© 2018 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 048/18 Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britischfranzösischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 2 Völkerrechtliche Implikationen des amerikanisch-britisch-französischen Militärschlags vom 14. April 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in Syrien Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 048/18 Abschluss der Arbeit: 18. April 2018 (zugleich letzter Zugriff auf die Internet-Quellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Spannungsfeld zwischen Legalität und Legitimität: Politische, moralische und rechtliche Positionen 4 2. Völkerrechtliche Positionen zum Repressalienrecht 6 3. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Lichte des ius ad bellum und der humanitären Intervention 8 4. Konsequenzen für die Fortentwicklung des Völkerrechts 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 4 1. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Spannungsfeld zwischen Legalität und Legitimität: Politische, moralische und rechtliche Positionen Die politisch und moralisch aufgeladene Debatte über die jüngsten Luftangriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs gegen Chemiewaffeneinrichtungen und militärische Infrastruktur in Syrien1 erzeugen ein Spannungsfeld, bei dem die Frage nach der völkerrechtlichen Legalität der Militäroperation zugunsten der politisch-moralischen Legitimität des Handelns argumentativ in den Hintergrund tritt. So enthalten die Begründungen der drei kriegführenden NATO-Partner für den Militäreinsatz vom 14. April 20182 – einschließlich der Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft – überwiegend politische und moralische Argumente – mit Ausnahme Großbritanniens dagegen kaum klare Rechtsbehauptungen.3 Abgesehen von Staaten wie Russland, Iran oder Syrien, die wie erwartet in den alliierten Militärschlägen gegen syrische Chemiewaffeneinrichtungen einen klaren Völkerrechtsverstoß (act of aggression) erkannten, stieß die Militäroperation bei der Mehrheit der Staatengemeinschaft politisch weitgehend auf Zustimmung.4 Eine Resolution im VN-Sicherheitsrat, welche die alliierten Militärschläge verurteilen sollte, kam nicht zustande.5 Die deutsche Regierung hält die Einsätze für „erforderlich und angemessen“ um das Assad- Regime von weiteren Verstößen gegen die Chemiewaffenkonvention abzuhalten und ein Signal dahingehend zu setzen, dass ein Einsatz von Chemiewaffen – das Überschreiten der von US- Präsident Obama 2013 gezogenen „roten Linie“ – nicht folgenlos bleiben dürfe. 1 Ziele der alliierten Luftangriffe waren nach Medieninformationen der Militärflughafen Dumair, das Forschungszentrum in Barsah und eine Chemiewaffenlagerstätte in Schien. Vgl. dazu Spiegel-online vom 14.4.2018, http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-was-ueber-den-us-militaerschlag-bekannt-ist-a-1202942.html. 2 Vgl. zur US-Position https://www.nytimes.com/2018/04/13/world/middleeast/trump-syria-airstrikes-fulltranscript .html sowie zur Position der Briten und Franzosen https://www.nytimes.com/2018/04/13/world/europe/theresa-mays-statement-on-the-syria-strike.html. Der französische Präsident Macron ließ u.a. verlauten: “The red line set by France in May 2017 has been crossed. (…) We cannot tolerate the trivialization of chemical weapons, which is an immediate danger for the Syrian people and our collective security.” 3 Dabei wird die Urheberschaft des syrischen Präsidenten Assad für den Einsatz von Chemiewaffen in Syrien weitgehend unterstellt. Unterdessen gestalten sich die Untersuchungen der Internationalen Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) im syrischen Douma schwierig (FAZ v. 17.4.2018). 4 Zu den Auffassungen der Staaten vgl. näher Ku, Julian, “Almost Everyone Agrees that the U.S. Strikes Against Syria are Illegal, Except for Most Governments”, Opinio Iuris blog v. 16.4.2018, http://opiniojuris.org/2017/04/07/almost-everyone-agrees-that-the-u-s-strikes-against-syria-are-illegal-underinternational -law-except-for-most-governments/; ferner Hakimi, Monica, The Attack on Syria and the Contemporary Jus ad Bellum, EJIL Talk v. 15.4.2018, https://www.ejiltalk.org/the-attack-on-syria-and-thecontemporary -jus-ad-bellum/. 5 Vgl. zur Diskussion im Sicherheitsrat Dok. SC/13296 v. 14.4.2018: https://www.un.org/press/en/2018/sc13296.doc.htm. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 5 Ausdrücklich wird dabei auf die Blockade-Situation im VN-Sicherheitsrat abgehoben, die es verhindert hätte, in diplomatischer Weise auf den Syrienkonflikt einzuwirken und den wiederholten Giftgaseinsatz gegen die syrische Bevölkerung zu unterbinden.6 In ihrer völkerrechtlichen Bewertung unterscheiden sich die jüngsten Luftangriffe der Alliierten gegen syrische Chemiewaffeneinrichtungen vom 14. April 2018 nicht grundsätzlich von jenem Militärschlag, den die USA bereits im April 2017 im Alleingang gegen die syrische Luftwaffenbasis Schairat geführt hatte; auch die Militäroperation 2017 ist im Ergebnis einhellig als völkerrechtswidrig bezeichnet worden.7 In beiden Fällen wurden Parallelen zur Kosovo-Intervention von 1999 gezogen. Die völkerrechtliche Diskussion über die Frage einer potentiellen militärischen Reaktion auf Giftgaseinsätze in Syrien reicht bis ins Jahr 2013 zurück,8 als der damalige US-Präsident Obama für den Fall des Überschreitens der „roten Linie“ militärische Vergeltungsschläge angedroht hatte. Die völkerrechtliche Literatur9 sowie die deutsche Presse10 haben den jüngsten Militärschlag der Alliierten gegen Syrien einhellig als völkerrechtswidrig qualifiziert. 6 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung vom 14.4.2018: „Bundeskanzlerin Merkel zu den Militärschlägen der USA, Großbritanniens und Frankreichs in Syrien“ https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/2018/04/2018-04-14-syrien.html; Pressemitteilung des Auswärtigen Amts vom 14.4.2018: „Außenminister Maas zu Syrien“, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/bm-zu-syrien/1991100. 7 Vgl. für viele Milanovic, Marko, Illegal but legitimate?, EJIL Talk v. 10.4.2017, https://www.ejiltalk.org/illegalbut -legitimate/; Vidmar, Jure, Excusing illegal use of force: From illegal but legitimate to legal because it is legitimate ?, EJIL Talk v. 14.4.2017; https://www.ejiltalk.org/excusing-illegal-use-of-force-from-illegal-but-legitimateto -legal-because-it-is-legitimate/; Salomon, René, “Syrien: ´Operation Sühne` oder die Erfindung der ´pädagogischen Intervention`”, JuWiss. Blog v. 7.4.2017, https://www.juwiss.de/41-2017/. 8 Dazu etwa Schaller, Christian, Der Bürgerkrieg in Syrien, der Giftgas-Einsatz und das Völkerrecht, SWP-Aktuell, Sept. 2013, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2013A54_slr.pdf; Janik, Ralph, Intervention in Syrien: Was sagt das Völkerrecht?, https://derstandard.at/1363710289695/Intervention-in- Syrien-Was-sagt-das-Voelkerrecht. 9 Kulick, Andreas, Syria and the Humanitarian Reprisal – President Trump’s Poisonous Gift to International Law?, VerfBlog, 14.4.2018, https://verfassungsblog.de/syria-and-the-humanitarian-reprisal-president-trumpspoisonous -gift-to-international-law; Milanovic, Marko, The Syria Strikes: Still Clearly Illegal, EJIL Talk vom 15.4.2018, https://www.ejiltalk.org/the-syria-strikes-still-clearly-illegal/; Aust, Helmut Philipp, Völkerrechtswidrigkeit benennen: Warum die Bundesregierung ihre Verbündeten für den Syrien-Luftangriff kritisieren sollte , VerfBlog, 16.4.2018, https://verfassungsblog.de/voelkerrechtswidrigkeit-benennen-warum-diebundesregierung -ihre-verbuendeten-fuer-den-syrien-luftangriff-kritisieren-sollte; Hakimi, Monica, The Attack on Syria and the Contemporary Jus ad Bellum, EJIL Talk v. 15.4.2018, https://www.ejiltalk.org/the-attack-onsyria -and-the-contemporary-jus-ad-bellum/. 10 Reinhard Müller, „Ohne Ermächtigung“, in: FAZ vom 17.4.2018, S. 8; Tagesspiegel-online v. 14.4.2018, „Vergeltung verstößt gegen das Völkerrecht“, https://www.tagesspiegel.de/politik/militaerintervention-in-syrienvergeltung -verstoesst-gegen-das-voelkerrecht/21173364.html; Taz vom 15.4.2018, „US-Angriff war illegal“, http://www.taz.de/!5498624/. Zu den US-Militärschlägen von 2017 vgl. SZ-online v. 7.4.2017, „Trumps Militärschlag ist völkerrechtswidrig“, http://www.sueddeutsche.de/politik/syrien-trumps-militaerschlag-istvoelkerrechtswidrig -1.3456240. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 6 Dieser Beitrag analysiert den alliierten Militärschlag gegen Syrien zunächst unter dem Gesichtspunkt des Repressalienrechts (dazu 2.) und anschließend unter dem ius ad bellum-Aspekt der „humanitären Intervention“ (dazu 3.). Abschließend soll kurz auf die Bedeutung der Rechtsauffassungen der internationalen Staatengemeinschaft im Lichte der Fortentwicklung des Völkerrechts eingegangen werden (dazu 4.). 2. Völkerrechtliche Positionen zum Repressalienrecht Zur Frage der Zulässigkeit von Repressalien lassen sich folgende völkerrechtliche Positionen formulieren: Völkerrechtliche Repressalien (Gegenmaßnahmen in Form von militärischen Vergeltungsschlägen ) gegen einen Staat sind grundsätzlich unzulässig. Dies gilt auch dann, wenn eine Regierung eine zentrale Norm des Völkerrechts verletzt hat, die einen Staat gegenüber allen anderen Mitgliedern der Staatengemeinschaft verpflichtet und an dessen Einhaltung alle Staaten ein rechtliches Interesse haben (sog. erga-omnes Normen). Das grundsätzliche Repressalienverbot gilt auch dann, wenn ein Staat einen internationalen Vertrag wie die Chemiewaffenkonvention11 und entsprechende VN-Resolutionen (wie die Sicherheitsratsresolution 2118 (2013)) verletzt und mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen ein Kriegsverbrechen12 begangen hat. Die Verletzung einer Völkerrechtsnorm durch einen Staat begründet keinen „Blankoscheck für unilaterale Zwangsmaßnahmen“ seitens einer „Koalition der Willingen“. Vielmehr sieht das Völkerrecht rechtsförmige Mechanismen vor – sei es im Rahmen der Chemiewaffenkonvention, sei es im Rahmen des Völkerstrafrechts – um internationale Konventionen durchzusetzen, deren Einhaltung zu überwachen sowie Rechtsgutverletzter zur Verantwortung zu ziehen und einen Völkerrechtsbruch zu ahnden. Dass die Durchsetzung solcher Rechtsmechanismen angesichts der russischen (Blockade-)Haltung im VN-Sicherheitsrat oder angesichts der Schwierigkeiten, Untersuchungen der OPCW im syrischen Douma durchzuführen , eher theoretisch als praktisch und effektiv erscheint, tut der völkerrechtlichen Bewertung keinen Abbruch. Umso mehr fällt in diesem Zusammenhang ins Gewicht, dass im Falle der alliierten Militärschläge vom 14. April 2018 die Ergebnisse der OPCW-Untersuchungen in Syrien nicht einmal abgewartet wurden. 11 Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen vom 13.1.1993. Syrien ist im September 2013 der VN-Chemiewaffenkonvention , welche die Entwicklung, Lagerung und den Einsatz dieser Kampfstoffe untersagt, beigetreten. Vgl. dazu “Chemical Weapons Convention Signatories and States-Parties”: Syria sent a letter to the United Nations Secretary General which said that Assad signed a legislative decree providing the accession of Syria to the Chemical Weapons Convention, https://www.armscontrol.org/factsheets/cwcsig. 12 Vgl. Art. 8 b) xvii und xviii) des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof http://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 7 Der Einsatz militärischer Gewalt gegen einen Staat, um die Verletzung einer internationalen Konvention durch diesen Staat zu ahnden, stellt einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) dar. Dies bestätigen wichtige Judikate und Beschlüsse internationaler Institutionen: In der sog. Friendly Relations Declaration der VN-Generalversammlung von 197013 heißt es deutlich: „States have a duty to refrain from acts of reprisal involving the use of force“. Auch der VN-Sicherheitsrat hat bewaffnete Repressalien als „incompatible with the purposes and principles of the United Nations“ verurteilt.14 Der Internationale Gerichtshof führte zur Repressalienfrage in seinem Nicaragua-Urteil15 aus: „While an armed attack would give rise to an entitlement to collective self-defence, a use of force of a lesser degree of gravity cannot, as the Court has already observed, produce any entitlement to take collective countermeasures involving the use of force.[…].“ Darauf aufbauend beurteilte die International Law Commission in ihren – zwar grundsätzlich unverbindlichen, wenn auch in den relevanten Teilen Völkergewohnheitsrecht kodifizierenden – Entwurfsartikeln zur Staatenverantwortlichkeit die Unzulässigkeit von Gewalthandlungen im Rahmen von Repressalien (Art. 50 Abs. 1 lit. a). Angesichts der genannten Judikate dürfte das Verbot gewaltsamer Repressalien im Ergebnis wohl dem Völkergewohnheitsrecht zuzuordnen sein.16 Repressalien im Rahmen eines bereits andauernden internationalen Konflikts sind dagegen nicht per se unzulässig; doch dürfen solche Zwangsmaßnahmen nur in ganz beschränktem Umfang eingesetzt werden, um eine völkerrechtswidrig handelnde Konfliktpartei zu völkerrechtskonformem Handeln zu bewegen – nicht aber, um bereits abgeschlossene Kriegsverbrechen zu ahnden. Repressalien sind insoweit kein „Vergeltungsmittel“, sondern ein völkerrechtliches Beugemittel zur Abschreckung, zur Rechtsdurchsetzung bzw. Rechtswiederherstellung.17 13 Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, A/RES/2625 (XXV) v. 24.10.1970, http://www.un.org/depts/german/gv-early/ar2625.pdf. Die Deklaration spiegelt die völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätze des zwischenstaatlichen Verhaltens wider. 14 VN-Sicherheitsrat, Resolution 188 vom 9. April 1964, UN Dok. S/RES/188 (1964), Rdnr. 1. 15 Case Concerning the Military and Paramilitary Activities In and Against Nicaragua (Nicaragua vs United States), Urteil des IGH v. 27.6.1986, http://www.icj-cij.org/files/case-related/70/070-19860627-JUD-01-00-EN.pdf. 16 So jedenfalls Salomon, René, “Syrien: ´Operation Sühne` oder die Erfindung der ´pädagogischen Intervention`”, JuWiss. Blog vom 7.4.2017, https://www.juwiss.de/41-2017/. Vgl. auch Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 6. Aufl. 2014, § 52 Rdnr. 54. 17 Vgl. nähere Erläuterungen unter http://humanitaeres-voelkerrecht.de/page7.php. Grundlegend dazu Hebenstreit, Johannes, Repressalien im humanitären Völkerrecht, Baden-Baden 2004. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 8 Allerdings scheidet die Betrachtung der jüngsten amerikanisch-britisch-französischen Luftschläge gegen das syrische Assad-Regime unter dem Gesichtspunkt der Kriegsrepressalie bereits deswegen aus, weil sich die drei Alliierten nicht in einem direkten bewaffneten Konflikt mit dem syrischen Zentralstaat befinden. Das militärische Engagement der Alliierten in Syrien galt bislang ausschließlich der Bekämpfung des sog. „Islamischen Staates“ in Syrien – wenngleich ohne Zustimmung des Assad-Regimes – auf der Grundlage des Selbstverteidigungsrechts im Nachgang zu den „IS“-Attentaten von Paris vom November 2015 (Anti-IS-Operation „Inherent Resolve“). 3. Der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien im Lichte des ius ad bellum und der humanitären Intervention Der jüngste Militäreinsatz der Alliierten gegen Syrien stellt – wie bereits die Kosovo-Intervention von 1999 – eine Herausforderung für das völkerrechtliche Gewaltverbot dar. Die Ausgangslage in Syrien im April 2018 scheint ähnlich wie 1999: Mangels einer Selbstverteidigungslage zugunsten der militärisch intervenierenden Alliierten (USA, Frankreich, Großbritannien) hätte nur der VN-Sicherheitsrat gem. Kapitel VII der VN-Charta einen Militärschlag legitimieren können, um die internationale Sicherheit wiederherzustellen. Resolution 2118 (2103), welche die Vernichtung aller syrischen Chemiewaffen durchsetzen sollte , droht dem Assad-Regime zwar mit dem Einsatz von Gewalt, behält eine Entscheidung darüber aber dem VN-Sicherheitsrat selbst vor.18 Allein Großbritannien hat seine eigene Rechtsposition zum alliierten Militärschlag gegen Syrien in einem „Policy Paper“ vom 14. April 2018 dargelegt.19 Darin heißt es, dass das Völkerrecht es erlaube, in Ausnahmefällen, Maßnahmen zu ergreifen, um überwältigendem menschlichen Leiden abzuhelfen. Die Rechtsgrundlage dafür sei die Doktrin der humanitären Intervention, für die drei Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen seien: • Erstens sei es erforderlich, dass die internationale Gemeinschaft als Ganzes überzeugt sei, dass es eine extreme humanitäre Notlage gebe, der unmittelbar und unverzüglich abzuhelfen sei. • Zweitens dürfe es keine praktikable Alternative zur Gewaltanwendung geben. 18 VN-Sicherheitsrat, Resolution 2118 (2013) v. 27.9.2013, Rz. 21: “The UN Security Council … decides, in the event of non-compliance with this resolution, including unauthorized transfer of chemical weapons, or any use of chemical weapons by anyone in the Syrian Arab Republic, to impose measures under Chapter VII of the United Nations Charter” (online unter: http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C- 8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/s_res_2118.pdf). 19 Syria action – UK government legal position, https://www.gov.uk/government/publications/syria-action-ukgovernment -legal-position/syria-action-uk-government-legal-position. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 9 • Und drittens müsse die Gewaltanwendung notwendig und verhältnismäßig sein.20 Die genannten Voraussetzungen sieht das Vereinigte Königreich als erfüllt an: Durch die Blockade des VN-Sicherheitsrates gebe es keine andere Handlungsmöglichkeit; die gezielten und begrenzten Angriffe auf die Chemiewaffen-Infrastruktur seien notwendig und verhältnismäßig. Die britische Rechtsposition zu den Militärschlägen gegen Syrien, der sich Deutschland im Grundsatz offenbar angeschlossen hat, kann im Ergebnis nicht überzeugen. Abgesehen von der fehlenden Kohärenz der „humanitären Anteile“ dieser Argumentation – erstens ist fraglich, ob die Militärschläge wirklich geeignet sind, weiteres Leiden zu verhindern, insbesondere mit Blick auf die mutmaßlich künftigen Opfern des andauernden Syrienkonflikts; zweitens ist fraglich, warum gerade der Chemiewaffeneinsatz angesichts eines sieben Jahre währenden Bürgerkriegs in Syrien das qualitativ entscheidende Ereignis darstellt, um eine humanitäre Intervention zu begründen – stellt der britische Ansatz lediglich eine weitere „Spielart“ der Rechtsfigur der sog. „humanitären Intervention“ ohne Sicherheitsratsmandat und dem Konzept der völkerrechtlichen Schutzverantwortung (R2P) dar. Wegen der bestehenden Missbrauchsgefahr ist die Zulässigkeit einer humanitären Intervention bis heute völkerrechtlich ausgesprochen umstritten und erscheint als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom völkerrechtlichen Gewaltverbot jedenfalls nicht tragfähig.21 Wie bereits im Fall der Kosovo-Intervention 1999 lässt sich festhalten, dass völkerrechtswidriges Handelns nicht dadurch „geheilt“ wird, dass es moralisch legitim ist. Aus der Legitimität staatlichen Handelns erwächst nicht automatisch dessen Legalität. 20 “The UK is permitted under international law, on an exceptional basis, to take measures in order to alleviate overwhelming humanitarian suffering. The legal basis for the use of force is humanitarian intervention, which requires three conditions to be met: (1) there is convincing evidence, generally accepted by the international community as a whole, of extreme humanitarian distress on a large scale, requiring immediate and urgent relief; (2) it must be objectively clear that there is no practicable alternative to the use of force if lives are to be saved; and (3) the proposed use of force must be necessary and proportionate to the aim of relief of humanitarian suffering and must be strictly limited in time and in scope to this aim.” 21 Die völkerrechtliche Auseinandersetzung mit der Rechtsfigur der „humanitären Intervention“ ist seit der Kosovo -Intervention von 1999 nahezu unüberschaubar. Einen ersten Einstieg mit Nachweisen aus der Literatur bietet die Kommentierung von Randelzhofer/Dörr, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, Oxford Univ.-Press 2012, Vol. I, Art. 2 (4), Rdnr. 52-57 sowie der Beitrag von Lowe / Tzanakopoulos, Humanitarian Intervention, in: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEP- IL), Mai 2011, http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e306?rskey=JxbOSM&result=1&prd=EPIL. Vgl. instruktiv auch die Kurzdarstellung von Peter Rudolf, Schutzverantwortung und humanitäre Intervention, Bundeszentrale für politische Bildung 2013, http://www.bpb.de/apuz/168165/schutzverantwortung-und-humanitaere-intervention?p=all. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 10 Als (gewohnheitsrechtsbildender) Präzedenzfall für einen wie auch immer gearteten Rechtfertigungsgrund „humanitäre Intervention“ taugt der alliierte Militäreinsatz gegen Syrien kaum. Denn das Konzept der Schutzverantwortung, das der Rechtsfigur der „humanitären Intervention“ zugrunde liegt, zielt ausschließlich auf den Schutz der Zivilbevölkerung ab, nicht dagegen auf eine Ahndung von Rechtsverletzungen. Indes beschränkt sich der „humanitäre Anteil“ der Militäroperation in den Begründungen der USA und Frankreichs im Wesentlichen auf die Durchsetzung des Verbots des Einsatzes von Chemiewaffen. Abgesehen von Großbritannien haben die anderen beiden Akteure das Rechtsargument der humanitären Intervention gar nicht explizit plädiert. Dies wäre jedoch notwendig gewesen, um ihrer Begründung eine eindeutige „opinio iuris“22 zugunsten des Rechtfertigungstatbestandes der „humanitären Intervention“ entnehmen zu können. So stellen sich die alliierten Luftangriffe dann im Ergebnis eher als unverhohlene Rückkehr zu einer Form der – völkerrechtlich überwunden geglaubten23 – bewaffneten Repressalie im „humanitären Gewand“ dar.24 4. Konsequenzen für die Fortentwicklung des Völkerrechts Den Rechtsauffassungen von Staaten kommt im Völkerrecht eine große, wenn nicht sogar gewohnheitsrechtsprägende Bedeutung zu. Rechtsbehauptungen zielen nicht zuletzt ab auf eine Veränderung und auf einen Wandel des bestehenden Völkerrechts25 – dies gilt insbesondere für 22 Darunter versteht man in diesem Zusammenhang die gefestigte Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft, dass ein bestimmtes Verhalten, welches das Gewaltverbot durchbricht, nicht nur legitim, sondern auch „rechtens“ ist (näher dazu Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 6. Auf. 2014, § 17 Rdnr. 12 ff.). 23 Zumindest bis zum 1. Weltkrieg gehörten bewaffnete Repressalien zum akzeptierten Standardrepertoire internationaler Auseinandersetzungen. 24 So relativ einhellig Hakimi, Monica, The Attack on Syria and the Contemporary Jus ad Bellum, EJIL Talk vom 15.4.2018; Kulick, Andreas: Syria and the Humanitarian Reprisal – President Trump’s Poisonous Gift to International Law?, VerfBlog v. 14.4.2018; Aust, Helmut Philipp: Völkerrechtswidrigkeit benennen: Warum die Bundesregierung ihre Verbündeten für den Syrien-Luftangriff kritisieren sollte, VerfBlog, 16.4.2018. 25 Erwähnt sei hier etwa die nachfolgende Staatenpraxis bei der Auslegung von Verträgen gem. Art. 31 Abs. 3a der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK). Vgl. dazu Analytical Guide to the Work of the International Law Commission on subsequent agreements and subsequent practice in relation to interpretation of treaties, http://legal.un.org/ilc/guide/1_11.shtml. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 048/18 Seite 11 die Fortentwicklung der Regelungen über das Gewaltverbots (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) bzw. seiner geschrieben und ungeschriebenen26 Ausnahmetatbestände. Ob sich mit den Militäreinsätzen von 2017 und 2018 gegen Chemiewaffeneinrichtungen in der Zukunft ein neuer Ausnahmetatbestand vom Gewaltverbot für Fälle von „humanitär begründeten Repressalien“ herausbilden wird, ist nicht gänzlich auszuschließen.27 In den völkerrechtlichen Kommentaren28 zur alliierten Militäroperation gegen Syrien ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass das Einstehen für eine regelbasierte internationale Ordnung und ihre zentralen Eckpfeiler (wie insbesondere das völkerrechtliche Gewaltverbot ) auch von einer entsprechenden klaren und unmissverständlichen Artikulation von Rechtsauffassungen begleitet werden müsse. Politische und rechtliche Glaubwürdigkeit hingen überdies davon ab, dass bei der völkerrechtlichen Beurteilung von Militäroperationen (Beispiele: Russische Krim-Annexion von 2014, NATO-Operation im Kosovo 1999, Militärschläge von NATO-Bündnispartnern gegen Syrien 2018) nicht mit zweierlei Maß gemessen werde. *** 26 Erinnert sei an das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht einschließlich der sog. „präventiven“ Selbstverteidigung (Frage der Zulässigkeit von sog. „pre-emptive strikes“) sowie an die Diskussion über weitergehende ungeschriebene Ausnahmen vom Gewaltverbot wie z.B. die anerkannte „Intervention auf Einladung“, die umstrittene Rechtsfigur der „humanitäre Intervention“ oder die gewohnheitsrechtlich anerkannte Möglichkeit zur „Rettung eigener Staatsangehöriger aus fremdem Staatsgebiet“ (vgl. zum Ganzen Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht , München, 6. Aufl. 2014, § 52). 27 In diese Richtung plädiert etwa der ehemalige Rechtsberater der Obama-Administration Harold Koh, „Not illegal : But now the hart part begins,“, Just Security blog v. 7.4.2017, https://www.justsecurity.org/39695/illegalhard -part-begins/; ihm zustimmend David Ohlin, Opinio Iuris blog v. 17.4.2018, http://opiniojuris.org/2017/04/08/i-agree-with-harold-koh/. 28 So etwa von Aust, Helmut Philipp, Völkerrechtswidrigkeit benennen: Warum die Bundesregierung ihre Verbündeten für den Syrien-Luftangriff kritisieren sollte, VerfBlog vom 16.4.2018.