© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 049/16 Anwendung der EMRK an Bord von deutschen Kriegsschiffen im Rahmen der NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 2 Anwendung der EMRK an Bord von deutschen Kriegsschiffen im Rahmen der NATO- Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 049/16 Abschluss der Arbeit: 1. April 2016 (und letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Extraterritoriale Anwendung der EMRK 4 1.1. Räumlicher Geltungsbereich 4 1.2. EMRK und internationale Organisationen (NATO) 4 2. Rechtsfragen der Rückführung von Flüchtlingen von Griechenland in die Türkei 5 3. Seevölkerrechtliche Verpflichtungen 7 4. Verbot von Kollektivausweisungen 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 4 1. Extraterritoriale Anwendung der EMRK 1.1. Räumlicher Geltungsbereich Die Vertragsstaaten müssen die Inanspruchnahme der Konventionsrechte auch außerhalb des eigenen Staatsgebietes sicherstellen, wenn und soweit sie die unmittelbare physische Gewalt und Kontrolle („state agent authority and control“) gegenüber Personen im Ausland ausüben (sog. „extraterritoriale Verantwortlichkeit“).1 Dies gilt etwa bei der wirksamen Kontrolle eines Gebiets (z.B. Besatzung), aber auch bei Festnahmen durch staatliche Sicherheitsorgane im Ausland sowie für die Ausübung von Befehlsgewalt auf Schiffen oder Flugzeugen.2 Die Verantwortlichkeit eines EMRK-Staates wird durch Rechtsakte seiner (im Ausland befindlichen ) Organe ausgelöst, die ihre Wirkungen außerhalb des eigenen Staatsgebiets entfalten. Dazu zählen etwa die Rückführung von Personen in ein anderes Land sowie die Übergabe von Personen an die zuständigen Behörden des Staates, in dem sie sich aufhalten. Die Schwelle für die Annahme extraterritorialer Gewalt, die zur Verantwortlichkeit nach der EMRK führt, liegt niedriger, wenn extraterritoriale Hoheitsgewalt im Gebiet eines anderen EMRK-Mitgliedstaates ausgeübt wird – begründet wird dies mit der Vorstellung eines einheitlichen „Menschenrechtsraumes“ (Convention legal space).3 Im Ergebnis ist also eine deutsche Fregatte in griechischen / türkischen Hoheitsgewässern oder auf Hoher See konventionsrechtlich gebunden. 1.2. EMRK und internationale Organisationen (NATO) Fraglich bliebt, wie sich die NATO-Zugehörigkeit der deutschen Fregatte konventionsrechtlich auswirkt.4 1 Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 17, Rdnr. 15. Johann, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, München: Beck 2012, Art. 1, Rdnr. 28 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 2 Johann, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, München: Beck 2012, Art. 1, Rdnr. 21. 3 Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 17, Rdnr. 16; Grabenwarter, European Convention on Human Rights. Commentary, 2014, Art. 1, Rdnr. 16. 4 Dazu allgemein Janik, Cornelia, Die EMRK und internationale Organisationen, in: ZaöRV 2010, S. 127-179. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 5 Grundsätzlich kann sich ein EMRK-Mitgliedstaat nicht dadurch von seinen konventionsrechtlichen Verpflichtungen lösen, dass er Hoheitsbefugnisse – dazu gehören z.B. abgestufte militärische Befehlsbefugnisse wie das sog. operational command oder operational control5 – auf internationale Organisationen überträgt bzw. in deren Rahmen tätig wird.6 Vielmehr hat der Staat auch innerhalb der jeweiligen internationalen Organisation auf die Einhaltung der EMRK hinzuwirken . Der Fall Jaloud gegen die Niederlande7 vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) betraf u.a. die Frage nach der „Jurisdiktion“ eines EMRK-Staates im Rahmen von multinationalen militärischen Befehlsketten und Unterstellungsverhältnissen (betreffend die US-geführte Operation im Irak). Der EGMR führte in diesem Zusammenhang aus: “The respondent Party is therefore not divested of its “jurisdiction”, within the meaning of Article 1 of the Convention, solely by dint of having accepted the operational control of the commander of MND (SE), a United Kingdom officer” (Rn. 143). Für die NATO-Seeraumüberwachung in der Ägäis bedeutet dies, dass die Einbindung einer deutschen Fregatte in die NATO-Kommandostruktur (chain of command) und die Übertragung operationeller Kommandobefugnisse auf Kommandobehörden der NATO8 die konventionsrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht aushebelt. 2. Rechtsfragen der Rückführung von Flüchtlingen von Griechenland in die Türkei Die Schiffe des NATO-Flottenverbandes operieren entlang der türkischen Küste mit ihren vorgelagerten griechischen Inseln (fast) ausschließlich in türkischen oder griechischen Hoheitsgewässern , wobei der genaue Grenzverlauf in der Ägäis an einigen Stellen nach wie vor umstritten ist. Der Einsatz der Schiffe in internationalen Gewässern der Hohen See ist geographisch praktisch ausgeschlossen. 5 Dies sind die sog. NATO-Unterstellungsverhältnisse. 6 EGMR-Urteil vom 18.2.1999 (GK), Waite u. Kennedy, NJW 1999, 1173; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 17, Rdnr. 8 m.w.N.; Johann, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, München: Beck 2012, Art. 1, Rdnr. 12.. 7 EGMR (GK), Urteil vom 20.11.2014, Beschw.-Nr. 47708/08 – Jaloud gegen die Niederlande, dt. Übersetzung verfügbar unter https://beck-online.beck.de/?typ=reference&Y=300&Z=NJOZ&B=2016&S=76. 8 Vorgesetzte NATO-Kommandobehörde für die Operation in der Ägäis ist das Alliierte Hauptquartier in Neapel (Allied Joint Force Command Naples). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 6 Hinsichtlich der in griechischen Gewässern aufgegriffenen und in die Türkei zurückgeführten Flüchtlinge steht das sog. Refoulement-Verbot – das sich nach ständiger Rechtsprechung des EGMR aus Art. 3 EMRK ergibt9 – einschließlich des Verbots der Kettenabschiebung in Rede. Dazu haben die Wissenschaftlichen Dienste bereits Stellung genommen.10 Werden Flüchtlingsboote bereits in türkischen Gewässern aufgegriffen, geht es um die Frage, ob die Türkei – zuständig ist hier die türkische Küstenwache; weder die EU-Grenzschutzbehörde FRONTEX noch die griechische Küstenwache darf in türkischen Hoheitsgewässern operieren – befugt ist, Flüchtlinge davon abzuhalten, das türkische Hoheitsgebiet zu verlassen. Grundsätzlich besteht ein Menschenrecht auf Ausreise.11 Dies gilt jedoch nicht für die illegale Ein- und Ausreise.12 Flüchtlinge, die mit Schlepper-Booten des Nachts von der Türkei auf eine griechische Insel übersetzen, haben in aller Regel weder ein Visum noch ein sonstiges Bleiberecht für Griechenland. Das Aufgreifen durch die türkische Küstenwache dient insoweit der Verhinderung des (illegalen) Grenzübertritts gemäß den türkischen Grenzvorschriften. Fraglich bleibt, ob die Einreise nach Griechenland auch dann illegal wäre, wenn Flüchtlinge dort Asyl beantragen wollen. Der überwiegende Teil der syrischen „Ägäis-Flüchtlinge“ will dies offenbar nicht. Aber auch für alle anderen wäre die Einreise nach Griechenland nur dann rechtmäßig , wenn in dem Staat, der die Ausreise verhindert – hier also die Türkei – Verfolgung oder eine unmenschliche Behandlung drohen. 9 Vgl. Karpenstein/ Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015; Art. 1, Rdnr. 22 m.w.N. Überdies wird das Refoulement-Verbot explizit in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, in Art. 3 der VN-Antifolterkonvention sowie in Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta garantiert. Das Refoulement-Verbot verbietet die Ausweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass ein Flüchtling dort (oder durch Abschiebung in einen anderen Staat) einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, gefoltert, unmenschlich behandelt bestraft oder getötet zu werden. 10 Gutachten WD 2 - 3000 - 040/16 vom 15.3.2016, „Völkerrechtliche Aspekte der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei durch die Deutsche Marine im Rahmen der NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis“. 11 Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts für Bürgerliche und Politische Rechte lautet: Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen. Ein Menschenrecht auf Einreise gilt allerdings nur für den Heimatstaat (Art. 12 Abs. 4 IPBürgPR). 12 Hierzu heißt es in 12 Abs. 3 IPBürgPR: Die oben erwähnten Rechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung (ordre public), der Volksgesundheit, der öffentlichen Sittlichkeit oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 7 Mit der EU-Türkei-Vereinbarung über die Bewältigung der Flüchtlingskrise vom 18. März 201613 wird die Türkei jedoch als „sicherer Drittstaat“ behandelt.14 3. Seevölkerrechtliche Verpflichtungen Das internationale Seerecht verpflichtet zur Rettung von Menschen aus einer unmittelbaren Notlage. Die insoweit einschlägige International Convention on Maritime Search and Rescue (SAR Convention) vom 27. April 197915 sieht eine Verpflichtung dahingehend vor, … (to) ensure that assistance be provided to any person in distress at sea (…) regardless of the nationality or status of such a person or the circumstances in which that person is found (…) and to provide for their initial medical or other needs, and deliver them to a place of safety.” Gefordert ist also lediglich das Verbringen an einen „sicheren Ort“; es besteht kein Anspruch des Flüchtlings, in einen Hafen seiner Wahl (bzw. in ein bestimmtes Land) gebracht zu werden. Die (rechtlich unverbindlichen) Richtlinien des Maritime Safety Committee16 definieren den „sicheren Ort“ wie folgt: A place of safety is a location where rescue operations are considered to terminate, and where: the survivors’ safety or life is no longer threatened; basic human needs (such as food, shelter and medical needs) can be met; and transportation arrangements can be made for the survivors’ next or final destination. Weiterhin bestehen folgende Richtlinien: While an assisting ship may serve as a temporary place of safety, it should be relieved of this responsibility as soon as alternative arrangements can be made. (para. 6.13) 13 Vgl. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates sowie Erklärung EU-Türkei vom 18.3.2016, http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-european-council-conclusions/. 14 Diese Einschätzung ist umstritten; a.A. R. Marx, Rechtsgutachten v. 29.2.2016 zur Frage, ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ eingestuft werden kann, verfügbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/fmdam /f_Presse/160304_Gutachten_Marx_Tuerkei_als_sicherer_Drittstaat_korr.pdf. Vgl. dazu auch Gutachten WD 2 - 3000 - 040/16 vom 15.3.2016 (a.a.O. Fn. 10). 15 Annex, Kapitel 3.1.9., verfügbar unter: http://cil.nus.edu.sg/rp/il/pdf/1979%20International%20Convention%20on%20Maritime%20Search%20and% 20Rescue-pdf.pdf. 16 Resolution MSC. 167 (78) vom Mai 2004. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 8 Disembarkation of asylum-seekers and refugees recovered at sea, in territories where their lives and freedom would be threatened should be avoided. (para. 6.17) Die Schiffe des NATO-Flottenverbandes und die griechische Küstenwache könnten die in Seenot geratenen Flüchtlinge also in die Türkei bringen oder die türkische Küstenwache ersuchen, dies zu tun. Die örtliche und sachliche Zuständigkeit für die Seenotrettung liegt im Übrigen bei den Anrainerstaaten und wird durch die zuständigen Maritime Rescue Co-ordination Center wahrgenommen .17 4. Verbot von Kollektivausweisungen Eine Rückführung von Flüchtlingen ohne Ansehen der Person und ohne Prüfung des Einzelfalls könnte gegen das Verbot von „Kollektivausweisung“ i.S.v. Art. 4 des IV. Protokolls zur EMRK sowie Art. 19 Abs. 1 der EU-Grundrechtecharta verstoßen. Kollektivausweisungen sind solche, bei denen eine Einzelfallprüfung nicht stattfindet und Personen nach generellen Kriterien (Staatsangehörigkeit, Rasse etc.) und ohne Ansehen der Person ausgewiesen werden.18 Hintergrund dieser Vorschrift sind die Massenausweisungen als Folge des Zweiten Weltkriegs. Der Begriff der „Ausweisung“ setzt voraus, dass die betreffenden Personen in dem Land, das sie verlassen sollen, bereits einen gewissen Rechtsstatus (Aufenthaltserlaubnis, Duldung etc.) haben. Die syrischen Flüchtlinge, die über die Ägäis von der Türkei nach Griechenland flüchten, haben in Griechenland jedoch keinen solchen Status. Von daher passt das Verbot der Kollektivausweisung für die Regelung von Grenzregimen bzw. für die Abweisung von Personen an den Grenzen eigentlich nicht so richtig.19 17 Maritime Rescue Co-ordination Centres (MRCC) sind nationale Leitstellen zur Koordination der Seenotrettung. Sie arbeiten weltweit in einem internationalen Verbund und werden von den Küstenstaaten betrieben. Diese Stellen koordinieren im Seenotfall die zur Verfügung stehenden Kräfte (Search and Rescue, Marine, Küstenwache etc.). 18 Ständige Rechtspr. des EGMR, Urt. vom 5.2.2002 – Čonka gegen Belgien, Beschwerde Nr. 51564/99, Ziff. 56; EGMR, Urt. vom 20.9.2007 – Sultani gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 45223/05, Ziff. 81 ff. Zur Kollektivausweisung vgl. näher Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 22, Rdnr. 57; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck 2012, Art. 4 ZP IV, Rdnr. 2. 19 So die Auffassung von Hailbronner im Beitrag von H. Bubrowski, „Kein Recht auf Schutz in einem bestimmten Staat“ in: FAZ v. 30.3.2016, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 9 Gleichwohl hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) im Fall Hirsi Jamaa gegen Italien20 das Verbot der Kollektivausweisung auch auf die Rückführung von Bootsflüchtlingen nach Libyen angewendet. In diesem Fall hatte die Vorgehensweise der italienischen Behörden zum Ziel, illegale Einwanderer von der Landung auf italienischem Boden abzuhalten (sog. „push-back-Operation“). Der EGMR sah das Verbot der Kollektivausweisung aus folgenden Gründen als verletzt an: „(…) Dabei erfolgte der Transfer der Flüchtlinge nach Libyen ohne Prüfung ihrer individuellen Situation. Die italienischen Behörden führten auch keine Identitätskontrollen durch, sondern beschränkten sich darauf, die abgefangenen Einwanderer auf ein Kriegsschiff zu verladen, das sie nach Libyen brachte. Das Personal an Bord war in keiner Weise geschult, persönliche Interviews im Beisein von Dolmetschern oder Rechtsberatern durchzuführen. Es bestanden somit keine ausreichenden Garantien, die gewährleistet hätten, dass jeder einzelne Fall Gegenstand sorgfältiger Überprüfung war.“ Für die NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis lassen sich aus dem Hirsi-Urteil folgende politische und rechtliche Schlussfolgerungen ziehen: Das Verbot der Kollektivausweisung würde nicht verletzt, solange Verwaltungskapazitäten an Bord der Schiffe vorgehalten werden, um die Identität (insb. die nationale Herkunft) jedes einzelnen Flüchtlings zu überprüfen. Dies wird auf Schiffen der Deutschen Marine offenbar gewährleistet . Die Flüchtlinge müssen zudem perspektivisch Gelegenheit erhalten, Asyl im Sinne der Genfer Konvention oder internationalen Schutz zu beantragen.21 (Allerdings begründet das Refoulement -Verbot selbst keinen Rechtsanspruch auf Asyl). Die meisten syrischen Flüchtlinge, die den Weg über die Ägäis wählen, wollen Medienberichten zufolge aber kein Asyl in Griechenland beantragen . Anders sieht es jedoch bei kurdisch-stämmigen türkischen Staatsangehörigen aus, die eine politisch oder ethnisch motivierte Verfolgung in der Türkei geltend machen könnten. Die Möglichkeit zur Beantragung von Asyl in Griechenland eröffnet sich allerdings erst dann, wenn die Flüchtlinge erstmals in Kontakt mit griechischer Hoheitsgewalt geraten (also auf einer griechischen Insel oder an Bord der griechischen Küstenwache). Möglich wäre insoweit die Durchführung schneller Verfahren auf einer griechischen Insel (sog. „Hotspots“). Denkbar ist auch das Mitführen eines griechischen Verbindungsbeamten auf den Schiffen des NATO- Flottenverbandes. 20 EGMR, Urteil vom 23.2.2012, Beschwerde-Nr. 27765/09, dt. Fassung verfügbar unter: https://www.jura.unibremen .de/uploads/ZERP/testseminarMigrR/13._Hirsi-Entscheidung_deutsch.pdf. Vgl. dazu Weber, Albrecht, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen. Bedeutung des Straßburger Hirsi-Jamaa-Urteils für den Flüchtlingsschutz, in: ZAR 2012, S. 265-270, verfügbar unter: http://www.zar.nomos.de/fileadmin/zar/doc/Aufsatz_ZAR_12_08.pdf. 21 Weber, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen, in: ZAR 2012, S. 269. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 049/16 Seite 10 Der bloße Aufenthalt in griechischen Hoheitsgewässern lässt einen Anspruch auf Asyl dagegen noch nicht entstehen. Der Staat muss vielmehr auch logistisch in der Lage sein, Asylsuchenden auf seinem Territorium Schutz zu gewähren. Deswegen entsteht der Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG auch erst mit Erreichen des deutschen Staatsgebietes und nicht schon in einer Auslandsbotschaft oder an Bord eines deutschen Kriegsschiffes außerhalb deutscher Hoheitsgewässer .22 Ende der Bearbeitung 22 So BVerwGE 69, 323. Das Kriegsschiff ist insoweit kein „schwimmendes Territorium“; vgl. zum Ganzen das Gutachten von WD 3 – 3000 – 060/16, „Asylantragstellung an Bord eines deutschen Kriegsschiffes“ v. 23.2.2016 sowie WD 3 – 3000 – 073/16 „Schutzsuchende auf Schiffen der Deutschen Marine“ vom 14.3.2016.