© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 063/16 Auswirkungen des völkerrechtlichen Status der Westsahara auf das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht und das Asylverfahren in Deutschland Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 2 Auswirkungen des völkerrechtlichen Status der Westsahara auf das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht und das Asylverfahren in Deutschland Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 063/16 Abschluss der Arbeit: 25. Mai 2016 (auch letzter Zugriff auf die Internet-Quellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Historischer Abriss des Westsaharakonflikts 4 3. Das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht in der Westsahara 6 3.1. Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara 7 3.1.1. Verstoß gegen das Gewaltverbot 7 3.1.2. Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung 8 3.2. Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit durch die Sahrauis in der Westsahara 10 3.3. Humanitär-völkerrechtliches Verbot des Aufoktroyierens einer fremden Staatsangehörigkeit 11 4. Folgen für das deutsche Asylrecht 12 4.1. Keine Anerkennung der marokkanischen Besetzung der Westsahara 12 4.2. Mögliche Asylverfahren von Sahrauis 13 4.2.1. Mögliche Rückführung von Sahrauis 15 5. Zusammenfassung 16 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 4 1. Einleitung Vor dem Hintergrund der durch den Bundestag beschlossenen Einstufung Marokkos als sicheres Herkunftsland1 soll im Folgenden untersucht werden, inwieweit das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht in der Westsahara gilt und dies mit dem Völkerrecht – insbesondere der Stellung der Westsahara als sog. Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung – vereinbar ist. Schließlich soll beleuchtet werden, welche völkerrechtlichen Vorgaben und faktische Konsequenzen sich für die Asylverfahren von Bewohnern der Westsahara (im Folgenden: Sahrauis) in Deutschland ergeben. 2. Historischer Abriss des Westsaharakonflikts Zur Erläuterung der Historie des Streits um die Westsahara wird im Folgenden auf die Darstellung durch den Infobrief „Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara“ der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages2 zurückgegriffen. Das Gebiet der Westsahara stand bis 1975/76 unter spanischer Kolonialherrschaft3. Während der spanischen Herrschaft gründeten die Sahrauis zahlreiche Befreiungsorganisationen, aus denen die sog. Polisario-Front als wichtigste hervorging4. Nach ersten Militäraktionen der Polisario im Mai 19735 entschloss sich die spanische Regierung zur Entkolonialisierung der Westsahara und beabsichtigte, dieses Gebiet nach einem Referendum über die Selbstbestimmung in die Unabhängigkeit zu entlassen6. Gleichzeitig erhoben jedoch Marokko und Mauretanien Ansprüche auf die Westsahara7. Am 6. November 1975 initiierte König Hassan II. von Marokko einen Marsch von ca. 350.000 unbewaffneten marokkanischen Staatsbürgern in das Gebiet der Westsahara (sog. „Grüner Marsch“)8. 1 Der Bundestag hat am 13.05.2016 den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 18/8039 vom 06.04.2016, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/080/1808039.pdf) angenommen. Der nunmehr mit der Sache befasste Bundesrat hatte zuvor im Gesetzgebungsverfahren Zweifel an der geplanten Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer angemeldet, vgl. Anlage 3, S. 19 f., der BT-Drs. 18/8039. 2 Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 20.05.2011, WD 2 – 3010 – 129/11, S. 4 – 9. 3 Geldenhuys, Deon, Contested States in World Politics, 2009, S. 191; Arieff, Alexis, Western Sahara, Congressional Research Service, Report for Congress, 08.10.2014, S. 1, http://www.fas.org/sgp/crs/row/RS20962.pdf. 4 Geldenhuys (Fn. 3), S. 192. 5 MINURSO, Milestones in the Western Sahara Conflict, S. 1. 6 Geldenhuys (Fn. 3), S. 192. 7 Ebenda. 8 Geldenhuys (Fn. 3), S. 193. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 5 Spanien erklärte daraufhin am 14. November 1975 in einem Abkommen mit Marokko und Mauretanien (sog. Vertrag von Madrid), sich bis Ende Februar 1976 ganz aus dem Gebiet der Westsahara zurückzuziehen und für die Übergangszeit Marokko und Mauretanien an der Verwaltung der Westsahara zu beteiligen9. Am 26. Februar 1976 stimmten 65 der 102 anwesenden Mitglieder der von Marokko einberufenen gesetzgebenden Versammlung der Westsahara („Djemaa“) für die Ratifizierung des Abkommens10. Mit der militärischen Besetzung der Westsahara durch marokkanische und mauretanische Truppen ab Dezember 1975 begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen diesen Truppen und der Polisario11. Die zahlreichen sahrauischen Flüchtlinge fanden vor allem Aufnahme in Flüchtlingslagern in Algerien nahe der Grenze zur Westsahara12. Nachdem die letzten spanischen Beamten das Land verlassen hatten, rief die Polisario am 27. Februar 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus und bildete eine Exilregierung in Algerien13. Im April 1976 einigten sich Marokko und Mauretanien darauf, dass Marokko die nördlichen zwei Drittel und Mauretanien das südliche Drittel der Westsahara erhalten solle14. Nach Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit der Polisario im Jahr 1979 zog sich Mauretanien jedoch aus der Westsahara zurück, woraufhin marokkanische Truppen auch den südlichen Teil der Westsahara besetzten15. Zwischen 1980 und 1987 errichtete Marokko ein Schutzwallsystem, das sich über eine Länge von 2.500 km erstreckt und aus Erd- und Steinwällen mit Wachtürmen, Minenfeldern und elektronischen Sicherungseinrichtungen besteht16. Marokko hält seitdem rund 85 Prozent des Gebietes der Westsahara besetzt und hat dort viele seiner Staatsbürger angesiedelt17. 9 Oeter, Stefan, Die Entwicklung der Westsahara-Frage unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Anerkennung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 46 (1986), S. 48 – 74 (56). Das Abkommen bezeichnete die Übertragung der Verwaltungshoheit als „Errichtung einer Interimsverwaltung unter marokkanischer und mauretanischer Beteiligung“. 10 Geldenhuys (Fn. 3), S. 193. Die Polisario zweifelte die Zusammensetzung und Legitimität der Djemaa an und verwies auf die Forderung der VN nach Selbstbestimmung der Sahrauis unter Mitwirkung der VN. 11 MINURSO, Milestones in the Western Sahara Conflict, S. 2; Geldenhuys (Fn. 3), S. 195. 12 Oeter (Fn. 9), S. 57 f.. 13 MINURSO, Milestones in the Western Sahara Conflict, S. 2; Geldenhuys, Deon (Fn. 3), S. 194. Die Angaben über die Zahl der Staaten, die die DARS anerkennen, divergieren zum Teil erheblich, vgl. Geldenhuys (Fn. 3), S. 200, und Pabst, Martin, Verhärtete Fronten, in: Vereinte Nationen, 2005, S. 94. Unter den Staaten, welche die DARS anerkennen, befinden sich vor allem afrikanische und lateinamerikanische Staaten, bislang jedoch keine Mitglieder der Europäischen Union, vgl. den Artikel „Internationale Anerkennung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara, https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Anerkennung_der_Demokratischen_Arabischen_Republik_Sahara. 14 Geldenhuys (Fn. 3), S. 195. 15 Geldenhuys (Fn. 3), S. 195. 16 Oeter (Fn. 9), S. 58 f.; Geldenhuys (Fn. 3), S. 196; MINURSO, Milestones in the Western Sahara Conflict, S. 3. 17 Geldenhuys (Fn. 3), S. 196. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 6 1988 akzeptierten Marokko und die Polisario schließlich die Vorschläge der VN zur Beilegung des Westsahara-Streits. Diese Vorschläge sahen eine Übergangszeit vor, in der ein Sonderbeauftragter des VN-Generalsekretärs mit Unterstützung einer VN-Mission ein Referendum über die Zukunft der Westsahara organisieren sollte18. Die Übergangszeit sollte mit einem von den VN überwachten Waffenstillstand beginnen und mit der Verkündung der Ergebnisse des Referendums enden19. Mit Resolution vom 29. April 1991 setzte der VN-Sicherheitsrat die Mission für das Referendum in Westsahara (MINURSO) entsprechend dieser Vorschläge ein20. Der Waffenstillstand trat am 6. September 1991 in Kraft und hat seitdem im Wesentlichen gehalten21. Die Durchführung des Referendums scheiterte jedoch bis heute an der fehlenden Einigkeit über die Frage, welche Personen beim Referendum abstimmungsberechtigt sind22. 3. Das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht in der Westsahara Die Frage der Staatsangehörigkeit richtet sich nach den nationalen Gesetzen.23 Jeder Staat bestimmt selbst, wann jemand seine Staatsangehörigkeit erwirbt oder verliert. Die Staaten sind bei der Regelung ihrer Staatsangehörigkeit indes nicht völlig frei. Grenzen der Regelungsbefugnis ergeben sich insbesondere aus dem Völkerrecht.24 Fraglich ist, ob und ggf. wie sich in diesem Zusammenhang die Präsenz Marokkos in der Westsahara auf den Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit durch die Sahrauis auswirkt. 18 Report of the Secretary-General vom 18.06.1990 (S/21360), Rn. 47, abrufbar unter http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/21360. 19 Ebenda. 20 Die Resolution ist abrufbar unter http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/RES/690(1991). Die Mission wurde am 29.04.2016 für ein Jahr verlängert, http://www.un.org/press/en/2016/sc12346.doc.htm. 21 MINURSO, Milestones in the Western Sahara Conflict, S. 3; Gasser, Hans-Peter, The conflict in Western Sahara – an unresolved issue from the decolonization period, in: Fischer, Horst (Hrsg.), Yearbook of International Humanitarian Law 5 (2002), S. 375 – 380 (377). 22 Geldenhuys (Fn. 3), S. 197 f.. Streitig ist insbesondere, ob auch die marokkanischen Siedler zu den Abstimmungsberechtigten zählen. 23 Art. 2 Convention on certain questions relating to the conflict of nationality laws, Den Haag, 12.04.1930, englische Fassung abrufbar unter http://eudocitizen - ship.eu/InternationalDB/docs/Convention%20on%20certain%20questions%20relating%20to%20the%20confli ct%20of%20nationality%20laws%20FULL%20TEXT.pdf. Obwohl Marokko die Konvention weder unterzeichnet noch ratifiziert hat, handelt es sich bei dem Inhalt der Konvention um Völkergewohnheitsrecht, so dass diese auch für Marokko gilt. 24 Herdegen, Matthias, Völkerrecht, München 2015, S. 196, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 7 3.1. Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara 3.1.1. Verstoß gegen das Gewaltverbot Die Anwendung des marokkanischen Staatsangehörigkeitsrechts in der Westsahara ist eine Folge der Präsenz Marokkos in der Westsahara, in der ein Verstoß gegen das allgemeine Gewaltverbot gesehen werden könnte. Durch das allgemeine Gewaltverbot geschützt sind nach dem Wortlaut der VN-Charta Staaten, wobei es jedoch auf das Vorhandensein einer effektiven Staatsgewalt und eine Mitgliedschaft des betroffenen Staates bei den VN für die Anwendung des Gewaltverbots nicht ankommt25. Auch die DARS ist durch das Gewaltverbot geschützt. Das allgemeine Gewaltverbot wird verletzt durch staatlich zurechenbare bewaffnete oder militärische Gewalt, die sich gegen ein anderes Staatsgebiet richtet.26 Die Einnahme der Westsahara durch marokkanische Truppen lässt sich als eine Okkupation der Westsahara ansehen, die – anders als eine Annexion – auch einen wirksamen Gebietserwerb zur Folge haben kann.27 Eine völkerrechtswidrige Okkupation bewirkt indes keinen wirksamen Gebietserwerb28. Eine solche illegale Okkupation29 kann darüber hinaus einen Verstoß gegen das Gewaltverbot darstellen, wenn sie unter dem Einsatz von Gewalt erfolgt30. Die Okkupation setzt die Inbesitznahme eines Gebietes mit dem Willen voraus, effektiv Herrschaft auszuüben31. Weiterhin muss das betreffende Gebiet vom Gebietsvorgänger aufgegeben worden oder Niemandsland (sog. terra nullius) sein32, damit die Okkupation legal ist. Ein Gebiet ist Niemandsland, wenn es herren- bzw. staatenlos ist33. Maßgeblich für die Beantwortung dieser Frage ist, ob Spanien als Gebietsvorgänger Marokkos anzusehen ist und sich die Unterzeichnung des Vertrages von Madrid sich als Aufgabe der Westsahara durch Spanien deuten lässt. 25 Ipsen, Knut, Völkerrecht, München 2014, S. 1063, Rn. 18, 19. 26 Ipsen (Fn. 25), S. 1068, Rn. 29. 27 Vitzthum, Wolfgang Graf / Proelß, Alexander (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin 2013, S. 181, Rn. 140. 28 Vgl. das sog. Grönland-Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 05.04.1933, S. 64, abrufbar unter http://www.icj-cij.org/pcij/series-a-b.php?p1=9&p2=3. 29 Vgl. Ronen, Yaël, Illegal Occupation and its consequences, in: Israel Law Review, Volume 41 Issue 1-2, January 2008, S. 201 – 245, http://journals.cambridge.org/abstract_S0021223700000224. 30 Benvenisti, Eyal, The international law of occupation, Oxford 2012, S. 16, 17, 340. 31 Vitzthum (Fn. 27), S. 181, Rn. 139. 32 Ebenda. 33 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 8 Der Vertrag von Madrid sah die Errichtung einer Interimsverwaltung unter marokkanischer und mauretanischer Beteiligung vor, bis sich Spanien endgültig aus der Westsahara zurückgezogen hatte. Eine endgültige Aufgabe des Gebietes der Westsahara durch Spanien sollte daher wohl erst Ende Februar 1976 erfolgen, bis dahin wollte Spanien – zumindest in Kooperation – die Verwaltung der Westsahara fortführen34. Zum Zeitpunkt des Überfalls der Westsahara durch marokkanische Truppen hatte Spanien die Westsahara somit noch nicht aufgegeben. Damit lag eine illegale Okkupation vor, die weiterhin andauert35. Diese illegale Okkupation stellte einen Verstoß gegen das Gewaltverbot dar, weil Marokko ab Dezember 1975 mit bewaffneten Truppen gegen die Polisario vorging. 3.1.2. Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung Die Westsahara ist von den VN seit 1963 als sog. Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung („non-selfgoverning territory“) anerkannt36 und somit völkerrechtlich ein eigenständiges Hoheitsgebiet37. Die Stellung als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung hat gemäß Art. 73 VN-Charta zur Folge, dass das Mitglied der VN, welches die Verantwortung für die Verwaltung eines Hoheitsgebietes hat oder übernimmt („administering authority“), sich zu dem Grundsatz bekennt, dass die Interessen der Einwohner dieses Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung Vorrang haben. Aus der Einstufung eines Gebietes als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung folgen Pflichten für das Land, das dort die verwaltende Macht innehat. Beispielsweise übernehmen gemäß Art. 73 VN-Charta diejenigen Mitglieder der VN, die verwaltende Macht über ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung ausüben, die Aufgabe, die Selbstregierung des jeweiligen Landes zu entwickeln, die politischen Bestrebungen des Volkes gebührend zu berücksichtigen und es bei der fortschreitenden Entwicklung seiner freien politischen Einrichtungen zu unterstützen. 34 Dieser Schluss wird bestätigt durch den Inhalt des Briefes, den der Ständige Vertreter Spaniens bei den VN Ende Februar 1976 dem Generalsekretär der VN zukommen ließ, siehe sogleich im Abschnitt 4.3.. 35 Vgl. Benvenisti (Fn. 30), S. 56. Die Vereinbarung des Waffenstillstands kann wohl nicht als „Friedensvertrag“ angesehen werden, weil dadurch keine endgültige Beilegung des Konflikts bewirkt wird. 36 http://www.un.org/en/decolonization/pdf/Western%20Sahara%202015%20profile_15Dec2015.pdf. 37 So heißt es in der sog. Friendly-Relations-Deklaration der VN ausdrücklich: „Das Gebiet einer Kolonie oder eines anderen Hoheitsgebietes ohne Selbstregierung hat nach der Charter einen vom Hoheitsgebiet des Staates, von dem es verwaltet wird, gesonderten und unterschiedlichen Status; dieser gesonderte und unterschiedliche Status nach der Charter bleibt so lange bestehen, bis das Volk der Kolonie oder des Hoheitsgebiets ohne Selbstregierung sein Recht auf Selbstbestimmung im Einklang mit der Charta und insbesondere mit ihren Zielen und Grundsätzen ausgeübt hat“. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 9 Die VN erkannten zunächst Spanien als verwaltende Macht in der Westsahara an38. Am 26. Februar 1976 übersandte der Ständige Vertreter Spaniens bei den VN einen Brief an den VN- Generalsekretär, in dem die spanische Regierung erklärte, dass sie mit sofortiger Wirkung ihre Präsenz in der Westsahara beende39. Spanien betrachte sich nunmehr frei von jeder internationalen Verantwortung in Bezug auf die Verwaltung des Gebietes der Westsahara40. Unabhängig von der Frage, ob Spanien sich damit völkerrechtlich wirksam seiner Stellung als verwaltender Macht entledigen konnte41, ist die Westsahara inzwischen das einzige Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung , für das bei den VN kein anderer Staat als verwaltende Macht gelistet ist. Die Präsenz Marokkos in der Westsahara wird teilweise damit umschrieben, dass Marokko das Gebiet de facto verwalte42. Allerdings versteht sich Marokko nicht als verwaltende Macht der Westsahara im Sinne der VN-Charta. Die verwaltende Macht übernimmt gem. Art. 73 b) der VN- Charta die Vorbereitung der staatlichen Unabhängig des betreffenden Hoheitsgebietes. Eine staatliche Unabhängigkeit strebt Marokko für die Westsahara jedoch gerade nicht an. So äußerte König Mohammed VI. im Rahmen der marokkanischen Feierlichkeiten anlässlich des 39. Jahrestages des Grünen Marsches: Morocco will remain in its Sahara, and the Sahara will remain part of Morocco, until the end of time […]. We say ‘No’ to the attempt to change the nature of this regional conflict and to present it as a decolonization issue. Morocco is in its Sahara and never was an occupying power or an administrative power. 38 Resolution 2072 der VN vom 17.12.1965, https://documents-ddsny .un.org/doc/RESOLUTION/GEN/NR0/218/35/IMG/NR021835.pdf?OpenElement. 39 Brief vom 26.02.1976, S. 2, abrufbar unter http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/31/56. 40 Brief vom 26.02.1976, S. 3. Einen Tag später wurde die DARS ausgerufen. 41 Spanien ist nach Auffassung verschiedener Autoren weiterhin als de jure verwaltende Macht für die Westsahara anzusehen, vgl. Fastenrath, Ulrich, Art. 73 UN-Charter, in: Simma, Bruno (Hrsg.), The Charter of the United Nations, München 1994, S. 923 – 930 (S. 929, Rn. 16); Ruiz Miguel, Carlos, Spain’s legal obligations as administering power of Western Sahara, S. 251, http://www.unisa.ac.za/contents/faculties/law/docs/11miguel.pdf; Simon, Sven, Western Sahara, in: Walter, Christian, von Ungern-Sternberg, Antje, und Abushov, Kavus (Hrsg.), Self-Determination and Secession in international law, Oxford 2014, S. 255 – 272 (260); Trillo de Martín- Pinillos, Eduardo, Spain as administering power of Western Sahara, in: International platform of jurists for East Timor (Hrsg.), International Law and the question of Western Sahara, Porto 2007, S. 79 - 85 (82). 42 Corell, Hans, Gutachten vom 29.01.2002, S. 2 Nr. 7, http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=S/2002/161. Auch nach Ansicht der Europäischen Kommission übt Marokko de facto verwaltende Macht im überwiegenden Teil der Westsahara aus, vgl. die Antwort der Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Federica Mogherini, vom 27.01.2015 auf eine Anfrage aus dem Europäischen Parlament, http://www.europarl.europa.eu/sides/getAllAnswers.do?reference=E- 2014-007130&language=EN. Ebenso Gasser, Hans-Peter (Fn. 21), S. 379. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 10 In fact, it exercises its sovereignty over its territory […]. ‘No’ to the attempt to place a separatist movement on the same footing as a United Nations Member State.43 Marokko betrachtet die Westsahara folglich als integralen Bestandteil seines eigenen Staatsgebietes und die Polisario als eine separatistische Bewegung, die versuche, die zu Marokko gehörenden „südlichen Provinzen“ abzuspalten44. 3.2. Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit durch die Sahrauis in der Westsahara Während früher die Ansicht vertreten wurde, dass kraft Völkerrecht die Staatsangehörigkeit der Bevölkerung dem Wechsel der territorialen Souveränität folge, wird diese Auffassung heute überwiegend abgelehnt. Die in dem von Marokko besetzten Teil der Westsahara lebenden Sahrauis haben demnach nicht automatisch kraft Völkerrecht die marokkanische Staatsangehörigkeit erhalten. Allerdings ist eine Staatenpraxis feststellbar, nach der ein Wechsel der Staatsangehörigkeit bei einem wirksamen Gebietsübergang durch (nationale) Regelungen des Nachfolgestaates üblich ist. Für eine solche Regelung finden sich im marokkanischen Staatsangehörigkeitsrecht jedoch keine Anhaltspunkte. Nach marokkanischem Verständnis gehört die Westsahara zum Staatsgebiet Marokkos. Es ist daher davon auszugehen, dass Marokko den Anspruch erhebt, dass jedenfalls in dem von Marokko besetzten Teil der Westsahara das marokkanische Recht und somit auch das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht gelten. Dieses sieht vor, dass die marokkanische Staatsangehörigkeit mit der Geburt erworben wird, wenn mindestens ein Elternteil die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzt (Abstammungsprinzip, sog. ius sanguinis). Daneben existieren der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Gesetz, z.B. durch Geburt in Marokko (Geburtslandprinzip, sog. ius soli), und durch Einbürgerung. Demzufolge besitzen Sahrauis in dem von Marokko verwalteten Teil der Westsahara grundsätzlich nur dann die marokkanische Staatsangehörigkeit, wenn bereits ein Elternteil marokkanischer Staatsangehöriger war, oder sie individuell die marokkanische Staatsangehörigkeit erhalten haben. Auch nach dem marokkanischen Staatsangehörigkeitsrecht besitzen die Sahrauis demnach nicht per se die marokkanische Staatsangehörigkeit. 43 Rede König Mohammeds VI. von Marokko vom 06.11.2014, abrufbar im Volltext in englischer Sprache unter http://www.moroccoworldnews.com/2014/11/143369/full-text-of-king-mohammed-vis-speech-on-39thanniversary -of-green-march/. 44 So auch Benchamach, Abdelhakim, Präsident der Ratskammer des marokkanischen Parlaments, am 12.05.2016 in der Diskussionsrunde einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Stand des marokkanischen Reformprozesses . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 11 3.3. Humanitär-völkerrechtliches Verbot des Aufoktroyierens einer fremden Staatsangehörigkeit Nach Art. 45 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) ist es untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten. Daraus wird der allgemeine Grundsatz abgeleitet, dass eine Besatzungsmacht die Staatsangehörigkeit der Bewohner des besetzten Gebietes nicht gegen deren Willen ändern darf.45 Da die HLKO völkergewohnheitsrechtlich verbindlich ist,46 würde dies bedeuten, dass es Marokko nicht erlaubt wäre, den Sahrauis zwangsweise die marokkanische Staatsangehörigkeit zu verleihen. Die HLKO setzt einen internationalen bewaffneten Konflikt voraus.47 Ein bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn eine Konfliktpartei gegen eine andere eine Waffe einsetzt.48 Die ab Dezember 1975 erfolgten Kampfhandlungen zwischen den marokkanischen Truppen und der Polisario stellen eindeutig einen bewaffneten Konflikt dar, so dass jedenfalls bis zur Vereinbarung der Waffenruhe 1991 ein bewaffneter Konflikt herrschte.49 Ein internationaler bewaffneter Konflikt ist gegeben, wenn sich die Truppen zweier oder mehrerer Staaten gegenüberstehen50. Somit ist zu klären, ob die DARS – für welche die Polisario kämpfte und die durch verschiedene Staaten anerkannt wurde – Staatsqualität besitzt. Zwar kommt der Anerkennung durch andere Staaten grundsätzlich nur deklaratorische Wirkung zu, sie stellt jedoch auch ein Indiz für die Auffassung der Völkergemeinschaft in Bezug auf die Staatsqualität dar.51 Es ist daher davon auszugehen, dass die DARS Staatsqualität besitzt. Allerdings liegt im Ergebnis kein Verstoß gegen die Vorgaben der HLKO vor. Aus dem marokkanischen Staatsangehörigkeitsgesetz selbst ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die die Verleihung der marokkanischen Staatsangehörigkeit an Sahrauis einen besatzungsrechtlichen Hintergrund haben könnte52. Da das marokkanische Staatsangehörigkeitsrecht nicht vorrangig auf dem Geburtslandprinzip basiert und im Falle der Einbürgerung einen entsprechenden Antrag 45 Schätzel, Walter, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, Berlin 1958, S. 159. 46 Arnauld, Andreas von, Völkerrecht, Heidelberg 2012, S. 459, Rn. 1131. 47 Arnauld (Fn. 46), S. 467, Rn. 1158. 48 Arnauld (Fn. 46), S. 468, Rn. 1160. 49 Maßgeblich für die Beendigung eines bewaffneten Konflikts ist die eindeutige Einstellung der bewaffneten Schädigungshandlungen, vgl. Arnauld (Fn. 46), S. 469, Rn. 1164. Da die Waffenruhe zwischen der Polisario und Marokko im Wesentlichen gehalten hat, ist – trotz der andauernden Präsenz Marokkos in der Westsahara – wohl von einem Ende des bewaffneten Konflikts mit Inkrafttreten der Waffenruhe auszugehen. 50 Arnauld (Fn. 46), S. 467, Rn. 1158. 51 Arnauld (Fn. 46), S. 35, Rn. 94. 52 Vgl. „Rückführungsabkommen und sichere Herkunftsstaaten“, Sachstand WD 3 – 3000 – 064/16 vom 03.03.2016, S. 3-5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 12 erfordert, erhalten die Sahrauis nach dem marokkanischen Staatsangehörigkeitsgesetz nicht per se und nicht unabhängig von ihrem Willen die marokkanische Staatsangehörigkeit. Ferner bestehen – soweit ersichtlich – keine Hinweise, dass den Bewohnern der besetzten Westsahara die marokkanische Staatsangehörigkeit aufgrund eines gesonderten marokkanischen Rechtsaktes kollektiv übertragen worden wäre53 oder die marokkanische Regierung die Sahrauis dazu gezwungen hat, die marokkanische Staatsangehörigkeit anzunehmen.54 4. Folgen für das deutsche Asylrecht 4.1. Keine Anerkennung der marokkanischen Besetzung der Westsahara Obwohl über das marokkanische Staatsgebiet durch die Einstufung Marokkos als „sicheren Herkunftsstaat “ keine direkte Aussage getroffen wird, könnte aus dem Umstand, dass die Westsahara nicht explizit vom Anwendungsbereich der Regelung ausgenommen wird, eine indirekte Anerkennung der Besetzung der Westsahara folgen. Unter einer Anerkennung im völkerrechtlichen Sinne ist die Willensäußerung eines Staates dahingehend zu verstehen, dass er einen bestimmten Tatbestand oder eine bestimmte Rechtslage als bestehend oder rechtmäßig erkennt55. Dabei kommt der Anerkennung grundsätzlich Rechtswirkung zu56. Erfolgt die Erklärung nicht durch eine ausdrückliche Erklärung, sondern durch schlüssiges Handeln oder sog. qualifiziertes Stillschweigen, ist der Anerkennungswille im Sinne eines Rechtsbindungswillens gesondert festzustellen.57 Im Zweifel ist ein entsprechender Wille und damit eine Anerkennung zu verneinen.58 Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, Dr. Günter Krings, stellte am 17. Februar 2016 fest: Die Bundesregierung verbindet […] mit dem Vorschlag, Marokko als sicheres Herkunftsland einzustufen, keine völkerrechtliche Stellungnahme.59 53 Sachstand WD 3 – 3000 – 064/16, S. 7. 54 Sachstand WD 3 – 3000 – 064/16, S. 7. 55 Graf Vitzthum (Fn. 27), S. 190, Rn. 179. 56 Stein, Torsten / v. Buttlar, Christian, Völkerrecht, München 2012, S. 101, Rn. 320. Etwas anderes gilt nur, wenn der Staat einen entsprechenden Vorbehalt gemacht hat, vgl. Ipsen (Fn. 25), S. 129, Rn. 165. 57 Stein/v.Buttlar (Fn. 56), S. 101, Rn. 320. 58 Ipsen (Fn. 25), S. 129, Rn. 165. 59 Plenarprotokoll der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 17.02.2016, S. 15167, http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18154.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 13 Diese Aussage wurde durch die Bundesregierung am 18. März 2016 bestätigt: Die geplante Einstufung Marokkos zu einem sicheren Herkunftsstaat hat keinen Einfluss auf die Haltung der Bundesregierung zum völkerrechtlichen Status des Gebietes [der Westsahara].60 Diese Aussagen können als Indiz für das Nichtbestehen eines Rechtsbindungswillens der Bundesrepublik herangezogen werden, so dass keine Anerkennung der Besatzung der Westsahara gegeben ist. 4.2. Mögliche Asylverfahren von Sahrauis Unabhängig von der Frage, ob Marokko als sicherer Herkunftsstaat angesehen werden kann61, ist zu prüfen, welche Konsequenzen die Anerkennung Marokkos als sicherer Herkunftsstaat für die Sahrauis hat. Der Asylantrag eines Ausländers aus einem sicheren Herkunftsstaat62 ist nach dem deutschen Asylrecht (§ 29a Abs. 1 AsylG) als offensichtlich unbegründet abzulehnen, es sei denn, die von dem Antragsteller angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme , dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat individuell politische Verfolgung – z.B. auf Grund der politischen Überzeugung – droht. Das deutsche Asylrecht enthält bei bestimmten Herkunftsländern somit die gesetzliche Vermutung, dass der Antragssteller dort nicht verfolgt wird. Bewirkt wird damit eine Beweislastumkehr, d.h. der Antragsteller muss – damit sein Antrag doch noch Erfolg hat – Tatsachen vorbringen, die die Annahme begründen, dass ihm Verfolgung droht.63 Der Herkunftsstaat ist dasjenige Land, dessen Staatsangehörigkeit eine Person besitzt bzw. in dem die Person als Staatenloser ihren vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte64. Die Einstufung Marokkos als sicherer Herkunftsstaat betrifft somit auch Sahrauis , die die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzen. Zu prüfen ist demgegenüber, ob staatenlose Sahrauis mit gewöhnlichem Aufenthalt in dem von Marokko besetzten Teil der Westsahara der Regelung ebenfalls unterfallen. 60 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen vom 18.03.2016, BT-Drs. 18/7928, S. 2. 61 Vgl. die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom 22.04.2016, S. 3 sowie den World Report 2016 für Marokko und die Westsahara von Human Rights Watch, https://www.hrw.org/worldreport /2016/country-chapters/morocco/western-sahara. 62 Sichere Herkunftsstaaten sind die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und die in Anlage II zum Asylgesetz bezeichneten Staaten, vgl. § 29a Abs. 2 AsylG. 63 Zur Ausräumung der Vermutung des § 29a AsylG ist nur ein Vorbringen zuzulassen, das die Furcht vor politischer Verfolgung auf ein individuelles Verfolgungsschicksal des Antragstellers gründet (BVerfGE 94, 115 (166)). 64 Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 14 Da der Gebietserwerb betreffend die Westsahara durch Marokko nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgt ist, stellt die Westsahara völkerrechtlich keinen Teil des Staatsgebiets Marokkos dar. Es handelt sich auch nicht um marokkanisches Hoheitsgebiet, da die Westsahara von den VN als eigenständiges Hoheitsgebiet anerkannt ist. Vielmehr handelt es sich um besetztes Gebiet. Die besetzte Westsahara kann somit nicht Gegenstand einer deutschen asylrechtlichen Regelung sein. Die Bundesregierung äußerte am 6. April 2016: Maßgeblich für die Entscheidung, ob ein Asylbewerber aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt, ist grundsätzlich allein die Staatsangehörigkeit des Antragstellers und nicht das Staatsgebiet eines Landes. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prüft demnach, welche Staatsangehörigkeit Asylantragsteller aus Westsahara besitzen. Für marokkanische Staatsangehörige, auch aus Westsahara, würden bei der Prüfung des Asylantrags im Hinblick auf eine etwaige Verfolgung in Marokko die Bestimmungen in Bezug auf Marokko als sicherer Herkunftsstaat gelten. Anderes würde für Asylbewerber mit gewöhnlichem Aufenthalt in Westsahara (ohne marokkanische Staatsangehörigkeit ) gelten. Unabhängig davon hätte auch ein Antragsteller, der die marokkanische Staatsangehörigkeit hat, die Möglichkeit, die Vermutung der Verfolgungsfreiheit in Marokko zu widerlegen, indem er geltend macht, abweichend von der allgemeinen Lage in Marokko ausnahmsweise doch verfolgt zu sein.65 Folglich besteht bei Sahrauis mit marokkanischer Staatsangehörigkeit nunmehr die gesetzliche Vermutung, dass diese Antragsteller aus sicheren Herkunftsländern kommen. Sahrauis mit marokkanischer Staatsangehörigkeit müssen somit ihre Verfolgung in Marokko individuell darlegen und die gesetzliche Vermutung widerlegen66. Sahrauis mit algerischer oder spanischer Staatsangehörigkeit 67 unterfallen den asylrechtlichen Regelungen betreffend diese Länder.68 65 Gegenäußerung der Bundesregierung vom 06.04.2016, BT-Drs. 18/8039, Anlage 4 (S. 21). Die Äußerung greift insofern auf die gleichlautende Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen vom 18.03.2016 zurück, BT-Drs. 18/7928, S. 3. 66 Die Gefahr der politischen Verfolgung könnte sich z.B. daraus ergeben, dass sich der Antragsteller aktiv und öffentlich für die Sache der Polisario engagiert, da in Marokko die Anzweifelung der territorialen Integrität des Königreichs strafbar ist, vgl. die Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur BT-Drs. 18/8039 vom 22.04.2016, S. 3. Dies wird bei Sahrauis mit marokkanischer Staatsangehörigkeit aber wohl relativ selten der Fall sein, wenn es sich um Personen handelt, die die marokkanische Staatsangehörigkeit aufgrund eines positiv beschiedenen Einbürgerungsantrags besitzen. Denn es ist anzunehmen, dass Sahrauis, die sich für einen eigenständigen sahrauischen Staat einsetzen, einen solchen Einbürgerungsantrag in Marokko grundsätzlich nicht stellen werden. 67 Die meisten Sahrauis besitzen die marokkanische, algerische oder spanische Staatsangehörigkeit, vgl. die Auskunft des Staatsministers Michael Roth, Anlage 21 zum Plenarprotokoll der 166. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 27.04.2016, S. 16345, http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18166.pdf. 68 Algerien ist nach dem am 13.5.2016 vom Bundestag verabschiedeten Gesetzentwurf ebenfalls als sicherer Herkunftsstaat anzusehen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 15 Für Sahrauis, die staatenlos sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem von Marokko besetzten Teil der Westsahara haben, greift die gesetzliche Vermutung nicht ein. Bei ihren Asylanträgen muss die Asylbehörde von Amts wegen feststellen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl gegeben sind. 4.2.1. Mögliche Rückführung von Sahrauis Wird ein Asylantrag endgültig abgelehnt, so ist der Antragsteller ausreisepflichtig. Daraus ergibt sich für die Sahrauis die Frage, wohin ihre Rückführung erfolgen kann. Generell gilt, dass ausreisepflichtige Personen in ihr Heimatland, in ein Transitland, über das sie nach Deutschland eingereist sind, sowie in ein Drittland, das zu ihrer Aufnahme bereit ist, zurückgeführt werden können 69. Zur Erleichterung der Durchführung von Abschiebungen hat die Bundesrepublik mit einer Vielzahl von Staaten sog. Rückübernahmeabkommen geschlossen, die die technischen Einzelheiten zur Umsetzung der völkerrechtlichen Pflicht der Staaten regeln, eigene Staatsangehörige wieder aufzunehmen70. Die Bundesrepublik und Marokko haben 1998 ein solches Rücknahmeabkommen abgeschlossen71. Sahrauis mit marokkanischer Staatsangehörigkeit werden daher regelmäßig nach Marokko abgeschoben werden. Zulässig wäre – nach dem Vorgesagten – nur eine Rückführung auf marokkanisches Staatsgebiet (z.B. nach Rabat), nicht aber in den besetzten Teil der Westsahara (z.B. nach El Aaiún). Bei staatenlosen Sahrauis ist eine Abschiebung auf marokkanisches Staatsgebiet, sowie nach Algerien (z.B. nach Tindouf) möglich, wenn dies die Orte des gewöhnlichen Aufenthalts waren. Eine Rückführung staatenloser Sahrauis direkt in die von der Polisario verwaltete Westsahara scheitert rein faktisch daran, dass es – soweit ersichtlich – keinen ausgebauten Flughafen in diesem Teil der Westsahara gibt. 69 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen vom 18.03.2016, BT-Drs. 18/7928, S. 5. 70 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Rückkehrunterstützung in Deutschland, 2009, S. 44, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/EMN/Studien/wp31-emnrueckkehrunterstuetzung .pdf?__blob=publicationFile. In diesen Abkommen können sich die jeweiligen Länder auch ausdrücklich zur Rücknahme von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen verpflichten, Sachstand WD 3 – 3000 – 064/16, S. 3. Über den Inhalt des Rückübernahmeabkommens mit Marokko liegen jedoch keine Informationen vor. 71 Vgl. die Auflistung bilateraler Rückführungsabkommen unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Themen/MigrationIntegration/AsylZuwanderung/Rueck kehrFluechtlinge.pdf?__blob=publicationFile. Über den Inhalt des Abkommens liegen jedoch keine Informationen vor. Die EU verhandelt derzeit mit Marokko über den Abschluss eines solchen Abkommens, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke vom 06.01.2016, BT-Drs. 18/7198, S. 2, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/071/1807198.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 063/16 Seite 16 Gemäß dem non-refoulement-Gebot, das als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist, dürfen Personen nicht in einen Staat abgeschoben werden, in welchem ihnen Folter oder unmenschliche Behandlung droht72. Sahrauis dürften daher nicht nach Marokko abgeschoben werden, wenn dort eine solche Bedrohungslage gegeben ist. 5. Zusammenfassung Obwohl die Präsenz Marokkos in der Westsahara eine völkerrechtswidrige Besatzung darstellt, ist die Anwendung des marokkanischen Staatsangehörigkeitsrechts in der Westsahara völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Im marokkanischen Staatsangehörigkeitsrecht bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Marokko den Sahrauis zwangsweise (oder kollektiv) die marokkanische Staatsangehörigkeit verliehen hätte bzw. dass der Anknüpfungspunkt für den Erwerb der marokkanischen Staatsangehörigkeit besatzungsrechtlichen Charakter aufweist. Das deutsche Asylrecht schließt nicht aus, dass Sahrauis mit marokkanischer Staatsangehörigkeit Asyl in Deutschland beantragen können. Die Einstufung Marokkos als sicherer Herkunftsstaat und die daraus resultierende gesetzliche Vermutung der Nichtverfolgung gilt dabei nur für Sahrauis, die die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzen. Sie können im Asylverfahren jedoch weiterhin eine individuelle Verfolgung in Marokko geltend machen. Eine potentielle Rückführung abgelehnter sahrauischer Asylbewerber (mit marokkanischer Staatsangehörigkeit) auf marokkanisches Staatsgebiet wäre unter Beachtung des Refoulementverbots zulässig. Ende der Bearbeitung 72 Stein/von Buttlar (Fn. 56), S. 213, Rn. 594 f.. Aus dem non-refoulement-Gebot folgt zwar das Verbot, in ein solches Land abgeschoben zu werden, nicht aber das Recht der Betroffenen auf die Gewährung von Asyl in der Bundesrepublik, Vitzthum (Fn. 27), S. 223, Rn. 304.