© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 065/20 Der Streit um Venezuelas Goldreserven: Zum Urteil des High Court of Justice vom 2. Juli 2020 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 2 Der Streit um Venezuelas Goldreserven: Zum Urteil des High Court of Justice vom 2. Juli 2020 Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 065/20 Abschluss der Arbeit: 19. August 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetlinks) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Das Urteil des Londoner High Courts vom 2. Juli 2020 4 2. Tragende Urteilsgründe 4 2.1. Zur Anerkennung des venezolanischen Staatsoberhaupts 4 2.2. Zur Frage der Überprüfung ausländischer Hoheitsakte durch britische Gerichte 7 3. Rechtliche Einordnung der beiden Doktrinen 8 3.1. „One voice“-Doktrin 8 3.2. Act of State-Doktrin 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 4 1. Das Urteil des Londoner High Courts vom 2. Juli 2020 In der Auseinandersetzung zwischen der Zentralbank Venezuelas (Banco Central de Venezuela, im Folgenden: BCV) und der Bank of England über die Herausgabe der bei ihr gelagerten Goldreserven hat der Londoner High Court in der Entscheidung „Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Others“ vom 2. Juli 20201 die Vorfrage untersucht, wer berechtigt ist, im Namen der BCV die Herausgabe des äquivalenten Geldbetrags von der Bank of England sowie der Deutschen Bank, die sich dem Rechtsstreit angeschlossen hatte, zu verlangen .2 Zur Auswahl standen der von Maduro ernannte Vorstand der BCV sowie der von Guaidó gemäß dem venezolanischen „Transition Statute“ ernannte ad hoc-Vorstand der BCV. Angesichts der Covid-19 Pandemie in Venezuela, die mit der Herausgabe der Geldsumme eingedämmt werden soll, entschied das Gericht in einem Eilverfahren durch Einzelrichterentscheidung (Mr. Justice Teare).3 Das Urteil ist bislang noch nicht rechtskräftig; die Anwälte Maduros haben angekündigt, in Berufung zu gehen.4 2. Tragende Urteilsgründe Das Gericht unterzog zwei Aspekte einer genaueren Betrachtung: Die Anerkennung des venezolanischen Staatsoberhaupts durch die britische Regierung (dazu 2.1.) sowie die Frage der Überprüfung ausländischer Hoheitsakte durch britische Gerichte (dazu 2.2.). 2.1. Zur Anerkennung des venezolanischen Staatsoberhaupts Der ehemalige britische Außenminister Jeremy Hunt gab am 4. Februar 2019 folgende Erklärung ab: „The United Kingdom now recognises Juan Guaidó as the constitutional interim President of Venezuela, until credible presidential elections can be held.“5 1 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors [2020] EWHC 1721 (Comm) (2 July 2020), https://www.bailii.org/ew/cases/EWHC/Comm/2020/1721.pdf. 2 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rdnr. 1 f. 3 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rdnr. 3. CNN Business, „UK court blocks Maduro's bid to access $1 billion in Venezuelan gold“, 2 July 2020: https://edition.cnn.com/2020/07/02/business/venezuela-bank-of-england-gold-ruling/index.html. 4 Der SPIEGEL vom 2. Juli 2020, „Britisches Gericht verweigert Herausgabe von Goldreserven an Maduro“, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/venezuela-gericht-in-london-verweigert-herausgabe-von-goldreserven -an-nicolas-maduro-a-9988f6b8-d640-4f68-9c7f-070fe210cead. 5 Gov.uk Press release, „UK recognises Juan Guaido as interim President of Venezuela“, 4. Februar 2019, https://www.gov.uk/government/news/uk-recognises-juan-guaido-as-interim-president-of-venezuela. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 5 Vor diesem Hintergrund setzte sich der High Court zunächst mit der Frage nach der Anerkennung von Staaten, Regierungen bzw. Staatsoberhäuptern auseinander. Die Prozessvertreter Guaidós vertraten die Auffassung, das Gericht müsse sich der klaren und unmissverständlichen Erklärung der britischen Regierung anschließen.6 Die Prozessvertreter Maduros argumentierten dagegen, dass die britische Regierung ihre diplomatischen Beziehungen zur Regierung Maduro vollständig aufrechterhalten habe und keine Beziehungen zu einer anderen venezolanischen Regierung unterhalte. Daraus ergebe sich, dass die britische Regierung faktisch die Regierung Maduro anerkenne.7 In seiner Entscheidung folgt der High Court der Erklärung der britischen Regierung, Guaidó als Staatsoberhaupt („Head of State“) Venezuelas anzuerkennen:8 „HMG [Her Majesty´s Government] does recognise Mr. Guaidó in the capacity of the constitutional interim President of Venezuela and, it must follow, does not recognise Mr. Maduro as the constitutional interim President of Venezuela. It has done so on the basis that such recognition is in accordance with the constitution of the Republic of Venezuela and has done so since 4 February 2019.“9 Dabei stützt sich das Gericht auf die im anglo-amerikanischen Recht praktizierte „one voice“- Doktrin. Danach müssten Exekutive und die Gerichte in außenpolitischen Angelegenheiten stets mit einer Stimme (one voice) sprechen,10 wobei der Regierung eine Entscheidungsprärogative zufällt. In der Kommentierung der Oxford Scholarly Authorities on International Law heißt es dazu: “The facts, circumstances, and events which lie at the root of foreign affairs and their conduct by the Executive have conveniently been described as facts of State. These are facts which are peculiarly within the cognizance of the Executive. For this reason, at any rate in so far as they are within the scope of the United Kingdom's Executive, they can be proved only in a special manner, namely by a certificate issued by the Foreign and Commonwealth Office (…) rather than by other documentary or oral evidence. The idea underlying this practice is the familiar one: in matters relating to foreign affairs the judiciary and the Executive should speak with one voice. The scope of prerogative power is discussed, 6 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 7. 7 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 26. 8 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 42. 9 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 42: Im Unterschied zu einer von der britischen Regierung gerade nicht erklärten Anerkennung einer venezolanischen Regierung. 10 Grundlegend Daniel Abebe, „One Voice or Many? The Political Question Doctrine and Acoustic Dissonance in Foreign Affairs“, in: University of Chicago Law School, Chicago Unbound, 2013, https://chicagounbound.uchicago.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1445&context=public_law_and_legal_theory. David H. Moore, “Beyond One Voice”, in: Minnesota Law Review 2014, S. 953-1045, https://www.minnesotalawreview.org/wp-content/uploads/2014/02/Moore_MLR.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 6 covering territory; state of war, belligerency, and neutrality; civil war or insurgency, immunity , abolition of a state, and government of a recognized state.11 Im Hinblick auf die Anerkennung von Staaten oder Regierungen sind Gerichte des Vereinigten Königreichs verpflichtet, eine Anerkennungserklärung der Regierung zu akzeptieren. Es ist das Vorrecht der durch die Regierung handelnden Krone, Anerkennungserklärungen abzugeben.12 Das Gericht darf in diesem Zusammenhang keine gegenteiligen Einschätzungen vornehmen oder anderweitige Erwägungen anstellen. Der High Court führt insoweit aus: “It is not open to the court to set aside the statement by Her Majesty´s Government and look at other material in an attempt to identify what the position of Her Majesty´s Government in fact is (…). Just as with governments, a person may be recognized by Her Majesty´s Government as the de jure or de facto President (or any other head of state). When a person is so recognized the courts must accept him as President pursuant to the “one voice” doctrine”.13 Der Londoner High Court hat also – anders als manche Medienberichte vermuten ließen14 – schon mangels Zuständigkeit weder Guaidó als venezolanischen Interimspräsidenten völkerrechtlich anerkannt, noch die Anerkennung Guaidós durch die britische Regierung materiellrechtlich als völkerrechtskonform bestätigt. Vielmehr hat der High Court seiner Aufgabe entsprechend britisches Recht angewandt und die Anerkennung Guaidos durch die Regierung Ihrer Majestät gemäß der in Großbritannien praktizierten „one voice“-Doktrin, die ja im Wesentlichen prozedurales Recht beinhaltet, formal nachvollzogen. Die „one voice“-Doktrin ist indes in der britischen Rechtslehre mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz nicht unumstritten: “The one-voice doctrine is a frequent player in foreign relations law, having been invoked to answer critical questions regarding the foreign affairs powers of the President, Congress, courts, and states. Until now, the doctrine has escaped comprehensive evaluation. (…) Not only is the doctrine inconsistent with constitutional text, structure, and history, as well as actual practice, but the doctrine applies along various dimensions that present divergent questions, masks different theories of constitutional interpretation, and ignores functional 11 F. A. Mann, Facts of State, Oxford Scholarly Authorities on International Law [OSAIL], August 1986, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law/9780198255642.001.0001/law-9780198255642-chapter-2. 12 So der High Court in der Entscheidung Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rdnr. 44. 13 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rdnr. 44 ff. Das Gericht zitiert dabei die Fälle Bouhadi vs Breish [2016] EWHC 602 (Comm) at paragraph 43 per Blair J. und Breish at paragraph 63 per Popplewell LJ. 14 Vgl. etwa FAZ vom 2. Juli 2020, “ Kein Gold für Maduro“, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/erfolg-fuerguaido -kein-gold-fuer-maduro-16842991.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 7 reasons for other or multiple voices in foreign affairs. In light of these flaws, the one-voice doctrine should be abandoned.”15 Ob und inwieweit die „one-voice“-Doktrin im Urteil des High Court einer rechtlichen Überprüfung standhält, wird das Berufungsverfahren zeigen. 2.2. Zur Frage der Überprüfung ausländischer Hoheitsakte durch britische Gerichte Am 19. Mai 2020 verabschiedete die venezolanische Nationalversammlung eine Resolution, die bestätigt, dass das Vermögen der BCV im Ausland nur durch den ad hoc-Vorstand verwaltet werden dürfe (sog. „Transition Statute“).16 Die Prozessvertreter Maduros halten die Ernennung des ad hoc BCV-Vorstands durch Guaidó nach dem venezolanischen „Transition Statute“ für unwirksam.17 Nach Ansicht der Prozessvertreter Guaidós dürfe ein britisches Gericht ein legislatives oder exekutives Handeln des venezolanischen Staates – hier: das Transition Statute – sowie die darauf gründende Ernennung des ad hoc-Vorstands der BCV durch Guaidó, nicht in Frage stellen.18 Die im anglo-amerikanischen Recht wirkmächtige „act of State“-Doktrin, auf die sich die Entscheidung des High Courts stützt, besagt, dass Rechtsakte fremder Staaten der nationalen gerichtlichen Kontrolle entzogen sind.19 Danach kann ein Gericht nicht ohne weiteres über die Rechtmäßigkeit oder Gültigkeit souveräner Handlungen ausländischer Staaten befinden. Basierend auf den Grundsätzen der Staatenimmunität und -souveränität erkennen britische Gerichte innerstaatliche legislative und exekutive Akte fremder Staaten an und stellen diese nicht in Frage .20 Der Londoner High Court führt insoweit aus: „The principle is that the English courts will not adjudicate on the lawfulness or validity of a state’s sovereign acts under its own law.”21 15 David H. Moore, “Beyond One Voice”, in: Minnesota Law Review 2014, S. 953-1045 (1044), https://www.minnesotalawreview.org/wp-content/uploads/2014/02/Moore_MLR.pdf. 16 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 19. 17 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 51, 63. 18 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 56, 58. 19 Fausto de Quadros / John Henry Dingfelder Stone, Act of State Doctrine, Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], März 2013: https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1374. 20 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 55. 21 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 59. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 8 Aus diesem Grund konnte der High Court hinsichtlich der Frage der Rechtmäßigkeit des venezolanischen „Transition Statute“ sowie der auf dieser Grundlage erfolgten Ernennung des ad hoc- Ausschusses der BCV durch Guaidó lediglich feststellen, dass die britische Gerichtsbarkeit in dieser Hinsicht nicht eröffnet sei.22 3. Rechtliche Einordnung der beiden Doktrinen In seiner Venezuela-Entscheidung vom 2. Juli 2020 hat der Londoner High Court zwei Doktrinen aus dem anglo-amerikanischen Verfassungsrecht herangezogen, welche der Kontrolle außenpolitischen Handelns durch die britischen Gerichte funktionale Grenzen setzen. Die „one voice“-Doktrin (dazu 3.1.) betrifft dabei vor allem das innerstaatliche Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative in außenpolitischen Angelegenheiten. Die act of State- Doktrin (dazu 3.2.) betrifft dagegen die Kontrolle von ausländischen Hoheitsakten durch nationale Gerichte; sie berührt das Verhältnis zwischen zwei Staaten und damit im Kern auch völkerrechtliche Fragen der Staatenimmunität und -souveränität. Beide Doktrinen sind Ausfluss richterlicher Selbstbeschränkung, die in der anglo-amerikanischen Rechtskultur besonders ausgeprägt ist und in Deutschland zwar thematisiert, aber nicht zuletzt auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht als „Doktrin“ übernommen wurde.23 3.1. „One voice“-Doktrin In Rechtsstaaten stellt sich die Frage nach der Justitiabilität und gerichtlichen Kontrolldichte mit Blick auf Akte der auswärtigen Gewalt (wie z.B. die Anerkennung von Staaten und Regierungen ).24 Die „one voice“-Doktrin reflektiert die vor allem im anglo-amerikanischen Rechtsraum vorherrschende Kultur der politischen Zurückhaltung von (Verfassungs-)Gerichten gegenüber der Exekutive bei der Kontrolle der auswärtigen Gewalt. Vor allem im amerikanischen Verfassungsrecht hat sich in diesem Zusammenhang die sog. political question-doctrine entwickelt. 22 Deutsche Bank AG London Branch v Receivers Appointed By the Court & Ors, aaO, Rn. 56 ff., 74 ff. 23 Vgl. insoweit Berentelg, Maria, Die Act-of-State-Doktrin als Zukunftsmodell für Deutschland?: Zur Nachprüfung fremder Hoheitsakte durch staatliche Gerichte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010. Blumenwitz, Dieter, „Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der auswärtigen Gewalt: zur Rezeption eines amerikanischen Rechtsbegriffs durch das Bundesverfassungsgericht“, in: DVBl. 1976, S. 464-469. 24 Vgl. dazu rechtsvergleichend Giegerich, Thomas, „Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt im europäisch-atlantischen Verfassungsstaat: Vergleichende Bestandsaufnahme mit Ausblick auf die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa“, in: ZaöRV 1997, S. 409-564, https://www.zaoerv.de/57_1997/57_1997_2_3_a_409_564.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 9 Die Diskussion über Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den anderen Verfassungsorganen wird aber auch im deutschen Verfassungsrecht seit langem unter dem Stichwort der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint)25 sowie des Interorganrespekts zwischen Verfassungsorganen geführt.26 Indes besteht in der deutschen Verfassungsrechtslehre weithin Einigkeit darüber, dass die amerikanische political question-Doktrin, wonach der US- Supreme Court Entscheidungen über Fragen politischer Natur ablehnen kann, auf die deutsche Verfassungsrechtsprechung nicht übertragbar ist.27 Das BVerfG, das den Grundsatz der „Selbstbeschränkung “ aufgegriffen hat, versteht darunter die Offenhaltung des den anderen Verfassungsorganen garantierten Raums freier politischer Gestaltung (z.B. exekutive Einschätzungsspielräume etc.) und den Verzicht darauf, eigene richterliche „Politik zu treiben“. „Beschränkungen “ bezögen sich auf die ihm zur Verfügung stehenden Kontrollmaßstäbe. Dies sei aber keine „Selbst“-Beschränkung, sondern Bindung an Auftrag und Kompetenzen.28 3.2. Act of State-Doktrin Die act of State-Doktrin, die nationalen Gerichten eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit ausländischer Hoheitsakte untersagt und vor allem im anglo-amerikanischen Rechtsraum Wirkung entfaltet ,29 rezipiert in besonders intensiver Weise den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität („Kein Staat darf über einen anderen zu Gericht sitzen“ – par in parem non habet iurisdictionem) und Staatensouveränität.30 Die act of State-Doktrin ist nach einhelliger Auffas- 25 Zuck, Rüdiger, „Political-Question-Doktrin, Judicial-self-restraint und das Bundesverfassungsgericht, in: Juristenzeitung (JZ) 1974, S. 361-368. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, München: Beck 11. Auflage 2018, Rdnr. 505 m.w.N. in Fn. 14. 26 Lorz, Ralph Alexander, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2001. 27 Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, München: Beck 1980, S. 961 f. Robbers, Gerhard, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, München: Beck, 2. Aufl. 2005, S. 116. 28 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, München: Beck 11. Auflage 2018, Rdnr. 505. 29 Singer, Michael, “The Act of State Doctrine of the United Kingdom: An Analysis, With Comparisons to United States Practice”, in: AJIL 75 (1981), S. 283-323, https://www.jstor.org/stable/2201254?seq=1. 30 Bei der act of State-Doktrin im US-amerikanischen Recht geht es allerdings weniger um den Respekt gegenüber anderen Staaten, als um die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen den Gerichten und der Regierung (Federal Government) in auswärtigen Angelegenheiten. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/20 Seite 10 sung selbst kein Bestandteil des Völkerrechts.31 Auch insoweit beschränkt sich die Entscheidung des High Court vom 2. Juli 2020 auf die Anwendung innerstaatlichen britischen Rechts. *** 31 So einhellig Brownlie, Ian, Principles of Public International Law, Oxford Univ. Press, 6. Aufl. 2003, S. 483. Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 346. Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 255. Ernst Petersmann, „Act of State Doctrine, Political Question Doctrine und gerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt“, in: JöR 25 (1976), S. 587-620. Folz, Hans-Ernst, Die Geltungskraft fremder Hoheitsäußerungen: Eine Untersuchung über die angloamerikanische Act of State Doctrine, Baden-Baden: Nomos 1975, S. 271. Malanczuk, Peter, Akehurst´s Modern Introduction to International Law, London: Routledge, 7. Aufl. 1997, S. 122.