© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 052/20 Entschädigung für enteignetes oder vergesellschaftetes Vermögen aus völkerrechtlicher Sicht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Prozessuale Anmerkungen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 4 1. Verfassungsrechtliche Einführung Die Diskussion über mögliche Enteignungen1 von Immobilienunternehmen in Berlin (wie z.B. die Deutsche Wohnen & Co.)2 hat insbesondere Fragen nach einer entsprechenden Entschädigung aufgeworfen. Bei den ins Auge gefassten Enteignungen geht es juristisch präzise um eine Vergesellschaftung (Sozialisierung) im Sinne des Art. 15 GG.3 Dieser lautet: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.“ Bei der Vergesellschaftung handelt es sich nicht um einen bloßen Sonderfall der Enteignung, sondern um ein eigenständiges Rechtsinstitut, bei dem Eigentum in Gemeineigentum (Kollektiveigentum, vergesellschaftetes Eigentum) überführt wird. Vergesellschaftetes Eigentum muss entschädigt werden. Art und Ausmaß der Entschädigung müssen gem. Art. 15 GG durch Gesetz geregelt werden (sog. Junktimklausel). Verwiesen wird dabei auf eine entsprechende Geltung der Enteignungsvorschrift des Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG. Das Vergesellschaftungsziel erlaubt also keinen entschädigungslosen Zugriff auf den Vermögenswert , z.B. wegen angeblich „sozialschädlicher“ Eigentumsnutzung.4 Darin unterscheidet sich die Vergesellschaftung von der sog. Konfiskation (Konfiszierung) – also von der entschädigungslosen Beschlagnahme von Eigentum. Ob dagegen Art. 15 GG eine Entschädigung in voller Höhe des Markt- oder Verkehrswertes erfordert, ist in der verfassungsrechtlichen Literatur umstritten. Teilweise wird bei der Vergesellschaftung nach Art. 15 GG grundsätzlich eine Orientierung am Verkehrswert des zu vergesellschaftenden Eigentums gefordert.5 Andere wiederum sehen bei Art. 15 GG größere Spielräume für die Berücksichtigung der gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung einer Vergesellschaftung, so dass die Entschädigung auch unter Verkehrswert bleiben könne. 1 Unter Enteignung versteht man jede Entziehung von Vermögenswerten durch Hoheitsakt oder Gesetz. 2 Vgl. Legal Tribune online vom 6. April 2019, „Kann Berlin die Deutsche Wohnen enteignen?“, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/berlin-volksbegehren-deutsche-wohnen-enteignen-erste-juristischegutachten /. 3 Vgl. Cara Röhner, „Eigentum und Vergesellschaftung in der Wohnungskrise. Zur Aktualität von Art. 15 GG“, in: Kritische Justiz (KJ) 2020, S. 16-29, https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-2020-1-16/eigentumund -vergesellschaftung-in-der-wohnungskrise-zur-aktualitaet-von-art-15-gg-jahrgang-53-2020-heft-1?page=1. 4 Depenheuer/Froese, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, München: Beck 7. Aufl. 2018 Art. 15 Rdnr. 46. 5 Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, München: Beck, 3. Aufl. 2020, Art. 15 Rdnr. 22. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 5 Da es zu Art. 15 GG (bislang) keine Verfassungsrechtsprechung gibt, lässt sich die Frage einer Entschädigung derzeit nur „akademisch“ diskutieren.6 2. Entschädigung für Enteignungen im Völkerrecht Aus völkerrechtlicher Sicht stellt sich z.B. die Frage nach der völkerrechtskonformen Ausgestaltung eines Gesetzes, das Art und Ausmaß der Entschädigung einer Vergesellschaftung von Eigentum nach Art. 15 GG regelt. Zu klären ist, ob das Völkerrecht dem deutschen Gesetzgeber Spielräume bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung belässt oder vielmehr zwingende Vorgaben hinsichtlich des völkerrechtlichen Entschädigungsstandards macht. Im Folgenden soll insbesondere geprüft werden, ob das Völkerrecht stets eine volle Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes der vergesellschafteten bzw. enteigneten Immobilie verlangt, oder ob es Differenzierungen bei der Bemessung der Entschädigungshöhe zulässt. Untersucht werden in diesem Zusammenhang die menschenrechtlichen (2.1.) und investitionsschutzrechtlichen (2.2.) Vorgaben des Völkerrechts. 2.1. Menschenrechtliche Vorgaben 2.1.1. Verstaatlichung Ähnlich wie das Europarecht (vgl. Art. 345 AEUV) lässt auch das Völkerrecht die Eigentumsordnung der Staaten weitgehend unberührt. Die in Art. 15 GG geregelte „Vergesellschaftung“ von Eigentum findet im Völker(vertrags)recht keine entsprechende Regelung. Diskutiert wurde in der älteren amerikanischen Völkerrechtsliteratur7 vor allem über Formen der Verstaatlichung (nationalization), die eine spezielle Form des Gemeineigentums bezeichnet. 6 Vgl. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste WD 3 – 3000 – 108/19 vom 12. April 2019, „Zur Zulässigkeit der Vergesellschaftung von Wohneigentum eines privaten Wohnungsunternehmens“, https://www.bundestag.de/resource/blob/648700/3508b74884039a3808e9cdef30289254/WD-3-108-19-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste, Aktueller Begriff vom 6. Mai 2019, „Die Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG und die Vergesellschaftung nach Art. 15 GG“, https://www.bundestag.de/resource/blob/640256/7039208bc770dc873cecee22b17e06d3/Enteignung-nach-Art- 14-data.pdf. 7 Earl A. Snyder, “Measure of Compensation for Nationalization of Private Property”, Catholic University Law Review (1953), S. 107-117, https://scholarship.law.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=3093&context=lawreview. Edith Penrose / George Joffi / Paul Stevens, “Nationalisation of Foreign-owned Property for a Public Purpose: An Economic Perspective on Appropriate Compensation”, Modern Law Review 1992, S. 351-367, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1111/j.1468-2230.1992.tb00916.x. Re, Edward D., "The Nationalization of Foreign-Owned Property”, Minnesota Law Review 1952, S. 323-342, https://scholarship.law.umn.edu/mlr/1212. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 6 Entschädigung (compensation) für Verstaatlichungsmaßnahmen wurde nach dem (verfassungs-) rechtlichen Standard des betreffenden Staates gewährt. Ein einheitlicher Entschädigungsstandard hat sich dabei nicht herausgebildet; vielmehr wurden Entschädigungen von Fall zu Fall durch die nationalen Gerichte zugesprochen, wobei unter den entscheidungserheblichen Kriterien offenbar auch Billigkeitserwägungen eine Rolle gespielt haben.8 2.1.2. Enteignung Enteignungen sind als Ausdruck der territorialen Souveränität und Gebietshoheit völkerrechtlich zulässig. Ein menschenrechtliches Enteignungsverbot existiert nicht.9 Eigentumsentziehende staatliche Maßnahmen, durch welche Privatpersonen enteignet werden (expropriation), müssen jedoch den menschenrechtlichen Anforderungen genügen. Eine Enteignungsregelung findet sich etwa in Art. 1 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls (ZP I) zur EMRK, das den Schutz des Eigentums gewährleistet: „Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.“ Die Frage der Enteignungsentschädigung ist nach der EMRK ein Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung . Eine angemessene Entschädigung schafft dabei den geforderten gerechten Ausgleich .10 Die Nichtgewährung einer Entschädigung führt in der Regel zur Verletzung des Grundrechts . Die Berufung auf mangelnde Haushaltsmittel entbindet dabei den Staat grundsätzlich nicht von der Verpflichtung zur Entschädigung.11 Insoweit ist davon auszugehen, dass nach der EMRK eine grundsätzliche Entschädigungspflicht sowohl für Ausländer als auch für Inländer besteht.12 8 Francesco Francioni, “Compensation for Nationalisation of Foreign Property: The Borderland between Law and Equity”, in: The International and Comparative Law Quarterly Vol. 24 (1975), S. 255-283, https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridgecore /content/view/2302099E23C05042D2E0CB928CDA85EA/S0020589300032802a.pdf/compensation_for_natio nalisation_of_foreign_property_the_borderland_between_law_and_equity.pdf. 9 Dolzer/Kreuter-Kirchhof, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin, 7. Aufl. 2016, Kap. 6, Rdnr. 43. 10 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 25 Rdnr. 22 m.w.N. aus der Rechtsprechung in Anm. 144. 11 Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl am Rhein: Engel Verlag, 3. Aufl. 2009, Art. 1 des 1. ZP, Rdnr. 69 mit Nachweisen aus der EGMR-Rechtsprechung in Fn. 183. 12 Vgl. st. Rspr. James u.a. gegen Großbritannien, EGMR-Urteil vom 21. Februar 1986, Beschwerde Nr. 8793/79; Lithgow u.a. gegen Großbritannien, EGMR-Urteil vom 8. Juli 1986, Beschwerde Nr. 9006/80. Matthias Hartwig, „Der Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK“, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Bd. 63 (1999), S. 561-579 (574). Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 25 Rdnr. 22. Kaiser, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Art. 1 ZP I Rdnr. 39. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 7 Art. 1 ZP I EMRK gewährt kein absolutes Recht auf volle Entschädigung. Der Umfang der Entschädigungspflicht hängt vielmehr von den Umständen des Falles ab. Die Höhe der Enteignungsentschädigung müsse nach der Rechtsprechung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs in einem vernünftigen Verhältnis zum fraglichen Wert – in der Regel dem Markt- oder Verkehrswert zum Zeitpunkt der Enteignung – stehen.13 Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Bemessung der Höhe der Enteignungsentschädigung einen erheblichen Gestaltungsspielraum. Staaten seien nach Auffassung des EGMR besser als ein internationales Gericht in der Lage zu beurteilen, was in entschädigungsrechtlicher Hinsicht „angemessen“ sei. In der Rechtsprechung des EGMR ist die Tendenz zu beobachten, dass insbesondere bei einer Individualenteignung, wo der Gedanke des „Sonderopfers“ zum Tragen kommt, tendenziell volle Entschädigung zu gewähren ist. Bleibt die geleistete Entschädigung deutlich unter dem Verkehrswert , so liegt grundsätzlich eine Verletzung des Art. 1 ZP I EMRK vor.14 Bei einer Enteignung, die einen größeren Bevölkerungskreis betrifft (sog. „Globalenteignung“), kann die Entschädigung dagegen auch auf einen unter dem Verkehrswert liegenden Ersatz beschränkt sein.15 Insbesondere bei umfangreichen Eingriffsmaßnahmen aus sozialpolitischen oder wirtschaftspolitischen Gründen hat der Straßburger Gerichtshof zur Frage des Umfangs der Entschädigungspflicht zum Teil eine einschränkende und differenzierende Haltung eingenommen : So können legitime Zielsetzungen im öffentlichen Interesse – etwa Maßnahmen, mit denen wirtschaftliche Reformen oder größere soziale Gerechtigkeit verfolgt werden – eine Entschädigung rechtfertigen, die unter dem vollen Marktwert des entzogenen Eigentums liegt.16 Der EGMR beschränkt sich bei enteignenden Maßnahmen daher in der Regel auf eine Missbrauchskontrolle, ob die zugestandene Entschädigung offensichtlich unangemessen ist (manifestly without reasonable foundation) oder gegen das Willkürverbot verstoßen hat. 13 Kaiser, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Art. 1 ZP I Rdnr. 40. Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, München: Beck u.a., 2. Aufl. 2020 § 36 Rdnr. 69 m.w.N. aus der Rechtsprechung. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl a.R.: Engel Verlag, 3. Aufl. 2009, Art. 1 des 1. ZP, Rdnr. 70. 14 EGMR Urteil vom 29. März 2006 (GK), Scordino gegen Italien, Beschwerde Nr. 36813/97, Z. 82 ff. (Entschädigung nur im Ausmaß von 40% des Verkehrswertes). 15 Matthias Hartwig, „Der Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK“, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Bd. 63 (1999), S. 561-579 (577) m.w.N. aus der Rechtsprechung des EGMR in Anm. 59. Weber, Albrecht, Menschenrechte. Texte und Fallpraxis, München: Sellier, 2004, Kap. 10, S. 829 ff. 16 Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Kehl: Engel Verlag, 3. Aufl. 2009, Art. 1 des 1. ZP, Rdnr. 72 m.w.N. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 25 Rdnr. 24. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 8 Tatsächlich sah der EGMR in einem Fall gegen Portugal Art. 1 ZP I EMRK als verletzt an, weil die anlässlich von Nationalisierungsmaßnahmen gezahlten Entschädigungen aus Sicht des Gerichtshofs unzulänglich waren.17 2.2. Investitionsschutzrecht Entschädigungsfragen entfalten aber nicht nur menschenrechtliche, sondern auch investitionsschutzrechtliche Relevanz. Auch nach internationalem Investitionsschutzrecht sind Enteignungen nicht verboten, sondern sind nur gewissen materiellen und prozeduralen Bedingungen und Vorgaben unterworfen. Die meisten Investitionsschutzabkommen (Bilateral Investment Treaties, BITs) sind hinsichtlich ihrer materiellen Schutzstandards mittlerweile weitgehend vergleichbar. So findet sich in nahezu allen BITs die grundsätzliche Verpflichtung zur Entschädigung bei Enteignungen in dem Staat, in dem investiert werden soll – die Enteignungsentschädigung bildet historisch gesehen den Kern und die raison d'être des Investitionsschutzrechts.18 Konkreten Vorgaben hinsichtlich der exakten Höhe einer Entschädigung sehen die BITs allerdings nicht vor. Über das „wie viel“ der Entschädigung wird regelmäßig vor den internationalen Schiedsgerichten gestritten. Vielfach wird in diesem Zusammenhang auf die sog. „Hull-Formel“ im Völkerrecht verwiesen. Diese Formel wurde im Jahre 1938 durch den ehemaligen US-Außenminister, Mitbegründer der Vereinten Nationen und Friedensnobelpreisträger von 1945 Cordell Hull (1871-1955) geprägt. Danach muss eine Entschädigung „prompt, adequate and effektive“ sein.19 „Prompt“ bezieht sich auf eine Entschädigung in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Enteignung, insbesondere wenn anderenfalls ein Inflationsverlust hinzunehmen wäre; „adäquat“ meint einen „angemessenen “ (appropriate), in der Regel vollen (full) Wertersatz (Verkehrswert); „effektiv“ bedeutet die Zahlung ohne Devisenbeschränkungen und in einer konvertiblen Währung.20 Umstritten ist vor allem das Kriterium „adequate“: Während die Industriestaaten des westlichen Welt argumentierten, eine »angemessene« Entschädigung sei nichts anderes als der „Hull- Standard“, behaupteten die Staaten der sog. „Dritten Welt“, »angemessen« könne auch eine Entschädigung unterhalb des vollen Werts des enteigneten Eigentums sein. Auch die VN- Generalversammlung ging in der Charta über die wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten21 (nur) von einer angemessenen Entschädigung (appropriate compensation) aus. 17 Herdade da Comporta-Actividades Agro Silvícolas e Turisticas, S.A. gegen Portugal, Beschwerde Nr. 41453/02 vom 10. Juli 2007. 18 Markus Krajewski, Völkerrecht, Baden-Baden: Nomos 2017, § 13 Rdnr. 75 f. 19 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019; Rdnr. 991 und 1002. Dies entspricht etwa der Regelung in Art. 4 Abs. 2 des deutschen Muster-Bilateral Investment Treaty (BIT). 20 Stefan Oeter, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: eck, 7. Aufl. 2018, § 51 Rdnr. 34. 21 GA Res. 3281 (XXIX) vom 12. Dezember 1974. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 9 So ist es bis heute schwierig, eine völkergewohnheitsrechtliche Norm im Hinblick auf den Entschädigungsstandard bei Enteignungen zu formulieren, die für das Investitionsschutzrecht als „Untergrenze“ der Entschädigung herangezogen werden könnte. Auch die Rechtsprechung berühmter Schiedsgerichtsverfahren (Iran-US Claims Tribunal) hat keine Klarheit darüber gebracht, ob das Völkergewohnheitsrecht vom Grundsatz der vollen Entschädigung (Marktwert) ausgeht.22 Der Entschädigungsstandard im allgemeinen Völkerrecht könne nach Auffassung der Literatur nicht allein mit der sog. „Hull-Formel“ beschrieben werden.23 Vielmehr müssten die Interessen des enteignenden Staates und des enteigneten Ausländers im konkreten Einzelfall zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden. Die Schiedsgerichte entscheiden dabei auf der Grundlage des jeweiligen Investitionsschutzvertrages unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls. Die Schiedspraxis ist uneinheitlich.24 Eine Staatenpraxis in Richtung eines vollen Entschädigungsausgleichs (also full compensation im Sinne des Verkehrswerts einer enteigneten Immobilie) lässt sich gewohnheitsrechtlich jedenfalls nicht festmachen.25 Ein Beitrag von Kämmerer, der nachfolgend in Auszügen wiedergegeben (S. 9-11) wird,26 setzt sich eingehender mit der Entschädigungsproblematik im Investitionsschutzrecht auseinander: „Zwar hat das sich stetig verdichtende Netz bilateraler zwischenstaatlicher wie quasi-völkerrechtlicher Investitionsschutzabkommen der Frage nach dem Maßstab des universellen Gewohnheitsrechts für die Höhe der gebotenen Entschädigung für staatliche Enteignungsakte viel von ihrer Brisanz genommen. Doch weist dieses Netz noch immer weite Lücken auf, ja noch immer sind mehrere Dutzend Staaten überhaupt nicht Parteien solcher Übereinkommen, weswegen für die insoweit vorgenommenen Enteignungsakte der allgemeine gewohnheitsrechtliche Standard weiter maßgeblich bleibt. Hinzu kommt, dass für die erwünschte Kodifizierung der Investitionsschutzstandards zunächst einmal Gewissheit über den gewohnheitsrechtlichen Status quo bestehen müsste. 22 Matthias Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 12. Aufl. 2020, § 20 Rdnr. 12. 23 So Martin Schäfer, „Der Entschädigungsstandard im allgemeinen Völkerrecht“, in: Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1998, S. 199-204, https://online.ruw.de/suche/riw/De-Entschaedigungsstanda-im-allgemein- Voelkerrec-b36e88683f4e2b450119fd8febf3a9f6?crefresh=1. 24 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019; Rdnr. 1003. 25 So auch Martin Schäfer, „Der Entschädigungsstandard im allgemeinen Völkerrecht“, in: Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1998, S. 199-204, https://online.ruw.de/suche/riw/De-Entschaedigungsstanda-imallgemein -Voelkerrec-b36e88683f4e2b450119fd8febf3a9f6?crefresh=1. 26 Jörn Axel Kämmerer, „Der Schutz des Eigentums im Völkerrecht“, in: Otto Depenheuer (Hrsg.), Eigentum, Ordnungsidee, Zustand, Entwicklungen, Heidelberg: Springer, 2005, S. 131-149. Buch online unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fb138318.pdf. Vollständiger Beitrag abrufbar unter: https://www.unitrier .de/fileadmin/fb5/inst/IRP/ZZ__do_not_use__/03_Events/Bitburger_Gespr%C3%A4che/2004/2004_I/Doc/B itburgerGespr_2004_I_Kaemmerer_151_175_geschuetzt.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 10 Nicht umstritten ist, dass für Enteignungen überhaupt Entschädigung geleistet werden muss. Die in Südamerika einst verbreitete Calvo-Doktrin, wonach einem ausländischen Rechtsträger nicht mehr als Inländerbehandlung zusteht – er also dann keinen Anspruch auf Entschädigung hat, wenn ein solcher auch den Staatsangehörigen des Enteignerstaates nicht zustehen würde – vermochte sich nicht weltweit durchzusetzen. Durch Art. 21 II AMRK ist sie mittlerweile zumindest im interamerikanischen Rechtsverkehr obsolet geworden. Weniger klar ist, ob die Entschädigung dem vollen Wert des Eigentumsobjektes zu entsprechen hat. Zwar ist die Debatte der siebziger Jahre um eine Neue Weltwirtschaftsordnung abgeflaut, in der die Entwicklungsländer den Gedanken souveräner Eigentumsgestaltung mit der Idee der Inländerbehandlung koppelten – mit der Folge, dass in einer der diesbezüglichen Resolutionen der UN-Generalversammlung die Zahlung einer Entschädigung nur noch als „möglich“ bezeichnet wurde. Diese Extremposition wurde ein Jahr später (in Art. 2 II lit. c der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten vom 12.12.1974) wieder aufgegeben, die Verunsicherung über den geforderten Entschädigungsstandard jedoch blieb. Bis in die sechziger Jahre hinein galt die sog. Hull-Formel als Maß der Dinge, wonach die Entschädigung „prompt, adequate and effective“ zu sein hatte. Angelpunkt ist das Attribut „adequate", das zumeist als Postulat vollen Schadensersatzes interpretiert wurde und wird. Teile von Judikatur und Lehre propagieren – insbesondere seit der Proklamation des Art. 2 I lit. c der Charta der UN-General-versammlung vom 12.12.1974 – „appropriate compensation" als geltenden gewohnheitsrechtlichen Standard. Uneinigkeit besteht darüber, ob und inwieweit die neue, in hohem Maße auslegungsoffene Formel den Hull-Standard derogiert. So wird vertreten, dass „appropriate“ den Weg zur Bemessung des Ausgleichs unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse – mit der Folge eines Abschlags vom vollen Wertersatz – ebnet. Nach anderer Ansicht soll ein „Wertabzug“ nur bei außergewöhnlichen Umständen zulässig sein. Wieder andere deuten „appropriate" als Synonym von „adequate" und halten somit an der Hull- Formel fest. Nicht nur die zaghaften regionalen Kodifikationsansätze scheinen die Fortgeltung des Hull-Standards zu untermauern . Sowohl das NAFTA-Übereinkommen (Art. 1110) als auch der Energiecharta-Vertrag (Art. 13) greifen auf die Hull-Formel zurück; die Formel „just compensation“ der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ist ihr zumindest eng verschwistert. Noch klarer ist das von den bilateralen Investitionsschutzverträgen vermittelte Bild, die sich so gut wie einhellig an „Hull" ausrichten. Als Beleg für einen bestimmten völkergewohnheitsrechtlichen Standard lassen sich diese Verträge, deren Existenz just der Unsicherheit über den Inhalt dieses Standards zu verdanken ist, jedoch gerade nicht anführen . Ihr Inhalt wird meist einseitig vorgegeben und lässt der Durchsetzung gegensätzlicher Rechtsmeinungen des Vertragspartners wenig Raum. Von höherer Aussagekraft, wiewohl nach Art. 38 I lit. d IGH-Statut nur „Hilfsquelle" der Völkerrechtserkenntnis, sind Schiedssprüche. Die Schiedskörper des Iran-US Claims Tribunal sind fast einhellig zum Schluss gelangt, dass weiterhin, zumindest bei Einzelenteignungen, voller Schadensersatz das Maß aller Dinge sei, und deuten in diesem Sinne mitunter auch das Attribut „appropriate". Allerdings wird nicht nur die Repräsentativität seiner aus drei Richtern bestehenden Spruchkörper, die den Vertretern der Industriestaaten stets eine Stimmenmehrheit garantierte, in Zweifel gezogen, sondern auch diejenige der relativ wenigen Staaten, deren Enteignungen bisher Anlass zu Schiedsverfahren gegeben haben. (…) Im Ergebnis liegt der „richtige" Umfang der Entschädigung in einer völkerrechtlichen Grauzone. Letzte Gewissheit über eine der überwiegenden Praxis vollen Ausgleichs korrespondierenden opinio iuris kann nicht erlangt werden (…).“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 052/20 Seite 11 3. Prozessuale Anmerkungen Ein ausländischer Immobilieninvestor, der in Deutschland durch eine Vergesellschaftung nach Maßgabe von Art. 15 GG enteignet worden ist, wird zunächst Rechtsschutz vor den deutschen Gerichten suchen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht gem. Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG im Streitfalle der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten (Zivilgerichten) offen. Richtet sich die Klage allein gegen die Enteignung selbst und soll deren Rechtmäßigkeit geklärt werden, sind die Verwaltungsgerichte zuständig.27 Hält der in Deutschland enteignete Investor die Höhe der Entschädigung für nicht ausreichend, so kann er – nach Erschöpfung des deutschen Rechtswegs – eine Beschwerde beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg erheben (Art. 35 EMRK). Der EGMR nimmt indes nur noch eine Missbrauchskontrolle vor. Beschwerden gegen Deutschland wegen unzulänglicher Entschädigung nach Art. 1 ZP I EMRK waren in Straßburg – soweit ersichtlich – bislang nicht erfolgreich;28 dies ist ein Beleg für den weitgehend konventionskonformen Rechtsschutz gegen Enteignungen in Deutschland. Über die Entscheidung von Schiedsgerichten, die auf der Grundlage eines Investitionsschutzvertrages über die Höhe der Entschädigung entscheiden, lässt sich jenseits eines konkreten Falles kaum etwas prognostizieren. *** 27 Axer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, München: Beck, 3. Aufl. 2020, Art. 14 Rdnr. 133. 28 Im Fall Jahn u.a. gegen Deutschland wurde eine Verletzung des Art. 1 ZP I im Falle der entschädigungslosen Enteignung von Rechtsnachfolgern sog. DDR-Neubauern, die unter dem ehemals kommunistischen Regimes Ostdeutschlands Agrarland zur Bewirtschaftung kostenlos zugeteilt erhielten, wegen der besonderen Umstände (Bodenreform) verneint (Jahn u.a. gegen Deutschland, EGMR-Urt. (GK) vom 30. Juni 2005, Beschwerde Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01).