© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 064/16 Frage zum Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Perinçek gegen die Schweiz (2015) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 2 Frage zum Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Perinçek gegen die Schweiz (2015) Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 064/16 Abschluss der Arbeit: 28. April 2016 (auch Zugriff auf Onlinequellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Keine ausdrückliche Positionierung des EGMR zur Einordnung als Völkermord 5 3. Zur Frage einer indirekten Positionierung der Großen Kammer des EGMR bezüglich der Einordnung als Völkermord 7 3.1. Ansatzpunkte im Urteil der Großen Kammer 8 3.1.1. Unterscheidung zwischen Holocaustleugnung und Leugnung des Armenischen Genozids 9 3.1.2. Vergleich der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten 11 3.2. Sondervoten 11 3.2.1. Sondervotum der Richterin Nußberger 11 3.2.2. Sondervotum der Richterinnen und Richter Spielmann, Casadevall, Berro, De Gaetano, Sicilianos, Silvis und Kūris 12 3.3. Kommentierungen in Literatur und Fachblogs 13 3.4. Fazit 14 4. Literaturverzeichnis 16 4.1. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 16 4.2. Literatur, Fachblogs und sonstige Onlinequellen 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 4 1. Einführung In seinen Urteilen in der Sache Perinçek gegen die Schweiz (Nr. 27510/08)1 befasste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – nicht zum ersten Mal2 – mit einem Sachverhalt , der mittelbar den Völkermord an Armenierinnen und Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts betraf. Gegenstand der Beschwerde war die Verurteilung des türkischen Staatsangehörigen Doğu Perinçek durch das Bezirksgericht Lausanne wegen Leugnung des armenischen Genozids unter Art. 261bis Art. 4 (Rassendiskriminierung) des Schweizer Strafgesetzbuches3. Grundlage der Verurteilung waren drei öffentliche Äußerungen Perinçeks, die nach Auffassung des Gerichts unter anderem zum Ausdruck brachten, dass der Beschwerdeführer die Massendeportationen der und Massaker an Armenierinnen und Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 nicht als Völkermord ansehe.4 Die Große Kammer des EGMR entschied in einem langen, ausführlich begründeten Urteil mit zehn zu sieben Stimmen, dass die Schweiz gegen das Recht auf freie Meinungsäußerungen (Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK]) verstoßen habe und bestätigte damit im Ergebnis das Kammerurteil. Nach Auffassung der Mehrheit der Richterinnen und Richter der Großen Kammer war die Verurteilung und Bestrafung Perinçeks für seine öffentlichen Äußerungen in Anbetracht aller in Betracht zu ziehenden Umstände5 im Ergebnis nicht notwendig, um die Rechte der armenischen Gemeinde in der Schweiz zu schützen, und damit nicht nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt.6 1 EGMR, Perinçek gegen die Schweiz, Beschwerde-Nr. 27510/08, Kammerurteil vom 17.12.2013, Urteil der Großen Kammer vom 15.10.2015, beide abrufbar unter hudoc.echr.coe.int. 2 Siehe hierzu die Nachweise des EGMR im Urteil der Großen Kammer (EGMR-GK), Rn. 221 ff., in der Pressemitteilung , verfügbar über http://hudoc.echr.coe.int/eng-press, sowie in den Fragen und Antworten der Presseabteilung , Q & A Grand Chamber judgment in the case of Perinçek v. Switzerland (application no. 27510/08), http://www.echr.coe.int/Documents/Presse_Q_A_Perincek_ENG.pdf. 3 Dieser lautet: „… wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert oder aus einem dieser Gründe Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht, […] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“; https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation /19370083/index.html#a261bis. Für eine Zusammenfassung der Schweizer Entscheidung siehe Tarek Naguib, Leugnung des Völkermords an den Armeniern (Fall Doğu Perinçek), Stand: 20.12.2007, http://www.humanrights .ch/de/menschenrechte-schweiz/inneres/person/meinungsaeusserung/bger-6b-398-2007-2007-leugnung -genozids-armeniern-perinek?search=1. 4 Zum Sachverhalt siehe EGMR-GK (2015), Perinçek gegen die Schweiz, Rn. 10 ff. 5 Siehe dazu EGMR-GK (2015), Perinçek gegen die Schweiz, Rn. 196–280. 6 Prüfungspunkt: „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zum Schutz der Rechte anderer“, EGMR-GK (2015), Rn. 280. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 5 Vor dem Hintergrund der mit den Perinçek-Urteilen verbundenen öffentlichen Reaktionen, insbesondere der vielstimmigen Kritik am Kammerurteil von 2013, 7 stellt sich die Frage, ob und inwiefern der EGMR im Urteil der Großen Kammer Position dazu bezogen hat, ob es sich bei dem Massenmord von 1915 an Armenierinnen, Armeniern und Angehörigen anderer überwiegend christlicher Bevölkerungsgruppen auf dem Gebiet der heutigen Südosttürkei aus historischer und/oder juristischer Perspektive um einen Völkermord handelt.8 2. Keine ausdrückliche Positionierung des EGMR zur Einordnung als Völkermord Die Große Kammer hat ihren ausdrücklichen Ausführungen nach – ebenso wie die Kammer9 – keine Stellung dazu bezogen, ob es sich ihrer Auffassung nach bei dem Massenmord in der Südosttürkei 1915 und in den Folgejahren um einen Völkermord handelt. Zu Beginn seiner Ausführungen führt der EGMR zum Umfang des Falles (scope of the case) aus, dass er, anders als internationale Strafgerichtshöfe, nach Art. 19 und 32 Abs. 1 EMRK keinerlei rechtliche Befugnis zur Auslegung anderer völkerrechtlicher Verträge wie der Völkermordkonvention habe.10 Daraus zieht die Große Kammer in Übereinstimmung mit dem Kammerurteil11 mehrheitlich den Schluss, dass sie nicht nur – wie die Kammer ausführte – keine Stellung zur 7 Siehe für Reaktionen zum Kammerurteil etwa die Nachweise bei Paolo Lobba, A European Halt to Laws Against Genocide Denial?, European Criminal Law Review 2014, S. 59 ff., Fn. 3, zum Urteil der Großen Kammer Celia Luterbacher/Urs Geiser, European Court confirms Perinçek’s right to freedom of speech, bei swissinfo.ch, 15.10.2015. Zum Kammerurteil siehe ferner den vorsichtig zustimmenden Kommentar auf humanrights.ch vom 12.03.2014, Erstes EGMR-Urteil von 2013 zum Fall Perinçek gegen die Schweiz, http://www.humanrights .ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/perinek-unrecht-leugnung-armenier-voelkermordsverurteilt ?search=1; kritisch Stefan Schürer, Im Grenzbereich der freien Rede. Der Fall Perinçek und das Verbot der Völkermord-Leugnung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Zeitschrift für Schweizerisches Recht (zsr), Band 133 (2014), S. 347 ff.; Matthias Uffer, Befremdliches aus Strassburg: EGMR erlaubt Leugnen des Armenier-Genozids, in: JuWissBlog des Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e.V., https://www.juwiss .de/3-2014/. Zum Urteil der Großen Kammer siehe etwa den zustimmenden Kommentar auf humanrights .ch vom 15.10.2015, EGMR zum Fall Perincek: Auch die Grosse Kammer schützt die Meinungsäusserungsfreiheit , http://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle-dok/zweites-egmr-urteil-perincek ?search=1, kritisch etwa Hüseyin Çelik, Opfer einer Kampagne? Die Leugnung des Genozids an den Armeniern vor dem EGMR, 04.11.2015, in: JuWissBlog des Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht e.V., http://www.juwiss.de/81-2015/. 8 Andere Aspekte des Urteils der Großen Kammer werden in diesem Sachstand nur am Rande beleuchtet, soweit sie mit dieser Frage indirekt in Verbindung stehen. Für Urteilsbesprechungen siehe etwa die Nachweise in Fn. 7, insbesondere die weiterführenden Hinweise zur Bedeutung für die Rechtsanwendung bei Schürer (zum Kammerurteil ), Fn. 7, S. 360 ff.; für eine Zusammenfassung der Urteile siehe neben der Pressemitteilung des Gerichtshofs die Seite des Projekts Global Freedom of Expression der Columbia University, https://globalfreedomofexpression .columbia.edu/cases/ecthr-perincek-v-switzerland-no-2751008-2013/, m. w. N. 9 Siehe dazu etwa Schürer, Fn. 7, S. 348, für eine ausführliche Besprechung auch Lobba, Fn. 7, S. 64 ff. 10 EGMR-GK (2015), Rn. 101. 11 EGMR (2013), Rn. 111. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 6 Einstufung als Völkermord beziehen müsse, sondern dass ihr schon rein völkerrechtlich die Autorität fehle, sich dazu in der einen oder anderen Richtung in rechtlich bindender Weise zu äußern : „102. It follows that in the present case the Court is not only, as noted by the Chamber in paragraph 111 of its judgment, not required to determine whether the massacres and mass deportations suffered by the Armenian people at the hands of the Ottoman Empire from 1915 onwards can be characterised as genocide within the meaning of that term under international law, but has no authority to make legally binding pronouncements, one way or the other, on this point.“12 In ihrem Urteil weist die Große Kammer ferner darauf hin, dass sie nicht entscheiden müsse, ob es grundsätzlich zulässig sei, die Leugnung von „Völkermorden oder anderen historischen Ereignissen “ unter Strafe zu stellen. Vielmehr sei sie an die Umstände des ihr zur Entscheidung vorliegenden Falles gebunden und müsse daher nur prüfen, ob die Anwendung des Schweizer Strafrechtstatbestands nach Art. 10 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt war: „226. In the present case, the Court is not required to determine whether the criminalisation of the denial of genocides or other historical facts may in principle be justified. Unlike the constitutional courts of France and Spain, which were entitled to – and indeed duty-bound – to examine the legislative provisions in this respect in the abstract (see paragraphs 95 and 97 above), in a case which has its origin in an individual application the Court is constrained by the facts of the case (see T. v. Belgium, cited above, at p. 169). It can thus only review whether or not the application of Article 261 bis § 4 of the Swiss Criminal Code in the case of the applicant was “necessary in a democratic society” within the meaning of Article 10 § 2 of the Convention (see National Union of Rail, Maritime and Transport Workers v. the United Kingdom, no. 31045/10, § 98, ECHR 2014).”13 Möglicherweise unter dem Eindruck der Kritik am Kammerurteil14 und aufgrund der besonderen politischen Bedeutung gab zudem die Presseabteilung ungewöhnlicherweise noch eine Erklärung des Urteils mit Fragen und Antworten heraus, die diesen Eindruck ausdrücklich bestätigen. Hierin heißt es: „Did the Court say that the massacres suffered by the Armenian people at the hands of the Ottoman Empire from 1915 onwards were genocide or not? In its judgment, the Court underlined that it was neither required to answer that question, nor did it have the authority – unlike international criminal courts, for instance – to make legally binding pronouncements on this point. […] Does the Court’s finding that Mr Perinçek’s rights under Article 10 were violated mean that States cannot outlaw genocide denial? The Court was not required to determine whether the criminalisation of the denial of a genocide or other historical facts could in principle be justified. It was only in a position to review whether or 12 EGMR-GK (2015), Rn. 102. Hervorhebungen der Verfasserin. 13 EGMR-GK (2015), Rn. 226. Hervorhebungen der Verfasserin. 14 Siehe dazu oben in der Einführung (1.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 7 not the application of the Swiss Criminal Code in this case had been in conformity with Article 10.“15 3. Zur Frage einer indirekten Positionierung der Großen Kammer des EGMR bezüglich der Einordnung als Völkermord In der Fachwelt wurde bereits nach Verkündung des Kammerurteils diskutiert, inwieweit das Urteil indirekt eine Positionierung des Gerichtshofs erkennen lässt.16 Angeknüpft wurde hierbei insbesondere an folgende Äußerung der Kammer: „117. In any event, it is even doubtful that there can be a “general consensus”, particularly among academics, about events such as those in issue in the present case, given that historical research is by definition subject to controversy and dispute and does not really lend itself to definitive conclusions or the assertion of objective and absolute truths (see, to similar effect, the Spanish Constitutional Court’s judgment no. 235/2007, referred to in paragraphs 38-40 above). In this connection , a clear distinction can be made between the present case and cases concerning denial of crimes relating to the Holocaust …“.17 Aus dieser Passage und der vorausgehenden Herleitung18 ist abgeleitet worden, dass die Kammer jenseits der juristischen Einordnung bezweifle, dass Konsens über die historische Einordnung der Fakten bestehe, und damit die Ereignisse von 1915 indirekt relativiere.19 Andere legen die Passage dahin gehend aus, dass die Kammer lediglich zum einen die Tauglichkeit des Schweizer Kriteriums des „allgemeinen Konsenses“ in Hinblick auf komplexe juristischen Fragen in Frage stelle, zum anderen daran zweifle, dass es in der diskursorientierten und offenen Wissenschaft 15 Presseabteilung, Q & A Grand Chamber judgment, Fn. 2. Interessant ist hier, dass die Handreichung – im Gegensatz zur üblichen Praxis bei Pressemitteilungen der Kanzlei – keinen Hinweis darauf enthält, dass die Antworten den Gerichtshof nicht binden. 16 Die Richterin Nußberger geht in ihrem Sondervotum zum Urteil der Großen Kammer davon aus, dass diese Passage des Kammerurteils zumindest in diesem Sinne missverstanden werden könnte: Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Nussberger, EGMR-GK (2015), S. 118. Siehe ferner Uffer, Fn. 7. 17 EGMR (2013), Rn. 117. Hervorhebungen der Verfasserin. Siehe hierzu auch die ausführliche deutsche Zusammenfassung des Österreichischen Instituts für Menschenrechte, erhältlich über hudoc.echr.coe.int, S. 3 f.: „Jedenfalls ist zweifelhaft, dass über Ereignisse wie die hier vorliegenden insbesondere ein wissenschaftlicher Konsens besteht, ist doch die historische Suche per definitionem kontrovers und diskussionswürdig und eignet sich kaum für endgültige Schlussfolgerungen und objektive und absolute Wahrheitsansprüche. Der vorliegende Fall unterscheidet sich daher klar von Fällen betreffend die Leugnung des Holocausts.“ 18 Die Kammer erklärte u. a., dass weltweit nur rund 20 Staaten eine Anerkennung ausgesprochen hätten und auch in der Schweiz nur der Nationalrat und nicht die Regierung, EGMR (2013), Rn. 115. Hierzu ausführlich und kritisch Schürer, Fn. 7, S. 351. 19 So i. E. wohl Schürer, Fn. 7, S. 355; sehr kritisch auch Uffer, Fn. 7: „extensive Geschichtsabstinenz, welche er zusätzlich mit pauschaler Wissenschaftsskepsis begründet“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 8 jemals einen solchen Konsens geben könne.20 Unabhängig von aller Bewertung schien die Kammer durch die Art ihrer Differenzierung zwischen der Shoah und den Vorgängen in der heutigen Südosttürkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sicherheit der geschichtlichen Faktenbasis als maßgebliches Unterscheidungskriterium für den Umgang mit historischen Ereignissen entwickelt zu haben.21 In Hinblick auf die Sondervoten zur Kammerentscheidung22 war in der Fachwelt mit Spannung erwartet worden, wie die Große Kammer mit diesen Ausführungen umgehen würde und ob sich auch aus ihrem Urteil eine Tendenz ablesen lassen würde. Beleuchtet werden zunächst die Ansatzpunkte für eine Positionierung im Urteil der Großen Kammer (3.1.), die sodann durch die abweichenden Auffassungen dazu in den Minderheitsvoten kontrastiert werden (3.2.). Danach wird ergänzend auf die Rezeption der Entscheidung in der Fachwelt Bezug genommen (3.3.). 3.1. Ansatzpunkte im Urteil der Großen Kammer Die Große Kammer hält die Verurteilung des Beschwerdeführers dann für gerechtfertigt, wenn Rechte anderer – hier die Rechte der Armenierinnen und Armenier auf Respekt ihrer Menschenwürde und der Würde ihrer Vorfahren (Art. 8 EMRK: Schutz des Privatlebens) – durch Strafvorschriften geschützt werden durften und wenn nach Abwägung der Rechte aus Art. 10 und Art. 8 EMRK diese Rechte anderer die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers überwiegen.23 Dabei hänge das Gewicht des jeweiligen Rechts vom Einzelfall ab, insbesondere von - den jeweils betroffenen Aspekten der beiden kollidierenden Rechte, - der Notwendigkeit des Eingriffs bzw. des Schutzes hinsichtlich jedes einzelnen Aspekts und - der Verhältnismäßigkeit (Zweck-Mittel-Relation).24 Hierfür zieht der Gerichtshof folgende Kriterien als Prüfungsmaßstäbe heran: 1. Art der Äußerungen des Beschwerdeführers (Rn. 229–241) 2. Kontext, unterteilt nach geografischen, historischen und zeitlichen Faktoren (Rn. 242– 250) 3. Schwere der Beeinträchtigung der Betroffenenrechte (Rn. 251–254) 20 Lobba, Fn. 7, S. 65. 21 Christos L. Giannopoulos, La Grande Chambre en quête d’un nouveau modus operandi ?, in: La Revue des droits de l’homme (Onlineausgabe), 25.11.2015, http://revdh.revues.org/1727, S. 2 ff., S. 10, Rn. 56, mit Verweis auf das Sondervotum der Richterin Nußberger. 22 Joint Concurring Opinion of Judges Raimondi and Sajó und Joint Partly Dissenting Opinion of Judges Vučinić and Pinto de Albuquerque, zu finden im Anhang des Kammerurteils ab S. 53. 23 EGMR-GK (2015), Rn. 227 f. 24 EGMR-GK (2015), Rn. 228. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 9 4. Grad der Übereinstimmung der EMRK-Vertragsstaaten hinsichtlich der Strafbarkeit solcher Äußerungen (Rn. 255–257) 5. völkerrechtliche Verpflichtung des betroffenen Vertragsstaats zur Bestrafung solcher Äußerungen (Rn. 258–268) 6. Methoden und Urteilsbegründung der nationalen Gerichte (Rn. 269–271) 7. Schwere des Eingriffs in die Meinungsfreiheit (Rn. 272–273).25 Ansatzpunkte für eine Positionierung bieten vor allem die Aspekte 2, 3 und 4, wobei die ersten beiden Punkte wegen der ähnlichen Herangehensweise der Großen Kammer gemeinsam (3.1.1.) betrachtet werden können. 3.1.1. Unterscheidung zwischen Holocaustleugnung und Leugnung des Armenischen Genozids Hinsichtlich des Kontextes (Aspekt Nr. 2) unterscheidet auch die Große Kammer zwischen der Shoah und anderen historischen Ereignissen. Der Gerichtshof betont, dass er die Rechtfertigung der Bestrafung der Holocaustleugnung eher vom historischen Zusammenhang ableite als davon, dass es sich bei der Shoah um einen „eindeutig bewiesenen historischen Umstand“ handele.26 Holocaustleugnung sei – auch unter dem Deckmantel scheinbar objektiver Forschung – in den bislang vom EGMR untersuchten Staaten untrennbar mit antidemokratischer Einstellung und Antisemitismus (und damit letztlich mit der Anstiftung zum Rassenhass) verbunden und daher doppelt gefährlich.27 Betroffene Staaten, wie u. a. Deutschland und Österreich, könnten eine besondere moralische Verantwortung geltend machen, sich – auch mit Mitteln des Strafrechts – von diesen in ihren Ländern oder auf ihrem Boden begangenen oder unterstützten Verbrechen zu distanzieren.28 Eine solche direkte Verbindung zwischen dem Staat, der die Leugnung unter Strafe stellt, und dem historischen Ereignis scheint der EGMR auch für andere Ereignisse der Vergangenheit vorauszusetzen .29 Dabei erkennt der EGMR an, dass eine solche Verbindung grundsätzlich auch in 25 Ebd. 26 Dies könnte ein indirekter Bezug auf die oben zitierte Passage des Kammerurteils (dort Rn. 117) sein, wobei es die Große Kammer vermeidet, auf die kritisierte Passage näher einzugehen und Stellung zu der Frage der Einstufung als Völkermord zu beziehen. So jedenfalls die Richterin Nußberger in ihrem Sondervotum, wonach sich die Große Kammer hiermit von der Herangehensweise der Kammer distanziere: Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Nussberger, EGMR-GK (2015), S. 118. Jedenfalls greift der EGMR dieses kritisierte Kriterium der Kammer in der Folge nicht mehr auf. 27 Erläuternd hierzu – noch zum Kammerurteil – Schürer, Fn. 7, S. 359 ff., der darauf verweist, dass „unter dem Deckmantel der Wahrheitssuche eine Gruppe herabgewürdigt“ werde (S. 359), wodurch die „Aussagen aus der Debatte um die Vergangenheit [herausgelöst]“ werde (S. 358). 28 EGMR-GK (2015), Rn. 243. 29 EGMR-GK (2015), Rn. 244. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 10 der (nachgewiesenen) Präsenz einer Gemeinschaft von Betroffenen oder Überlebenden auf dem Staatsgebiet bestehen könne.30 Auch wenn es der Gerichtshof grundsätzlich als legitim erachtet, die Rechte der Überlebenden von Massenverbrechen weltweit zu verteidigen, sei eine Maßnahme nach Art. 10 Abs. 2 EMRK nach ständiger Rechtsprechung nur dann verhältnismäßig, wenn zwischen diesem legitimen Zweck und den staatlichen Maßnahmen eine rationale Verbindung (rational connection) bestehe. Die Maßnahme – hier: die Bestrafung der Leugnung des Völkermordes – müsse bei vernünftiger Betrachtungsweise dazu geeignet sein, das gewünschte Ergebnis zu erreichen .31 Im konkreten Fall ist aus Sicht der Großen Kammer nicht nachgewiesen, inwiefern die Äußerungen des Beschwerdeführers zu größerer Feindseligkeit gegenüber der armenischen Minderheit in der Schweiz oder seine Bestrafung zum Schutz ihrer Rechte oder zu ihrer Sicherheit beigetragen hätten.32 Zeitlich geht der EGMR davon aus, dass das Bedürfnis der Kriminalisierung und Regulierung der Äußerungen zu historischen Ereignissen trotz vorhandener Traumatisierung und Übertragung von Traumata mit Zeitablauf abnehme. Da es zur Zeit der Aussagen des Beschwerdeführers 90 Jahre nach den Ereignissen kaum noch Überlebende gegeben habe, müsse das Element der zeitlichen Distanz trotz der Bedeutung für die Nachfahren mildernd berücksichtigt werden.33 Zum Aspekt Nr. 3 führt die Große Kammer in Fortsetzung dieser Argumentation aus, dass sie trotz der großen Bedeutung der Ereignisse von 1915 und ihrer historischen und rechtlichen Einordnung für die armenische Gemeinschaft nicht erkennen könne, dass die konkreten Aussagen des Beschwerdeführers die Würde der Betroffenen und ihrer Nachfahren oder ihre Gruppenidentität derart verletzten, dass dies strafrechtliche Maßnahmen der Schweiz erfordert habe. Die Äußerungen hätten sich nicht gegen die Betroffenen gerichtet und seien von begrenzter Auswirkung gewesen. Wegen des zeitlichen Abstandes zu den Ereignissen von 1915 könne deshalb jedenfalls in diesem Einzelfall nicht von außergewöhnlich starken Auswirkungen ausgegangen werden.34 30 Ebd. Die Situation der betroffenen Gruppe in einem anderen Land (hier: armenische Minderheit in der Türkei) genügt dagegen aus Sicht des EGMR nicht ohne Weiteres, sofern die Äußerungen keine nachweisbaren negativen Auswirkungen auf die Lage dort gehabt hätten, auf denen auch die Verurteilung beruht, Rn. 245, 244. 31 EGMR-GK (2015), Rn. 245 m.w.N. 32 Ebd. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist hinzuzufügen, dass der EGMR bei der Auslegung der Äußerungen zu dem Schluss kam, dass der Beschwerdeführer keine Hassrede gegen Armenierinnen und Armenier geführt habe, sie nicht der Lüge bezichtigt oder beschimpft habe und dass sich seine Äußerungen ausdrücklich nicht gegen Betroffene, sondern gegen „die Imperialisten“ gerichtet habe. Siehe dazu Punkt 1, EGMR-GK (2015), Rn. 229–241. Es lag also aus seiner Sicht keine qualifizierte Leugnung vor, die ggf. zu einer anderen Bewertung geführt hätten. Siehe zur Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Leugnung Thomas Hochmann, Négationnisme du génocide arménien : défauts et qualités de l’arrêt Perinçek contre Suisse, Revue des Droits et Libertés Fondamentales 2015, Nr. 27, http://www.revuedlf.com/cedh/negationnisme-du-genocide-armeniendefauts -et-qualites-de-larret-perincek-contre-suisse/, Abschnitt II A m. w. N. 33 EGMR-GK (2015), Rn. 250. 34 EGMR-GK (2015), Rn. 251–256. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 11 Solche starken Auswirkungen für die Betroffenen habe der Gerichtshof – aufgrund der o. a. Besonderheiten – ohne spezifische Beweise nur für den Fall der Holocaustleugnung angenommen.35 Die Shoah nimmt hiermit auch weiterhin eine Sonderstellung in der Rechtsprechung des Gerichtshofes ein. Gleichzeitig lässt sich jedoch aus diesen Ausführungen der Großen Kammer über eine Differenzierung zwischen der Shoah und anderen Völkermorden bzw. anderen historischen Ereignissen im Umkehrschluss nicht ableiten, ob bzw. inwiefern der EGMR die Ereignisse von 1915 als Völkermord qualifiziert. Vielmehr scheinen die Elemente der (landes-geschichtlichgeographischen Verbindung des Ereignisses mit dem begutachteten Staat sowie – für die Bewertung aus Sicht der Betroffenen – des Zeitablaufs seit den Ereignissen und der Art der Beeinträchtigung der Betroffenenrechte durch die Äußerungen für alle anderen geschichtlichen Ereignisse unabhängig von Ihrer Einordnung als Völkermord zu gelten. 3.1.2. Vergleich der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten Hinsichtlich des Aspekts Nr. 4 ist auszuführen, dass der EGMR – entsprechend des von ihm bestimmten Fallzuschnitts – seinen Vergleich der Rechtsordnungen der Vertragsstaaten auf die Frage beschränkt, welche Staaten die „Leugnung geschichtlicher Ereignisse“ unter Strafe stellen und hinsichtlich welcher historischen Ereignisse (z. B. Shoah, nationalsozialistische und sowjetische Verbrechen, alle Völkermorde) sie dies tun. Welche Mitgliedstaaten die im Jahr 1915 beginnenden Massenmorde rechtlich als Völkermord einordnen, ist dagegen gerade nicht Gegenstand seiner Prüfung. Die Große Kammer kommt zu dem Schluss, dass nur wenige Staaten wie die Schweiz die (einfache) Leugnung aller Völkermorde oder einer weiter gehenden Zahl von historischen Massenverbrechen unter Strafe stellen. Deswegen könne der Frage keine herausgehobene Bedeutung in der Argumentation einnehmen.36 3.2. Sondervoten 3.2.1. Sondervotum der Richterin Nußberger In ihrer teilweise abweichenden Auffassung vertritt die deutsche Richterin Nußberger die Auffassung , dass lediglich eine verfahrensrechtliche Verletzung von Art. 10 EMRK vorliege.37 Insbeson- 35 EGMR-GK (2015), Rn. 253 m.w.N. Hier spiegelt sich die oben angesprochene Doppelnatur bzw. Vermutung des EGMR wider, dass sich (nur) im Fall der Leugnung der Shoah immer ein Element des Antisemitismus und der rassistischen Diskriminierung bzw. der Anstiftung zum Rassenhass wiederfinde. 36 EGMR-GK (2015), Rn. 256 f. 37 Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Nussberger, EGMR-GK (2015), ab S. 117, zur verfahrensrechtlichen Verletzung wegen mangelnder Abwägung der Rechte und mangelhafter Rechtssicherheit, S. 119 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 12 dere nimmt sie Anstoß an dem Erfordernis einer direkten geschichtlich-geographischen und zeitlichen Verbindung (3.1.1. und Rn. 243 ff. EGMR-GK [2015]). Ihrer Meinung nach handele es sich um eine gesellschaftliche Entscheidung, die Betroffenenrechte zu verteidigen, die der Gerichtshof zu akzeptieren habe. Unabhängig von der Zeitspanne und von direkter Verbindung zum Geschehen und zu den Betroffenen müsse es jeder Gesellschaft weltweit möglich sein, sich durch Strafgesetze solidarisch mit Überlebenden von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erklären, solange diese hinreichend bestimmt seien und aus einer offenen, transparenten Debatte hervorgingen.38 Jede Gesellschaft müsse in einem solchen Fall „frei sein, den Konflikt zwischen freier, unbeschränkter Debatte über historische Ereignisse und den Persönlichkeitsrechten der Opfer und ihrer Nachkommen in Übereinstimmung mit ihrer Vorstellung von historischer Gerechtigkeit beizulegen“.39 3.2.2. Sondervotum der Richterinnen und Richter Spielmann, Casadevall, Berro, De Gaetano, Sicilianos, Silvis und Kūris Sieben Richterinnen und Richter stellen in ihrem abweichenden Sondervotum dar, dass aus ihrer Sicht keine Verletzung von Art. 10 EMRK vorliege.40 In deutlichen Worten kritisieren sie die „bewusst ängstliche Herangehensweise“ der Großen Kammer und der Kammer in der Völkermordfrage , auch wenn diese Frage nach der „historischen Wahrheit“ an sich nicht Gegenstand des Falles sei. Aus ihrer Sicht sei es dennoch offensichtlich, dass die Massaker und Deportationen einen Völkermord darstellten: „That the massacres and deportations suffered by the Armenian people constituted genocide is self-evident. The Armenian genocide is a clearly established historical fact.1 To deny it is to deny the obvious.“41 Was den Fall angeht, sind die Richterinnen und Richter in sechs der oben aufgeführten sieben Kriterien uneins mit der Mehrheit. Insbesondere sehen sie in dem Erfordernis der zeitlich-räumlich -historischen Verbindung mit dem historischen einen Verstoß gegen den Erga-omnes-Charakter der Menschenrechte (erga omnes: gegenüber allen wirkend).42 Aus ihrer Sicht liefe die Rechtsauffassung der Mehrheit darauf hinaus, dass in Europa jeder außerhalb des Kontinents 38 Ebd., S. 119. 39 Ebd., S. 119. 40 Joint Dissenting Opinion of Judges Spielmann, Casadevall, Berro, De Gaetano, Sicilianos, Silvis and Kūris, EGMR-GK (2015), ab S. 121. 3.2.3. Ein weiteres Sondervotum des Richters Silvis, unterstützt durch die Richterinnen und Richter Judges Casadevall, Berro und Kūris, Additional Dissenting Opinion of Judge Silvis, Joined by Judges Casadevall, Berro and Kūris, EGMR-GK (2015), ab S. 126, befasst sich mit der weiteren, hier nicht beleuchteten Problematik der Anwendbarkeit von Art. 17 EMRK und bleibt deshalb unbeleuchtet. 41 Ebd., S. 121, Rn. 2. 42 Ebd., S. 123, Rn. 6–8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 13 (etwa in Ruanda oder Kambodscha) verübte Völkermord geleugnet werden dürfte.43 Aus der mangelnden Übereinstimmung der Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten hätte nach ihrer Auffassung allenfalls eine Vergrößerung des schweizerischen Beurteilungsspielraums hergeleitet werden dürfen.44 Auch die mangelnde Verpflichtung der Schweiz, Völkermordleugnung unter Strafe zu stellen, bezweifeln die Richterinnen und Richter unter Verweis auf hervordringendes regionales Gewohnheitsrecht.45 3.3. Kommentierungen in Literatur und Fachblogs Das Urteil der Großen Kammer hat bislang ein begrenztes und gemischtes Echo erfahren. Ausgewertet wurden überwiegend Beiträge in Fachblogs, da Urteilsbesprechungen in deutschen Fachzeitschriften (noch) weit gehend ausstehen. Diese Beiträge arbeiten verschiedene Punkte heraus: Leiser sind die Stimmen geworden, die auch nach dem Urteil der Großen Kammer noch von einer jedenfalls indirekten Positionierung oder Bewertung des EGMR in der Völkermord-Frage ausgehen .46 Stattdessen verlagert sich die Kritik47 auf die fachlichen Einschätzungen des Gerichtshofs und die neu entwickelten Unterscheidungskriterien der historisch-geographischen und zeitlichen Nähe, teilweise auch zur Sonderstellung der Shoah48. Kritisch aufgenommen wird insbesondere die überragende Bedeutung, die die Große Kammer dem zeitlichen Faktor – insbeson- 43 Ebd., S. 123, Rn. 7. 44 Ebd., S. 123, Rn. 9. 45 Ebd., S. 124, Rn. 10 f. 46 So allerdings Çelik, Fn. 7, der eine indirekte Bewertung der Ereignisse durch den EGMR annimmt: „… Obwohl er zunächst verneinente [sic!], nahm der Gerichtshof doch eine Bewertung der Ereignisse von 1915 vor, indem er den Konsens bezweifelte, auf den die Schweizer Gerichte ihre These abstützten, und die Zahl der Staaten als gering schätze, die den Massaker an Armeniern als Völkermord bezeichnen. Ohne seine eigene Meinung kundzutun , hat der Gerichtshof eine Bewertung vorgenommen, die der breiten Masse in der Türkei den Eindruck vermittelt, der Gerichtshof habe entschieden, die Ereignisse von 1915 seien kein Genozid; …“. Ähnlich im Ergebnis wohl auch Uladzislau Belavusau, Perinçek v. Switzerland: Between Freedom of Speech and Collective Dignity, in: Verfassungsblog, 05.11.2015, http://verfassungsblog.de/perincek-v-switzerland-between-freedomofspeech -and-collective-dignity/, m.w.N., der von einer Trivialisierung anderer historischer Ereignisse durch die Sonderstellung der Shoah ausgeht und rügt, dass der EGMR – unabhängig von der rechtlichen Bewertung – nicht die „notwendige Empörung“ hinsichtlich der Äußerungen des Beschwerdeführers zum Ausdruck gebracht habe. 47 Ausschließlich (zurückhaltendes) Lob ist allerdings im Beitrag „EGMR zum Fall Perincek: Auch die Grosse Kammer schützt die Meinungsäusserungsfreiheit“ auf humanrights.ch zu verspüren, siehe dazu Fn. 7. 48 Hierzu siehe u. a. Çelik, Fn. 7. Belavusau, Fn. 46, sieht hierin eine Hierarchisierung der Shoah und aller anderer Verbrechen. Siehe dazu ferner dens., Armenian Genocide v. Holocaust in Strasbourg: Trivialisation in Comparison , in: Verfassungsblog, 13.02.2014, http://verfassungsblog.de/armenian-genocide-v-holocaust-in-strasbourgtrivialisation -in-comparison/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 14 dere des Zeitraums zwischen leugnender Äußerung und historischem Ereignis – als Unterscheidungskriterium bei der Beurteilung historischer Ereignisse zuzumessen scheint.49 Auch die geographisch -landesgeschichtliche Verbindung erfährt Widerspruch.50 Damit einher geht teilweise Kritik an der starken Beschränkung des staatlichen Beurteilungsspielraums bei der Frage der Kriminalisierung der Völkermordleugnung und damit am deutlichen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber den Persönlichkeitsrechten der Überlebenden und ihrer Nachfahren.51 Einzelne Stimmen gehen sogar davon aus, der Gerichtshof habe sich vor dem Hintergrund der türkischen Innenpolitik von einer Kampagne instrumentalisieren lassen.52 Durchaus positive Bewertung erfährt dagegen die Unterscheidung von (einfacher) Leugnung und (qualifizierter, grundsätzlich zu bestrafender) Leugnung durch Hassrede und/oder Aufforderung zum Rassenhass.53 Allerdings wird teilweise wiederum Kritik an der Auslegung und Einordnung der Aussagen des Beschwerdeführers geäußert.54 3.4. Fazit Auch wenn Indizien für eine indirekte Positionierung der Großen Kammer ins Feld geführt werden können, steht dem jedoch die ausdrücklich zum Ausdruck gebrachte Intention der Mehrheit der Mitglieder des Gerichtshofs entgegen, sich zur Frage des Völkermords eben nicht zu äußern. Rechtlich kaum beanstandet wird in der Fachwelt die Entscheidung, sich auf die Anwendung von Strafnormen gegen rassistische Diskriminierung auf die Leugnung der Massenmorde im konkreten Einzelfall zu konzentrieren. 49 Siehe hierzu u. a. Giannopoulos, Fn. 21, S. 9 f., Rn. 55 f unter Verweis auf das Sondervotum der Richterin Nußberger . 50 Hochmann, Fn. 32, Abschnitt I C, hält das landesgeschichtlich-geographische Kriterium mit weiteren Erläuterungen für nicht zielführend, betont aber, dass die Zusammensetzung einer Gesellschaft und ihre Geschichte immerhin Einfluss auf die Gefährdung der Rechte der Betroffenen, insbesondere ihren Schutz vor Gewalt oder Beschimpfungen, haben können. 51 Unter Verweis auf das Sondervotum der Richterin Nußberger siehe u. a. Giannopoulos, Fn. 21, S. 10, Rn. 58 f. Grundsätzlich positiv zum Vorrang der Meinungsfreiheit und zur „Zensurfreiheit“ bei der Bewertung historischer Ereignisse dagegen Belavusau, Fn. 46, und ders., Trivilization, Fn. 48. 52 Çelik, Fn. 7. 53 Grundsätzlich begrüßend wohl Roseline Letteron, Négation du génocide arménien et liberté d’expression, in: Libertés, Libertés chéries, 20.10.2015, http://libertescheries.blogspot.de/2015/10/negation-du-genocide-armenien -et.html; ausführlich Hochmann, Fn. 32, Abschnitt II A m. w. N. Dazu gehört auch die Aussage des Gerichtshofs , dass die Leugnung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche, also ohne weitere Elemente, – mit Ausnahme der Shoah – nicht unter Art. 10 EMRK gerechtfertigt sind. Siehe dazu Dirk Voorhoof, Criminal conviction for denying the Armenian genocide in breach with freedom of expression, Grand Chamber confirms, in: Strasbourg Observers, 19.10.2015, https://strasbourgobservers.com/2015/10/19/criminalconviction -for-denying-the-armenian-genocide-in-breach-with-freedom-of-expression-grand-chamber-confirms/. 54 So Belavusau, Fn. 46, der u.a. bemängelt, dass der EGMR – analog zum Antisemitismus – keinen „Anti-Armenismus “ anerkennt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 15 Eher rechtspolitisch mutet dagegen die einigen Kommentatorinnen und Kommentatoren sowie von den Sondervoten zu beiden Entscheidungen aufgeworfene Frage an, ob der Gerichtshof gerade durch seine Nichtäußerung zu große Vorsicht oder Diplomatie hat walten lassen, um dem Fall gerecht zu werden und eine Instrumentalisierung durch den Beschwerdeführer zu vermeiden . Ähnliches gilt für die Kritik an der Sonderstellung, die der EGMR der Shoah gegenüber anderen anerkannten Völkermorden bei der Würdigung der Betroffenheit von Opfergruppen zubilligt . Rückschlüsse auf die Anerkennung eines Ereignisses als Völkermord lassen sich ohne Weiteres weder aus dieser von der Mehrheit geteilten Auffassung noch aus den Sondervoten ziehen. Unabhängig davon lassen sich eine Reihe fachlicher Ausführungen und Schwerpunkte der Großen Kammer, etwa zur landesgeschichtlich-geographischen un zeitlichen Nähe als Indikatoren für die Schwere der Beeinträchtigung der Betroffenenrechte, sicherlich – entsprechend der Minderheitsvoten zu beiden Urteilen – rechtlich wie methodisch mit guten Argumenten kritisieren. Dies gilt in der Folge auch für die Entscheidung, die Rechte des Beschwerdeführers als überwiegend anzusehen. Vor dem Hintergrund des unterschiedlichen Umgangs mit der Leugnung historischer Fakten in den Vertragsstaaten sind beispielsweise die starke Beschränkung des staatlichen Beurteilungsspielraums und der Eingriff in gesellschaftliche Entscheidungen für die Rechtsprechung des EGMR durchaus nicht zwingend. Dies gilt auch für die enge Auslegung internationaler Verpflichtungen. Inwieweit diese Entscheidungen der Großen Kammer aber von dem Umstand entscheidend geprägt sind, dass es sich bei dem betrachteten historischen Ereignis um das Politikum des Armenischen Genozids handelt, bleibt jedoch spekulativ. Allein die Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung anhand der Leugnung anderer Völkermorde als der Shoah – vorzugsweise außerhalb des europäischen Kontinents – könnte darüber Aufschluss geben. Ende der Bearbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 064/16 Seite 16 4. Literaturverzeichnis 4.1. 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