den Geretteten geschehen soll, weitgehend offen (siehe sogleich „2.4. Der Umschlag von Geretteten auf ein anderes Schiff“ und „2.5. Der Zugang zu einem nationalen Hafen“). 2.2.1. Einfahrt von Schiffen in fremde Küstengewässer Das Küstenmeer ist Teil des Staatsgebietes des Küstenstaates und steht damit unter dessen Hoheitsgewalt. Grundsätzlich haben Schiffe fremder Staaten hier also die territoriale Souveränität des Küstenstaates zu achten. Anders als bei Landgebieten ist die Hoheitsgewalt über das Küstenmeer jedoch von vornherein durch das Recht der friedlichen Durchfahrt anderer Staaten eingeschränkt. 20 Convention for the Unification of Certain Rules with Respect to Assistance and Salvage at Sea (unterzeichnet am 23. September 1910, in Kraft getreten am 1. März 1913), RGBl. 1913, Nr. 10, S. 66. 21 International Convention for the Safety of Life at Sea (unterzeichnet am 1. November 1974, in Kraft getreten am 25. Mai 1980), 1184 UNTS 3, verfügbar unter: http://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume %201184/volume-1184-I-18961-English.pdf (zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2017). 22 Convention on Maritime Search and Rescue (unterzeichnet am 27. April 1979; in Kraft getreten am 22. Juni 1985), BGBl. 1982, Teil II, Nr. 20, S. 486. 23 United Nations Convention on the Law of the Sea (unterzeichnet am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994), BGBl. 1994, Teil II, S. 1799, verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements /convention_overview_convention.htm (zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 9 Nach Art. 17 VN-Seerechtsübereinkommen genießen Schiffe aller Staaten – unabhängig ob Küsten- oder Binnenstaat – das Recht der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer. „Durchfahrt “ meint nach Art. 18 Abs. 1 SRÜ die Durchquerung des Küstenmeeres oder das Einlaufen in bzw. Verlassen von inneren Gewässern oder Häfen. Sie muss zügig und ohne Unterbrechung erfolgen (Art. 18 Abs. 2 S. 1 SRÜ). Ein Anhalten oder Ankern ist nur in Ausnahmefällen zulässig: etwa infolge eines Notfalls oder zur Hilfeleistung für Personen, Schiffe oder Luftfahrzeuge in Gefahr oder Not (Art. 18 Abs. 2 S. 2 SRÜ). Die Durchfahrt ist jedoch nur friedlich, solange sie nicht den Frieden, die Ordnung oder die Sicherheit des Küstenstaates beeinträchtigt (Art. 19 Abs. 1 SRÜ). Vor diesem Hintergrund dürfen private Schiffe, die etwa auf der Reise zwischen zwei Ländern sind, das Küstengewässer eines dritten Landes ohne besondere Genehmigung benutzen.24 Nach Art. 18 Abs. 2 S. 2 SRÜ i.V.m. Art. 98 SRÜ haben sie bei der Durchfahrt der Küstengewässer sogar die Pflicht, fremden Schiffen oder Personen in Seenot Hilfe zu leisten. Diese Pflicht bestünde auch, wenn das private Schiff noch außerhalb des Küstenmeeres fährt und auf ein Schiff aufmerksam wird, welches in den Küstengewässern in Seenot geraten ist. Die Durchfahrt bzw. die Einfahrt zum Zwecke der Seenotrettung dürfte allerdings nicht mehr friedlich i.S.v. Art. 19 SRÜ sein, wenn der Kapitän oder die Besatzung des privaten Schiffes hierbei Straftaten beginge oder sich an solchen beteiligte, da hierdurch die innere Ordnung des Küstenstaates beeinträchtigt wäre. 2.2.2. Senden von Lichtsignalen Schiffe sind nach den internationalen Kollisionsverhütungsregeln der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO)25 nachts und bei beschränkter Sicht durch Lichter sichtbar zu machen. Nach deren Bestimmung 22 müssen Fahrzeuge von zwölf bis 19 Metern26 ein Topplicht von drei Seemeilen, ein Seiten- und ein Hecklicht von jeweils zwei Seemeilen besitzen. Für den Fall eines bereits angetroffenen, in Seenot befindlichen Schiffes regelt SOLAS (Anlage, Kapitel V, Bestimmungen 11 und 16)27 die Verwendung von Signalscheinwerfern und Lichtsignalen zur Kommunikation. Das Seevölkerrecht verbietet damit nicht das Senden von Lichtsignalen zum Zwecke der Seenotrettung. 24 Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl., 2007, De Gruyter, Berlin), S. 210, Rn. 140. 25 Conventions on the International Regulations for Preventing Collisions at Sea (geschlossen am 20. Oktober 1972, in Kraft getreten am 15. Juli 1977), 1050 UNTS, S. 17, verfügbar unter: https://treaties.un.org/doc/Publication /UNTS/Volume%201050/volume-1050-I-15824-English.pdf (zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2017). 26 In der Regel dürften Schiffe privater Seenotrettungsorganisationen ein solches Ausmaß haben. 27 Siehe oben Fn. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 10 Demgegenüber dürfte es völkerrechtlich untersagt sein, Schmugglern bewusst per Lichtzeichen den Weg zu weisen, wenn keine Seenotlage vorliegt. In diesem Fall spielen SOLAS und das Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Zusatzprotokoll)28 zusammen. Nach Art. 7 Zusatzprotokoll verpflichten sich alle Vertragsstaaten, die Schlepperei von Migranten auf dem Seeweg in vollem Umfang und im Einklang mit dem Seevölkerrecht zu verhüten und zu bekämpfen. Art. 6 Abs. 2 lit. b) Zusatzprotokoll kriminalisiert nicht nur die Schlepperei als solche, sondern auch die Beteiligung von Privatpersonen als Gehilfen. 2.2.3. Nutzung von Telekommunikation Ähnlich wie beim Senden von Lichtsignalen gilt, dass die Verwendung von Telekommunikation zum Zwecke der Seenotrettung zulässig ist. Nach Bestimmung 10 a) des SOLAS (Anlage, Kapitel V) ist der Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes angehalten, die in Seenot geratenen Personen über die Rettung zu informieren. Dies dürfte in der Regel über Funk geschehen, vorausgesetzt, die Flüchtlings- und Migrantenboote verfügen über entsprechende Ausrüstung. Der Missbrauch von Telekommunikation, um mit Schleusern zusammenzuarbeiten (also der Fall, auf den die Vorschrift des Verhaltenskodexes abzielt29), dürfte hingegen rechtswidrig sein. 2.2.4. Umschlag von Geretteten auf ein anderes Schiff Nach Art. 98 SRÜ hat jeder Kapitän die Pflicht, Schiffbrüchigen in Seenot Hilfe zu leisten. Worin die Hilfeleistung konkret besteht, definiert das Übereinkommen nicht. Das mit Art. 98 SRÜ verfolgte Ziel, die Seenot bzw. Lebensgefahr effektiv zu beenden, dürfte es jedenfalls dann gebieten, die in Seenot geratenen Menschen an Bord des Schiffes zu nehmen, wenn der Lebensgefahr bzw. Seenot mit anderen Mitteln der Hilfeleistung – Unterstützung der zuständigen Küstenwacheeinheiten , Ausbringen von Rettungsmitteln, usw. – nicht effektiv begegnet werden kann.30 Nach Ziffer 3.1.9 des Annexes zum SAR sowie nach dem neu eingeführten Absatz 1.1 der Regel V/33 des SOLAS sind die Geretteten innerhalb einer angemessenen Zeit an einen „sicheren Ort“ 28 Protocol against the Smuggling of Migrants by Land, Sea and Air, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime (unterzeichnet am 15. Dezember 2000, in Kraft getreten am 28. Januar 2004), verfügbar unter: https://www.unodc.org/documents/southeastasiaandpacific/2011/04/som-indonesia /convention_smug_eng.pdf (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). Italien hat das Zusatzprotokoll im Jahre 2006 ratifiziert. 29 “Obligation not to make telephone communications or send light signals to facilitate the departure and embarkation of vessels carrying migrants: with the obvious intention not to facilitate contacts with traffickers”. 30 Sachstand, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 11 zu bringen. Auch die vom Schiffssicherheitsausschuss (MSC) der IMO im Jahr 2004 verabschiedete Resolution MSC.167(78)31, welche Hinweise zur Behandlung von in Seenot geratenen Menschen gibt, sowie das von der IMO zuletzt im Jahr 2016 herausgegebene IAMSAR Manual,32 welches in Band 3 Ausführungen zur Art und Weise der Hilfeleistung enthält, sprechen allein davon, dass die Geretteten an einen „sicheren Ort“ gebracht werden sollen. Es geht nach dem geltenden Seevölkerrecht im weiteren Fortgang nicht darum, die Geretteten in den „nächsten, sicheren Hafen“ zu bringen. Wann ein Ort sicher ist, spezifizieren die Resolution MSC.167(78) und die inhaltsgleichen, vom Verkehrsministerium erlassenen Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen vom 1. Juli 200633 wie folgt: „6.12. Ein sicherer Ort (im Sinne des SAR) ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahmen als beendet angesehen werden. Es ist auch ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können. (…) 6.14 Ein sicherer Ort kann an Land sein oder sich an Bord eines Rettungsmittels oder eines anderen geeigneten Schiffes oder einer Einrichtung auf See befinden, die als ein sicherer Ort dienen können, bis die Überlebenden an ihrem nächsten Bestimmungsort ausgeschifft werden. 6.15 Die Übereinkommen (…) weisen darauf hin, dass bei der Verbringung an einen sicheren Ort die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Zu diesen Umständen können beispielsweise Faktoren zählen wie die Situation an Bord des Hilfe leistenden Schiffes, Bedingungen vor Ort, medizinischer Bedarf und Verfügbarkeit von Transport- oder anderen Rettungsmitteln. Jeder Fall ist einzigartig, und bei der Auswahl eines sicheren Ortes können eine Vielzahl wichtiger Faktoren berücksichtigt werden müssen. (…) 6.18 In vielen Fällen kann das Hilfe leistende Schiff oder ein anderes Schiff die Überlebenden an einen sicheren Ort bringen. Stellt jedoch diese Aufgabe für das Schiff eine Erschwernis dar, sollten die Rettungsleitstellen versuchen, andere mögliche Alternativen zu arrangieren. (…) Anhang: Eigene Anmerkungen zu den geltenden Bestimmungen des Völkerrechts 3. (…) Zum Beispiel braucht ein sicherer Ort nicht unbedingt an Land zu liegen. Ein sicherer Ort sollte eher unter Bezugnahme auf seine Merkmale sowie auf das festgelegt werden, was er für die Überlebenden bereitstellen kann. Es ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahme ihren Abschluss findet.“ 31 Resolution MSC.167(78) vom 20. Mai 2004, verfügbar unter: http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/personsrescued /Documents/MSC.167(78).pdf#search=Resolution%20MSC%2E167%2878%29 (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). 32 IMO, International Aeronautical and Maritime Search and Rescue Manual, Bd. III: Mobile Facilities (IMO, London, 2016), S. 2-39. 33 Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen, (2009) Verkehrsblatt, Heft 2, S. 64. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 12 Ein „sicherer Ort“ im Sinne der seevölkerrechtlichen Verpflichtungen ist damit nicht zwangsläufig nur ein sicherer Hafen. Ein „sicherer Ort“ kann grundsätzlich auch an Bord eines anderen, größeren Schiffes sein, wobei stets die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind. Bei der Einschätzung dürfte dem Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes ein pflichtgemäßes Ermessen zukommen. Sollte bei einer Rettung eine konkrete Seenot weiterer Flüchtlings- und Migrantenboote zu besorgen sein, ist der Umschlag von Geretteten auf ein anderes Schiff zulässig, da in diesem Fall eine Notsituation vorliegt und die Pflicht zur Seenotrettung aus Art. 98 SRÜ greift. Liegt hingegen lediglich eine abstrakte Gefahr einer weiteren Seenotlage vor – etwa wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass (erst) in den nächsten Stunden ein weiteres Flüchtlings- und Migrantenboot kentern wird –, so dürfte dem Kapitän des rettenden Schiffes nach den o.g. Vorschriften des SAR und SOLAS frei stehen, die Geretteten auf ein anderes Schiff oder in einen Hafen34 zu bringen. Hierfür spricht neben dem klaren Wortlaut („place of safety“, nicht „safe harbour“) auch das Ziel der Konventionen, den Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes von seiner Verpflichtung zur Seenotrettung so schnell wie möglich zu befreien, damit dieser seinen ursprünglichen Kurs ohne größere Umwege wiederaufnehmen kann. 2.2.5. Zugang zu einem nationalen Hafen Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung nach Art. 98 SRÜ betrifft in der Praxis den Kapitän eines Schiffes. Die Norm regelt hingegen nicht, an welchem Ort die Geretteten aussteigen können oder müssen.35 Ein Recht des Kapitäns auf Zugang zu einem nationalen Hafen und eine Pflicht des Küstenstaates zum Aussteigenlassen der Geretteten besteht grundsätzlich nicht.36 Für besondere Ausnahmesituationen besteht indes ein völkergewohnheitsrechtliches Nothafenrecht , wenn sich ein Schiff in Seenot befindet, d.h. wenn eine unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren droht.37 Eine solche Notsituation dürfte anzunehmen sein, wenn sich unter den Geretteten Schwangere 34 Die IMO empfiehlt dem Kapitän in Fällen, in denen die Geretteten beabsichtigen, Asyl zu beantragen, die nächste SAR-Rettungsleitstelle (Rescue Coordination Centre, RCC) und das VN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zu kontaktieren und die Geretteten gerade nicht in dem Land abzusetzen, aus welchen sie geflohen sind. IMO, „Rescue at Sea: A Guide to Principles and Practice as Applied to Migrants and Refugees“ (2015), verfügbar unter : http://www.imo.org/en/ MediaCentre/HotTopics/seamigration/Documents/UNHCR-Rescue_at_Sea-Guide- ENG-screen.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. Juli 2017), S. 13-15. 35 Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea (Fn. 12), Art. 98, Rn. 10. 36 Ziffer 6 des Anhangs zu den Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen vom 1. Juli 2006 (Fn. 33); Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6; Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea (Fn. 12), Art. 98, Rn. 10. 37 Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6; Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea (Fn. 12), Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 13 und Verletzte befinden oder, wenn die medizinische Versorgung und die Bereitstellung von Lebensmitteln bei einer hohen Zahl an Geretteten an Bord unmöglich ist. Das Nothafenrecht ist jedoch kein absolutes Recht und kann bestimmten Einschränkungen unterliegen, insbesondere wenn die Beeinträchtigung vitaler Interessen des Küstenstaates droht. So kann ein Küstenstaat nach der IMO-Resolution MSC.167(78)38 und nach den Richtlinien des Verkehrsministeriums für die Behandlung von auf See geretteten Personen39 das Einlaufen in seine Häfen verweigern, wenn das Schiff eine ernsthafte und unannehmbare Bedrohung für die Sicherheit, die Umwelt oder die Gesundheit dieses Küstenstaates darstellt – jedoch erst, nachdem die Sicherheit der an Bord befindlichen Personen sichergestellt ist. Sofern aber eine Gefährdung von Menschenleben zu befürchten ist, sind für eine erfolgreiche Geltendmachung der Beeinträchtigung vitaler Interessen höchste Maßstäbe anzulegen.40 3. Rechtliche Grundlagen für die Vorschriften des Verhaltenskodexes Da der Verhaltenskodex bis dato nicht als europäisches oder internationales Dokument angenommen worden ist, hat er als solcher völkerrechtlich keine rechtsverbindliche Wirkung. Soweit er mit dem oben dargestellten Seevölkerrecht in Einklang steht, dürften seine Vorschriften lediglich das geltende Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht wiedergeben. Unter Umständen könnte Italien diejenigen Vorschriften, welche über das geltende Völkervertrags - und Völkergewohnheitsrecht hinausgehen, als Gesetz oder Verordnung erlassen und damit eine innerstaatliche Rechtsbindung gegenüber italienischen Seenotrettungsorganisationen begründen . Solange private Seenotrettungsorganisationen darüber hinaus von einer Unterzeichnung des Papiers absehen, ist nicht ersichtlich, wie eine Rechtsbindung anderweitig erzeugt werden sollte. 4. Sanktionsmöglichkeiten Das Völkerrecht sieht keine klassischen Sanktionsmechanismen für Verstöße gegen das geltende Seevölkerrecht vor. Verstößt ein Kapitän etwa gegen die Pflicht zur Seenotrettung, kann dies nur nach dem Recht des Flaggenstaates geahndet werden. 38 Siehe oben, Fn. 31, S. 11, Rn. 6. 39 Siehe oben, Fn. 33. 40 Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6; von Brevern und Bopp, “Seenotrettung von Flüchtlingen” (2002) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 62, S. 841 (845 f.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 14 Erlangt der Verhaltenskodex als Gesetz oder Verordnung rechtliche Bindungswirkung in Italien, wären etwaige Sanktionsmöglichkeiten nach italienischem Recht zu beurteilen. Die Ankündigung, bei Verstößen gegen den Verhaltenskodex Schiffen mit Geretteten den Zugang zu italienischen Häfen zu verweigern, ist vor dem Hintergrund zu beurteilen, dass nach dem Völkerrecht grundsätzlich kein Recht des Kapitäns auf Zugang zu einem nationalen Hafen oder eine Pflicht des Küstenstaates zum Aussteigenlassen der Geretteten besteht.41 Die Ankündigung steht jedoch unter dem expliziten Vorbehalt, internationale Konventionen einzuhalten („Failure to sign this Code of Conduct or failure to comply with its obligations may result in the refusal by the Italian State to authorize the access to national ports, subject to compliance with the existing international conventions“). Daraus lässt sich schließen, dass Italien nicht beabsichtigt, Seenotrettungsorganisationen , die den Verhaltenskodex nicht unterzeichnet haben, künftig kategorisch jeden Zugang zu italienischen Häfen zu verwehren. 5. Das Vorhaben der „Identitären Bewegung“ Die „Identitäre Bewegung“ hat angekündigt, sich im Rahmen ihrer Mission „Defend Europe“ an der Seenotrettung zu beteiligen und etwaige Schleuserunterstützung zu unterbinden.42 Die Frage, gegen welche Gesetze die Ankündigung oder mögliche Verhaltensweise der Identitären Bewegung verstoßen könnte, ist abstrakt nur äußerst schwierig zu beurteilen. Bloße Ankündigungen verstoßen zunächst in den wenigsten Fällen gegen Gesetze. Die Beurteilung von bestimmten Verhalten hängt darüber hinaus stets von den Umständen des Einzelfalles ab. Deshalb können im Rahmen dieses Sachstandes lediglich generelle Überlegungen angestellt werden. 5.1. Eingreifen in oder Verhindern von Seenotrettungen anderer Schiffe Es besteht nach Art. 98 SRÜ eine Pflicht zur Seenotrettung. Fährt ein Schiff unter deutscher Flagge, so würden Verstöße gegen die Rettungspflicht Straftaten gemäß § 323c Strafgesetzbuch (StGB) und Ordnungswidrigkeiten nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (SeeSicherV)43 darstellen. 41 Ziffer 6 des Anhangs zu den Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen vom 1. Juli 2006 (Fn. 33); Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6; Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea (Fn. 12), Art. 98, Rn. 10. 42 Identitäre Bewegung, Defend Europe, „Our Mission“ (2017), verfügbar unter: http://defendeurope.net/en/themission _fr/ (zuletzt aufgerufen am 25. Juli 2017). 43 Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (27. Juli 1993), BGBl. 1993, Teil I, S. 1417, zuletzt geändert durch Verordnung vom 31. August 2015, BGBl. 2015, Teil I, S. 1474. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 15 Würde der Kapitän eines deutschen Schiffes ein anderes privates Schiff an der Rettung von in Seenot geratenen Personen behindern, so dürfte ferner zumindest ein Anfangsverdacht dahingehend begründet sein, dass sich der Kapitän des „behindernden Schiffes“ wegen § 316c StGB (Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr) strafbar gemacht haben könnte. 5.2. Rückführung der Geretteten nach Libyen Eine Rückführung geretteter Flüchtlinge und Migranten nach Libyen44 könnte gegen das völkerrechtliche refoulement-Verbot verstoßen. Nach Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)45 darf kein Vertragsstaat einen Flüchtling in Gebiete aus- oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Der sogenannte Grundsatz des non-refoulement folgt ferner aus Art. 3 der VN-Antifolterkonvention, Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta sowie indirekt aus Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) und aus Art. 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).46 Das Rückschiebeverbot gilt auch für jene Gegenden, wo eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Flüchtlings durch eine Bürgerkriegssituation besteht.47 Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2011 im Fall M.S.S. gegen Belgien entschieden, dass die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland im Rahmen der Dublin II-Verordnung gegen Art. 3 EMRK verstößt, soweit in den Aufnahmelagern erniedrigende Haft- und Lebensbedingungen festgestellt werden.48 Das refoulement-Verbot ist mehrheitlich auch als Völkergewohnheitsrecht anerkannt.49 Es wird 44 Identitäre Bewegung, Defend Europe, „Our Mission“ (2017), verfügbar unter: http://defendeurope.net/en/themission _fr/ (zuletzt aufgerufen am 25. Juli 2017). 45 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (unterzeichnet am 28. Juli 1951, in Kraft getreten am 22. April 1954), BGBl. 1953, Teil II, S. 560. 46 Sachstand, „Völkerrechtliche Aspekte der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei durch die Deutsche Marine im Rahmen der NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis“ (15. März 2016), WD 2 - 3000 - 040/16, S. 5. 47 Ibid. 48 Ibid. 49 Kälin, Caroni und Heim, „Article 33, para. 1“, in Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol: A Commentary (Oxford, OUP, 2011), Rn. 31, m.w.N.; Trevisanut, „The Principle of Non-Refoulement at Sea and the Effectiveness of Asylum Protection” (2008) Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol. 12, S. 205 (215). Kritisch: Kugelmann, “Refugees” (2010), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 16 ferner diskutiert, ob dem refoulement-Verbot gar der Status einer zwingenden Norm des Völkerrechts (ius cogens) i.S.d. Art. 53 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK)50 zukommt.51 Von einer solchen zwingenden Norm des Völkerrechts darf unter keinen Umständen abgewichen werden – weder aus sicherheitspolitischen (vgl. etwa Art. 33 Abs. 2 GFK) noch aus anderen Gründen. Nur eine spätere Norm, die ebenfalls ius cogens-Charakter hat, kann eine bestehende ius cogens-Norm abändern (Art. 53 Satz 2 WVK a.E.). Mit Blick auf Libyen spricht das Auswärtige Amt laut Medienberichten von „allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen“ und „KZ-ähnlichen Verhältnisse(n)“ in Flüchtlingslagern .52 Auch in Lagern, welche von der libyschen Übergangsregierung betrieben werden, herrschen anerkanntermaßen unhaltbare Lebensbedingungen.53 Daher folgt aus dem refoulement- Verbot, dass eine Rückführung Geretteter nach Libyen durch deutsche Behörden oder deutsche Staatsschiffe derzeit ausgeschlossen ist.54 Es wäre zu diskutieren, ob das refoulement-Verbot auf private Schiffe ausgedehnt werden müsste, wenn dieses zu den zwingenden Regelungen des Völkerrechts i.S.d. Art. 53 WVK zählen würde. Denn nach der Logik des Seevölkerrechts übernehmen (auch) private Schiffe die den Staaten obliegende Pflicht zur Seenotrettung, weil Staaten allein keine Überwachung der Weltmeere leisten können. Damit dürfte der Schutzumfang der Geretteten (und letztlich die Anwendbarkeit des refoulement-Verbots) jedoch nicht von dem mehr oder weniger zufälligen Umstand abhängen, ob in der konkreten Situation ein staatliches oder privates Schiff zur Hilfe eilt. Dieses Argument dürfte gerade in den wenigen Sonderfällen gelten, in denen eine völkerrechtliche 50 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (geschlossen am 23. Mai 1969, in Kraft getreten am 27. Januar 1980), BGBl. 1985, Teil II, S. 926. 51 Costello und Foster, „Non-Refoulement as Custom and Jus Cogens? Putting the Prohibition to the Test“ (2015) Netherlands Yearbook of International Law, Vol. 46, S. 273; Allain, “The Jus Cogens Nature of Non-Refoulement ” (2002) International Journal of Refugee Law, Vol. 13, Nr. 4, S. 533; Trevisanut, “The Principle of Non-Refoulement at Sea and the Effectiveness of Asylum Protection” (2008) Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol. 12, S. 205 (215 ff.); Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Bahandlung oder Strafe (Springer, Berlin, 1996), S. 102. 52 Tagesschau, „Kritik an ‚KZ-ähnlichen Verhältnissen‘“ (29. Januar 2017), verfügbar unter: https://www.tagesschau .de/inland/libyen-fluechtlinge-111.html (zuletzt aufgerufen am 28. Juni 2017). 53 Tagesschau, „Gabriel verspricht Libyen weitere Flüchtlingshilfe“ (8. Juni 2017), verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/libyen-321.html; Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Republik Tunesien Chahed in Berlin (14. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/02/2017-02-14-bk-merkeltunesien -chahed.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 28. Juni 2017), Bundeskanzlerin Merkel: „Wir versuchen bereits darüber hinaus (…), Menschen daran zu hindern, dass sie erst nach Libyen gehen, wo zum Teil die Lebensbedingungen für Flüchtlinge unerträglich sind - das haben wir ja jetzt immer wieder gehört -, und die sich dann auf dem Weg über das Mittelmeer in Gefahr bringen“. 54 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage (7. März 2017), BT-Drs. 18/11452, Fragen 4, 5, 11, 15 und 16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 17 Norm keine Abweichungen zulässt. Allerdings ist diese Frage in der Völkerrechtswissenschaft nicht abschließend geklärt.55 Klar ist gleichwohl, dass auch private Seenotretter verpflichtet sind, Geflüchtete an einen sicheren Ort zu bringen (siehe oben 2.2.4). Vor dem Hintergrund, dass allgemein bekannt sein dürfte, dass das Leben der Geretteten in libyschen Flüchtlingslagern weiterhin in Gefahr ist oder dass dort zumindest die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse nicht sichergestellt ist, dürfte eine Rückführung durch private Seenotretter problematisch sein. 5.3. Zuständigkeit deutscher Gerichte Die Zuständigkeit deutscher Strafgerichte für Vorfälle im Zusammenhang mit Rettungseinsätzen deutscher Schiffe und dessen Folgen kann über das Flaggenstaatsprinzip begründet werden – unabhängig davon, ob sich der Vorfall in Küstengewässern, in der ausschließlichen Wirtschaftszone oder auf hoher See ereignet. Ereignet sich ein strafrechtlich relevanter Zwischenfall mit Beteiligung eines oder mehrerer deutscher Schiffe in fremden Küstengewässern,56 so ist nach Art. 2 SRÜ grundsätzlich zunächst das Recht des Küstenstaates anwendbar (Territorialprinzip). Gleichzeitig ist auch das Recht des Flaggenstaates des durchfahrenden Schiffes anwendbar (Flaggenstaatsprinzip).57 Das Konkurrenzverhältnis beider Prinzipien wird dadurch aufgelöst, dass die Strafgewalt des Küstenstaates der des Flaggenstaates weichen muss.58 Ereignet sich der Vorfall hingegen in der ausschließlichen Wirtschaftszone59 oder gar auf Hoher See60, so gilt allein das Recht der Flaggenstaaten der beteiligten Schiffe. Diese Rechtslage spiegeln die §§ 4-7 StGB im Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit deutscher Gerichte wider: 55 Die Bundesregierung geht wohl davon aus, dass das refoulement-Verbot als Teil des Völkerrechts lediglich für Völkerrechtssubjekte – also Staaten – und nicht für Privatpersonen gilt. Siehe Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfragen (20. Juli 2017), BT-Drs. 18/13153, S. 12, Frage 23. 56 Art. 3 SRÜ bestimmt, dass sich das Küstenmeer eines Staates über die Breite von höchstens zwölf Seemeilen von den im SRÜ festgesetzten Basislinien erstreckt. 57 Ambos, „Vorbemerkung zu den §§ 3–7“, in Joecks und Miebach, Münchener Kommentar zum StGB (2011), Rn. 26. 58 Ambos, „§ 3“, in Joecks und Miebach, Münchener Kommentar zum StGB (2011), Rn. 13. 59 Die AWZ erstreckt sich nach Art. 57 SRÜ nicht weiter als 200 Seemeilen von den Basislinien, von denen aus die Breite des Küstenmeers gemessen wird. 60 Als Hohe See werden nach Art. 86 SRÜ diejenigen Teile des Meeres bezeichnet, die weder zur AWZ noch zum Küstenmeer gehören. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 18 Nach § 4 StGB gilt das deutsche Strafrecht für Taten, die auf einem Schiff begangen werden, das berechtigt ist, die Bundesflagge zu führen. Die Begehung „auf” einem Schiff setzt nicht die Anwesenheit an Bord oder einen Angriff gegen das Fahrzeug als Ganzes voraus.61 Um einen möglichst umfassenden strafrechtlichen Schutz zu gewährleisten, werden auch Distanzdelikte erfasst – also solche Delikte, bei denen Handlungs- und Erfolgsort auseinanderfallen.62 § 5 StGB erstreckt die deutsche Strafgewalt darüber hinaus auf Taten, die im Ausland begangen werden und gegen inländische Rechtsgüter gerichtet sind. Die Norm stellt jedoch nur schwerste Straftaten, wie etwa die Vorbereitung eines Angriffskrieges oder Hochverrat, unter deutsche Strafgewalt. § 6 StGB erstreckt deutsches Strafrecht ferner auf Tatbestände, die international zu schützende Rechtsgüter zum Gegenstand haben (sogenanntes Weltrechtsprinzip).63 Schließlich erweitert § 7 StGB die deutsche Strafgewalt auf Taten, die im Ausland begangen wurden und einen opfer- bzw. täterbezogen Anknüpfungspunkt haben.64 Es handelt sich dabei um Taten, die gegen Deutsche gerichtet sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 StGB, passives Personalitätsprinzip ), von Deutschen begangen wurden (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, aktives Personalprinzip) oder die von einem Ausländer begangen wurden, der im Inland betroffen, aber nicht ausgeliefert wird (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB, stellvertretende Strafrechtspflege). In örtlicher Hinsicht ergeben sich aus der Strafprozessordnung (StPO) potentiell mehrere Gerichtsstände: Zunächst ist nach § 8 StPO (Gerichtsstand des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes) ein Gerichtsstand bei dem Gericht begründet, in dessen Bezirk der Angeschuldigte zur Zeit der Erhebung der Klage seinen Wohnsitz hat. Ferner bestimmt sich nach § 10 StPO (Gerichtsstand bei Auslandstaten auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen ) der Gerichtsstand nach dem Heimathafen oder dem inländischen Hafen, den das Schiff mit deutscher Flagge zuerst erreicht. Subsidiär dürfte nach § 10a StPO (Gerichtsstand bei Auslandstaten im Bereich des Meeres) das Amts- bzw. Landgericht Hamburg sachlich und örtlich zuständig sein. 61 Ambos, „§ 4“, in Joecks und Miebach, Münchener Kommentar zum StGB (2011), Rn. 14. 62 Ibid., Rn. 15. 63 Eser, „§ 6“, in Schönke und Schröder, Strafgesetzbuch (2014), Rn. 1. 64 Eser, „§ 7“, in Schönke und Schröder, Strafgesetzbuch (2014), Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 19 5.4. Zuständigkeit internationaler Gerichte Die Zuständigkeit eines internationalen Gerichts kann bei Vorfällen zwischen zwei privaten Schiffen nicht begründet werden, insbesondere ist die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes ratione materiae von Vornherein ausgeschlossen.65 6. Schlussbetrachtung Der von Italien vorgelegte Verhaltenskodex wird sehr unterschiedlich und kontrovers bewertet. Die Spannbreite der Einschätzungen reicht von einer „konzertierten Schmierenkampagne“66 gegen private Seenotretter bis hin zum „Hilferuf“67 der italienischen Regierung in Richtung ihrer europäischen Counterparts.68 Fakt ist und bleibt allerdings, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, welche allesamt Vertragsstaaten des Internationalen Übereinkommens zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) sind,69 hieraus völkerrechtlich verpflichtet sind, bei Rettungsoperationen koordinierend zusammenzuarbeiten. So heißt es in Absatz 1.1 der Regel V/33 zu SOLAS: 65 Die materielle Zuständigkeit des IStGH ist nach Art. 5 Abs. 1 Römisches Statut auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganze berühren, namentlich Genozid (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), Kriegsverbrechen (Art. 8) sowie das Verbrechen der Aggression (Art. 5 lit. d). 66 Amnesty International und Human Rights Watch, „EU: Draft Code for Sea Rescues Threatens Lives“ (12. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.amnesty.eu/en/news/press-releases/all/eu-draft-code-for-sea-rescues-threatens -lives-1057/#.WW3Ryfnyg-V (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). 67 Süddeutsche Zeitung, „Italien darf NGOs im Mittelmeer ‚Verhaltenskodex‘ vorschreiben“ (4. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/mittelmeer-italien-darf-ngos-im-mittelmeer-verhaltenskodexvorschreiben -1.3573119 (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 68 Die Bundesregierung begrüßt den Verhaltenskodex, da eine effektive Koordinierung der im Mittelmeer tätigen Akteure erforderlich sei (Bundesregierung, Regierungspressekonferenz vom 26. Juli 2017, verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/07/2017-07-26-regpk.html). Pro Asyl kritisiert, dass es keines neuen Verhaltenskodexes bedürfe, da sich die privaten Seenotrettungsorganisationen bereits im Februar 2017 einen freiwilligen Verhaltenskodex geben hätten (Pro Asyl, „Sie nennen es ‚Verhaltenskodex‘: EU will zivile Seenotrettungsorganisationen an die Kette legen“ [12. Juli 2017], verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/sie-nennen-es-verhaltenskodex-eu-will-zivile-seenotrettungsorganisationen -an-die-kette-legen/. Zum freiwilligen Verhaltenskodex siehe Human Rights at Sea, „Voluntary Code of Conduct for Search and Rescue Operations undertaken by Civil Society Non-Government Organisations in the Mediterranean Sea“ (2017), verfügbar unter: https://www.humanrightsatsea.org/wp-content/uploads /2017/03/20170302-NGO-Code-of-Conduct-FINAL-SECURED.pdf (jeweils zuletzt aufgerufen am 20. Juli 2017). 69 Zum Status des Vertrages siehe: https://treaties.un.org/pages/showDetails.aspx?objid=08000002800ec37f (zuletzt aufgerufen am 19. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 068/17 Seite 20 “Contracting Governments shall co-ordinate and co-operate to ensure that masters of ships providing assistance by embarking persons in distress at sea are released from their obligations with minimum further deviation from the ships’ intended voyage, provided that releasing the master of the ship from the obligations under the current regulation does not further endanger the safety of life at sea. The Contracting Government responsible for the search and rescue region in which such assistance is rendered shall exercise primary responsibility for ensuring such co-ordination and co-operation occurs, so that survivors assisted are disembarked from the assisting ship and delivered to a place of safety, taking into account the particular circumstances of the case and guidelines developed by the Organization. In these cases the relevant Contracting Governments shall arrange for such disembarkation to be effected as soon as reasonably practicable.” Eine fast wortgleiche Verpflichtung findet sich in Ziffer 3.1.9 des Annexes zum Internationalen Übereinkommen über Seenotrettung (SAR). Damit sind alle Vertragsstaaten zum SOLAS und zum SAR dafür verantwortlich, dass der Kapitän eines Hilfe leistenden Schiffes die Geretteten so schnell wie möglich absetzen und seinen ursprünglichen Kurs ohne größere Abweichung wiederaufnehmen kann. Zwar ist für die Koordinierung der Aufnahme der Geretteten derjenige Staat hauptverantwortlich, in dessen SAR-Zone die Schiffbrüchigen aufgegriffen wurden – bei Migranten und Flüchtlingen im Mittelmeer also in der Regel Italien, Malta oder Griechenland.70 Allerdings sieht sowohl SOLAS als auch SAR eine klare Zusammenarbeitsverpflichtung der Mitgliedstaaten der EU beim Management des völkergewohnheitsrechtlichen Nothafenrechts vor.71 Bei der Art und Weise der Zusammenarbeit dürfte den Mitgliedstaaten ein Ermessen zukommen. Hervorzuheben ist gleichwohl, dass das Ermessen der europäischen Mitgliedstaaten in keinem Fall dazu führen darf, dass die Koordinierung blockiert wird oder aus anderem Grunde ins Leere läuft.72 *** 70 Zu den SAR-Zonen siehe: https://sarcontacts.info/ (zuletzt aufgerufen am 19. Juli 2017). 71 So auch die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen ([2009] Verkehrsblatt, Heft 2, S. 66, Rn. 2.4) und Art. 80 AEUV über die Umsetzung der europäischen Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung nach dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten der EU. Diesen Befund bestätigt auch der Seerechtsexperte Prof. Uwe Jenisch im Telefonat vom 17. Juli 2017). 72 Zu berücksichtigen ist hierbei Art. 80 AEUV, der bei der Umsetzung der europäischen Politik im Bereich Grenzkontrollen , Asyl und Einwanderung die Einhaltung der Grundsätze der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten der EU anmahnt. Zur solidarischen Kooperation der EU- Mitgliedstaaten siehe auch MdB Frieser im Deutschlandfunk („Wir wollen kein Reiseunternehmen auf dem Mittelmeer aufmachen“ [19. Juli 2017], verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/europa-und-diefluechtlinge -wir-wollen-kein.694.de.html?dram:article_id=391452) und Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Republik Tunesien Chahed in Berlin (14. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/02/2017-02-14-bk-merkel -tunesien-chahed.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 31. Juli 2017).