© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 053/17 Die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung Verpflichtungen eines Küstenstaates nach dem Übereinkommen über Seenotrettung, das Refoulement-Verbot und die Strafverfolgung am Beispiel jüngster Vorfälle im Mittelmeer Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Rechte und Pflichten eines Küstenstaates bei der Seenotrettung sowie bei der Verfolgung von Straftaten 5 2.1. Das Küstenmeer 6 2.2. Die ausschließliche Wirtschaftszone 6 2.3. SAR-Zonen 7 3. Rechte und Pflichten Libyens unter dem Übereinkommen über Seenotrettung 8 4. Das Refoulement-Verbot 10 5. Ermittlungen nationaler und internationaler Strafverfolgungsbehörden 12 5.1. Der Internationale Strafgerichtshof 12 5.2. Die Staatsanwaltschaft Hamburg 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 4 1. Einleitung Mit dem Übereinkommen über Seenotrettung (Convention on Maritime Search and Rescue, SAR- Übereinkommen)1 von 1979 wollte die internationale Staatengemeinschaft ein internationales System der Koordinierung von Seenotrettungseinsätzen schaffen. Nachbarstaaten sollten sich vernetzen, Einrichtungen bündeln, gemeinsame Standards schaffen und Einsätze untereinander effizienter koordinieren.2 Nach Inkrafttreten des SAR-Übereinkommens teilte ein Ausschuss der Internationalen Seeschifffahrts -Organisation (International Maritime Organization, IMO) die Weltmeere in 13 Zonen auf.3 Innerhalb dieser Zonen haben die betroffenen Küstenstaaten wiederum weitere Zonen eingegrenzt , für die sie jeweils zuständig sind und Rettungspläne erstellen (SAR-Zonen).4 Weiterhin verpflichten sich die Vertragsparteien, nach Art. 2.3. und Art 2.4. SAR-Übereinkommen Rettungsleitstellen (rescue co-ordination centres) sowie ausgebildetes Personal (rescue units) bereitzustellen . Libyen ist dem Übereinkommen über Seenotrettung beigetreten,5 erfüllt seine daraus resultierenden , völkerrechtlichen Pflichten jedoch insofern nicht, als es bisher keine Rettungsleitstelle eingerichtet und gegenüber der zentralen Koordinierungsstelle in Rom notifiziert hat.6 Daher kann die sogenannte libysche Küstenwache7 bei Einsätzen der Seenotrettung keine Rettungsanordnungen anderer SAR-Rettungsleitstellen entgegennehmen. Nicht nur, dass die sogenannte libysche Küstenwache nicht an koordinierten Rettungseinsätzen teilnimmt: Es häufen sich Berichte von vermehrten Zwischenfällen im Mittelmeer, bei denen Seenotretter anderer Staaten oder Nichtregierungsorganisationen angeblich sogar durch die sogenannte libysche Küstenwache bei der Rettung von Flüchtlingen und Migranten behindert 1 Übereinkommen über Seenotrettung (unterzeichnet am 27. April 1979, in Kraft getreten am 22. Juni 1985), U.N.T.S., Vol. 1405, S. 118. 2 IMO, „International Convention on Maritime Search and Rescue“ (2017), verfügbar unter: http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/International-Convention-on-Maritime- Search-and-Rescue-(SAR).aspx (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 3 Ibid. 4 Siehe etwa: https://www.uscg.mil/hq/cg5/cg534/nsarc/IMO%20Maritime%20SAR%20Regions.pdf (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 5 Sachstand, „Rechtliche Konsequenzen einer Behinderung von Seenotrettern“ (11. November 2016), WD 2 – 3000 – 138/16, S. 6. 6 Keine Ergebnisse der Ländersuche („Libya“) unter: https://sarcontacts.info/ (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 7 Die Regierung der Nationalen Einheit in Tripolis kontrolliert lediglich Teile der Seegrenzen im Raum Tripolis durch ihr unterstellte seegehende Einheiten der libyschen Küstenwache (BT-Drs. 18/9262, S. 2). Da unklar ist, inwieweit auch Milizen Einfluss auf diese Küstenwache haben, wird offiziell lediglich von der „sogenannten“ libyschen Küstenwache gesprochen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 5 werden.8 Vor diesem Hintergrund geht der Sachstand der Prüfungsbitte eines Abgeordnetenbüros nach und erörtert, welche Rechte und Pflichten sich nach dem geltenden Völkerrecht für einen Küstenstaat im Hinblick auf die Seenotrettung ergeben (2.). Anschließend werden die Pflichten aus dem Übereinkommen über Seenotrettung (3.) sowie Verstöße gegen das sogenannte Refoulement -Verbot (4.) untersucht, bevor auf eine mögliche Strafverfolgung nationaler und internationaler Strafverfolgungsbehörden (5.) eingegangen wird. 2. Rechte und Pflichten eines Küstenstaates bei der Seenotrettung sowie bei der Verfolgung von Straftaten Für die Frage nach den völkerrechtlichen Rechten und Pflichten eines Küstenstaates ist maßgeblich , in welchen Gebieten das Schiff der jeweiligen Küstenwache operiert: im Küstenmeer, der ausschließlichen Wirtschaftszone (oder auf hoher See9). Diese Einteilung ergibt sich aus dem Seerechtsübereinkommens (SRÜ)10 von 1982. Staaten wie Libyen, die das SRÜ nicht ratifiziert haben,11 sind völkerrechtlich nicht an das Übereinkommen gebunden. Nichtsdestotrotz gilt für diese Staaten Völkergewohnheitsrecht. Gerade das internationale Seerecht ist, wie kein anderes Rechtsgebiet, von Gewohnheitsrecht geprägt und aus diesem gewachsen.12 Dem SRÜ kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu, da dessen Vorschriften ganz überwiegend mit dem geltenden Völkergewohnheitsrecht korrespondieren.13 Man kann daher davon ausgehen, dass die im Folgenden dargestellten 8 ARD Monitor, „Aggressiv und rücksichtlos: Das brutale Vorgehen der libyschen Küstenwache“ (15. Juni 2017), verfügbar unter: http://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-aggressiv-und-ruecksichtlos-das-brutalevorgehen -der-libyschen-kuestenwache-100.html; Ärzte ohne Grenzen, „Seenotrettung im Mittelmeer: Hilfsorganisationen fordern Unterstützung von Bundeskanzlerin Merkel“ (7. Juni 2017), verfügbar unter: https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/seenotrettung-mittelmeer-offener-brief-bundeskanzlerin-merkel; Sea- Watch, „Libysche Marine bringt bei illegaler Rückführungsaktion Sea-Watch Crew und Flüchtende in akute Lebensgefahr“ (10. Mai 2017), verfügbar unter: https://sea-watch.org/libysche-marine-bringt-bei-illegaler-rueckfuehrungsaktion -sea-watch-crew-und-fluechtende-in-akute-lebensgefahr; The Guardian, „Libyan Navy Admits Confrontation with Charity's Rescue Boat“ (28. August 2016), verfügbar unter: https://www.theguardian .com/world/2016/aug/28/libyan-navy-admits-confrontation-charity-rescue-boat-msf (jeweils zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). 9 Die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten des Küstenstaates auf hoher See sollen in diesem Sachstand außen vor bleiben, da sie für die Fragestellung des Abgeordnetenbüros nicht von Relevanz sind. 10 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (unterzeichnet am 10. Dezember 1982, in Kraft getreten am 16. November 1994), BGBl. 1994, Teil II, S. 1799. 11 Status der Ratifikationen des SRÜ (Stand: 10. Oktober 2014): http://www.un.org/depts/los/reference_files/status 2010.pdf (jeweils zuletzt aufgerufen am 15. Juni 2017). 12 Graf Vitzthum, Handbuch des Seerechts (Beck, München, 2006), S. 112; Treves, „Law of the Sea“ (2011), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (jeweils zuletzt aufgerufen am 16. Juni 2017), Rn. 11 f., 55-58. 13 World Ocean Review, „Die Rechtsordnung der Ozeane“, verfügbar unter: http://worldoceanreview.com/wor- Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 6 völkerrechtlichen Rechte und Pflichten in den verschiedenen Rechtsregimen im Küstenmeer, der ausschließlichen Wirtschaftszone oder auf hoher See auch für Libyen als Nicht-Mitgliedstaat des SRÜ gelten. 2.1. Das Küstenmeer Nach Art. 3 SRÜ umfasst das Küstenmeer diejenigen Gewässer, die höchstens zwölf Seemeilen von den Basislinien entfernt sind. Dieses Gebiet gehört zum Territorium des Küstenstaates, weshalb dort nationales Recht gilt (Art. 2 Abs. 1 SRÜ). Im libyschen Küstenmeer unterliegt die sogenannte libysche Küstenwache damit den nationalen Regelungen zur Rettung von in Gefahr geratenen Personen und zur Strafverfolgung. Auch Flüchtlings- und Migrantenboote unterliegen im Küstenmeer der Hoheitsgewalt des Küstenstaates. Sie genießen allerdings einen vergleichsweise geringen völkerrechtlichen Schutzstatus , da sie oftmals zu klein sind, um unter der Flagge eines anderen Staates zu fahren. Da sie flaggenlos sind, können keine Rechte eines fremden Staates verletzt werden (wie etwa das Recht der friedlichen Durchfahrt nach Art. 17 SRÜ), wenn diese Fahrzeuge angehalten werden.14 Über ein flaggenloses Schiff oder Boot kommt dem libyschen Küstenstaat daher in dessen Küstenmeer die vollständige und unbeschränkte Jurisdiktion zu. 2.2. Die ausschließliche Wirtschaftszone Die ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) ist nach Art. 55, 57 SRÜ ein jenseits des Küstenmeers gelegenes und an dieses angrenzendes Gebiet, welches sich nicht weiter als 200 Seemeilen von den Basislinien her erstreckt. In diesem Gebiet kann der Küstenstaat souveräne Rechte ausüben, ohne dabei selbst Souveränität über das Gebiet zu besitzen. Ihm ist vor allem die wirtschaftliche Nutzung des Meeresbodens und der darüber befindlichen Wassersäule überlassen.15 Darüber hinaus besteht gemäß Art. 58 Abs. 1 i.V.m. Art. 87 Abs. 1 SRÜ die Freiheit der Hohen See, insbesondere also die Freiheit der Schifffahrt. Teil der AWZ ist die sogenannte Anschlusszone. Diese schließt an die seewärtige Grenze des Küstenmeeres an, erstreckt sich aber gemäß Art. 33 Abs. 2 SRÜ nicht weiter als 24 Seemeilen von 1/seerecht/rechtsordnung-der-ozeane/ (zuletzt aufgerufen am 15. Juni 2017); Treves, „Law of the Sea“ (Fn. 12), Rn. 59: „At present it can be said that there is a presumption that the provisions of the (Law of the Sea) Convention correspond to customary law. It is, however, a rebuttable presumption as, again on a case by case basis, evidence can be submitted to argue that a specific provision has a merely treaty character.” World Ocean Review, „Die Rechtsordnung der Ozeane“, verfügbar unter: http://worldoceanreview.com/wor-1/seerecht/rechtsordnung -der-ozeane/ (jeweils zuletzt aufgerufen am 15. Juni 2017). 14 Rah, Asylsuchende und Migranten auf See: Staatliche Rechte und Pflichten aus völkerrechtlicher Sicht (Springer, Berlin, 2009), S. 21; Markard, „The Right to Leave by Sea: Legal Limits on EU Migration Control by Third Countries“, (2016) The European Journal of International Law, Vol. 27, Nr. 3. S. 591 (599). 15 Ipsen, Völkerrecht (6. Aufl., Beck, München, 2014), S. 906. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 7 den Basislinien. Es handelt sich um eine funktional-begrenzte Kontrollzone, in der der Küstenstaat berechtigt ist, Verstöße gegen Zoll-, Finanz-, Einreise- und Gesundheitsgesetze zu verhindern oder zu ahnden. Der Küstenstaat übt dort also eng umgrenzte polizeiliche Befugnisse aus. Weitergehende Hoheitsbefugnisse wie etwa zur Verfolgung von sicherheits- oder verteidigungspolitischen Interessen hat der Küstenstaat nicht.16 Liegen Anhaltspunkte vor, dass ein fremdes Schiff gegen eine der abschließend genannten Gesetze verstoßen hat und sich der Kontrolle des Küstenstaates entzieht, so steht dem Küstenstaat zudem ein Recht auf Nacheile (hot pursuit) zu.17 Im Übrigen gilt das Recht der AWZ. Da Art. 33 Abs. 1 lit. a) SRÜ dem Küstenstaat den Schutz der Seegrenzen vor illegaler Ein- (nicht Aus-)wanderung ermöglicht, dürfte im Umkehrschluss gelten, dass flaggenfremde Boote und Schiffe, die das libysche Küstenmeer in Richtung Europa verlassen haben, nicht verfolgt und aufgebracht werden dürfen (es sei denn, es bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass etwa Verstöße gegen Zoll- oder Finanzgesetze vorliegen). In der AWZ dürften die Boote daher die Freiheit der Schifffahrt genießen.18 Demgegenüber haben flaggen- bzw. staatenlose Boote und Schiffe kein Recht, die Meeresfreiheit in Anspruch zu nehmen.19 Indes kann jeder Staat seine Jurisdiktion über ein solches Schiff ausüben , d.h. Kriegsschiffe jedweder Nation dürfen das flaggenlose Schiff anhalten, an Bord gehen und dieses inspizieren (Art. 110 Abs. 1 lit. d) SRÜ).20 Sie dürfen sogar unter Beachtung des nationalen Rechts des Kriegsschiffes festgehalten und beschlagnahmt werden.21 Gleiches gilt nach Art. 110 Abs. 5 SRÜ für Schiffe der Küstenwache. 2.3. SAR-Zonen SAR-Zonen stellen keine nach dem SRÜ festgelegten, völkerrechtlichen Meereszonen dar. Sie unterliegen damit je nach dem Standort des betreffenden Schiffes oder Bootes (Küstenmeer, AWZ oder hohe See) dem Rechtsregime des SRÜ. 16 Ibid., S. 896. 17 Ibid. 18 Diese Freiheit darf nur in Ausnahmefällen (wie etwa im Falle der Nacheile nach Art. 111 SRÜ) eingeschränkt werden. Rah (Fn. 14), S. 66. 19 Ibid., S. 68. 20 König, „Flag of Ships“ (2009), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2017), Rn. 22; Kolb, Neumann und Salomon, “Die Entführung deutscher Seeschiffe: Flaggenrecht, Strafanwendungsrecht und diplomatischer Schutz” (2011) Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Vol. 71, verfügbar unter: http://www.zaoerv .de/ (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2017), S. 191 (199). Siehe allgemein zu Art. 110 SRÜ: Guilfoyle, „Art. 110: Right of Visit“, in Proelß (Hrsg.), United Nations Convention on the Law of the Sea: A Commentary (Beck, München, 2017), S. 767. 21 König (Fn. 20). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 8 3. Rechte und Pflichten Libyens unter dem Übereinkommen über Seenotrettung Die SAR-Mitgliedstaaten (und damit auch Libyen) haben sich in der Anlage zum SAR-Übereinkommen u.a. folgende Pflichten22 auferlegt: - Pflicht zur Errichtung von SAR-Zonen in Abstimmung mit Anrainerstaaten: Kapitel 2, Nr. 2.1.4; - Pflicht zur Teilnahme am Aufbau von Such- und Rettungszentren (jedoch mit der Einschränkung „as they [die SAR-Mitgliedstaaten] consider appropriate“): Kapitel 2, Nr. 2.3; - Pflicht zur Seenotrettung: Kapitel 2, Nr. 2.1.10; - Pflicht zur Koordinierung von Such- und Rettungsoperationen zwischen Nachbarstaaten: Kapitel 3, Nr. 3.1.1. Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ihre Operations- und Rettungspläne auf dem neuesten Stand zu halten (Kapitel 4, Nr. 4.1.) sowie bestimmte Verfahren bei der Suchund Rettungsoperationen einzuhalten (Kapitel 5, Nr. 5.3) – insbesondere einen on-scene commander zu bestimmen (Kapitel 5, Nr. 5.6.). Empfohlen wurde schließlich, ein Berichtssystem einzurichten (ship reporting system, Kapitel 6, Nr. 6.1). Das SAR-Übereinkommen wurde zudem überarbeitet. Die Änderungen traten zum 1. Januar 2000 in Kraft und mündeten in einem International Aeronautical and Maritime Search and Rescue Manual.23 Da Libyen aktuell keine SAR-Zonen gemeldet hat, bleibt es bei der allgemeinen, völkergewohnheitsrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung für alle Staaten.24 Hiernach muss jeder Kapitän eines Schiffes Personen Hilfe leisten, die in Seenot geraten sind, soweit er dazu ohne ernste Gefährdung seines Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste imstande ist. Der Umstand, dass Libyen keine SAR-Zonen gemeldet hat, erweitert daher weder Rechte noch Pflichten der Anrainerstaaten zur Seenotrettung. Diese Pflichten können lediglich nicht unter den SAR-Mitgliedsstaaten effektiv koordiniert werden. Das SAR-Übereinkommen lässt nämlich offen, welcher Staat die Rettung koordiniert, wenn ein Seenotruf aus einer SAR-Zone eingeht, in der ein Staat nicht willens oder fähig ist, seinen Pflichten aus dem SAR-Übereinkommen nachzukommen.25 In einigen Fällen hat 22 Art. 1.1. (Kapitel 1) SAR-Übereinkommen legt fest, dass der Begriff „shall“ dort verwendet wird, wo das SAR- Übereinkommen rechtliche Verpflichtungen begründet, während Art. 1.2. klarstellt, dass jede Bestimmung, die den Begriff „should“ enthält, lediglich als Empfehlung zu verstehen ist. 23 IMO, IAMSAR Manual, verfügbar unter: http://www.imo.org/en/OurWork/safety/radiocommunicationsandsearchandrescue /searchandrescue/pages/iamsarmanual.aspx (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). 24 Sachstand, „Rechtliche Konsequenzen einer Behinderung von Seenotrettern“ (Fn. 5), S. 6. 25 So schon die Parlamentarische Versammlung des Europarates, „Lives Lost in the Mediterranean Sea: Who is Responsible?“, Res. 1872 (2912), Rn. 10, 13. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 9 sich bereits teilweise eine Übung etabliert, bei der Rettungsleitstellen anderer Staaten die Verantwortung für die Rettungsaktion außerhalb ihrer eigenen SAR-Zone übernehmen.26 Auch andere Akteure rücken in das praktische „Vakuum“ des SAR-Übereinkommens vor: So veranlasst etwa die EU-geführte Operation EUNAVOR MED Rettungsaktionen in der (nicht benannten) SAR-Zone Libyens, aber außerhalb deren Küstenmeers.27 Nichtregierungsorganisationen oder Vereine wie Sea-Watch und Ärzte ohne Grenzen tun dies mit eigenen Schiffen sowohl in der libyschen SAR- Zone als auch im Küstenmeer.28 Insgesamt hat sich gezeigt, dass Rettungsaktionen zwischen 2014 und 2016 immer näher in Richtung libysche Küste und seit 2016 auch zunehmend innerhalb des libyschen Küstengewässers stattfinden. Quelle: Frontex29 26 International Maritime Rescue, „Refugee and Migrant SAR in the Mediterranean: Practitioners’ Perspectives“ (6. Juni 2016), verfügbar unter: https://www.international-maritime-rescue.org/mixedmigranthome/173-lifelinejune -2016-english/2027-refugee-and-migrant-sar-in-the-mediterranean-practitioners-perspectives (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2017). 27 European Political Strategy Centre, „Who Rescues Where?“ (22. Februar 2017), verfügbar unter: https://ec.europa .eu/epsc/publications/strategic-notes/irregular-migration-central-mediterranean_en#footnote3 (zuletzt aufgerufen am 12. Juni 2017). 28 Ibid. 29 Ibid., “Figure 7: Search and rescue operations moving closer to the Libyan coast line”. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 10 Neben der unterlassenen Benennung einer SAR-Zone hat Libyen bisher auch kein nationales Such- und Rettungszentrum eingerichtet und der zentralen Koordinierungsstelle in Rom gemeldet . Daher scheint momentan (noch) keine Konstellation denkbar, in welcher ein Schiff der sogenannten libyschen Küstenwache nach Kapitel 5, Nr. 5.7.2 SAR-Übereinkommen zum on-scenecommander designiert wird. Sollte Libyen in Zukunft ein Such- und Rettungszentrum einrichten, so müsste es im Falle eines Seenotrufes an einem koordinierten Rettungseinsatz teilnehmen. 4. Das Refoulement-Verbot Nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)30 darf kein Vertragsstaat einen Flüchtling in Gebiete aus- oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde (sog. Grundsatz des non-refoulement). Da das Refoulement-Verbot auch als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist,31 gilt es auch für Libyen (welches nicht Vertragspartei der GFK geworden ist32). Inhaltlich begründet das Refoulement-Verbot kein positives Recht auf internationalen Schutz. Es verschafft Flüchtlingen lediglich ein Bleiberecht, solange einerseits ihre Angst vor Verfolgung im Rückführungsstaat begründet ist und sie andererseits nicht in einen Drittstaat ausgewiesen werden können, in welchem die Gefahr einer Kettenausweisung in den Rückführungsstaat besteht.33 Dem Aufnahmestaat wird demnach eine Pflicht zur Unterlassung der Ausweisung oder Rückführung auferlegt, selbst wenn der Asylantrag des Flüchtlings u.U. bereits abgelehnt wurde.34 Das Refoulement-Verbot bezieht sich auf Ausweisungen aus dem Aufnahmestaat und Zurückweisung an dessen Grenze – im Falle Libyens beträfe dies namentlich Szenarien, bei denen Libyen Flüchtlinge in Rückführungsstaaten ausweisen würde oder Flüchtlingen an der Grenze die 30 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (unterzeichnet am 28. Juli 1951, in Kraft getreten am 22. April 1954), BGBl. 1953, Teil II, S. 560. 31 Kälin, Caroni und Heim, „Article 33, para. 1“, in Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol: A Commentary (Oxford, OUP, 2011), Rn. 31, m.w.N.; Trevisanut, „The Principle of Non-Refoulement at Sea and the Effectiveness of Asylum Protection” (2008) Max Planck Yearbook of United Nations Law, Vol. 12, S. 205 (215). Kritisch: Kugelmann, “Refugees” (2010), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). 32 UNHCR, „States Parties to the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and the 1967 Protocol“ (April 2015), verfügbar unter: http://www.unhcr.org/protect/PROTECTION/3b73b0d63.pdf (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). 33 Kälin, Caroni und Heim, „Article 33, para. 1“ (Fn. 31), Rn. 2. 34 Ibid. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 11 Einreise nach Libyen in dem Wissen verweigern würde, dass ihnen an ihrem aktuellen Aufenthaltsort Verfolgung und damit Gefahr für Leben und Freiheit droht. Im Umkehrschluss dürfte kein Anwendungsfall des Refoulement-Verbots vorliegen, wenn die libysche Küstenwache: - Flüchtlinge und Migranten in der (nicht benannten) SAR-Zone von flaggenlosen Booten oder Schiffen aufnimmt und nach Libyen zurückbringt; - Flüchtlinge und Migranten von Rettungsinseln aufnimmt, die von Rettungsorganisationen zurückgelassen wurden, weil diese einen Hafen ansteuern oder weitere Rettungseinsätze übernehmen mussten; oder - (theoretisch) als on-scene-commander mandatiert wäre und Angebote anderer, an der Rettungsaktion beteiligter Schiffe zur Übernahme aufgenommener Flüchtlinge und Migranten ausschlägt35. Im Zusammenhang mit den Einsätzen der sogenannten libyschen Küstenwache wird zunehmend auch ein Recht auf Ausreise diskutiert.36 Das Menschenrecht sei verletzt, sobald ein Boot oder Schiff die Küstengewässer verlassen habe und aus internationalen Gewässern – etwa nach Libyen – zurückgezogen werde (sogenannte pull-backs).37 Mit Blick auf die Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer dürfte allerdings insofern eine Sondersituation bestehen, als dass deren Boote oftmals völlig überladen sind und/oder auf Grund der Wetterlage in Seenot geraten. In solch einem Szenario konfligiert die Ausreisefreiheit der Flüchtlinge und Migranten mit der völkerrechtlichen Pflicht zur Seenotrettung herannahender Schiffe. Bei einer Abwägung wäre im konkreten Einzelfall maßgeblich, ob tatsächlich eine Seenot bestand oder deren Bestehen vernünftigerweise angenommen werden durfte.38 35 In diesem Fall könnte ein Verstoß gegen die völkergewohnheitsrechtliche Pflicht zur Seenotrettung vorliegen. 36 Siehe etwa Markard, „The Right to Leave by Sea: Legal Limits on EU Migration Control by Third Countries“ (Fn. 14); Markard, „Flüchtlingspolitik in der EU: Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!” (21. April 2015), verfügbar unter: http://verfassungsblog.de/fluechtlingspolitik-in-der-eu-heiliger-sankt-florianverschon -mein-haus-zuend-andre-an/ (zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2017). 37 Markard, „The Right to Leave by Sea: Legal Limits on EU Migration Control by Third Countries“ (Fn. 14), S. 596 f. 38 Zum Begriff siehe, Fasoli, „Distress“ (2013), in Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, verfügbar unter: http://opil.ouplaw.com/home/EPIL (zuletzt aufgerufen am 19. Juni 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 12 5. Ermittlungen nationaler und internationaler Strafverfolgungsbehörden 5.1. Der Internationale Strafgerichtshof Der VN-Sicherheitsrat hat dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im Februar 2011 per Resolution aufgetragen, Ermittlungen zur Situation in Libyen einzuleiten.39 Ausweislich der Resolution 1970 (2011) sollte der IStGH die Ermittlung auf die Situation seit dem 15. Februar 2011 konzentrieren. Insbesondere wurde Einzelpersonen des Regimes unter Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi der Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht.40 Es ist nicht ersichtlich, dass die Überweisung auch angebliche Straftaten der sog. libyschen Küstenwache umfasste. Dafür fehlt es bei einer Küstenwache bereits an der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach Art. 25 Abs. 1 des Römischen Statut (RS). Selbst wenn die Überweisung einen Tatverdacht gegen natürliche Personen, die zur Küstenwache gehörten, umfassen sollte oder die Ermittlungen inhaltlich ausgeweitet41 werden würden, so könnten weder die Bundeswehr (als Teilnehmer der Operation EUNAVFOR MED), die Bundespolizei (als Teilnehmer der Operation TRITON) noch die jeweils zuständigen Ministerien gezwungen werden, dem IStGH bei dessen Ermittlungen gegen angebliche Straftaten der libyschen Küstenwache zuzuarbeiten. Zwar haben Vertragsstaaten zum Römischen Statut nach Art. 86-87 RS grundsätzlich die Pflicht, mit dem IStGH bei dessen Ermittlungen uneingeschränkt zusammenzuarbeiten . Leistet ein Vertragsstaat dem Ersuchen des IStGH nicht Folge und hindert damit dessen Ermittlungen, kann der IStGH die Befolgung dieser Pflicht anders als im nationalen Recht nicht mit Zwang durchsetzen. Er kann lediglich nach Art. 87 Abs. 7 RS eine entsprechende Feststellung treffen und – wenn der VN-Sicherheitsrat die Angelegenheit dem Gerichtshof überwiesen hat – diesem übergeben. 5.2. Die Staatsanwaltschaft Hamburg Der private Verein Sea-Watch e.V. hatte anlässlich eines Rettungseinsatzes vom 21. Oktober 2016 Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Hamburg erstattet mit dem Ziel, gegen Mitglieder der sogenannten libyschen Küstenwache wegen des Todes mehrerer Flüchtlinge und Migranten ermitteln zu lassen. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen mit der Begründung ein, dass angeblich 39 UN-SR, Res. 1970 (2011), Rn. 5. 40 IStGH, „Libya“, VN-Dok. ICC-01/11, verfügbar unter: https://www.icc-cpi.int/libya (zuletzt aufgerufen am 9. Juni 2017). 41 So etwa: Sea-Watch, „Sea-Watch bereitet juristische Schritte zur Durchsetzung des Non-Refoulement Prinzips vor“ (18. Mai 2017), verfügbar utner: https://sea-watch.org/sea-watch-bereitet-juristische-schritte-zur-durchsetzung -des-non-refoulement-prinzips-vor/ (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 053/17 Seite 13 „trotz der potentiell strafbaren Handlung die Identität der Täter nicht festgestellt werden konnte“42. Anders als der Sea-Watch e.V. meint43, wäre die Bundesregierung schon wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung nicht befugt (oder gar verpflichtet) gewesen, die Ermittlungen voranzutreiben . Aus den Vorfällen lässt sich auch keine rechtlich verbindliche Verpflichtung der Bundesregierung herleiten, die im Rahmen der Operation EUNAVFOR MED geleisteten Ausbildungshilfen zu evaluieren. Die Bundesregierung leistet als Teil der EU-geführten Operation EUNAVFOR MED Hilfe zum Kapazitätsaufbau und zu Schulungen der sogenannten libyschen Küstenwache sowie der libyschen Marine44. Vor Ausbildungsbeginn werden die Auszubildenden sicherheitsüberprüft und auch während der Ausbildung besteht die Möglichkeit, diese bei unangemessenem Verhalten abzubrechen.45 Jedoch lassen weder die Rechtsgrundlagen der Mission im Allgemeinen noch die konkret ausformulierten Ziele der Operation EUNAVFOR MED eine Rechtsverpflichtung dahingehend erkennen, dass die Bundesregierung nach Ausbildungsende eine „nicht bestimmungsgemäße “ und nicht an rechtsstaatlichen Maßstäben orientierte Nutzung der vermittelten Kenntnisse zu überprüfen hat.46 *** 42 Sea-Watch, „Sea-Watch befürchtet weitere Übergriffe: Verfahren gegen Libysche Küstenwache trotz strafbarem Handeln eingestellt“ (7. Februar 2017), verfügbar unter: https://sea-watch.org/sea-watch-befuerchtet-weitereuebergriffe -verfahren-gegen-libysche-kuestenwache-trotz-strafbarem-handeln-eingestellt/ (zuletzt aufgerufen am 13. Juni 2017). 43 Ibid., a.E. 44 Art. 2 lit. a) des Beschlusses (GASP) 2016/993 des Rates vom 20. Juni 2016. 45 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Markus Grübel vom 13. September 2016, BT-Drs. 18/9641, S. 55 f. 46 Ausweislich Art. 1 des Beschlusses (GASP) 2016/993 des Rates vom 20. Juni 2016 ist Ziel der Operation: „Das Geschäftsmodell der Menschenschmuggel- und Menschenhandelsnetze im südlichen zentralen Mittelmeer zu unterbinden, indem systematische Anstrengungen unternommen werden, um Schiffe und an Bord befindliche Gegenstände, die von Schleusern und Menschenhändlern benutzt oder mutmaßlich benutzt werden, nach Maßgabe des anwendbaren Völkerrechts, einschließlich des SRÜ und etwaiger Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, auszumachen, zu beschlagnahmen und zu zerstören.“ Über diese Zielvorgaben hinausgehende, rechtsverbindliche Überprüfungspflichten für die Bundesregierung sind nicht ersichtlich.