WD 2 - 3000 - 060/17 (26. Juni 2017) © 2017 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Die in den Medien als „Entmachtung“ apostrophierte Auseinandersetzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Europarats-PV) mit ihrem Präsidenten Pedro Agramunt am 28. April 20171 wirft die (weniger völkerrechtliche als vielmehr parlamentsrechtliche) Frage nach den Möglichkeiten und Modalitäten einer Abwahl des Präsidenten durch die Versammlung auf. Zu den Hintergründen der Auseinandersetzung äußerte sich der Bundestagsabgeordnete und Leiter der deutschen Delegation der Europarats-PV, Axel Fischer, wie folgt: 2 „Die Entwicklung um Agramunt macht menschlich betroffen. Er hat die Wirkung seiner überraschenden Reise nach Syrien und der Bilder, die ihn Seite an Seite mit Staatspräsident Assad zeigen, vollkommen falsch eingeschätzt. Außerdem hat er viele Gelegenheiten, auf die berechtigte Kritik der Europaratsabgeordneten einzugehen, ungenutzt verstreichen lassen. Dafür sollte er die politische Verantwortung übernehmen. Das Problem: Unsere Geschäftsordnung enthält bisher keine Vorschrift, mit der ein Präsident zum Rücktritt gezwungen werden kann. Deshalb wird die Versammlung jetzt eine Änderung der Geschäftsordnung beraten, um künftig ein Amtsenthebungsverfahren zu ermöglichen. Ich erwarte eine große Mehrheit für diese Reform, was ein weiteres klares Signal für Agramunt wäre. Ich kann mir daher vorstellen, dass ein Amtsenthebungsverfahren im aktuellen Fall nicht mehr eingeleitet werden muss.“ 1 „Präsidium der Versammlung entzieht Präsident Pedro Agramunt das Vertrauen“, https://www.coe.int/de/web/portal/-/pace-bureau-declares-no-confidence-in-pedro-agramunt-as-president. Grund für diese Maßnahme war die Syrien-Reise von Präsident Agramunt sowie der Vorwurf, er blockiere die Aufklärung der Korruptionsaffäre mit Aserbaidschan. 2 Interview mit Axel Fischer, MdB: „Europarat-Parlamentspräsident sollte zurücktreten“, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw25-interview-fischer-europarat-pv/511278 Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Abwahl des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats durch die Versammlung Kurzinformation Abwahl des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats durch die Versammlung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Roger Gale, dienstältester Vizepräsident der Europarats-PV und Leiter der Präsidiumssitzung, erklärte dazu: „Der Präsident ist zur heutigen Präsidiumssitzung nicht erschienen und hat kein Rücktrittsschreiben eingereicht. Das Präsidium erachtete folglich diese Maßnahmen als nötig, denn laut der geltenden Geschäftsordnung kann der Präsident nicht zum Rücktritt gezwungen werden.“ Einschlägige Rechtsgrundlagen Artikel 28 der Satzung des Europarats vom 5. Mai 1949 regelt die Wahl des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (Europarats-PV): „Die Beratende Versammlung gibt sich ihre Geschäftsordnung. Sie wählt aus dem Kreis ihrer Mitglieder ihren Präsidenten, der bis zur folgenden ordentlichen Tagung im Amte bleibt. (…). Die Geschäftsordnung bestimmt insbesondere: (…) das Verfahren der Wahl und die Amtsdauer des Präsidenten.“ Die Geschäftsordnung der Europarats-PV von 20123 legt in Punkt 14.5 die Amtsdauer des Präsidenten fest: „Der Präsident bleibt bis zur Eröffnung der nächsten ordentlichen Sitzungsperiode im Amt. Sollte das Amt des Präsidenten vakant werden, tritt an seine Stelle bis zum Zeitpunkt der Wahl eines neuen Präsidenten bei der nächsten Teilsitzung ein vom Präsidium bestimmter Vizepräsident. Der dann gewählte Präsident bleibt bis zur Eröffnung der nächsten ordentlichen Sitzungsperiode im Amt.“ Eine Kompetenz der Versammlung zur (vorzeitigen) Abwahl ihres gewählten Präsidenten aus politischen Gründen ist in der Satzung bzw. der Geschäftsordnung nicht vorgesehen. Dafür, dass sich ein solches Recht durch Interpretation aus der Europarats-Satzung bzw. der Geschäftsordnung der Versammlung als „ungeschriebene Kompetenz“ der Europarats-PV „herauslesen “ lässt, ergeben sich im Ergebnis keine Anhaltspunkte. Rechtliche Erwägungen Die Formulierung der Geschäftsordnung hinsichtlich einer möglichen „Vakanz“ des Präsidentenamtes lässt nicht ohne weiteres auf eine ungeschriebene Kompetenz zur Abwahl des Präsidenten schließen. „Vakanz“ im Sinne der Geschäftsordnung bezieht sich vielmehr auf unvorhergesehene Ereignisse wie ein plötzliches Ausscheiden des Präsidenten durch Tod, Rücktritt, Krankheit etc. 3 https://www.bundestag.de/blob/191848/9720cfde1448c4461d769f7b4d383d8d/europarat_go_dt_2012-data.pdf. Kurzinformation Abwahl des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats durch die Versammlung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 3 Weder empirisch nachweisbar4 noch legitimationstheoretisch zwingend notwendig erscheint die Annahme, dass ein parlamentarisches Gremium, welches eine Wahl für ein bestimmtes Amt vornimmt , auch das Recht haben muss, die gewählte Person – quasi in einem actus contrarius – jederzeit wieder abwählen zu können. Eine solche Kompetenz ließe sich allenfalls dann begründen, wenn es im Verhältnis zwischen Parlament und dem Gewählten um politische Verantwortlichkeit und demokratische Kontrolle geht. Eine entsprechende Anwendung der Instrumente eines Missbilligungs- oder Misstrauensantrags , wie sie im Verhältnis zwischen Parlament und Regierung existieren (Art. 67 GG), werden im Verhältnis zwischen einem parlamentarischen Gremium und seinem Präsidenten weitgehend abgelehnt.5 Hinzu kommt, dass die Formulierung in der Geschäftsordnung der Europarats-PV: „(…) bleibt bis zur Eröffnung der nächsten ordentlichen Sitzungsperiode im Amt“ nicht allein die äußerste zeitliche Grenze der Tätigkeit des Präsidenten der Versammlung festlegt,6 sondern vielmehr einen besonderen Status des Präsidenten der Versammlung begründet. Als Teil des Selbstorganisationsrechts der Versammlung garantiert dieser rechtliche Status die Unabhängigkeit des Präsidenten gegenüber den aktuellen Mehrheitsverhältnissen in der Parlamentarischen Versammlung und dient als Grundlage für dessen (unparteiische) Amtsführung. Einschränkungen dieses besonderen rechtlichen Status des Präsidenten (insb. durch die Möglichkeit von dessen Abwahl) müssen gerechtfertigt, d.h. in ihrer Geschäftsordnung ausdrücklich geregelt werden. Ein ungeschriebenes Recht zur Abwahl vor dem Ende der Sitzungsperiode ist damit ausgeschlossen.7 Dies entspricht insoweit der deutschen Rechtslage in Bezug auf den Bundestag und seinen Präsidenten : Weder das Grundgesetz (Art. 40 GG) noch die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) sehen eine Abwahl des Bundestagspräsidenten ausdrücklich vor; dessen Wahl „für die Dauer der Wahlperiode“ (so § 2 Abs. 1 GOBT) legt nicht allein die äußerste zeitliche Grenze seiner Tätigkeit fest, sondern wird von der überwiegenden Meinung als positive und bindende 4 Erinnert sei die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (Art. 54 GG), aber auch die Wahl der Bundesverfassungsrichter durch den Bundestag etc. 5 Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht. Handbuch, Baden-Baden: 2016, § 21, Rdnr. 6. 6 So aber im grundgesetzlichen Kontext Brocker, in: Bonner Kommentar zum GG, Losebl. 2013, Art. 40, Rdnr. 116. 7 Unklar (weil ungeregelt) wäre in diesem Zusammenhang vor allem das erforderliche Quorum für eine potentielle Abwahl: Soll dafür eine einfache oder eine absolute Mehrheit reichen? Würde es für das Quorum der Abwahl legitimatorisch einen Unterschied machen, ob der Präsident gem. Art. 14.2 der Geschäftsordnung der Europarats -PV mit absoluter Mehrheit im ersten Durchgang oder mit einfacher Mehrheit im dritten Wahlgang ins Amt gewählt worden ist? Kurzinformation Abwahl des Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats durch die Versammlung Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 4 Bestimmung hinsichtlich seiner Amtszeit verstanden.8 Eine Abwahl ist damit nur dort zulässig, wo sie ausdrücklich zugelassen ist.9 Lösungsansätze Der Europarats-PV ist es rechtlich unbenommen, die rechtliche Möglichkeit zur Abwahl ihres Präsidenten (z.B. die Einführung eines „impeachment-Verfahrens“) durch Änderung der Geschäftsordnung selbst zu schaffen. Bis dahin stellt sich die Frage, wie mit einem „rücktrittsunwilligen“ Präsidenten politisch umgegangen werden könnte.10 Die Wahl eines neuen Präsidenten durch die Europarats-PV entspräche einem „konstruktiven Misstrauensvotum“ und wäre verfahrensrechtlich unzulässig. Sollte der amtierende Präsident den weiteren Sitzungen fernbleiben, ließe sich dessen Amt als „faktisch vakant“ bezeichnen, so dass interimsweise der dienstälteste Vizepräsident die Amtsgeschäfte führen müsste. Eine diplomatische Klärung der Situation in Straßburg unter Einbeziehung des nationalen „Heimatparlaments“ des spanischstämmigen Versammlungs-Präsidenten, das ihn zum Delegierten für die Europarats-PV benannt bzw. gewählt hat,11 erscheint nur bedingt erfolgversprechend. Immerhin handelt es sich bei dem „Vertrauensbruch“ zwischen dem PV-Präsidenten und der Parlamentarischen Versammlung offenbar um eine rein politische Angelegenheit auf der Ebene des Europarats und um keine strafrechtliche Angelegenheit, für die etwa die Immunität eines Delegierten aufgehoben werden müsste. *** 8 Blum, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht. Handbuch, Baden-Baden: 2016, § 21, Rdnr. 6. 9 So etwa in einigen deutschen Landesverfassungen. 10 Zur Diskussion in Deutschland vgl. Feldkamp, Michael, Der Bundestagspräsident, München 2011, S. 38 ff. 11 Vgl. insoweit Art. 6 der Geschäftsordnung der Europarats-PV. Der Bundestag wählt für die Dauer seiner Wahlperiode aus seiner Mitte 18 Mitglieder und 18 stellvertretende Mitglieder in die Parlamentarische Versammlung des Europarats.