© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 065/19 Gesetzliche Grundlagen für die militärische Neuausrichtung der Sicherheitskräfte des Kosovo Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Primat der Politik 9 4.3. Weiter Verteidigungsbegriff 9 4.4. Verfassungsrechtliche Einbindung und parlamentarische Kontrolle der Sicherheitskräfte 9 4.5. Beschwerderechte für Angehörige der Sicherheitskräfte 10 4.6. Sicherheitspolitische Implikationen und Einbettung der Sicherheitskräfte in das internationale Recht 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 4 1. Einführung Im Dezember 2018 hat das kosovarische Parlament ein Gesetzespakt zur militärischen Neuausrichtung und Transformation der seit Januar 2009 bestehenden kosovarischen Sicherheitskräfte (KSF)1 beschlossen. Geplant sind eine Verdopplung der bereits bestehenden Truppenstärke auf 5.000 und deren Ausrüstung mit US-Waffen und Fahrzeugen. Medienberichten zufolge soll die Umbildung der Sicherheitskräfte mehrere Jahre in Anspruch nehmen.2 Die Entscheidung des Kosovo ist ein demonstratives Zeichen seiner Unabhängigkeit von Serbien, die am 17. Februar 2008 proklamiert wurde. Der Aufbau einer kosovarischen Armee ist völkerrechtlich 3 aber auch sicherheitspolitisch – erinnert sei an die ehemalige Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) – brisant, weil sich die bestehenden Spannungen4 zwischen Serbien und dem Kosovo auch 20 Jahre nach Ende des Kosovo-Konflikts (1999) weiter verschärfen könnten. Politischer Widerstand gegen eine Kosovo-Armee kam vor allem von Seiten des ehemaligen serbischen Kriegsgegners.5 Die USA unterstützen dagegen die Bemühungen Prištinas; die NATO zeigte sich dem Projekt gegenüber eher reserviert. 1 In den deutschen Medien (s.u. Fn. 2) ist vielfach von einer Kosovo-Armee bzw. kosovarischen Streitkräften die Rede. Diese Übersetzung ist sprachlich ungenau, wenn auch inhaltlich zutreffend. In den offiziellen Amtssprachen des Kosovo – dies sind gem. Art. 5 Abs. 1 Kosovo-Verfassung albanisch und serbisch (auf der kommunalen Ebene zusätzlich türkisch und bosnisch) – lautet die Bezeichnung der neuen Kräfte Forcës së Sigurisë së Kosovës (albanisch) bzw. Snaga Bezbednsti Kosova (serbisch). Die auf der Homepage des kosovarischen Verteidigungsministeriums eingestellte englische Übersetzung der einschlägigen Gesetze spricht durchgehend von der Kosovo Security Force. Vor diesem Hintergrund verwenden die Wissenschaftlichen Dienste den Begriff „Sicherheitskräfte “. 2 Vgl. zum Ganzen die Berichterstattung der deutschen Medien: „Trotz Kritik von NATO: Kosovo-Parlament stimmt für eigene Armee“, Tagesschau online vom 14.12.2018, https://www.tagesschau.de/ausland/kosovo-armee-103.html; „Entscheidung im Parlament: Kosovo will eigene Armee aufbauen“, SPIEGEL online vom 14.12.2018, https://www.spiegel.de/politik/ausland/kosovo-das-parlament-beschliesst-den-aufbau-einer-eigenen-armee-a- 1243722.html; „Trotz Drohungen aus Serbien: Kosovo-Parlament stimmt für eigene Armee“, Tagesspiegel online v. 14.12.2018, https://www.tagesspiegel.de/politik/trotz-drohungen-aus-serbien-kosovo-parlament-stimmt-fuer-eigenearmee /23762208.html; „Kosovo beschließt Aufbau einer Armee“, SZ online v. 14.12.2018, https://www.sueddeutsche.de/politik/balkan-kosovo-beschliesst-aufbau-einer-armee-1.4253354; „Kosovo bekommt eine eigene Armee“, DW v. 19.10.2018, https://www.dw.com/de/kosovo-bekommt-eineeigene -armee/a-45958097. 3 Vgl. dazu das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 - 3000 - 193/18 vom 18. Januar 2019, „Völkerund verfassungsrechtliche Bewertung der Sicherheitskräfte des Kosovo“, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/631882/030ae5e724e6fe2fed9a4bac9a1496c0/WD-2-193-18-pdfdata .pdf. 4 So sorgt Serbien – zusammen mit Russland – beharrlich dafür, dass das Kosovo nicht in internationale Organisationen aufgenommen wird. Im Gegenzug führte Priština einen Blockadezoll für Waren aus Serbien ein. 5 Das Argument Serbiens, wonach der Aufbau einer Kosovo-Armee einen Verstoß gegen die VN- Sicherheitsratsresolution 1244 (1999) darstellt, lässt sich nach Auffassung der Wissenschaftlichen Dienste (a.a.O., Fn. 3) völkerrechtlich nicht erhärten. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 5 Im Folgenden werden die gesetzlichen Grundlagen für die Sicherheitskräfte des Kosovo vorgestellt, insbesondere das neue Gesetzespaket aus dem Jahre 2019 (dazu 2. und 4.). Weiter wird das Gesetzgebungsverfahren erläutert, welches die neuen Gesetze durchlaufen haben. Augenmerk wird dabei auf die Beteiligung von Vertretern der serbischen Minderheit im kosovarischen Parlament gelegt (dazu 3.). Schließlich werden wesentliche inhaltliche Eckpunkte des Gesetzes über die kosovarischen Sicherheitskräfte dargestellt und sicherheitspolitisch bewertet (dazu 4.). 2. Gesetzliche Grundlagen der kosovarischen Sicherheitskräfte Das den Aufbau der kosovarischen Sicherheitskräfte begleitende Gesetzespaket aus dem Jahre 2019 besteht aus drei Einzelgesetzen, die auf der Homepage des kosovarischen Verteidigungsministeriums abrufbar sind.6 Dabei handelt es sich um das Gesetz Nr. 06/L-122 vom 05.03.2019 über die Errichtung des Verteidigungsministeriums,7 Gesetz Nr. 06/L-123 vom 05.03.2019 über die Sicherheitskräfte des Kosovo,8 Gesetz Nr. 06/L-124 vom 05.03.2019 über den Dienst in den kosovarischen Sicherheitskräften .9 Die drei Gesetze ergänzen die bereits bestehende Gesetzeslage der Jahre 2008 bis 2013 betreffend die kosovarischen Sicherheitskräfte; die älteren Gesetze befassen sich u.a. mit den Auslandseinsätzen (Gesetz Nr. 04/L-177 vom 03.09.2013)10, den Pensionen der Angehörigen (Gesetz Nr. 04/L- 084 vom 08.06.2012)11 oder dem Reservistenkonzept der kosovarischen Sicherheitskräfte (Gesetz 6 Vgl. unter: https://www.mksf-ks.org/?page=2,73. Das Gesetzespaket (PROJEKTLIGJ PËR NDRYSHIMIN DHE PLOTËSIMIN E LIGJEVE QË KANË TË BËJNË FORCAT E ARMATOSURA TË KOSOVËS – DRAFT LAW ON AMENDING AND SUPPLEMENTING THE LAWS REGARDING ARMED FORCES OF KOSOVO) ist in den Sprachen albanisch, englisch und serbisch abrufbar unter https://www.kuvendikosoves.org/common/docs/ligjet/04- L-275.pdf. 7 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/LAW_ON_MINISTRY_OF_DEFENSE__2019.pdf. 8 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/LAW_ON_KOSOVO_SECURITY_FORCE__2019.pdf. 9 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/LAW_NO__06_L_124___ON_SERVICE_IN_THE_KOSOVO_SECURITY_FORCE.pdf. 10 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksf-ks.org/repository/docs/Ligji_per_dergimin_e_FSKse _jashte_vendit-alb_(anglisht).pdf. 11 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/ON_PENSIONS_OF_MEMBERS_OF_THE_KOSOVO_SECURITY_FORCE.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 6 Nr. 03/L-082 vom 23.12.2011).12 Darüber hinaus existieren zahlreiche Verordnungen über den Dienst in den kosovarischen Sicherheitskräften.13 3. Gesetzgebungsverfahren Für die Gründung einer eigenständigen kosovarischen Armee stand ursprünglich eine Verfassungsänderung in Rede. Dafür ist nach der Kosovo-Verfassung14 auch eine Zustimmung von mindestens zwei Dritteln jener Abgeordneten notwendig, welche die serbischen15 und die anderen16 Minderheiten im kosovarischen Parlament vertreten. Art. 65 (2) Kosovo-Verf. lautet: “The Assembly of the Republic of Kosovo (…) decides to amend the Constitution by two thirds (2/3) of all its deputies including two thirds (2/3) of all deputies holding seats reserved and guaranteed for representatives of communities that are not in the majority in Kosovo.” Die serbischen Abgeordneten im kosovarischen Parlament haben jedoch immer wieder deutlich gemacht, dass sie gegen die Gründung einer Kosovo-Armee stimmen würden. Um eine entsprechende Blockade durch die serbischen Vertreter im Parlament zu verhindern, hat sich die Regie- 12 Englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/ON_THE_KOSOVO_SECURITY_FORCE_RESERVE_COMPONENT.pdf. 13 Abrufbar auf der Homepage des Verteidigungsministeriums, https://www.mksf-ks.org/?page=2,76. Siehe auch das Gesetz Nr. 03/L-082 vom 13.06.2008 über den Dienst in den kosovarischen Sicherheitskräften, englische Fassung abrufbar unter: https://www.mksfks .org/repository/docs/Law%20on%20Service%20in%20the%20KSF.pdf. 14 Constitution of the Republic of Kosovo (adopted on 9 April 2008) with Amendments I - XXII (Official Gazette of Republic of Kosovo no. 25, date 7 September 2012), Amendment XXIII (Official Gazette of Republic of Kosovo no.7, date 26 March 2013) and Amendment XXIV (Official Gazette of Republic of Kosovo no. 20, date 5 August 2015), abrufbar unter: http://www.kuvendikosoves.org/common/docs/Constitution_of_the_Republic_of_Kosovo_with_amend.IXXV_2 017.pdf. 15 Für die Vertreter der serbischen Minderheit im kosovarischen Parlament sieht Art. 64 Kosovo-Verf. folgende Regelung / Sitzverteilung vor: “In the framework of this distribution, twenty (20) of the one hundred twenty (120) seats are guaranteed for representation of communities that are not in the majority in Kosovo as follows: Parties, coalitions, citizens' initiatives and independent candidates having declared themselves representing the Kosovo Serb Community shall have the total number of seats won through the open election, with a minimum ten (10) seats guaranteed if the number of seats won is less than ten (…).” 16 Für die Vertreter nicht-serbischer Minderheiten im kosovarischen Parlament sieht Art. 64 Abs. 2 Kosovo-Verf. folgende Regelung / Sitzverteilung vor: “(…) a minimum number of seats in the Assembly guaranteed as follows: the Roma community one (1) seat; the Ashkali community one (1) seat; the Egyptian community one (1) seat; and one (1) additional seat will be awarded to either the Roma, the Ashkali or the Egyptian community with the highest overall votes; the Bosnian community three (3) seats; the Turkish community two (2) seats and the Gorani community one (1) seat.” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 7 rung des Kosovo im Jahre 2018 für eine Neuausrichtung bzw. Umwandlung der bereits existierenden Sicherheitskräfte des Kosovo (KSF) in eine reguläre Armee entschieden. Die Neuausrichtung erfolgte gesetzestechnisch daher nicht im Wege einer Verfassungsänderung,17 sondern nur durch (einfache) Gesetzgebung. Art. 65 (1) Kosovo-Verf. regelt in diesem Zusammenhang die Gesetzgebungskompetenz des kosovarischen Parlaments. Art. 80 Nr. 1 Kosovo-Verf. bestimmt darüber hinaus die für die Verabschiedung einfacher Gesetze erforderlichen Quoren: “Laws, decisions and other acts are adopted by the Assembly by a majority vote of deputies present and voting, except when otherwise provided by the Constitution”18 Abgesehen von dem Verfahren über die Verfassungsänderung haben die Vertreter der nationalen Minderheiten im kosovarischen Parlament nach der Kosovo-Verfassung bzw. der Geschäftsordnung des Parlaments19 keine Möglichkeit, parlamentarische Entscheidungen durch Veto zu blockieren. Die Abstimmung im Parlament hatte offenbar für massive Spannungen gesorgt. Medienberichten zufolge20 hätten über 100 von den insgesamt 120 (vgl. Art. 64 Kosovo-Verf.) im kosovarischen Parlament in Priština vertretenen – zumeist albanisch-stämmigen – Abgeordneten dem Gesetzespaket zugestimmt; darunter alle Regierungsparteien sowie die Opposition, einschließlich der Vertreter nicht-serbischer Minderheiten im Kosovo (Bosnier, Roma u.a.). Die Vertreter der serbischen Minderheit im kosovarischen Parlament hätten die Abstimmung hingegen boykottiert. Dieser Boykott war für die Abstimmung indes unbeachtlich; Art. 51 Abs. 3 der Geschäftsordnung bestimmt insoweit: “The decisions taken in the meetings of the Assembly are valid if more than half of the total number of Members of the Assembly were present at the time the decision was taken.” 17 Zur Frage, ob dafür eine Verfassungsänderung rechtlich notwendig gewesen wäre, vgl. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 – 3000 – 193/ vom 18.1.2019 (a.a.O., Fn. 3) sowie BT-Drs. 19/6649 vom 19.12.2018, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 19/5939 – Deutschland und die Transformation der Kosovo Security Force zu voll bewaffneten Streitkräften, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/066/1906649.pdf. 18 Die oben erwähnten Gesetze über die Sicherheitskräfte des Kosovo sind „einfache“ Gesetze i.S.v. Art. 80 Kosovo-Verf. und keine besonderen „Gesetze von vitalem Interesse“ nach Art. 81 Kosovo-Verf., für die besondere Verfahrensregeln gelten. 19 Rules of Procedure to the Assembly of the Republic of Kosovo v. 29.4.2010, abrufbar auf der Homepage des kosovarischen Parlaments, https://www.kuvendikosoves.org/common/docs/Rr_K_RK_29_04_2010_2.pdf . 20 Vgl. für viele: „Kosovo bekommt eine eigene Armee“, DW v. 19.10.2018, https://www.dw.com/de/kosovobekommt -eine-eigene-armee/a-45958097. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 8 4. Neuausrichtung der kosovarischen Sicherheitskräfte: Inhaltliche Eckpunkte und sicherheitspolitische Implikationen Laut Medienberichten21 werden die bislang vor allem für Katastrophenfälle vorgesehenen und nur leicht bewaffneten Sicherheitskräfte des Kosovo (Kosovo Security Force) in eine reguläre und professionelle Armee umgewandelt.22 Diese Neuausrichtung klingt in dem 2019 verabschiedeten Gesetzespaket (s.o. 2.) sprachlich zunächst nicht an (vgl. dazu Fn. 1), d.h. die Bezeichnung der Truppe als „kosovarische Sicherheitskräfte“ wird aus politischen und verfassungsrechtlichen Gründen aufrechterhalten; eine Bezeichnung als „Armee“ wird dagegen vermieden. 4.1. Militärische Neuausrichtung Inhaltlich lässt sich dagegen nicht leugnen, dass die kosovarischen Sicherheitskräfte den Weg einer Transformation in Richtung einer professionell aufgestellten, multi-ethnischen Armee eingeschlagen haben. Verschiedene Artikel in den 2019 verabschiedeten Gesetzen machen diese Neuausrichtung deutlich: Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 06/L-123 über die Sicherheitskräfte des Kosovo definiert das Selbstverständnis der neuen Sicherheitskräfte wie folgt: “The Kosovo Security Force is a multi-ethnic, professional, armed and authorized military force to serve in the country and abroad, in accordance with given constitutional and legal competences.” Gem. Art. 4 des Gesetzes Nr. 06/L-123 erhalten die Sicherheitskräfte ein (militärisches) Mandat zur Landesverteidigung: “The Kosovo Security Force shall defend the sovereignty and territorial integrity, citizens, property and interests of the Republic of Kosovo.” Überdies haben die Sicherheitskräfte den Auftrag, an internationalen Operationen teilzunehmen . Art. 25 und 26 des Gesetzes Nr. 06/L-123 über die Sicherheitskräfte des Kosovo verleihen den Angehörigen der Sicherheitskräfte militärische Rangbezeichnungen und Uniformen; Art. 22 bis 24 sehen eine militärische Kommandostruktur der Sicherheitskräfte vor. Zu den Pflichten der Angehörigen der kosovarischen Sicherheitskräfte gehört nach Art. 26 des Gesetzes Nr. 06/L-124 über den Dienst in den Sicherheitskräften, die „Ehre und Würde eines Soldaten zu wahren.“ 21 S.o. Fn. 2. 22 Vgl. zur Rechtslage und zu den Aufgaben der bisherigen Sicherheitskräfte des Kosovo das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 2 - 3000 - 193/18 vom 18. Januar 2019, „Völker- und verfassungsrechtliche Bewertung der Sicherheitskräfte des Kosovo“, S. 4, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/631882/030ae5e724e6fe2fed9a4bac9a1496c0/WD-2-193-18-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 9 4.2. Primat der Politik Oberbefehlshaber der kosovarischen Sicherheitskräfte ist der Präsident der Republik Kosovo (Art. 16 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 06/L-123); die Sicherheitskräfte unterstehen dem politischen Primat des Premierministers und der Regierung (Art. 17 Abs. 1 und Art. 18 des Gesetzes Nr. 06/L-123). Eine besondere Rolle für die kosovarischen Sicherheitskräfte nimmt zudem der Sicherheitsrat des Kosovo ein (Art. 127 Kosovo-Verf. i.V.m. Art. 19 des Gesetzes Nr. 06/L-123). 4.3. Weiter Verteidigungsbegriff Auffällig ist der in Art. 4 des Gesetzes Nr. 06/L-123 verankerte – im Vergleich zu Art. 87a GG – ausgesprochen weite Verteidigungsbegriff, der neben dem Territorium auch die Souveränität des Staates, dessen Bevölkerung und Besitztümer (im In- und Ausland) sowie die Interessen des Kosovo umfasst. Die Norm eröffnet den Sicherheitskräften einen weiten Handlungsspielraum. 4.4. Verfassungsrechtliche Einbindung und parlamentarische Kontrolle der Sicherheitskräfte Gleichzeitig erscheinen die neuen kosovarischen Sicherheitskräfte – anders als die ehemalige Befreiungsarmee UÇK – in besonderer Weise verfassungsrechtlich eingebunden: Sie unterstehen einer zivilen demokratischen Kontrolle (Art. 14 des Gesetzes Nr. 06/L-123 über die kosovarischen Sicherheitskräfte),23 sind politisch neutral (Art. 6 des Gesetzes Nr. 06/L-123) sowie dem Gesetz verpflichtet (Art. 8 des Gesetzes Nr. 06/L-123).24 Die Ausübung militärischer Gewalt durch die Sicherheitskräfte wurde spezialgesetzlich geregelt (Art. 10 des Gesetzes Nr. 06/L-123). Art. 15 verankert umfangreiche Kontrollrechte des kosovarischen Parlaments über die Sicherheitskräfte , die denen des Deutschen Bundestags in nichts nachstehen (Parlamentsarmee). Vorgesehen sind neben budgetären und Untersuchungsrechten z.B. auch ein Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze. Gem. Art. 15 des Gesetzes Nr. 06/L-123 hat das Parlament die Kompetenz: 1. to exercise parliamentary democratic control over the Kosovo Security Force; 2. to oversee and investigate all matters related to the organization, financing, personnel, equipment and deployment of the Kosovo Security Force to operations overseas; 3. to adopt the annual budget and the long-term ten year plan of the Kosovo Security Force; 4. to approve the deployment of the Kosovo Security Force in international operations; (…) 6. to approve rules of engagement for deployment of the KSF in international operations.” 23 Art. 14 des Gesetzes Nr. 06/L-123 lautet: “The Kosovo Security Force shall be subject to civilian democratic control, rule of law and international obligations.” 24 Art. 8 des Gesetzes Nr. 06/L-123 lautet: “(2) The Kosovo Security Force Members exercise their powers and perform their duties in a lawful manner, based on the Constitution, this Law and legislation in force as well as the Code of Conduct and Disciplinary Code. (3) During the service outside the territorial borders of the Republic of Kosovo, the Kosovo Security Force members shall be subject to the laws of the Republic of Kosovo and international agreements.” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 10 4.5. Beschwerderechte für Angehörige der Sicherheitskräfte Art. 27 des Gesetzes Nr. 06/L-124 über den Dienst in den Sicherheitskräften enthält interne Beschwerderechte der Angehörigen der kosovarischen Sicherheitskräfte: „Every KSF member is entitled to file a complaint for any alleged violation of his/her rights regarding the KSF service.“ Art. 25 dieses Gesetzes bekräftigt “the right to individually file claim or complaint for unlawful action by superiors in cases when their rights are violated and their review by chain of command in fairly manner and without prejudice for current and future career perspectives.” 4.6. Sicherheitspolitische Implikationen und Einbettung der Sicherheitskräfte in das internationale Recht Über die Implikationen der neuen kosovarischen Sicherheitskräfte für die Stabilität und Sicherheit auf dem Westbalkan lassen sich derzeit – wenige Monate nach Inkrafttreten des Gesetzespakets – noch keine fundierten Vorhersagen treffen. Hervorzuheben sind jedoch einige Bestimmungen der Verfassung über die Rolle der kosovarischen Sicherheitskräfte und ihre Einbettung in das internationale Recht. Art. 125 Kosovo-Verfassung, der sich mit dem Sicherheitssektor befasst, bestimmt: “(2) The [security] institutions shall operate in full transparency and in accordance with internationally recognized democratic standards and human rights (…). (3) The Republic of Kosovo fully respects all applicable international agreements and the relevant international law and cooperates with the international security bodies and regional counterparts.” Hinzuweisen ist überdies auf die enge Zusammenarbeit zwischen dem Sicherheitsrat des Kosovo , der für die strategischen Entscheidungen zuständig ist, und internationalen Organen (Art. 127 Abs. 3 Kosovo-Verf.). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 065/19 Seite 11 Die genannten Normen sind Ausdruck einer offensichtlichen Völkerrechtsfreundlichkeit der kosovarischen Rechtsordnung (Vorrang des Völkerrechts vor innerstaatlichem Recht, Respektierung der Menschenrechte, internationale Integration), die in vielen Bestimmungen der Kosovo- Verfassung anklingt.25 Von der „Papierform“ her erfahren die neuen kosovarischen Sicherheitskräfte also eine starke verfassungs- und völkerrechtliche Einbettung sowie demokratische Kontrolle durch das kosovarische Parlament. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die kosovarischen Abgeordneten ihre Kompetenzen gegenüber den Sicherheitskräften in der Praxis wahrnehmen werden. Die internationale Einbettung der kosovarischen Sicherheitskräfte könnte – ähnlich wie die internationale Integration der 1955 gegründeten Bundeswehr – einen Vertrauensvorschuss mit sich bringen und am Ende zur Stabilisierung der angespannten Lage auf dem Westbalkan beitragen. *** 25 Die einschlägigen Verfassungsbestimmungen lauten: “The Republic of Kosovo, in order to maintain peace and to protect national interests, may participate in systems of international security” (Art. 2 Abs. 3) “The exercise of public authority in the Republic of Kosovo shall be (…) with full respect for internationally recognized fundamental human rights and freedoms” (Art. 3 Abs. 2) “The Republic of Kosovo shall respect international law” (Art. 16 Abs. 3) “The Republic of Kosovo participates in international cooperation for promotion and protection of peace, security and human rights” (Art. 17 Abs. 2) „Ratified international agreements and legally binding norms of international law have superiority over the laws of the Republic of Kosovo“ (Art. 19 Abs. 2) “The Republic of Kosovo may on the basis of ratified international agreements delegate state powers for specific matters to international organizations” (Art. 20 Abs. 1) “Human rights and fundamental freedoms guaranteed by the following international agreements and instruments are guaranteed by this Constitution, are directly applicable in the Republic of Kosovo and, in the case of conflict, have priority over provisions of laws and other acts of public institutions” (Art. 22).