© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 057/20 Militäroperationen der Türkei gegen PKK-Stellungen im Nordirak aus völkerrechtlicher Sicht Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 2 Militäroperationen der Türkei gegen PKK-Stellungen im Nordirak aus völkerrechtlicher Sicht Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 057/20 Abschluss der Arbeit: 8. Juli 2020 (zugleich der letzte Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der VN-Charta 5 2.1. Terroristische Bedrohungslage als bewaffneter Angriff 6 2.2. Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure 7 2.3. Keine förmliche Anzeige an den VN-Sicherheitsrat 8 3. Unterscheidungsgebot und Schutz der Zivilbevölkerung 9 4. Handlungsmöglichkeiten Deutschlands auf der VN-Ebene 10 5. Handlungsmöglichkeiten Deutschlands im Rahmen der NATO 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 4 1. Einleitung Der Konflikt zwischen der Türkei und der – in der Türkei und in den meisten westlichen Ländern als Terrororganisation verbotenen – Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)1 dauert bereits seit mehreren Jahrzehnten an und erstreckt sich nicht nur auf das Territorium der Türkei, sondern auch auf benachbarte Staaten wie Syrien, Irak und Iran. Insbesondere im Norden des Iraks, nahe der Grenze zu Iran und der Türkei, bestehen im Kandil-Gebirge seit den 1980-er Jahren gut geschützte Stellungen der PKK. Berichten zufolge befindet sich dort auch das Hauptquartier der PKK.2 Diese Gegend gehört zu der autonomen kurdischen Region innerhalb Iraks mit Hauptstadt und Sitz des kurdischen Parlaments in Erbil. Auch in anderen Teilen dieser Region, etwa im Norden nahe der türkischen Grenze, sowie auch im Westen nahe der Grenze zu Syrien im Sindschar- Gebirge, sind Stellungen der PKK bzw. deren Unterstützer zu finden. Die genannten Stellungen der PKK werden auch seit 1980-er Jahren immer wieder von der Türkei bekämpft. Im Zuge des Konfliktes errichtete die Türkei mit Duldung der kurdischen Autonomieregierung im Irak unter Präsident Barzani mehrere Militärstützpunkte, die bis zum heutigen Tag bestehen.3 Nach dem Scheitern einer Waffenruhe zwischen der Türkei und der PKK im Jahr 2015 kam es zur erneuten Eskalation des Konfliktes mit mehreren Anschlägen der PKK im Südosten der Türkei sowie in weiteren großen Städten, unter anderem in Dezember 2016 in Istanbul,4 im Februar und im März 2017 in Ankara.5 Die Türkei antwortete mit Bombardements und Bodenoffensiven auf die PKK-Stellungen im Nordirak. Insgesamt sind laut der International Crisis Group in dem Konflikt seit 2015 ca. 4.900 Menschen getötet worden, davon etwa 500 Zivilisten, 1.200 türkische Militär- und Polizeikräfte und 3.000 PKK-Kämpfer.6 Die jüngsten Operationen des türkischen Militärs wurden zwischen dem 14. und dem 17. Juni 2020 unter den Decknamen „Adlerkralle“ bzw. „Tigerkralle“ geführt. Dabei griffen türkische Flugzeuge und Drohnen mehrere Stellungen der PKK, vorwiegend in den Kandil-Bergen nahe der iranischen Grenze im Osten, aber auch im westlich an der Grenze zu Syrien gelegenen Sindschar 1 Vgl. zu der Einordnung der PKK als terroristische Vereinigung den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 11. Februar 2020, WD 2 – 300 – 010/20, https://www.bundestag.de/resource /blob/691068/a31dc510087e6dc18f6dfa8c6b87d7ad/WD-2-010-20-pdf-data.pdf. 2 So Inga Rogg, Neue Züricher Zeitung, Artikel vom 21. Juni 2020, Die Türkei verlegt den Kampf gegen die PKK immer stärker in den Irak, https://www.nzz.ch/international/die-tuerkei-fuehrt-den-kampf-gegen-die-pkk-immer -staerker-im-irak-ld.1562415?reduced=true. 3 Inga Rogg, Neue Züricher Zeitung, Artikel vom 27. Januar 2019, Kurden stürmen türkische Militärbasis im Nordirak, https://www.nzz.ch/international/kurden-stuermen-tuerkische-militaerbasis-im-nordirak-ld.1454979. 4 Tagesschau.de vom 11. Dezember 2016, Bekennerschreiben von PKK-Splittergruppe, https://www.tagesschau .de/ausland/istanbul-anschlag-139.html. 5 Sueddeutsche.de vom 17. März 2017, Steinmeier: Vertretungen in Türkei wegen "sehr konkreter" Terrorgefahr geschlossen, https://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-steinmeier-vertretungen-in-tuerkei-wegen-sehr-konkreter -terrorgefahr-geschlossen-1.2911469. 6 International Crisis Group, Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, letztes Update 3. Juni 2020, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 5 sowie südlich der Hauptstadt Erbil an.7 Das türkische Militär kündigte unter entsprechender medialer Begleitung eine Bodenoffensive an.8 Kurdischen Medien zufolge wurden im Zuge der genannten Luftangriffe neben den PKK-Kämpfern auch mehrere Zivilisten verletzt und getötet.9 In anderen Presseberichten wird dieses Lagebild differenzierter dargestellt.10 Der Auftraggeber fragt nach der völkerrechtlichen Bewertung des türkischen Vorgehens im Nordirak . Diese wird unter den Punkten 2. (Verstoß gegen das Gewaltverbot) und 3. (humanitäres Völkerrecht ) vorgenommen. Abschließend wird auf die Handlungsmöglichkeiten Deutschlands auf der internationalen Ebene unter den Punkten 4. und 5. eingegangen. 2. Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der VN-Charta Die oben erwähnten jüngsten Bombardierungen des türkischen Militärs auf dem Territorium des Iraks stellen zunächst einen Verstoß gegen das Gewaltverbot nach Art. 2 Ziff. 4 der VN-Charta dar. Dieser könnte mangels eines Einverständnisses der irakischen Regierung in Bagdad11 bzw. einer Resolution des VN-Sicherheitsrates nur in Ausübung des Selbstverteidigungsrechts gem. Art. 51 der VN-Charta gerechtfertigt sein. Problematisch im vorliegenden Fall ist zum einen, ob ein bewaffneter Angriff seitens der PKK vorliegt, und zum anderen, ob der Irak völkerrechtlich verpflichtet ist, türkische Operationen gegen PKK auf dem eigenen Staatsgebiet zu dulden. Die Selbstverteidigungshandlungen der Türkei müssten ferner erforderlich und verhältnismäßig sein.12 7 Zeit-Online vom 15. Juni 2020, Türkische Luftwaffe bombardiert PKK-Stützpunkte im Nordirak, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-06/nordirak-angriff-tuerkei-luftanschlaege-tuerkisch-kurdische-rebellen -pkk; Anna-Sophie Schneider, Spiegel-Online vom 25. Juni 2020, Operation „Tigerkralle“, Erdogans Offensive gegen die PKK in Nordirak, https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-kampf-gegen-die-pkk-im-nordirak -a-37f976fd-8dc1-4717-8f06-5cfbeff04fe1. 8 AMN-News vom 21. Juni 2020, Turkey sends large number of reinforcements to Iraq despite Baghdad’s objections , https://www.almasdarnews.com/article/turkey-sends-large-number-of-reinforcements-to-iraq-despitebaghdads -objections/. 9 ANF deutsch, Artikel vom 15. Juni 2020, Cenî: Luftschläge gegen Krankenhäuser und Flüchtlingscamps, https://anfdeutsch.com/frauen/ceni-luftschlaege-gegen-krankenhaeuser-und-fluechtlingscamps-19799. 10 So die Analyse von Anna-Sophie Schneider (Fn. 7); Thomas Pany, heise.de vom 15. Juni 2020, Türkische Luftangriffe auf Ziele im Nordirak, https://www.heise.de/tp/features/Tuerkische-Luftangriffe-auf-Ziele-im-Nordirak- 4784480.html. 11 Die irakische Regierung in Bagdad hat den türkischen Botschafter einbestellt, um gegen die Angriffe der Türkei zu protestieren, siehe: Die Presse, Meldung vom 17. Juni 2020, Türkei startet Offensive gegen PKK im Nordirak, https://www.diepresse.com/5827165/turkei-startet-offensive-gegen-pkk-im-nordirak. 12 Vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Knut (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 56 Rn. 30 ff.; Randelzhofer /Nolte, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Vol. II, Oxford 2012, Art. 51 Rdnr. 57 ff. m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 6 2.1. Terroristische Bedrohungslage als bewaffneter Angriff Das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der VN-Charta ist nur dann gegeben, wenn ein bewaffneter Angriff vorliegt. Dieser muss entweder bereits andauern oder jedenfalls unmittelbar bevorstehen , um das Selbstverteidigungsrecht auszulösen.13 Ferner ist es anerkannt, dass bloße Grenzscharmützel unterhalb der Intensitätsschwelle zu des Art. 51 der VN-Charta für sich genommen nicht ausreichen.14 Insoweit ist festzustellen, dass die Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen, also seit 2016-2017, deutlich abgenommen hat. Zwar wurden auch in den Jahren 2019 und Anfang 2020 einige türkische Zivilisten und Polizeikräfte getötet, jedoch liegt deren Anzahl deutlich unter der Anzahl der offiziell bestätigten toten PKK-Kämpfer.15 Auch wenn es Stimmen gibt, die eine Selbstverteidigungssituation der Türkei gegen die PKK in der früheren Phase des Konflikts annahmen,16 so dürften die Angriffe der PKK auf das türkische Territorium in den Jahren 2019-2020 für sich genommen nicht mehr die Schwelle eines bewaffneten Angriffes erreicht haben. Gerade in den letzten Monaten vor dem Beginn der türkischen Operationen „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ fanden – soweit ersichtlich – keine größeren Anschläge der PKK auf dem Gebiet der Türkei statt. Ebenso wenig hat sich die Türkei darauf berufen oder ist es in der Presse berichtet worden, die PKK würde neue Angriffe auf die Türkei in der unmittelbaren Zukunft planen oder ausführen.17 Ein gegenwärtiger oder unmittelbar bevorstehender bewaffneter Angriff seitens der PKK kann auch unter der Heranziehung der sog. „accumulation of events-Doktrin“ nicht konstruiert werden . Diese besagt, dass sich mehrere kleinere Angriffe zu einer Angriffsserie kumulieren und dadurch die Schwelle des bewaffneten Angriffes überschreiten können.18 Die Staatenpraxis ist 13 Siehe Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Knut (Fn. 12), § 52 Rn. 15 ff. 14 Siehe Daniel Bethlehem, Self-defence againist an Imminent or Actual Armed Attack by Nonstate-actors, The American Journal of International Law, Vol 106 (2012), No. 4, S. 770 ff., https://www.cambridge.org/core/services /aop-cambridge-core/content/view/BC9C62E3157202F50234A452A714A421/S0002930000035612a.pdf/ selfdefense_against_an_imminent_or_actual_armed_attack_by_nonstate_actors.pdf 15 International Crisis Group, Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, letzter Update 3. Juni 2020, https://www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer. 16 So insbesondere Saeed Bagheri, Self-Defence Against the PKK, The Turkisch Approach to International Law, Völkerrechtsblog, Artikel vom 22. Dezember 2017, https://voelkerrechtsblog.org/self-defense-against-the-pkk/. 17 Vgl. The Eastern Herald, Artikel vom 20. Juni 2020, Turkish ‘Tiger Claw’ operation in Iraq targets 700 PKK hideouts , https://www.easternherald.com/war/turkish-tiger-claw-700-pkk-hideouts-67010/. 18 Diese Argumentation erkennt der IGH grundsätzlich an, setzt jedoch enge Grenzen: IGH, Urteil vom 19. Dezember 2005 – Armed Activities on the Territory oft he Congo (Democratic Republic of the Congo vs. Uganda), para. 146, verfügbar unter: http://www.icj-cij.org/files/caserelated/116/116-20051219-JUD-01-00-EN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 7 jedoch bei der Anwendung dieser Doktrin uneinheitlich, sodass sich deren klare gewohnheitsrechtliche Geltung nicht ausmachen lässt.19 Ein „Dauerselbstverteidigungsrecht“ würde die Voraussetzungen der Selbstverteidigung konturenlos machen, eine große Missbrauchsgefahr in sich bergen und einer unilateralen Gewaltanwendung geradezu Vorschub leisten.20 Gerade weil die Intensität der PKK-Angriffe auf die Türkei in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat, lässt sich von einem gegenwärtigen bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 51 der VN-Charta nicht ohne weiteres sprechen. Im Ergebnis lässt sich gegenwärtig kein bewaffneter Angriff seitens der PKK und damit auch keine Selbstverteidigungslage für die Türkei erkennen, die den Verstoß gegen das Gewaltverbot gegenüber dem Irak rechtfertigen könnte. 2.2. Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure Die oben genannten türkischen Militäroperationen könnten auch deswegen problematisch sein, weil sie sich gegen die PKK als eine nicht-staatliche Organisation richten, die auf dem Gebiet des Irak tätig ist. Fraglich ist damit, ob der Irak völkerrechtlich verpflichtet sein kann, die militärischen Operationen der Türkei auf dem eigenen Staatsgebiet zu dulden. Die Regierung in Bagdad hat nämlich gegen die Militärangriffe der Türkei im Rahmen der Operationen „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ vehement protestiert.21 Das Vorgehen der Türkei im Irak könnte dann zulässig sein, wenn das Handeln der PKK dem Irak zurechenbar wäre, also eine indirekte Aggression des Iraks gegenüber der Türkei vorläge. Eine solche Zurechnung setzt entweder eine effektive Kontrolle des Staates über die nicht-staatliche Gruppierung oder zumindest eine bewusste Gewährung einer sicheren Zufluchtsstätte („save haven“) gegenüber einer solchen Gruppierung durch aktive Unterstützung des Staates voraus.22 Beides ist für das Verhältnis zwischen der PKK und der irakischen Regierung in Bagdad bzw. zwischen der PKK und der kurdischen Autonomieregierung in Erbil abzulehnen . Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Regierungen die PKK kontrollieren oder aktiv unterstützen. Vielmehr wird die PKK nicht nur durch die Regierung in Bagdad, 19 So Alexander Schwarz, Schwerpunktbereichsklausur: Frieden für Afrin? Völkerrechtliche Probleme unilateraler Gewalt, in: Zeitschrift für das Juristische Studium, 5/2018, S. 434, 438 mit weiteren Nachweisen, http://www.zjsonline.com/dat/artikel/2018_5_1244.pdf. 20 Alexander Schwarz (Fn. 19), S. 348. 21 Parstoday.com, Meldung vom 5. Juli 2020, Der Irak protestiert gegen türkische Angriffe, https://parstoday .com/de/news/middle_east-i52639-der_irak_protestiert_gegen_türkische_angriffe. 22 Siehe zu den Kriterien der Zurechnung im Einzelnen Corinna Dau, Die Völkerrechtliche Zulässigkeit von Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure, 2017, S. 155 ff. mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 8 sondern auch durch die kurdische Regierung in Erbil aufgerufen, das Gebiet der kurdischen Autonomieregion zu verlassen.23 Auch wenn die Zurechnung des PKK-Handelns gegenüber dem Irak nicht möglich ist, so könnte der Irak nach der sog. „unable-and-unwilling-Doktrin“ verpflichtet sein, jedenfalls die türkischen Operationen gegenüber der PKK auf dem eigenen Staatsgebiet zu dulden, ohne selbst als Angreifer im Sinne des Art. 51 der VN-Charta zu gelten. Diese Doktrin besagt, dass die Selbstverteidigung gegen nicht-staatliche Akteure dann zulässig ist, wenn der Staat, in dem diese Gruppierungen Unterschlupf gefunden haben, nicht gewillt bzw. nicht in der Lage ist, effektiv gegen diese vorzugehen.24 Im vorliegenden Fall scheint es so zu sein, dass weder die Zentralregierung in Bagdad noch die kurdische Autonomieregierung in Erbil eine effektive Kontrolle über das Rückzugsgebiet der PKK in den Kandil-Bergen ausüben und auf die PKK-Gruppierungen dort wirksam einwirken können. Die PKK und die in der kurdischen Autonomie regierende KDP gelten als ideologisch verfeindet, die KDP kooperiert dabei wirtschaftlich und auch militärisch mit der Türkei, ohne jedoch die PKK in ihren Rückzugsgebieten selbst aktiv zu bekämpfen.25 Ob aus dem passiven Verhalten der Regierungen in Bagdad und Erbil gegenüber der PKK geschlossen werden kann, dass diese „unable and unwilling“ sind, die PKK zu bekämpfen, kann jedoch mangels hinreichender tatsächlicher Anhaltspunkte nicht abschließend beurteilt werden. Da bereits keine Selbstverteidigungslage gegeben ist (siehe oben) kann dahingestellt bleiben, ob das Vorgehen der irakischen und der kurdischen Regierung gegenüber der PKK im Nordirak die Anforderungen der „unable and unwilling-Doktrin“ erfüllt. 2.3. Keine förmliche Anzeige an den VN-Sicherheitsrat Die Türkei hat ihre Absicht, die militärischen Operationen „Adlerkralle“ und „Tigerkralle“ im Nordirak durchzuführen, nicht sofort dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angezeigt, wie das der Art. 51 Satz 2 der VN-Charta verlangt. Sinn und Zweck dieser Berichtspflicht ist es, die Hauptverantwortlichkeit des Sicherheitsrats für den Weltfrieden zu wahren und ihm ggf. zu ermöglichen , eigene Maßnahmen zu treffen.26 Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des bewaffneten Angriffs trägt dabei der Staat, der sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft. Eine Missachtung der Berichtspflicht stellt zwar einen Verstoß gegen die VN-Charta, der ggf. später 23 Kurdistan Regional Government, A statement from KRG spokesperson on recent Turkish airstrikes in the Kurdistan Region of Iraq, 20. Juni 2020, https://gov.krd/english/news-and-announcements/posts/2020/june/a-statement -from-krg-spokesperson-on-recent-turkish-airstrikes-in-the-kurdistan-region-of-iraq/. 24 Siehe Britta Sjöstedt, Applying the Unable/Unwilling State Doctrine – Can a State Be Unable to Take Action?, ZaöRV 77 (2017), S. 39 ff. mit weiteren Nachweisen; Kevin John Heller, The “Unwilling or Unable” Standard for Self-Defense, Opinio Juris, Artikel vom 17. September 2011, http://opiniojuris.org/2011/09/17/the-unwilling-orunable -standard-for-self-defense-against-non-state-actors/. 25 Siehe Inga Rogg (Fn. 2). 26 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Knut (Fn. 12), § 52 Rn. 37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 9 geheilt werden kann, führt jedoch für sich genommen nicht zu Rechtswidrigkeit der Selbstverteidigung , sofern die anderen oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind.27 Die Türkei ist – soweit ersichtlich –ihrer Berichtspflicht an den VN-Sicherheitsrat nicht nachgekommen . In der Erklärung des türkischen Verteidigungsministers zu den Angriffen wurden die Bombardierungen im Nordirak mit dem Bemühen um Sicherheit des türkischen Volkes und dem Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt.28 Eine Erläuterung eines – vermeintlich – andauernden oder bevorstehenden Angriffs seitens der PKK oder eine Argumentation, dass die irakische und die kurdische Regierungen die PKK nicht wirksam bekämpften und daher den Angriff dulden müssen, fehlte jedoch vollkommen. Diese Vorgehensweise entspricht auch der in den Jahren 2016 und 2017, als die Türkei nach den Terrorangriffen der PKK in Istanbul, Ankara und anderen türkischen Städten ihrer Berichtspflicht nach Art. 51 der VN-Charta nicht nachgekommen ist, sondern gleich eine bzw. mehrere Offensiven gegen die PKK-Stellungen im Nordirak startete. Die fehlende Begründung des Vorliegens eines bewaffneten Angriffes seitens der PKK sind damit ein gewichtiges Indiz, dass das Selbstverteidigungsrecht der Türkei gem. Art. 51 der VN-Charta gegenwärtig nicht gegeben ist und die Türkei durch ihr Vorgehen gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 der VN-Charta verstößt. 3. Unterscheidungsgebot und Schutz der Zivilbevölkerung Ungeachtet der Frage, ob das türkische Vorgehen in Nordirak gegen das Gewaltverbot verstößt oder als Selbstverteidigung gerechtfertigt ist, gilt bei den militärischen Operationen gleichwohl das humanitäre Völkerrecht und insbesondere das Unterscheidungsgebot zwischen Zivilisten und legitimen militärischen Zielen nach Art. 51, 52 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention .29 Zwar hat die Türkei dieses 1. Zusatzprotokoll nicht ratifiziert; die Unterscheidungspflicht ergibt sich jedoch auch aus dem Völkergewohnheitsrecht und gilt daher für alle Staaten.30 Berichten der kurdischen Medien zufolge sind bei den Angriffen der Türkei, insbesondere südlich von Erbil in der Region Machmur, in der sich ein großes Flüchtlingscamp für die etwa 12.000 aus der Türkei geflogenen Kurden befindet, auch Zivilisten getötet worden.31 Ebenso seien eine Krankenstation und ein Rückkehrlager von Jesiden im westlich gelegenen Sindschar-Gebirge 27 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Knut (Fn. 12), § 52 Rn. 39 mit weiteren Nachweisen. 28 Die Presse, Meldung vom 17. Juni 2020, Türkei startet Offensive gegen PKK im Nordirak, https://www.diepresse .com/5827165/turkei-startet-offensive-gegen-pkk-im-nordirak. 29 Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I), angenommen in Genf am 8. Juni 1977, verfügbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation /19770112/201407180000/0.518.521.pdf. 30 Siehe Jean-Marie Henckaerts und Louise Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law Volume I: Rules, 3. Aufl. 2009, Chapter 2 S. 25 ff., https://www.icrc.org/en/doc/assets/files/other/customary-internationalhumanitarian -law-i-icrc-eng.pdf. 31 Siehe ANF deutsch (Fn. 9) sowie differenziertere Berichte Anna-Sophie Schneider, Thomas Pany (Fn. 10). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 10 angegriffen worden.32 Sollten diese Berichte stimmen und Zivilisten aufgrund der gezielten Angriffe des türkischen Militärs getötet oder schwer verletzt bzw. zivile, nicht militärische Ziele zerstört worden sein, so wäre dies ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Allerdings fehlt es an Möglichkeiten, diese Berichte zu verifizieren. Die Recherche erfolgt aufgrund der öffentlich zugänglichen Quellen, deren Auswertung – jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt – kein eindeutiges Bild ergibt. Bisher fehlen jedenfalls Berichte von international anerkannten NGOs wie etwa Human Rights Watch, die bei den türkischen Angriffen in Nordirak im September 2018 die Tötungen von Zivilisten dokumentiert haben.33 Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), unter dessen Leitung das Flüchtlingscamp in Machmur betrieben wird, hat bisher – soweit ersichtlich – keine Stellungnahme zu einem türkischen Angriff veröffentlicht.34 Auf der anderen Seite bezeichnet die türkische Regierung das Flüchtlingslager im Machmur seit Jahren als „Brutstätte des Terrorismus“ und Rückzugsort der verwundeten PKK-Kämpfer, die über die Lagervertretung den Kontakt zu den PKK-Kämpfer in den Kandil-Bergen halten würden .35 Auch hier bestehen keine Möglichkeiten, die Angaben der türkischen Regierung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Der Vorwurf der Verletzung des humanitären Völkerrechts durch die jüngsten Bombardierungen der Türkei im Nordirak kann daher zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigt noch entkräftet werden . 4. Handlungsmöglichkeiten Deutschlands auf der VN-Ebene Deutschland könnte als nichtständiges Mitglied und derzeitiger Inhaber des Vorsitzes des VN- Sicherheitsrates eine Dringlichkeitssitzung beantragen und das türkische Vorgehen im Nordirak als nicht völkerrechtskonform monieren, um ggf. eine entsprechende Resolution bzw. zumindest eine Erklärung des Sicherheitsrates zu erwirken. Ob dies gelingt, hängt maßgeblich von dem Verhalten der Veto-Mächte im Sicherheitsrat ab. Auch wenn keine formelle gemeinsame Erklärung des VN-Sicherheitsrates verabschiedet werden sollte, so könnte die Türkei dadurch zumindest gezwungen werden, sich offiziell gegenüber den Vereinten Nationen zu ihrem Vorgehen in Nordirak zu positionieren. Sollten auch nach einer solchen Erklärung nicht genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Selbstverteidigungslage der Türkei vorliegen, so wäre auch eine klare Benennung eines Verstoßes gegen das Völkerrecht durch möglichst viele Staaten für sich genommen bedeutend. In einer dezentralen Rechtsordnung wie dem Völkerrecht, in der die Staaten 32 Anna-Sophie Schneider (Fn. 7). 33 Human Rights Watch vom 19. September 2018, Turkey/Iraq: Strikes May Break Laws of War, https://www.hrw.org/news/2018/09/19/turkey/iraq-strikes-may-break-laws-war. 34 Siehe UNHCR, The UN Refugee Agency Deutschland, News, https://www.unhcr.org/dach/de/list/news. 35 Marc Petit, Focus online vom 23. Februar 2017, Kurden im Irak, Vergessen im Flüchtlingslager, https://www.focus.de/politik/ausland/kurden-im-irak_aid_124926.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 11 durch ihr Verhalten das Recht mitformen, droht anderenfalls die Erosion des Gewaltverbots, sofern die Mitglieder der Staatengemeinschaft ihre Haltung zum rechtswidrigen Vorgehen nicht aktiv auf internationaler Ebene kommunizieren.36 Als Beispiel könnte das Vorgehen Frankreichs nach der türkischen Militäroperation „Olivenzweig “ in Nordsyrien im Januar 2018 dienen. Frankreich hatte damals eine Dringlichkeitssitzung des VN-Sicherheitsrates beantragt und dabei einen umfassenden Waffenstillstand und einen bedingungslosen Zugang für humanitäre Hilfe gefordert.37 Eine gemeinsame Erklärung oder gar Resolution des Sicherheitsrates ist danach zwar nicht verabschiedet worden, ebenso wenig im Oktober 2019, als die Türkei eine weitere Operation „Friedensquelle“ gegen kurdische YPG-Milizen in Nordsyrien startete.38 Nach dem Beginn dieser Operation hat auch Deutschland im Namen von fünf Mitgliedsländern (Deutschland, Belgien, Frankreich, Polen, Großbritannien und Estland), das Thema in einer Sitzung des Sicherheitsrats angesprochen.39 Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat damals das Vorgehen der Türkei in einer förmlichen Erklärung verurteilt und die Türkei zum Beenden der Militäroperation aufgefordert, ohne jedoch den Völkerrechtsverstoß als solchen explizit zu benennen.40 Erst kürzlich äußerte sich die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage aus dem Bundestag insoweit deutlicher und erklärte, sie könne keine Gründe erkennen, die die türkische Operation „Friedensquelle“ völkerrechtlich legitimieren würden .41 36 Vgl. Mehrnusch Anssari/ Tabassom Djourabi-Asadabadi/ Jamal El-Zein, Ausgangspunkt ist das Gewaltverbot, nicht die Rechtfertigung – Eine Kritik am Begründungsansatz der USA zum Gewalteinsatz zur Tötung Soleimanis im Irak, Verfassungsblog vom 17. Januar 2020, https://verfassungsblog.de/ausgangspunkt-ist-das-gewaltverbot -nicht-die-rechtfertigung/. 37 Siehe DW.com, Artikel vom 21. Januar 2018, https://www.dw.com/de/kurdenoffensive-der-t%C3%BCrkeikommt -vor-den-un-sicherheitsrat/a-42246803; siehe zu der völkerrechtlichen Bewertung der „Operation Olivenzweig “ der Türkei gegen die kurdische YPG in Nordsyrien den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 7. März 2018, WD – 3000 – 023/18, https://www.bundestag.de/resource /blob/546854/07106ad6d7fc869307c6c7495eda3923/wd-2-023-18-pdf-data.pdf. 38 Siehe zu den völkerrechtlichen Aspekten der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ in Nordsyrien die Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages vom 17. Oktober 2019, WD 2 – 3000 -116/19, https://www.bundestag.de/resource/blob/663322/fd65511209aad5c6a6eae95eb779fcba/WD-2-116-19-pdfdata .pdf. 39 DW.de vom 10. Oktober 2019, Syrien: EU-Staaten im UN-Sicherheitsrat fordern Ende der türkischen Militäraktion , https://www.dw.com/de/eu-staaten-im-un-sicherheitsrat-fordern-ende-der-t%C3%BCrkischen-milit %C3%A4raktion/a-50786689. 40 Permanent Mission oft he Federal Republic of Germany to the United Nations, Press release vom 9. Oktober 2019, Foreign Minister Maas on the Turkish offensive in north-eastern Syria, https://new-york-un.diplo.de/unen /news-corner/tukrey-north-eastern-syria/2255684. 41 Tagesspiegel online vom 5. Juli 2020, Ankaras Kampf gegen kurdische Autonomiezone – Bundesregierung kritisiert türkischen Syrien-Einmarsch, https://www.tagesspiegel.de/politik/ankaras-kampf-gegen-kurdische-autonomiezone -bundesregierung-kritisiert-tuerkischen-syrien-einmarsch/25978158.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 057/20 Seite 12 Eine Überweisung der Situation an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) erscheint dagegen aussichtslos, da weder die Türkei noch der Irak das IStGH-Statut ratifiziert haben.42 5. Handlungsmöglichkeiten Deutschlands im Rahmen der NATO Sowohl Deutschland als auch die Türkei sind Mitglieder der Nord Atlantic Treaty Oranisation (NATO).43 Im Art. 4 des NATO-Vertrages ist ein Beratungsmechanismus für den Fall vorgesehen, dass ein Mitgliedsstaat sich in seiner Gebietsunversehrtheit, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sieht. Die Türkei könnte danach geltend machen, sie sehe sich wegen der Angriffe der PKK aus dem Nordirak auf ihr Territorium in ihrer Sicherheit und territorialen Unversehrtheit bedroht. Im Kontext solcher Konsultationen könnten Deutschland sowie andere Mitgliedsstaaten der NATO auf eine anderweitige Lösung des Konfliktes hinwirken. Der Wortlaut des Art. 4 des NATO-Statutes ist dabei weit gefasst, sodass solche Beratungen nicht nur von dem bedrohten Staat selbst, sondern von irgendeinem Mitgliedsstaat, also auch von Deutschland, initiiert werden können. Auch diese internationale Bühne könnte Deutschland nutzen , um auf eine förmliche Erklärung der Türkei zu den Militäroperationen gegen die PKK in Nordirak herbeizuführen. *** 42 Vgl. Übersicht der Staaten, die den IStGH-Statut ratifiziert haben: Bundeszentrale für Politische Bildung, Internationale Strafgerichtsbarkeit, https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52814/internationale -gerichtsbarkeit. 43 Siehe Bundeszentrale für politische Bildung, Die NATO, Deutschland im Bündnis, Dossier vom 5. Juli 2020, https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/293297/nato.