© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 050/17 Völkerrechtliche Mitverantwortung Deutschlands für die Folgen militärischer Einsätze von Koalitionspartnern gegen den „Islamischen Staat“ im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Aufgabenteilung im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ 6 3. Unterstützungshandlungen im Recht der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit 7 4. Unterstützung des targeting-Prozesses durch militärische Aufklärung 8 4.1. Wissenselemente in Art. 16 ILC Draft Articles 9 4.2. Prozedurale Verpflichtungen des Unterstützerstaates mit Blick auf den targeting-Prozess 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 4 1. Gegenstand der Untersuchung Hintergrund dieses Gutachtens sind die jüngsten Militäreinsätze der Anti-IS-Koalition gegen den sog. „Islamischen Staat“ (IS) in Syrien im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“, bei der es offenbar zunehmend zu größeren Zahlen ziviler Opfer kommt. Deutschland ist an diesen Ein-sätzen durch Aufklärungsunterstützung beteiligt. Medienberichten zufolge hatten deutsche Tornados am 19. März 2017 Bilder eines Gebäudekomplexes in der syrischen Ortschaft al- Mansoura, westlich von Rakka, aufgenommen und an die internationale Koalition im Einsatz gegen den IS geliefert. U.a. diese Bilder sollen dann einen Tag später verwendet worden sein, um den Gebäudekomplex – eine ehemalige Schule, die dem IS offenbar als Logistiklager diente – zu bombardieren. Bei diesem Bombardement trafen die Kampfflugzeuge keine Dschihadisten, sondern Flüchtlingsfamilien, die in der ehemaligen Schule untergekommen waren. Rund 40 Familien sollen in dem Gebäude Zuflucht gesucht haben.1 Die Frage einer möglichen Mitverantwortung der Bundesregierung für militärische Einsätze verbündeter Staaten gegen Kräfte des IS im Rahmen der multilateralen Operation „Inherent Resolve“ sowie für die damit verbundenen möglichen zivilen „Begleitschäden“ betrifft das Recht der Staatenverantwortlichkeit und die darin normierten Rechtsfolgen für Unterstützungshandlungen (z.B. Beihilfe zu völkerrechtswidrigem Handeln). Hierbei stellt sich grundsätzlich die Frage, ob einzelne, möglicherweise völkerrechtswidrige Handlungen oder gar völkerstrafrechtliche Verstöße (Kriegsverbrechen) von Mitgliedern einer multinationalen Militäroperation einem anderen, unterstützenden Staat in seiner Eigenschaft als Teilnehmer dieser Operation zugerechnet werden können. Fragen der Unterstützung und Beihilfe sowie der Zurechnung von völkerrechtswidrigem Handeln anderer Staaten gehören zu den problematischsten Themenbereichen im Recht der Staatenverantwortlichkeit ,2 in das auch Elemente aus der straf- und haftungsrechtlichen Dogmatik einfließen. Gerade im Bereich der Terrorbekämpfung ist hier vieles noch in der Diskussion – widergespiegelt in der eingehenden Studie von Chatham House – The Royal Institute of International Affairs – zum Thema Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism .3 1 Volkmar Kabisch / Reiko Pinkert, „Bundeswehr in verheerenden Luftschlag involviert“, Tagesschau-online v. 29.3.2017, https://www.tagesschau.de/ausland/luftangriffe-syrien-aufklaerungsbilder-bundeswehr-101.html. Anna Osius, „Zivilisten sterben bei Luftangriff auf Schule“, Tagesschau-online v. 22.3.2017, https://www.tagesschau.de/ausland/syrien-angriff-schule-107.html. 2 Dazu grundlegend Aust, Helmut Philipp, Complicity and the Law of State Responsibility, Cambridge 2011. 3 Moynihan, Harriet, Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism, Chatham House Research Paper, November 2016, https://www.chathamhouse.org/sites/files/chathamhouse/publications/research/2016-11-11-aiding-assistingchallenges -armed-conflict-moynihan.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 5 Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Kausalität und der völkerrechtlichen Zurechenbarkeit einer Handlung gegenüber dem Staat, der Unterstützung leistet. Die Zurechenbarkeit ist nicht als Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern als Ergebnis eines rechtlichen Wertungsvorgangs zu verstehen, welcher sich nach den Regeln über die völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit richtet.4 Die Verantwortlichkeit eines Staates für die Folgen seiner Unterstützungshandlungen und die Frage, ob die Unterstützung selbst völkerrechtswidrig ist, stellt sich im Grunde erst, wenn die „Haupttat“ – also die Handlung eines anderen Staates – sich als völkerrechtswidrig herausstellt. Im Kontext des humanitären Völkerrechts und der eingangs geschilderten Militäreinsätze ist darauf hinzuweisen, dass zivile „Begleitschäden“ als Folge von Militäreinsätzen im bewaffneten Konflikt nicht automatisch völkerrechtswidrig sein müssen.5 Gleichwohl können sie als Vorsatztat auch ein Kriegsverbrechen darstellen6 oder – wie in dem eingangs geschilderten Fall – aufgrund einer mutmaßlich fehlerhaften oder auf falschen Annahmen beruhenden Operationsplanung (sog. „targeting“) fahrlässig erfolgen.7 Die rechtliche Überprüfung des konkreten Militäreinsatzes der Anti-IS-Koalition in Syrien vom 19. März 2017 am Maßstab des humanitären Völkerrechts oder des Völkerstrafrechts ist nicht Gegenstand dieses Gutachtens. Im Fokus der Untersuchung stehen vielmehr die grundsätzlichen Rechtsfragen der Unterstützung von (völkerrechtswidrigen) Militäreinsätzen anderer Staaten. Dabei geht es zunächst um die Aufgabenverteilung im Rahmen der Militäroperation „Inherent Resolve“ (2.), ferner um den Tatbestand der Beihilfe / Unterstützung im Recht der Staatenverantwortlichkeit (3.) und schließlich um die praktische Frage, inwieweit eine Mitverantwortung Deutschlands für den targeting-Prozess und die Folgen des Militäreinsatzes angenommen und rechtlich konstruiert werden könnte (4.). 4 Schildknecht, Jörg, Die völkerrechtliche Verantwortung der Lead Nation bei Militäroperationen internationaler Organisationen, in: NZWehrR 2010, S. 148-159 (149). 5 Vgl. insoweit etwa Art. 51 Abs. 5 b) ZP I zu den Genfer Konventionen. Danach ist ein Angriff auf ein militärisches Ziel, bei dem auch Zivilisten umkommen, zulässig, solange dies nicht außer Verhältnis („excessive“) zum erwarteten militärischen Vorteil steht. 6 Vgl. etwa Art. 8 Abs. 2 b) Römisches Statut des IStGH. Fahrlässige Tötungen von Zivilisten stellen kein Kriegsverbrechen i.S.d. Römischen Statuts dar. 7 Eine ähnliche Situation lag offenbar dem Einsatz im afghanischen Kundus zugrunde. Bei dem Luftangriff am 4. September 2009 wurden südlich der Stadt Kundus zwei von Taliban entführte Tanklastwagen und die sich in nächster Nähe befindlichen Menschen bombardiert. Georg Klein, damals Oberst einer bei Kundus stationierten Bundeswehreinheit, forderte aufgrund eines offenbar unwissentlich falschen Lagebildes den Bombenabwurf auf die Tanklastzüge an, der von zwei US-amerikanischen Flugzeugen ausgeführt wurde. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 6 2. Aufgabenteilung im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ Ausweislich des aktuellen Bundestagsmandats vom 10. November 20168 unterstützt die Bundeswehr im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ die Koalitionspartner durch Betankung ihrer Flugzeuge und übernimmt Aufgaben der Aufklärung durch deutsche Tornado-Flugzeuge. Aufgeklärt werden dabei sowohl rein militärische als auch zivile Ziele. Die entsprechenden Aufnahmen der Tornado-Kameras werden den Koalitionspartnern für deren militärische Luftschläge gegen den „IS“ zur Verfügung gestellt. Medienberichten zufolge würden diese Bilder jedoch mit so viel Zeitverzögerung vor einem möglichen Einsatz aufgenommen, dass auf Basis der Bilder nicht feststellbar sei, ob und welche Personen sich aktuell dort oder im Umfeld aufhielten. Diese für die Entscheidung über den Angriff relevanten Informationen würden aus einer Vielzahl anderer Quellen gewonnen. An dem targeting-Prozess (Zielauswahl), in dem dann zeitnah über einen Militäreinsatz entschieden werde, ist die Bundeswehr nicht beteiligt. Exakte Kenntnis über die konkreten Ziele und Modalitäten eines möglichen Einsatzes hat die Bundeswehr insoweit nicht. Auch an militärischen Luftschlägen gegen den „IS“ beteiligt sich Deutschland nicht. Zu weiteren Details der Militäroperation „Inherent Resolve“ gegen den „IS“ wird auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 17. Mai 2017 verwiesen .9 Die Operation „Inherent Resolve“ findet nicht unter dem politischen und militärischen Dach einer internationalen Organisation wie z.B. der NATO statt, sondern im Rahmen einer sog. „coalition of the willing“, also einer lose verbundenen Gemeinschaft von Teilnehmerstaaten ohne institutionell verfestigte Befehls- und Kommandostrukturen. Die Tatsache, dass es sich bei der Operation „Inherent Resolve“ um eine von mehreren Staaten gemeinsam durchgeführte Militäroperation handelt, mag einen gewissen politischen Zusammenhang („one mission – many nations“) zwischen deutscher Aufklärungsunterstützung und den militärischen Einsätzen der Koalitionspartner evozieren; eine rechtliche Mitverantwortung im Sinne der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit ergibt sich daraus für Deutschland (noch) nicht. 8 Vgl. BT-Drucksache 18/9960 v. 13.10.2016, S. 2 f. Der Deutsche Bundestag hat am 4. Dezember 2015 erstmals den Einsatz bewaffneter Streitkräfte zur Verhütung und Unterbindung terroristischer Handlungen durch die Terrororganisation „IS“ beschlossen. Das aktuelle Mandat vom 10. November 2016 beinhaltet die Ausweitung des Einsatzes um AWACS-Flugzeuge der NATO. Sie überwachen Flugbewegungen über Syrien, operieren dazu jedoch ausschließlich im NATO- oder internationalem Luftraum. Die personelle Obergrenze von 1.200 deutschen Soldaten aus dem ersten Mandatsbeschluss wurde beibehalten. Das aktuelle Mandat gilt bis zum 31. Dezember 2017. 9 http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/123/1812368.pdf. Vgl. zur Operation „Inherent Resolve“ auch die entsprechende Homepage unter: http://www.inherentresolve.mil/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 7 3. Unterstützungshandlungen im Recht der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit Nach internationalem Recht ist jeder Staat grundsätzlich für sein Handeln allein verantwortlich. Die mögliche Mitverantwortung eines Staates für das Handeln eines anderen Staates kann sich aus den sogenannten Draft Articles der International Law Commission (ILC Draft Articles)10 zur Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen von 2001 ergeben. Nach Art. 16 der ILC Draft Articles ist ein Staat, der einem anderen Staat bei der Begehung einer völkerrechtswidrigen Handlung Beihilfe leistet oder Unterstützung gewährt, dafür völkerrechtlich verantwortlich, a) wenn er dies in Kenntnis der Umstände der völkerrechtswidrigen Handlung tut und b) wenn die Handlung völkerrechtswidrig wäre, wenn er sie selbst beginge. Gem. Art. 16 ILC Draft Articles muss für eine völkerrechtlich relevanten Beihilfe neben einer „Haupttat“ zusätzlich eine Beihilfehandlung in Kenntnis der völkerrechtswidrigen Handlung vorliegen, ferner ein Zusammenhang zwischen Unterstützungshandlung und Erleichterung der Begehung der Haupttat (aid or assistance with a view to facilitate the commission of an international wrongful act)11 sowie schließlich die Verletzung von Pflichten, an die der sich beteiligende Staat auch selbst gebunden ist.12 Ein Zusammenhang zwischen Beteiligungshandlung und Haupttat liegt nach Ansicht der ILC nicht erst dann vor, wenn die Beihilfehandlung unerlässlich zur Begehung der Haupttat ist. Es genügt, dass die Beihilfehandlung eine signifikante Wirkung auf die Begehung der Haupttat hat. So führt die ILC in ihrer Kommentierung zu Art. 16 ILC Draft Articles aus: “Article 16 deals with the situation where one State provides aid or assistance to another with a view to facilitating the commission of an internationally wrongful act by the latter. Such situations arise where a State voluntarily assists or aids another State in carrying out conduct which violates the international obligations of the latter, for example, by knowingly providing an essential facility […].The State primarily responsible in each case is the acting State, and the assisting State has only a supporting role”.13 10 VN, Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, Anlage der Resolution Nr. 56/83 der VN- Generalversammlung vom 12. Dezember 2001, online verfügbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/9_6_2001.pdf. Die Draft Articles kodifizieren das bestehende Völkergewohnheitsrecht zur Staatenverantwortlichkeit (näher dazu Hobe, Stephan, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen, 10. Aufl. 2014, S. 312 ff.). 11 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries (2001), S. 66, Rn. 3, verfügbar unter: http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. 12 Vgl. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste vom 16.12.2016, WD 2 – 3000 – 149/16, „Zur Rolle des Militärstützpunktes Ramstein im Zusammenhang mit US-amerikanischen Drohneneinsätzen“. 13 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries (2001), S. 66, Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 8 Eine Unterstützungshandlung kann einen Völkerrechtsverstoß darstellen, wenn der unterstützende Staat das völkerrechtswidrige Handeln des anderen Staates wissentlich in Kauf nimmt.14 In diesem Zusammenhang vertritt die ILC die Auffassung, dass ein Staat, der einen anderen Staat unterstützt, nicht davon ausgehen muss, dass diese Unterstützung zur Begehung von Völkerrechtsverstößen ausgenutzt wird: “A State providing material […] assistance or aid to another State does not normally assume the risk that its assistance or aid may be used to carry out an internationally wrongful act. If the assisting or aiding State is unaware of the circumstances in which its aid or assistance is intended to be used by the other State, it bears no international responsibility .”15 4. Unterstützung des targeting-Prozesses durch militärische Aufklärung Mit Blick auf die deutsche Aufklärungsunterstützung stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich ein Staat darauf berufen kann, dass er für mögliche humanitär-völkerrechtliche Folgen eines Militäreinsatzes (zivile „Begleitschäden“) nicht verantwortlich ist, weil er an dem eigentlichen targeting-Prozess nicht beteiligt gewesen ist. Lässt sich nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit eine Art „Trennlinie“ zwischen Aufklärung und targeting-Prozess ziehen, welche eine Mitverantwortung des unterstützenden (aufklärenden) Staates für die Folgen des Einsatzes grundsätzlich ausschließt? Für das Vorliegen einer völkerrechtlich relevanten Beihilfe im Sinne von Art. 16 der ILC Draft Articles ist entscheidend, ob der unterstützende Staat Kenntnis von den (beabsichtigten) Militäreinsatz und dessen möglichen völkerrechtswidrigen zivilen „Begleitschäden“ gehabt hatte (bzw. hätte haben können). Der o.g. Chatham-House-Bericht weist dabei auf den factual gap in knowledge hin: “There may be a factual gap in knowledge that prevents the assisting state from concluding a thorough assessment of legality, because the purpose for which the assistance is going to be used is unclear. This might be the case, for example, in the context of intelligence that the assisting state provides to the recipient state in order to contribute to a picture of the operations of a terrorist group over time; the assisting state may well not know exactly how that intelligence will be used by the recipient state.”16 14 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries (2001), S. 67, Rn. 9. 15 Ibid., S. 66, Rn. 4. 16 Moynihan, Harriet, Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism, Chatham House Research Paper, November 2016, Rn. 37. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 9 4.1. Wissenselemente in Art. 16 ILC Draft Articles Der Kern des Problems einer rechtlichen Mitverantwortung für die Folgen von Militäreinsätzen durch Unterstützungshandlungen liegt im „Wissenselement“ von Art. 16 ILC Draft Articles („in Kenntnis der Umstände“). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was der unterstützende Staat wann wissen musste bzw. hätte wissen können und welcher Grad an Kenntnis (noch) „unschädlich“ ist oder bereits eine Mitverantwortung begründet. Schließlich stellt sich die Frage, wer konkret informiert sein muss, um von einem „Wissen des Staates“ sprechen zu können. Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es derzeit ebenso wenig wie eine gewohnheitsrechtlich verbindliche Auslegung von Art. 16 ILC Draft Articles. Insoweit können im Folgenden nur wenige gesicherte Aussagen getroffen und dann weiterführende Überlegungen vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion angestellt werden: Sicheres Wissen (actual or near certain knowledge) des unterstützenden States hinsichtlich der Völkerrechtswidrigkeit der „Haupttat“ begründet dessen Mitverantwortung. Eine deutsche Unterstützung der Militäreinsätze in Form von Aufklärung / Betankung müsste also eingestellt werden , wenn sichere Erkenntnisse vorlägen, dass die Koalitionspartner im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ gezielt und vorsätzlich (und damit völkerrechtswidrig) zivile Ziele angreifen .17 Das ist ersichtlich nicht der Fall und widerspräche auch den einschlägigen Rules of Engagement (RoEs), die dem targeting-Prozess für die alliierten Luftschläge gegen den „IS“ zugrunde liegen. So darf ein Staat, der einen anderen Staat unterstützt, sogar zunächst einmal davon ausgehen , dass diese Unterstützung nicht zur Begehung von Völkerrechtsverstößen ausgenutzt wird.18 Fehlendes Wissen des unterstützenden Staates schließt dagegen eine Mitverantwortung für das Handeln eines anderen Staates aus. Diese Frage war Gegenstand der sog. „Vavarin“- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von 2013. Dabei ging es um die gegenseitige Haftung für die Zerstörung einer Brücke im serbischen Vavarin (200 km von Belgrad entfernt) durch Tornados der NATO während des Kosovo-Krieges im Mai 1999. Bei dem Angriff starben zehn Menschen, 30 wurden verletzt, wobei durchweg Zivilpersonen betroffen waren. Deutsche Flugzeuge waren an der Zerstörung der Brücke nicht unmittelbar beteiligt. Das BVerfG lehnte eine Haftung – und damit eine rechtliche Mitverantwortung Deutschlands – für die militärischen Einsätze anderer Staaten, an denen die Bundeswehr nicht unmittelbar beteiligte war, ab und führte in diesem Zusammenhang aus: 17 Moynihan, Harriet, Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism, Chatham House Research Paper, November 2016, Rn. 89; ebenso Sassoli, M. (2002), State responsibility for violations of international humanitarian law, in: International Review of the Red Cross (2002), Vol. 84, No. 846, S. 401-434 (413), https://www.icrc.org/eng/assets/files/other/401_434_sassoli.pdf; Dörmann, K./Serralvo, J., Common Article 1 to the Geneva Conventions and the obligation to prevent IHL violations, in: International Review of the Red Cross (2014), Vol. 96, No. 895/896, S. 707-736 (734). 18 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries (2001), S. 66, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 10 „Eine Haftung kommt nach § 830 BGB19 nur in Betracht, wenn deutsche Amtsträger von den konkreten Umständen des Angriffs Kenntnis gehabt hätten. Diese Kenntnis hat die Beklagte unter Hinweis auf die „need-to-know-Regel“, nach der es militärischer Praxis bei NATO-Operationen entspricht, dass nur die unmittelbar mit der Operation befassten Streitkräfte die für den Einsatz notwendigen Informationen erhalten, widerlegt.“20 Ähnlich entschied der Bundesgerichtshof (BGH) im Kunduz-Urteil von 2016, in welchem er eine Zurechnung völkerrechtswidriger unerlaubter Handlungen eines anderen Bündnispartners grundsätzlich verneinte und eine deutsche Amtshaftung für Kriegsschäden aus eben diesem Grunde ablehnte.21 Schwierig gestaltet sich schließlich die Frage nach dem „notwendigen“ Wissen eines unterstützenden Staates, wenn die zivilen „Begleitschäden“ eines Militäreinsatzes aufgrund eines mutmaßlich fehlerhaften targeting-Prozesses fahrlässig verursacht wurden. Sicheres Wissen über die Folgen einer Militäroperation kann wohl selbst einem am targeting- Prozess beteiligten Staat kaum unterstellt werden. Ein abstraktes Wissen um das allgemeine Risiko, dass bei Militäreinsätzen auch „etwas schiefgehen“ und dabei Zivilisten ums Leben kommen können, vermag eine Mitverantwortung des Unterstützerstaats gegenüber den Folgen der Militäroperation nicht zu begründen. Auch reicht es nicht aus, dass der unterstützende Staat von den möglichen Folgen einer Militäroperation hätte wissen können – die Rechtsfigur der sog. „constructive knowledge“ wird in der Debatte mehr oder weniger einhellig abgelehnt. Der Chatham-House-Bericht fasst insoweit zusammen: “‘Knowledge’ in this context means actual or near-certain knowledge of specific illegality on the part of the recipient state. Where the assisting state is ‘wilfully blind’ – that is, makes a deliberate effort to avoid knowledge of illegality on the part of the state being assisted, in the face of credible evidence of present or future illegality – that is also sufficient to satisfy 19 § 830 Abs. 1 BGB lautet: „Haben mehrere durch eine gemeinschaftlich begangene unerlaubte Handlung einen Schaden verursacht, so ist jeder für den Schaden verantwortlich.“ 20 BVerfG, Beschluss vom 13. August 2013 - 2 BvR 2660/06 - Rn. 66, http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20130813_2bvr266006.html. In dem Urteil heißt es: „Da bei realitätsnaher Betrachtung für die Bundesrepublik Deutschland nur Auslandseinsätze gemeinsam mit Partnerländern, insbesondere im Rahmen der NATO, in Betracht kommen, bestünde im Rahmen der Amtshaftung die Möglichkeit der Zurechnung völkerrechtswidriger unerlaubter Handlungen eines anderen Bündnispartners nach Maßgabe des § 830 BGB. Das würde nicht nur die Gefahr einer kaum eingrenzbaren (gesamtschuldnerischen) Haftung heraufbeschwören, sondern hätte auch zur Folge, dass vor den deutschen Zivilgerichten die inzidente Überprüfung des hoheitlichen Handelns eines anderen Bündnispartners zu erfolgen hätte. Gerade Letzteres könnte das außenpolitische Verhältnis Deutschlands zu seinen Bündnispartnern nachhaltig belasten, zumal sich im Amtshaftungsprozess (…) die prozessuale Notwendigkeit ergeben könnte, taktische oder strategische Überlegungen (…) offenzulegen und Sachverhalte vorzutragen, welche jedenfalls andere Bündnispartner als geheimhaltungsbedürftig ansehen.“ 21 BGH, Urteil vom 6. Oktober 2016 - III ZR 140/15, Rn. 38 (online abgedruckt unter https://www.rwsverlag .de/aktuell/wirtschaftsrecht-aktuell/bgh-urteil-vom-6-oktober-2016-iii-zr-14015-51363/). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 11 the mental element under Article 16. Constructive knowledge – that the assisting state ‘should have known’ – is not sufficient.”22 4.2. Prozedurale Verpflichtungen des Unterstützerstaates mit Blick auf den targeting-Prozess Wie lässt sich also der „gap in knowledge“ zwischen dem unterstützenden Staat und dem targeting -Prozess einschließlich den Folgen eines Militäreinsatzes auflösen? Auch der unterstützende Staat ist als Teilnehmer einer multinationalen coalition of the willing Teil des bewaffneten Konflikts und damit an die Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts gebunden. Art. 57 Abs. 2 des 1. ZP zu den Genfer Konventionen präzisiert dabei die Vorsichtsmaßnahmen im Vorfeld einer militärischen Operation: „Wer einen Angriff plant oder beschließt, hat alles praktisch Mögliche zu tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte sind.“ Ob sich diese Verpflichtung auch auf den Unterstützerstaat erstreckt, der ja im Gegensatz zu den sog. „targeting-Staaten“ den Angriff nicht selber „plant oder beschließt“, wird man eher ausschließen müssen. Unstreitig erstreckt sich hingegen die allgemeine Verpflichtung für alle Konfliktparteien aus dem gemeinsamen Art. 1 der Genfer Konventionen (GK) auch auf den unterstützenden Staat.23 Die Kommentierung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu Art. 1 führt aus, “that the obligation to ‘respect and ensure respect’ extends further than simply not assisting in specific violations of (International Humanitarian Law, IHL). It also involves a positive duty on the assisting state to ‘ensure respect’ for the rules of IHL by all other states. This positive duty includes an obligation to prevent violations when there is a foreseeable risk that they will be committed and to prevent further violations in the event that they have already occurred.”24 Inbegriff des gemeinsamen Art. 1 der Genfer Konvention ist also die generelle Verpflichtung der Staaten “to exert their influence to put an end to ongoing violation of International Humanitarian Law (and) to avoid violations taking place in the future.”25 22 Moynihan, Harriet, Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism, Chatham House Research Paper, November 2016, Rn. 85 (conclusions, S. 24). 23 Art. 1 GK lautet: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, das vorliegende Abkommen unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen.“ 24 Henckaerts, in Dörmann, Knut (Hrsg.), International Committee of the Red Cross (ICRC). Commentary to the First Geneva Convention, Cambridge, 2. Aufl. 2016, Art. 1 (Respect for the Convention), para 154 und 165. 25 Dörmann, K./Serralvo, J., Common Article 1 to the Geneva Conventions and the obligation to prevent IHL violations , in: International Review of the Red Cross (2014), Vol. 96, No. 895/896, S. 707-736 (728, 735) unter Bezugnahme auf die ICRC Customary Law Study. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 12 Aus dem gemeinsamen Art. 1 GK ließen sich dann auch prozedurale Verpflichtungen des Unterstützerstaates hinsichtlich seiner Kenntnis über die Folgen der Unterstützungshandlung ableiten. Solche prozeduralen Pflichten des Unterstützerstaates werden im Chatham-House-Bericht als „duty to make enquiries“ diskutiert.26 So ließe sich eine Verpflichtung dahingehend begründen, dass sich der unterstützende Staat über die möglichen Konsequenzen seiner Unterstützungshandlung im targeting-Prozess (besser) zu informieren hat.27 Im Rahmen der Auslegung des „Wissenselements“ des Art. 16 ILC Draft Articles lassen sich zudem Rechtsgedanken aus dem Bereich der Menschenrechte fruchtbar machen. Dem refoulement- Verbot liegt etwa dogmatisch die Idee zugrunde, dass ein Staat an möglichen Menschenrechtsverletzungen eines anderen Staates nicht durch eigene aufenthaltsbeendende Maßnahmen mitwirken darf. Untersagt ist danach die Rückführung von Personen in Staaten, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Auch hier reicht bereits eine substantiierte Gefährdung der auszuliefernden Person aus; sicheres Wissen des ausliefernden Staates über die (möglichen) Folgen seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme ist nicht erforderlich. Das refoulement-Verbot konstruiert damit eine rechtliche Mitverantwortung für potentielle Menschenrechtsverletzungen durch andere Staaten sowie eine Verpflichtung zur Folgenabschätzung von Handlungen, die für sich genommen unproblematisch sind. Es zwingt nämlich den ausliefernden Staat, sich über die Situation in dem anderen Staat zu informieren, sich ggf. entsprechende Zusagen machen zu lassen oder im Zweifelsfall von der Auslieferung abzusehen. Der Gedanke des refoulement-Verbots lässt sich freilich nicht direkt auf die Unterstützungshandlungen für Militäreinsätze übertragen; gleichwohl kann eine noch in der Diskussion befindliche Auslegung von Art. 16 ILC Draft Articles durchaus vor dem Hintergrund einer völkerrechtlich etablierten Konstruktion wie dem refoulement-Verbot argumentativ geschärft werden. Die angesprochenen Verpflichtungen zur Informationsbeschaffung und Folgenabschätzung können vor allem dann relevant werden, wenn in der Praxis tatsächlich eine Tendenz stark zunehmender völkerrechtswidriger (!) Zivilschäden zu beobachten ist. Sollten sich derartige zivile „Begleitschäden“ auf Fehler beim targeting zurückführen lassen, kann ein Staat, der dieses targeting weiterhin durch militärische Aufklärung unterstützen will, nicht mehr „die Augen vor dessen Folgen verschließen“28 und sich ohne weiteres seinen prozeduralen Verpflichtungen 26 Moynihan, Harriet, Aiding and Assisting: Challenges in Armed Conflict and Counterterrorism, Chatham House Research Paper, November 2016, Rn. 47 ff. 27 Im Völkerstrafrecht findet sich eine entsprechende Unterscheidung zwischen “deliberately refraining from finding out” und “negligently failing to find out” (vgl. insoweit den Fall Blaskic des Appeals Chamber of the UN International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY)). 28 Der Chatham-House-Bericht (Rn. 43) diskutiert in diesem Zusammenhang das Konzept der „wilful blindness“: “The term ‘wilful blindness’ does not appear in either Article 16 or the ILC Commentary. It is not a term of art in international law, but has been used by commentators. It might be defined as a deliberate effort by the assisting state to avoid knowledge of illegality on the part of the state being assisted, in the face of credible evidence of present or future illegality.” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 050/17 Seite 13 entziehen. Vielmehr muss er sich dann – in Verantwortung für die Einhaltung des humanitären Völkerrechts (Art. 1 GK) – auch mit dem targeting selbst näher befassen. In der Praxis könnte sich Deutschland etwa mittels einer Beobachterrolle in den targeting- Prozess einschalten, um sich etwa über die Verwendung der Aufnahmen beim targeting zu informieren und sich dabei von der Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen nach Art. 57 ZP 1 GK zu überzeugen.29 Letztlich könnte Deutschland rechtlich gehalten sein, die weitere Aufklärungsunterstützung für die Operation „Inherent Resolve“ unter einen entsprechenden Vorbehalt zu stellen . *** 29 Ob sich die Koalitionspartner auf eine derartige „Kontrollfunktion“ einlassen, bliebe abzuwarten.