© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 048/20 Annexionspläne Israels für das Westjordanland aus völkerrechtlicher Sicht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/20 Seite 2 Annexionspläne Israels für das Westjordanland aus völkerrechtlicher Sicht Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 048/20 Abschluss der Arbeit: 16. Juni 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internet-Quellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Völkerrechtliche Einordnung 4 2.1. Besetzung von Westjordanland und Ost-Jerusalem 5 2.2. Annexion von Ost-Jerusalem 5 2.3. Mauerbau in Westjordanland 6 2.4. Fazit 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/20 Seite 4 1. Einleitung Nachdem das Vorhaben der teilweisen Eingliederung des Westjordanlandes in den Staat Israel bereits im Wahlprogramm der Likud-Partei in September 2019 enthalten war,1 hat der neue und alte israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nun offiziell angekündigt, dieses Vorhaben ab dem 1. Juli 2020 vollziehen zu wollen.2 Geplant sei danach die Eingliederung der sog. Jordansenke , also des unmittelbar an Jordanien angrenzenden östlichen Teils des Westjordanlandes mit Ausnahme der darin liegenden palästinensischen Stadt Jericho, die dann zu einer Enklave würde. Dieses Gebiet macht bis zu 30 Prozent der sog. C-Gebiete nach dem für die Verwaltung des Westjordanlandes geltenden Oslo II-Abkommen aus, also solcher Gebiete, die unter alleiniger israelischer Kontrolle stehen und in denen viele israelische Siedlungen gebaut wurden.3 2. Völkerrechtliche Einordnung Diese von Israel geplante teilweise Eingliederung des Westjordanlandes wird völkerrechtlich als Annexion gesehen.4 Darunter versteht man einen gewaltsamen, also gegen das Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) verstoßenden, nicht gerechtfertigten Erwerb eines fremden Territoriums durch einen Staat, der entweder durch eine einseitige konkludente bzw. ausdrückliche Erklärung des annektierenden Staates oder einen Vertrag mit Zwangselement abgeschlossen wird.5 Alle diese Voraussetzungen würden bei der beabsichtigten teilweisen Eingliederung des Westjordanlandes erfüllt, weil diese einseitig gegen den Willen des palästinensischen Volkes unter 1 Yaron, Gil, in: Die Welt Online, Den Jordan-Plan hielt Netanjahu selbst vor seinen Ministern geheim, Artikel vom 11. September 2019, https://www.welt.de/politik/ausland/article200148282/Israel-Premier-Benjamin- Netanjahu-will-das-Jordantal-annektieren.html. 2 Zeit Online, „Benjamin Netanjahu kündigt baldige Annexion des Jordantals an“, Artikel vom 25. Mai 2020, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/israel-westjordanland-annexion-benjamin-netanjahu. 3 Vgl. zu der Aufteilung des Westjordanlandes nach dem Oslo-II Abkommen von 1995 in A-, B- und C-Gebiete, Timm, Angelika (Hrsg.), Friedensinitiativen für Israel und Palästina, 100 Dokumente aus 100 Jahren, Berlin 2017, S. 419 ff., Übersichtskarte auf S. 430. Zur völkerrechtliche Einschätzung des Siedlungsbaus siehe Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, WD 2 -300 – 026/17, https://www.bundestag.de/resource /blob/515092/aeb99cfc8cadd52da68d65b50a725dec/wd-2-026-17-pdf-data.pdf. 4 So die überwiegende Meinung im Schrifttum, siehe z.B Weiss, Peter, Shushan, Debra, Israeli Annexation of the West Bank Would Violate International Law, Palestine-Israel-Journal 2018, Vol. 23 Nr. 4, https://www.pij.org/articles/1874/israeli-annexation-of-the-west-bank-would-violate-international-law; Bermann , Nathaniel, Annexation in the Shadow of the Law, Opinio Juris, http://opiniojuris.org/2020/05/21/annexation -in-the-shadow-of-the-law/; Spiegel Online vom 12. September 2019, Uno-Generalsekretär warnt Israel vor Verstoß gegen Völkerrecht, https://www.spiegel.de/politik/ausland/jordantal-uno-generalsekretaer-warntisrael -vor-verstoss-gegen-voelkerrecht-a-1286353.html; auch die Bundesregierung, gemeinsam mit Frankreich, Italien, Spanien und dem Vereinigten Königreich, vertritt diesen Standpunkt bereits seit September 2019, siehe Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes vom 12. September 2019, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom /ankuedingung-annexion-westjordanland/2246558. 5 Ipsen, Knut, Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, § 7 Rn. 28 ff.; Hofmann, Rainer, OPIL, Annexation (Stand: Januar 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/20 Seite 5 Zwang erfolgen würde und keine völkerrechtliche Rechtfertigung dafür vorliegt.6 Insbesondere kann der im Januar 2020 vorgestellte sog. Trump-Friedensplan,7 durch den Netanjahu sich wohl in seinen Annexionsplänen bestätigt sieht, nicht als völkerrechtliche Rechtfertigung herangezogen werden, da dieser bisher von den palästinensischer Vertretern unmissverständlich abgelehnt wurde.8 2.1. Besetzung von Westjordanland und Ost-Jerusalem So sind die gegenwärtig völkerrechtlich geltenden Grenzen des Staates Israel im Zuge des Unabhängigkeitskrieges gegen die arabischen Nachbarstaaten 1948/49 festgelegt, insbesondere diente die damalige Demarkationslinie bzw. sog. Grüne Linie als Grundlage für die Anerkennung Israels durch die internationale Gemeinschaft und Aufnahme Israels in die Vereinten Nationen 1949.9 Im Zuge des 6-Tage-Krieges von 1967 hat Israel unter Berufung auf sein Selbstverteidigungsrecht unter anderem die zuvor von Jordanien besetzten und ursprünglich dem Britischen Mandat für Palästina angehörigen Gebiete Westjordanland und Ost-Jerusalem besetzt. Das Selbstverteidigungsrecht nach dem Völkerrecht gibt dem Staat aber kein Recht, die besetzten Gebiete des Kriegsgegners dauerhaft und endgültig zu annektieren.10 So forderte auch die daraufhin erlassene Resolution Nr. 242 des VN-Sicherheitsrates konsequenterweise eine übergreifende Friedenslösung , bei der der Rückzug der israelischen Truppen mit dem Recht aller Staaten der Region verknüpft wurde, in Frieden und innerhalb gesicherter und anerkannter Grenzen frei von Gewalt zu leben.11 2.2. Annexion von Ost-Jerusalem Dies hinderte Israel jedoch nicht daran, das zuvor besetzte Ost-Jerusalem 1980 durch das sog. Jerusalem -Gesetz zu annektieren und Jerusalem als Ganzes zu der Hauptstadt Israels zu erklären. 6 So Bermann, Nathaniel (Fn. 4); Hostovsky Brandes, Tamar, What Difference Does it Make to Fully Annex the Quasi-Annexed Occupied Territories?, Beitrag auf Verfassungsblog.de vom 24. September 2019, https://verfassungsblog .de/what-difference-does-it-make-to-fully-annex-the-quasi-annexed-occupied-territories/. 7 “President Donald J. Trump’s Vision for Peace, Prosperity, and a Brighter Future for Israel and the Palestinian People” vom 28. Januar 2020, https://www.whitehouse.gov/peacetoprosperity/. 8 Hierzu siehe den Sachstand des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 4. Februar 2020, WD 2 - 3000 - 011/20, https://www.bundestag.de/resource/blob/685178/89dc2d302082e7486fb46d7225e5913a/WD-2- 011-20-pdf-data.pdf. 9 Vgl. zur völkerrechtlichen Einordnung des ersten sowie der anderen israelisch-arabischen Kriege 1948-1973 die Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages, WD 2 – 3000 – 165/12, https://www.bundestag .de/resource/blob/412688/217942f4024081690138dae9f1ca7113/WD-2-165-12-pdf-data.pdf. 10 Ipsen, Knut, Völkerrecht (Fn. 5), § 7 Rn. 35. 11 S/RES/242 vom 22. November 1967, verfügbar unter: https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_67/sr242-67.pdf (letzter Zugriff: 15. Juni 2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/20 Seite 6 Mit der Resolution 478 (1980)12 hat der VN-Sicherheitsrat daraufhin beschlossen, diese Annexion nicht anzuerkennen und alle Staaten aufgefordert, ihre diplomatischen Vertretungen bis zu einer Klärung der Ost-Jerusalemfrage aus Jerusalem abzuziehen.13 2.3. Mauerbau in Westjordanland Ferner war der Anfang der 2000er Jahre erfolgte Bau einer Sperranlage in den westlichen Gebieten des Westjordanlandes bereits Gegenstand eines Gutachtens des Internationalen Gerichtshofes (IGH) im Jahr 2004.14 In diesem Gutachten hat der IGH festgestellt, dass durch den Bau der Sperranlage das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes nicht berücksichtigt wurde und dieser de facto einer Annexion gleichkomme.15 2.4. Fazit So wenig wie die Annexion Ost-Jerusalems und die de facto-Annexion durch die Sperranlage im Westjordanland völkerrechtskonform waren, so wird auch die nun angekündigte weitere Annexion der Westjordansenke letztlich aus den gleichen Gründen völkerrechtswidrig bleiben, solange sie ohne Zustimmung der Vertreter des palästinensischen Volkes erfolgt. Unbedeutend für die völkerrechtliche Bewertung ist schließlich die Tatsache, dass zwischen der Besetzung des Westjordanlandes und der jetzt geplanten Proklamation der Annexion nun bereits mehr als 50 Jahre vergangen sind. Denn im Völkerrecht gibt es kein Institut der Ersitzung eines unter Verstoß gegen das Gewaltverbot annektierten Gebietes.16 Schlussendlich ist anzumerken, dass die Völkerrechtswidrigkeit einer Annexion nach der sog. Stimson-Doktrin, die mittlerweile den Eingang in das Völkergewohnheitsrecht gefunden hat, dazu führt, dass die Annexion auch nicht durch Anerkennung anderer Staaten rechtmäßig werden kann (ex iniuria ius non oritur).17 *** 12 S/RES/478 vom 20. August 2980, verfügbar unter: https://undocs.org/S/RES/478(1980). 13 Vgl. zu der völkerrechtlichen Bewertung der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels den entsprechenden Sachstand des Deutschen Bundestages, WD 2 – 3000 – 009/18, https://www.bundestag.de/resource /blob/547174/adebd0ea6bd7a85c6c49671547fc3b50/wd-2-009-18-pdf-data.pdf. 14 International Court of Justice, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion vom 9. Juli 2014, verfügbar unter https://www.icj-cij.org/en/case/131. 15 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 15), Rn. 120-122. Siehe hierzu Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom 28. Februar 2013, WD 2 – 3000 – 177/12, Zur ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch-palästinensischen Konfliktes, https://www.bundestag.de/resource /blob/412226/bba601b8ce080c2b41425680cae9c764/WD-2-177-12-pdf-data.pdf. 16 Ipsen, Knut, Völkerrecht (Fn. 5), § 7 Rn. 52. 17 Vgl. hierzu Ipsen, Knut, Völkerrecht (Fn. 5), § 7 Rn. 32 ff. mit weiteren Nachweisen.