© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 067/17 Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer Völkerrechtliche Aspekte Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 2 Der italienische Verhaltenskodex für private Seenotretter im Mittelmeer Völkerrechtliche Aspekte Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 067/17 Abschluss der Arbeit: 31. Juli 2017 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Völkerrechtskonformität der getroffenen Regelungen 6 2.1. Das Verbot, in libysche Hoheitsgewässer einzufahren 6 2.1.1. Die Vorschrift 6 2.1.2. Die Rechtslage 6 2.2. Die Verpflichtung, keine Lichtsignale einzusetzen 7 2.2.1. Die Vorschrift 7 2.2.2. Die Rechtslage 7 2.3. Die Verpflichtung, Gerettete ohne Umschlag in einen sicheren Hafen zu bringen 8 2.3.1. Die Vorschrift 8 2.3.2. Die Rechtslage 8 2.4. Die Verpflichtung, Polizeibeamte an Bord zu lassen und ermittlungsrelevante Informationen an italienische Polizeibehörden weiterzugeben 10 2.4.1. Die Vorschriften 10 2.4.2. Die Rechtslage 10 2.5. Die Ankündigung, den Zugang zu italienischen Häfen zu verweigern 11 2.5.1. Die Ankündigung 11 2.5.2. Die Rechtslage 11 3. Rechtsverbindlichkeit des Verhaltenskodexes 12 4. Schlussbetrachtung 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 4 1. Einleitung Vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Migranten und Flüchtlingen, die im Mittelmeer aufgegriffen und von Rettungsschiffen in italienische Häfen gebracht wurden und werden, mahnt die italienische Regierung gegenüber den europäischen Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (EU) seit Langem an, sie könne die Lage bei ungehindertem Fortlaufen nicht mehr allein bewältigen.1 Nachdem 2013 vor Lampedusa mehr als 360 Flüchtlinge und Migranten ertrunken waren, hatte Italien den Marineeinsatz „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen, welcher von Oktober 2013 bis Oktober 2014 lief. Das Operationsgebiet reichte bis vor die Küste Libyens. Andere EU-Mitgliedstaaten , darunter auch Deutschland2, kritisierten bereits damals den Einsatz, weil dieser nach ihrer Ansicht von Schlepperbanden systematisch ausgenutzt werden würde und zusätzliche Anreize zur Flucht nach Europa setze.3 Im November 2014 wurde „Mare Nostrum“ durch die Operation „Triton“ abgelöst, welche unter die Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex gestellt wurde. Die Operation umfasst nunmehr ein verkleinertes Einsatzgebiet von 30 Seemeilen vor der italienischen Küste und um den Bereich der Insel Lampedusa. Zudem liegt deren Fokus auf der Grenzsicherung.4 Um die Migration einzudämmen, nahm die EU seit Juni 2015 im Rahmen der Operation „EUNAVFOR MED“ auch die sogenannte libysche Küstenwache in die Pflicht, welche Schleuser, Migranten und Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer abhalten sollte.5 1 Darüber hinaus hatte Italien u.a. angekündigt, von der europäischen Richtlinie 2001/55 Gebrauch zu machen, nach welcher es temporäre „Not-Visa“ zur Weiterreise im Schengen-Raum ausstellen könnte. Siehe Richtlinie 2001/55/EG des Rates über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (20. Juli 2001), (2001) OJ L 212, S. 12. 2 Thomas de Maizière: „Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen“, zitiert u.a. im Handelsblatt, „So funktionierte ‚Mare Nostrum‘“ (20. April 2015), verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik/international/eingestellte-rettungsmission-so-funktionierte-mare-nostrum /11660108.html (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 3 Handelsblatt, „So funktionierte ‚Mare Nostrum‘“ (20. April 2015), verfügbar unter: http://www.handelsblatt .com/politik/international/eingestellte-rettungsmission-so-funktionierte-mare-nostrum/11660108.html; Deutschlandfunk, „Italien beendet Rettungsaktion ‚Mare Nostrum‘“ (31. Oktober 2014), verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-italien-beendet-rettungsaktion-mare-nostrum.1818.de.html?dram :article_id=301920 (jeweils zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 4 Süddeutsche Zeitung, „Das Mittelmeer wird wieder unsicherer“ (31. Oktober 2014), verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/seenotrettung-fuer-fluechtlinge-das-mittelmeer-wird-wieder-unsicherer- 1.2199997 (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 5 BMVg, „Einsatz im Mittelmeer gegen Schleusernetzwerke“ (21. April 2017), verfügbar unter: https://afrika .bmvg.de/afrika-de/einsaetze-ueberblick/eunavfor-med-sophia (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 5 Seit Anfang 2015 waren (und sind) private Seenotretter wie der Sea-Watch e.V., Ärzte ohne Grenzen, Jugend Rettet e.V., Sea-Eye oder SOS Méditerranée außerhalb der libyschen Küstengewässer im Einsatz, um die Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen, die es mit ihren Booten bis auf hohe See geschafft haben. Von dort aus bringen die privaten Seenotretter die Geretteten nach Italien. Nach eigenen Aussagen füllen die Seenotrettungsorganisationen damit ein Vakuum, das durch die Beendigung von Einsätzen wie „Mare Nostrum“ entstanden sei.6 Das Vorgehen stößt allerdings bei einigen europäischen Regierungen auf teils heftige Kritik, weil es, so die Vorwürfe, das Risiko für Flüchtlinge und Migranten vermindere und damit eine zusätzliche Sogwirkung erzeuge .7 Ferner wurde den Seenotrettern vorgeworfen, möglicherweise mit Schleppern zu kooperieren oder gar von ihnen finanziert zu werden.8 Da mittlerweile geschätzte 40 Prozent der Seenotrettungseinsätze von privaten Seenotrettern durchgeführt werden,9 legte die italienische Regierung auf einem Gipfel der EU-Innenminister im Juni 2017 ein Papier vor, welches das Vorgehen ziviler Seenotretter normieren soll: Den Code of Conduct for NGOs Involved in Migrants‘ Rescue Operations at Sea (Verhaltenskodex)10. Um eine Rechtsbindung zu erzeugen, sollen private Seenotrettungsorganisationen den Verhaltenskodex unterzeichnen. Tun sie dies nicht oder halten sie sich nach der Unterzeichnung nicht an die Regularien, soll der italienische Staat berechtigt sein, den Hafenzugang unter Einhaltung des geltenden Völkerrechts zu verweigern. Dieser Sachstand untersucht sowohl die Völkerrechtskonformität der getroffenen Regelungen (2.) als auch die Rechtsverbindlichkeit des Verhaltenskodexes für die betroffenen Seenotrettungsorganisationen (3.). 6 Siehe etwa Sea-Watch, „Humans of Sea-Watch“ (2017), verfügbar unter: https://sea-watch.org/das-projekt /ueber-uns/ (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 7 Bayrischer Rundfunk, „Seenotretter im Fadenkreuz der Kritik“ (27. Juni 2017), verfügbar unter: http://www.br.de/nachrichten/seenotretter-ngo-report-100.html; Heise, „Migranten aus Libyen: Vorwürfe gegen NGOs und Schleuser“ (9. Mai 2017), verfügbar unter: https://www.heise.de/tp/features/Migranten-aus-Libyen- Vorwuerfe-gegen-NGOs-und-Schleuser-3707829.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 17. Juli 2017). 8 Focus Online, „Italienisches Parlament verdächtigt Seenotretter: Erhalten sie Geld von Schleppern?“ (11. Mai 2017), verfügbar unter: http://www.focus.de/politik/ausland/sea-watch-sea-eye-und-jugend-rettet-italienischesparlament -verdaechtigt-seenotretter-erhalten-sie-geld-von-schleppern_id_7111985.html; Zeit Online, „Österreich wirft Helfern Kooperation mit Schleusern vor“ (18. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.zeit.de/politik /ausland/2017-07/fluechtlingskrise-innenminister-schlepper-ngo-mittelmeer (jeweils zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 9 Pro Asyl, „Sie nennen es ‚Verhaltenskodex‘: EU will zivile Seenotrettungsorganisationen an die Kette legen“ (12. Juli 2017), verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/sie-nennen-es-verhaltenskodex-eu-will-zivileseenotrettungsorganisationen -an-die-kette-legen/ (zuletzt aufgerufen am 14. Juli 2017). 10 Code of Conduct for NGOs Involved in Migrants‘ Rescue Operations at Sea (2017), verfügbar unter: http://www.statewatch.org/news/2017/jul/italy-eu-sar-code-of-conduct.pdf (zuletzt aufgerufen am 14. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 6 2. Völkerrechtskonformität der getroffenen Regelungen 2.1. Das Verbot, in libysche Hoheitsgewässer einzufahren 2.1.1. Die Vorschrift “Absolute ban on the entry by NGOs into Libyan waters: in this regard, reference should be made to Libyan territorial waters which can only be reached if there is an evident danger to human life at sea“. 2.1.2. Die Rechtslage Das Küstenmeer ist Teil des Staatsgebietes des Küstenstaates und steht damit unter dessen Hoheitsgewalt. Grundsätzlich haben Schiffe fremder Staaten hier also die territoriale Souveränität des Küstenstaates zu achten. Anders als bei Landgebieten ist die Hoheitsgewalt über das Küstenmeer jedoch von vornherein durch das Recht der friedlichen Durchfahrt anderer Staaten eingeschränkt. Nach Art. 17 VN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ)11 genießen Schiffe aller Staaten – unabhängig ob Küsten- oder Binnenstaat – das Recht der friedlichen Durchfahrt durch das Küstenmeer. „Durchfahrt“ meint nach Art. 18 Abs. 1 SRÜ die Durchquerung des Küstenmeeres oder das Einlaufen in bzw. Verlassen von inneren Gewässern oder Häfen. Sie muss zügig und ohne Unterbrechung erfolgen (Art. 18 Abs. 2 S. 1 SRÜ). Ein Anhalten oder Ankern ist nur in Ausnahmefällen zulässig: etwa infolge eines Notfalls oder zur Hilfeleistung für Personen, Schiffe oder Luftfahrzeuge in Gefahr oder Not (Art. 18 Abs. 2 S. 2 SRÜ). Die Durchfahrt ist jedoch nur friedlich, solange sie nicht den Frieden, die Ordnung oder die Sicherheit des Küstenstaates beeinträchtigt (Art. 19 Abs. 1 SRÜ). Vor diesem Hintergrund dürfen private Schiffe, die etwa auf der Reise zwischen zwei Ländern sind, das Küstengewässer eines dritten Landes ohne besondere Genehmigung benutzen.12 Nach Art. 18 Abs. 2 S. 2 SRÜ i.V.m. Art. 98 SRÜ haben sie bei der Durchfahrt der Küstengewässer sogar die Pflicht, fremden Schiffen oder Personen in Seenot Hilfe zu leisten. Diese Pflicht bestünde auch, wenn das private Schiff noch außerhalb des Küstenmeeres fährt und auf ein Schiff aufmerksam wird, welches in den Küstengewässern in Seenot geraten ist. Die Durchfahrt bzw. die Einfahrt zum Zwecke der Seenotrettung dürfte allerdings nicht mehr friedlich i.S.v. Art. 19 SRÜ sein, wenn der Kapitän oder die Besatzung des privaten Schiffes hierbei Straftaten begingen oder sich an solchen beteiligten, da hierdurch die innere Ordnung des Küstenstaates beeinträchtigt wäre. Die Vorschrift des Verhaltenskodexes spiegelt diese Rechtslage wieder. Das Verbot, nicht in libysche Hoheitsgewässer einzufahren, steht unter dem expliziten Vorbehalt, dass keine Gefahr für Menschenleben, mit anderen Worten eine Seenot, besteht. Zwar irritiert der Begriff „absolute 11 United Nations Convention on the Law of the Sea (unterzeichnet am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994), BGBl. 1994, Teil II, S. 1799, verfügbar unter: http://www.un.org/Depts/los/convention_agreements /convention_overview_convention.htm (zuletzt aufgerufen am 17. Juli 2017). 12 Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl., 2007, De Gruyter, Berlin), S. 210, Rn. 140. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 7 ban“, da er augenscheinlich auf ein ausnahmsloses Verbot hindeutet. Allerdings relativiert die Vorschrift diesen Eindruck von sich aus, indem sie den Fall des Einfahrens zum Zwecke der Seenotrettung statuiert. 2.2. Die Verpflichtung, keine Lichtsignale einzusetzen 2.2.1. Die Vorschrift “Obligation not to make telephone communications or send light signals to facilitate the departure and embarkation of vessels carrying migrants: with the obvious intention not to facilitate contacts with traffickers“. 2.2.2. Die Rechtslage Die Vorschrift verbietet das Einsetzen von Lichtern, welche illegalen Schleusern den Weg weisen und steht im Einklang mit dem Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Zusatzprotokoll).13 Nach dessen Art. 7 verpflichten sich alle Vertragsstaaten, die Schlepperei von Migranten auf dem Seeweg in vollem Umfang und im Einklang mit dem Seevölkerrecht zu verhüten und zu bekämpfen. Art. 6 Abs. 2 lit. b) Zusatzprotokoll kriminalisiert nicht nur die Schlepperei als solche, sondern auch die Beteiligung als Gehilfe . Demnach dürfte es völkerrechtlich untersagt sein, Schmugglern per Lichtzeichen den Weg zu weisen, wenn keine Seenotlage vorliegt. Für den Fall eines bereits angetroffenen, in Seenot befindlichen Schiffes regelt das Internationale Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) (Anlage, Kapitel V, Bestimmungen 11 und 16)14 die Verwendung von Signalscheinwerfern und Lichtsignalen zur Kommunikation . Das Seevölkerrecht verbietet nicht das Senden von Lichtsignalen15 zum Zwecke der Seenotrettung . Selbst wenn vermutet werden kann, dass sich Schleuser an Bord des in Seenot 13 Protocol against the Smuggling of Migrants by Land, Sea and Air, supplementing the United Nations Convention against Transnational Organized Crime (unterzeichnet am 15. Dezember 2000, in Kraft getreten am 28. Januar 2004), verfügbar unter: https://www.unodc.org/documents/southeastasiaandpacific/2011/04/som-indonesia /convention_smug_eng.pdf (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). Italien hat das Zusatzprotokoll im Jahre 2006 ratifiziert. 14 International Convention for the Safety of Life at Sea (unterzeichnet am 1. November 1974, in Kraft getreten am 25. Mai 1980), 1184 UNTS 3; der neu eingefügte Absatz 1.1 der Regel V/33 ist verfügbar unter: https://mcanet .mcga.gov.uk/public/c4/solas/solas_v/Regulations/regulation33.htm (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). 15 Im Übrigen sind Schiffe nach den internationalen Kollisionsverhütungsregeln der IMO Schiffe nachts oder bei beschränkter Sicht durch Lichter sichtbar zu machen. Nach deren Bestimmung 22 müssen Fahrzeuge von zwölf bis 19 Metern ein Topplicht von 3 Seemeilen, ein Seiten- und ein Hecklicht von jeweils 2 Seemeilen besitzen (Conventions on the International Regulations for Preventing Collisions at Sea [geschlossen am 20. Oktober 1972, in Kraft getreten am 15. Juli 1977], 1050 UNTS, S. 17, verfügbar unter: https://treaties.un.org/doc/Publication /UNTS/Volume%201050/volume-1050-I-15824-English.pdf [zuletzt auf-gerufen am 24. Juli 2017]). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 8 geratenen Schiffes befinden, dürfte die Pflicht, Passagiere aus der akuten Lebensgefahr zu befreien , Vorrang genießen. Im Übrigen sind Schiffe nach den internationalen Kollisionsverhütungsregeln der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO)16 nachts und bei beschränkter Sicht durch Lichter sichtbar zu machen. Nach deren Bestimmung 22 müssen Fahrzeuge von zwölf bis 19 Metern17 ein Topplicht von drei Seemeilen, ein Seiten- und ein Hecklicht von jeweils zwei Seemeilen besitzen. 2.3. Die Verpflichtung, Gerettete ohne Umschlag in einen sicheren Hafen zu bringen 2.3.1. Die Vorschrift „Obligation not to make trans-shipments on other vessels, either Italian or belonging to international naval assets, except in the event of an emergency situation: after the possible rescue, NGO vessels shall have to complete the operation by carrying them in a safe harbor”. 2.3.2. Die Rechtslage Nach Art. 98 SRÜ hat jeder Kapitän die Pflicht, Schiffbrüchigen in Seenot Hilfe zu leisten. Worin die Hilfeleistung konkret besteht, definiert das Übereinkommen nicht. Das mit Art. 98 SRÜ verfolgte Ziel, die Seenot bzw. Lebensgefahr effektiv zu beenden, dürfte es jedenfalls dann gebieten, die in Seenot geratenen Menschen an Bord des Schiffes zu nehmen, wenn der Lebensgefahr bzw. Seenot mit anderen Mitteln der Hilfeleistung – Unterstützung der zuständigen Küstenwacheeinheiten , Ausbringen von Rettungsmitteln, usw. – nicht effektiv begegnet werden kann.18 Nach Ziffer 3.1.9 des Annexes zum Internationalen Übereinkommen über Seenotrettung (SAR)19 sowie nach dem neu eingeführten Absatz 1.1 der Regel V/33 des Internationalen Übereinkommens zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) sind die Geretteten innerhalb einer angemessenen Zeit an einen „sicheren Ort“ zu bringen. Auch die vom Schiffssicherheitsausschuss (MSC) der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) im Jahr 2004 verabschiedete Resolution MSC.167(78)20, welche Hinweise zur Behandlung von in Seenot geratenen Menschen gibt, 16 Conventions on the International Regulations for Preventing Collisions at Sea (geschlossen am 20. Oktober 1972, in Kraft getreten am 15. Juli 1977), 1050 UNTS, S. 17, verfügbar unter: https://treaties.un.org/doc/Publication /UNTS/Volume%201050/volume-1050-I-15824-English.pdf (zuletzt aufgerufen am 24. Juli 2017). 17 In der Regel dürften Schiffe privater Seenotrettungsorganisationen ein solches Ausmaß haben. 18 Sachstand, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“ (23. Februar 2016), WD 2 - 3000 - 034/16, S. 6. 19 Convention on Maritime Search and Rescue (unterzeichnet am 27. April 1979; in Kraft getreten am 22. Juni 1985), BGBl. 1982, Teil II, Nr. 20, S. 486. 20 Resolution MSC.167(78) vom 20. Mai 2004, verfügbar unter: http://www.imo.org/en/OurWork/Facilitation/personsrescued /Documents/MSC.167(78).pdf#search=Resolution%20MSC%2E167%2878%29 (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 9 sowie das von der IMO zuletzt im Jahr 2016 herausgegebene IAMSAR Manual,21 welches in Band 3 Ausführungen zur Art und Weise der Hilfeleistung enthält, sprechen eher vage davon, dass die Geretteten an einen „sicheren Ort“ gebracht werden sollen. Es geht nach dem geltenden Seevölkerrecht im weiteren Fortgang nicht darum, die Geretteten in den „nächsten, sicheren Hafen“ zu bringen. Wann ein Ort sicher ist, spezifizieren die Resolution MSC.167(78) und die inhaltsgleichen, vom Verkehrsministerium erlassenen Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen vom 1. Juli 200622 wie folgt: „6.12. Ein sicherer Ort (im Sinne des SAR) ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahmen als beendet angesehen werden. Es ist auch ein Ort, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr weiter in Gefahr ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse (wie zum Beispiel Nahrung, Unterkunft und medizinische Bedürfnisse) gedeckt werden können. Es ist weiter ein Ort, von dem aus Vorkehrungen für den Transport der Überlebenden zu ihrem nächsten oder endgültigen Bestimmungsort getroffen werden können. (…) 6.14 Ein sicherer Ort kann an Land sein oder sich an Bord eines Rettungsmittels oder eines anderen geeigneten Schiffes oder einer Einrichtung auf See befinden, die als ein sicherer Ort dienen können, bis die Überlebenden an ihrem nächsten Bestimmungsort ausgeschifft werden. 6.15 Die Übereinkommen (…) weisen darauf hin, dass bei der Verbringung an einen sicheren Ort die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen sind. Zu diesen Umständen können beispielsweise Faktoren zählen wie die Situation an Bord des Hilfe leistenden Schiffes, Bedingungen vor Ort, medizinischer Bedarf und Verfügbarkeit von Transport- oder anderen Rettungsmitteln. Jeder Fall ist einzigartig, und bei der Auswahl eines sicheren Ortes können eine Vielzahl wichtiger Faktoren berücksichtigt werden müssen. (…) 6.18 In vielen Fällen kann das Hilfe leistende Schiff oder ein anderes Schiff die Überlebenden an einen sicheren Ort bringen. Stellt jedoch diese Aufgabe für das Schiff eine Erschwernis dar, sollten die Rettungsleitstellen versuchen, andere mögliche Alternativen zu arrangieren. (…) Anhang: Eigene Anmerkungen zu den geltenden Bestimmungen des Völkerrechts 3. (…) Zum Beispiel braucht ein sicherer Ort nicht unbedingt an Land zu liegen. Ein sicherer Ort sollte eher unter Bezugnahme auf seine Merkmale sowie auf das festgelegt werden, was er für die Überlebenden bereitstellen kann. Es ist ein Ort, an dem die Rettungsmaßnahme ihren Abschluss findet.“ Ein „sicherer Ort“ im Sinne der seevölkerrechtlichen Verpflichtungen ist damit nicht zwangsläufig nur ein sicherer Hafen. Ein „sicherer Ort“ kann grundsätzlich auch an Bord eines anderen, größeren Schiffes sein, wobei stets die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgeblich sind. Bei 21 IMO, International Aeronautical and Maritime Search and Rescue Manual, Bd. III: Mobile Facilities (IMO, London , 2016), S. 2-39. 22 Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen, (2009) Verkehrsblatt, Heft 2, S. 64. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 10 der Einschätzung dürfte dem Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes ein pflichtgemäßes Ermessen zukommen. Sollte bei einer Rettung eine konkrete Seenot weiterer Flüchtlings- und Migrantenboote zu besorgen sein, ist auch nach der Vorschrift des Verhaltenskodexes („except in the event of an emergency situation“) der Umschlag von Geretteten auf ein anderes Schiff zulässig, da in diesem Fall eine Notsituation vorliegt und die Pflicht zur Seenotrettung aus Art. 98 SRÜ greift. Liegt hingegen lediglich eine abstrakte Gefahr einer weiteren Seenotlage vor – etwa wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass in den nächsten Stunden ein weiteres Flüchtlings- und Migrantenboot kentern wird –, so dürfte eine Pflicht zur Einfahrt in einen Hafen im Widerspruch zu den o.g. Vorschriften des SAR und SOLAS stehen. Hierfür spricht neben dem klaren Wortlaut („place of safety“, nicht „safe harbour“) auch das Ziel der Konventionen, den Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes von seiner Verpflichtung zur Seenotrettung so schnell wie möglich zu befreien, damit dieser seinen ursprünglichen Kurs ohne größere Umwege wiederaufnehmen kann.23 2.4. Die Verpflichtung, Polizeibeamte an Bord zu lassen und ermittlungsrelevante Informationen an italienische Polizeibehörden weiterzugeben 2.4.1. Die Vorschriften „Obligation to receive on board judicial police officers for investigation related to trafficking in human beings: allows access on board of their naval assets of police personnel who will conduct preliminary inquiries and investigations, also following specific indications by the Judicial Authorities ”; „Obligation to transmit all information of info-investigative interest to the Italian Police Authorities, while simultaneously delivering, on their own initiative or upon request, any object that could constitute proof or evidence of an illegal act”. 2.4.2. Die Rechtslage Sinn und Zweck des zuvor erwähnten Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg24 ist neben der koordinierten (proaktiven) Bekämpfung von Schleuserbanden vor allem auch die (repressive) Untersuchung und Verfolgung von Straftaten. Jeder 23 Allerdings empfiehlt die IMO dem Kapitän in Fällen, in denen die Geretteten beabsichtigen, Asyl zu beantragen , die nächste SAR-Rettungsstelle und das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zu kontaktieren und die Geretteten gerade nicht in dem Land abzusetzen, aus welchen sie geflohen sind. IMO, „Rescue at Sea: A Guide to Principles and Practice as Applied to Migrants and Refugees“ (2015), verfügbar unter: http://www.imo.org/en/ MediaCentre/HotTopics/seamigration/Documents/UNHCR-Rescue_at_Sea-Guide-ENG-screen.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. Juli 2017), S. 13-15. 24 Siehe oben Fn. 13. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 11 Küstenstaat, der den Zugang zu einem Nothafen sicherstellen muss, hat ein berechtigtes Sicherheitsinteresse im Zusammenhang mit potentiell Einreisenden. Auch dem Interesse der übrigen Vertragsstaaten des Zusatzprotokolls, die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität effektiv zu unterbinden, muss nach dem Zusatzprotokoll Rechnung getragen werden. Aus diesem Grund gibt das Regime, welches in Kapitel II des Zusatzprotokolls ausgearbeitet wurde, den Vertragsstaaten weitreichende Möglichkeiten im Kampf gegen den internationalen Menschenhandel an die Hand25: So dürfen Vertragsstaaten nach Art. 8 Zusatzprotokoll Schiffe anhalten und untersuchen, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass das Schiff für die Schleusung von Migranten benutzt wird, wenn sie zuvor die Genehmigung des jeweiligen Flaggenstaates eingeholt haben. Ziel der Vorschriften des Verhaltenskodexes ist die Festsetzung von Schleusern oder sonstigen, an der Schleusung beteiligten Personen, die sich nach der Rettung an Bord des Hilfe leistenden Schiffes befinden.26 Es geht darum, eine effektive Verfolgung von Schleusern sicher zu stellen. Der Wortlaut der Vorschrift lässt offen, unter welchen Umständen Polizeikräfte an Bord von Seenotrettungsschiffen gehen und Ermittlungen vornehmen dürfen. Sollte die Vorschrift dahingehend verändert werden, dass die Ermittlungen nur auf konkrete Verdachtsmomente hin erfolgen, dürfte sie in Einklang mit dem Zusatzprotokoll stehen. 2.5. Die Ankündigung, den Zugang zu italienischen Häfen zu verweigern 2.5.1. Die Ankündigung „Failure to sign this Code of Conduct or failure to comply with its obligations may result in the refusal by the Italian State to authorize the access to national ports, subject to compliance with the existing international conventions”. 2.5.2. Die Rechtslage Die Ankündigung, Schiffen mit Geretteten den Zugang zu italienischen Häfen zu verweigern, steht unter dem expliziten Vorbehalt, internationale Konventionen einzuhalten („subject to compliance with the existing international conventions“). 25 Siehe auch Schloenhardt und Dale, „Twelve Years On: Revisiting the UN Protocol against the Smuggling of Migrants by Land, Sea and Air“ (2012) 12 Zeitschrift für öffentliches Recht, S. 129, verfügbar unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs00708-012-0126-6.pdf (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). 26 In der Regel befinden sich die Schleuser entweder als Bootsführer an Bord der Flüchtlings- und Migrantenboote und versuchen, in den Wirren der Rettung unterzutauchen, oder sie harren an der Grenze der libyschen Hoheitsgewässer aus, um die Motoren der Flüchtlings- und Migrantenboote vor der Rettung abzumontieren und zurück zur libyschen Küste zu transportieren (sog. Schakale oder „engine fisher“). Siehe Der Tagesspiegel, „Wie die "Schakale" an den Flüchtlingen verdienen“ (25. August 2016), verfügbar unter: http://www.tagesspiegel .de/politik/schleuser-auf-der-mittelmeerroute-wie-die-schakale-an-den-fluechtlingen-verdienen /14443996.html (zuletzt aufgerufen am 20. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 12 Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung nach Art. 98 SRÜ betrifft in der Praxis den Kapitän eines Schiffes. Die Norm regelt hingegen nicht, an welchem Ort die Geretteten aussteigen können oder müssen.27 Ein Recht des Kapitäns auf Zugang zu einem nationalen Hafen und eine Pflicht des Küstenstaates zum Aussteigenlassen der Geretteten besteht grundsätzlich nicht.28 Für besondere Ausnahmesituationen besteht indes ein völkergewohnheitsrechtliches Nothafenrecht , wenn sich ein Schiff in Seenot befindet, d.h. wenn eine unmittelbare und ohne fremde Hilfe unabwendbare Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren droht.29 Eine solche Notsituation dürfte anzunehmen sein, wenn sich unter den Geretteten Schwangere und Verletzte befinden oder, wenn die medizinische Versorgung und die Bereitstellung von Lebensmitteln bei einer hohen Zahl an Geretteten an Bord unmöglich. Das Nothafenrecht ist jedoch kein absolutes Recht und kann bestimmten Einschränkungen unterliegen, insbesondere wenn die Beeinträchtigung vitaler Interessen des Küstenstaates droht. So kann ein Küstenstaat nach der IMO-Resolution MSC.167(78)30 und den Richtlinien des Bundesverkehrsministeriums für die Behandlung von auf See geretteten Personen31 das Einlaufen in seine Häfen verweigern, wenn das Schiff eine ernsthafte und unannehmbare Bedrohung für die Sicherheit, die Umwelt oder die Gesundheit dieses Küstenstaates darstellt – jedoch erst, nachdem die Sicherheit der an Bord befindlichen Personen sichergestellt ist. Sofern aber eine Gefährdung von Menschenleben zu befürchten ist, sind für eine erfolgreiche Geltendmachung der Beeinträchtigung vitaler Interessen höchste Maßstäbe anzulegen.32 3. Rechtsverbindlichkeit des Verhaltenskodexes Da der Verhaltenskodex bis dato nicht als europäisches oder internationales Dokument angenommen worden ist, hat er als solcher völkerrechtlich keine rechtsverbindliche Wirkung. Soweit er 27 Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea: A Commentary (Beck, München, 2017), Art. 98, Rn. 10. 28 Ziffer 6 des Anhangs zu den Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen vom 1. Juli 2006 (Fn. 22); Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6; Proelss, United Nations Convention on the Law of the Sea: A Commentary (Beck, München, 2017), Art. 98, Rn. 10. 29 Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6. 30 Siehe oben, Fn. 20, S. 11, Rn. 6. 31 Siehe oben, Fn. 22. 32 Sachstand, „Völkerrechtliche Schutzpflichten gegenüber Migranten in Seenot“ (31. Oktober 2013), WD 2 – 3000 – 078/13, S. 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 13 mit dem oben dargestellten Seevölkerrecht in Einklang steht, dürften seine Vorschriften lediglich das geltende Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht wiedergeben. Unter Umständen könnte Italien diejenigen Vorschriften, welche über das geltende Völkervertrags - und Völkergewohnheitsrecht hinausgehen, als Gesetz oder Verordnung erlassen und damit eine innerstaatliche Rechtsbindung gegenüber italienischen Seenotrettungsorganisationen begründen . Solange private Seenotrettungsorganisationen darüber hinaus von einer Unterzeichnung des Papiers absehen, ist nicht ersichtlich, wie eine Rechtsbindung anderweitig erzeugt werden sollte. 4. Schlussbetrachtung Der von Italien vorgelegte Verhaltenskodex wird sehr unterschiedlich und kontrovers bewertet. Die Spannbreite der Einschätzungen reicht von einer „konzertierten Schmierenkampagne“33 gegen private Seenotretter bis hin zum „Hilferuf“34 der italienischen Regierung in Richtung ihrer europäischen Counterparts.35 Fakt ist und bleibt allerdings, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, welche allesamt Vertragsstaaten des Internationalen Übereinkommens zum Schutz menschlichen Lebens auf See (SOLAS) sind,36 hieraus völkerrechtlich verpflichtet sind, bei Rettungsoperationen koordinierend zusammenzuarbeiten. So heißt es in Absatz 1.1 der Regel V/33 zu SOLAS: 33 Amnesty International und Human Rights Watch, „EU: Draft Code for Sea Rescues Threatens Lives“ (12. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.amnesty.eu/en/news/press-releases/all/eu-draft-code-for-sea-rescues-threatens -lives-1057/#.WW3Ryfnyg-V (zuletzt aufgerufen am 18. Juli 2017). 34 Süddeutsche Zeitung, „Italien darf NGOs im Mittelmeer ‚Verhaltenskodex‘ vorschreiben“ (4. Juli 2017), verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/mittelmeer-italien-darf-ngos-im-mittelmeer-verhaltenskodexvorschreiben -1.3573119 (zuletzt aufgerufen am 28. Juli 2017). 35 Die Bundesregierung begrüßt den Verhaltenskodex, da eine effektive Koordinierung der im Mittelmeer tätigen Akteure erforderlich sei (Bundesregierung, Regierungspressekonferenz vom 26. Juli 2017, verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/07/2017-07-26-regpk.html). Pro Asyl kritisiert, dass es keines neuen Verhaltenskodexes bedürfe, da sich die privaten Seenotrettungsorganisationen bereits im Februar 2017 einen freiwilligen Verhaltenskodex geben hätten (Pro Asyl, „Sie nennen es ‚Verhaltenskodex‘: EU will zivile Seenotrettungsorganisationen an die Kette legen“ [12. Juli 2017], verfügbar unter: https://www.proasyl.de/news/sie-nennen-es-verhaltenskodex-eu-will-zivile-seenotrettungsorganisationen -an-die-kette-legen/. Zum freiwilligen Verhaltenskodex siehe Human Rights at Sea, „Voluntary Code of Conduct for Search and Rescue Operations undertaken by Civil Society Non-Government Organisations in the Mediterranean Sea“ (2017), verfügbar unter: https://www.humanrightsatsea.org/wp-content/uploads /2017/03/20170302-NGO-Code-of-Conduct-FINAL-SECURED.pdf (jeweils zuletzt aufgerufen am 20. Juli 2017). 36 Zum Status des Vertrages siehe: https://treaties.un.org/pages/showDetails.aspx?objid=08000002800ec37f (zuletzt aufgerufen am 19. Juli 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 067/17 Seite 14 “Contracting Governments shall co-ordinate and co-operate to ensure that masters of ships providing assistance by embarking persons in distress at sea are released from their obligations with minimum further deviation from the ships’ intended voyage, provided that releasing the master of the ship from the obligations under the current regulation does not further endanger the safety of life at sea. The Contracting Government responsible for the search and rescue region in which such assistance is rendered shall exercise primary responsibility for ensuring such co-ordination and co-operation occurs, so that survivors assisted are disembarked from the assisting ship and delivered to a place of safety, taking into account the particular circumstances of the case and guidelines developed by the Organization. In these cases the relevant Contracting Governments shall arrange for such disembarkation to be effected as soon as reasonably practicable.” Eine fast wortgleiche Verpflichtung findet sich in Ziffer 3.1.9 des Annexes zum Internationalen Übereinkommen über Seenotrettung (SAR). Damit sind alle Vertragsstaaten zum SOLAS und zum SAR dafür verantwortlich, dass der Kapitän eines Hilfe leistenden Schiffes die Geretteten so schnell wie möglich absetzen und seinen ursprünglichen Kurs ohne größere Abweichung wiederaufnehmen kann. Zwar ist für die Koordinierung der Aufnahme der Geretteten derjenige Staat hauptverantwortlich, in dessen SAR-Zone die Schiffbrüchigen aufgegriffen wurden – bei Migranten und Flüchtlingen im Mittelmeer also in der Regel Italien, Malta oder Griechenland.37 Allerdings sieht sowohl SOLAS als auch SAR eine klare Zusammenarbeitsverpflichtung der Mitgliedstaaten der EU beim Management des völkergewohnheitsrechtlichen Nothafenrechts vor.38 Bei der Art und Weise der Zusammenarbeit dürfte den Mitgliedstaaten ein Ermessen zukommen. Hervorzuheben ist gleichwohl, dass das Ermessen der europäischen Mitgliedstaaten in keinem Fall dazu führen darf, dass die Koordinierung blockiert wird oder aus anderem Grunde ins Leere läuft.39 *** 37 Zu den SAR-Zonen siehe: https://sarcontacts.info/ (zuletzt aufgerufen am 19. Juli 2017). 38 So auch die Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen ([2009] Verkehrsblatt, Heft 2, S. 66, Rn. 2.4) und Art. 80 AEUV über die Umsetzung der europäischen Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung nach dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten der EU. Diesen Befund bestätigt auch der Seerechtsexperte Prof. Uwe Jenisch im Telefonat vom 17. Juli 2017). 39 Zu berücksichtigen ist hierbei Art. 80 AEUV, der bei der Umsetzung der europäischen Politik im Bereich Grenzkontrollen , Asyl und Einwanderung die Einhaltung der Grundsätze der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten der EU anmahnt. Zur solidarischen Kooperation der EU- Mitgliedstaaten siehe auch MdB Frieser im Deutschlandfunk („Wir wollen kein Reiseunternehmen auf dem Mittelmeer aufmachen“ [19. Juli 2017], verfügbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/europa-und-diefluechtlinge -wir-wollen-kein.694.de.html?dram:article_id=391452) und Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Republik Tunesien Chahed in Berlin (14. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/02/2017-02-14-bk-merkel -tunesien-chahed.html (jeweils zuletzt aufgerufen am 31. Juli 2017).