© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 046/21 101 Zuständigkeit des IGH für den Luftzwischenfall des Ryanair-Fluges nach Vilnius am 23. Mai 2021 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 2 Zuständigkeit des IGH für den Luftzwischenfall des Ryanair-Fluges nach Vilnius am 23. Mai 2021 Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 046/21 Abschluss der Arbeit: 9. Juni 2021 (zugleich letzter Zugriff auf angegebene Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt (sog. Chicagoer Konvention) 5 3. Abkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (sog. Montrealer Konvention) 7 4. „Pekinger Zusatzprotokoll“ zum Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen 8 5. Fazit 8 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 4 1. Einführung Die von Belarus am 23. Mai 2021 erzwunge Zwischenlandung des Ryanair-Fluges FR4978 in Minsk1 wird international heftig kritisiert2. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) gegeben ist, um den Vorfall völkerrechtlich zu überprüfen. Fragen der Begründetheit – also ob bestimmte Abkommen verletzt wurden – sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Der IGH kann die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages durch eine beklagte Partei feststellen . Der Gerichtshof befasst sich dagegen nicht mit der etwaigen Strafbarkeit natürlicher Personen (wie z.B. etwaiger Flugzeugentführer, beteiligter Regierungsmitglieder o.ä.).3 Als Partei können vor dem Internationalen Gerichtshof ausschließlich Staaten auftreten (vgl. Art. 34 Abs. 1 IGH-Statut), wobei der Zugang zum Gerichtshof nur den Vertragsstaaten des IGH- Statuts offensteht (vgl. Art. 35 Abs. 1 IGH-Statut). Die EU selbst ist als supranationale Organisation daher nicht klagebefugt. 1 Vgl. z.B. ZEIT Online, 23. Mai 2021, „Belarus zwingt Flugzeug zur Landung – Blogger festgenommen“, abrufbar unter https://www.zeit.de/news/2021-05/23/medien-belarus-laesst-flugzeug-landen-und-blogger-verhaften ?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F. 2 Vgl. u.a. Europäischer Rat, Pressemitteilung vom 24. Mai 2021, „Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zu Belarus“, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/statement_21_2661; FAZ vom 26. Mai 2021, „NATO verurteilt Zwangslandung in Belarus als ‚inakzeptable Tat’“, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nato-zwangslandung-in-belarus-inakzeptable-tat-17359106.html; US Department of State, Pressemitteilung des US-Außenministers Antony Blinken „Diversion of Ryanair Flight to Belarus and Arrest of Journalist“ vom 23. Mai 2021, abrufbar unter https://www.state.gov/diversion-of-ryanair -flight-to-belarus-and-arrest-of-journalist/. United States Mission to the United Nations, „Joint Statement on the Forced Diversion of Ryanair Flight FR4978 to Minsk“, 26. Mai 2021, abrufbar unter https://usun.usmission .gov/joint-statement-on-the-forced-diversion-of-ryanair-flight-fr4978-to-minsk/. 3 Die etwaige Strafbarkeit der beteiligten Personen ist nach dem Luftstrafrecht (z.B. nach dem sog. Haager Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt) zu beurteilen . Hierbei muss u.a. geklärt werden, wer ein solches Verfahren anstrengen könnte. In Betracht kommen das Land, in dem der Flug startete (Griechenland), das Land des Firmensitzes von Ryanair (Irland) sowie das Zielland (Litauen). Sollte sich das Verfahren gegen Regierungsmitglieder richten, kann die Immunität der Beschuldigten eine Hürde der Strafverfolgung darstellen. Vgl. FAZ vom 24. Mai 2021, „Was folgt rechtlich auf die erzwungene Landung?“, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-ist-die-erzwungene-landung -rechtlich-zu-bewerten-17356567.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 5 Die Jurisdiktion des IGH ist regelmäßig nur dann gegeben, wenn sich die Staaten der Gerichtsbarkeit gem. Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut unterworfen haben.4 Nur wenige Staaten haben dies bislang getan; Belarus gehört nicht dazu.5 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit einer vertraglich begründeten obligatorischen Jurisdiktion des IGH. Voraussetzungen dafür sind: Der Vertrag muss für den in Rede stehenden Fall einschlägig sein. Der klagende und der beklagte Staat müssen den Vertrag ratifiziert haben. Der Vertrag muss eine Jurisdiktionsklausel betreffend die Gerichtsbarkeit des IGH vorsehen . Der beklagte Staat muss diese Klausel akzeptiert haben, d.h. er darf anlässlich seiner Ratifikation des Vertrages keinen Vorbehalt gegen die Anwendung dieser Klausel eingelegt haben. Als einschlägige Verträge kommen drei Konventionen aus dem Luftvölkerrecht in Betracht. 2. Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt (sog. Chicagoer Konvention)6 Die am 7. Dezember 1944 in Kraft getretene Chicagoer Kovention bildet eine völkerrechtliche Grundlage des Luftrechts und stellt das Gründungsdokument der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation (ICAO von International Civil Aviation Organisation) dar. Belarus ist der Konvention im Juni 1993 beigetreten.7 4 Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut lautet: „Die Vertragsstaaten dieses Statuts können jederzeit erklären, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs von Rechts wegen und ohne besondere Übereinkunft gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, für alle Rechtsstreitigkeiten über folgende Gegenstände als obligatorisch anerkennen: (1) die Auslegung eines Vertrags“, Text abrufbar unter: https://www.menschenrechtsabkommen .de/statut-des-internationalen-gerichtshofs-1154/. 5 Die Liste der bisherigen Unterwerfungserklärungen ist zu finden bei ICJ, “Declarations recognizing the jurisdiction of the Court as compulsory”, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/en/declarations. 6 Abrufbar auf der Internetseite der Internationalen Zivilen Luftfahrtsorganisation (ICAO), https://www.icao .int/publications/Documents/7300_cons.pdf; die deutsche Übersetzung ist abrufbar unter https://www.fedlex .admin.ch/eli/cc/63/1377_1378_1381/de. 7 Vgl. ICAO, “Convention on International Civil Aviation”, abrufbar unter https://www.icao.int/secretariat/legal /list%20of%20parties/chicago_en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 6 Art. 1 der Chicagoer Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten zur Anerkennung der vollen und ausschließlichen Souveränität aller Staaten im Luftraum über ihrem Hoheitsgebiet. Gemäß der Jurisdiktionsklauseln in Art. 84 der Chicagoer Konvention ist bei Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung der Konvention, die nicht durch Verhandlungen beigelegt werden können, durch den Rat der ICAO zu entscheiden. Der Rat muss dazu von einem an der Meinungsverschiedenheit beteiligten Staat ersucht werden.8 Gegen die Entscheidung des Rates kann innerhalb von sechzig Tagen Berufung („appeal“) beim IGH eingelegt werden: „Wenn eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens und seiner Anhänge nicht auf dem Verhandlungswege beigelegt werden kann, ist sie auf Ersuchen eines an der Meinungsverschiedenheit beteiligten Staates vom Rat zu entscheiden. Bei Prüfung eines Streitfalles durch den Rat darf ein daran beteiligtes Mitglied des Rates nicht abstimmen. Jeder Vertragsstaat kann vorbehaltlich des Artikels 85 gegen die Entscheidung des Rates bei einem zu diesem Zweck gebildeten Schiedsgericht, auf das sich die Parteien des Streitfalles geeinigt haben, oder bei dem Ständigen Internationalen Gerichtshof [heute: IGH] Berufung einlegen. Eine derartige Berufung ist dem Rat innerhalb von sechzig Tagen nach Eingang der Mitteilung über die Entscheidung des Rates anzuzeigen.“ Zwar hat gem. Art 38 Chicagoer Konvention jeder Staat das Recht, einen Vorbehalt bzw. eine Abweichung hinsichtlich dieser Regelung bei der ICAO zu erklären; eine solche abweichende Regelung hat Belarus jedoch nicht getroffen. Daher ist Art. 84 inklusive seiner Jurisdiktionsklausel anwendbar. Eine Entscheidung des Rates setzt die Initiative eines an Meinungsverschiedenheit beteiligten Vertragsstaates voraus („on the application of any State concerned in the disagreement ”). Unter den Voraussetzungen des Chicagoer Abkommens, das zunächst eine Prüfung des Falles durch den Rat der internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO vorsieht, ist der Weg zum IGH eröffnet. Unlängst wurde beispielsweise im Fall Bahrain, Egypt and United Arab Emirates v. Qatar der Weg zum IGH hinsichtlich eines solchen „appeals“ beschritten.9 8 Der Rat ist gem. Art. 50 (a) ein ständiges Organ der ICAO, das der Versammlung verantwortlich ist. Gemäß Art. 48 (b) haben alle Vertragsstaaten das gleiche Recht, bei den Tagungen der Versammlung vertreten zu sein; die Aufgaben und Befugnisse der Versammlung richten sich nach Art. 49. 9 Vgl. beispielsweise IGH-Urteil vom 14. Juli 2020, „Bahrain, Egypt and United Arab Emirates v. Qatar”, S. 8, abrufbar unter https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/174/174-20200714-JUD-01-00-EN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 7 3. Abkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt (sog. Montrealer Konvention) Das 1971 geschlossene Abkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt10 (kurz: Montrealer Konvention) hat Belarus am 30. Dezember 1971 ratifiziert . Die Konvention soll der Sicherheit in der Zivilluftfahrt dienen und verpflichtet die Vertragsstaaten zur Ahndung etwaiger flugsicherheitsgefährdender Handlungen. Auch Art. 14 der Montrealer Konvention enthält eine Jurisdiktionsklausel des IGH: „(1) Jede Streitigkeit zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens, die nicht durch Verhandlungen beigelegt werden kann, wird auf Verlangen eines dieser Staaten einem Schiedsverfahren unterworfen. Können sich die Parteien binnen sechs Monaten nach dem Zeitpunkt, zu dem das Schiedsverfahren verlangt worden ist, über seine Ausgestaltung nicht einigen, so kann jede dieser Parteien die Streitigkeit dem Internationalen Gerichtshof unterbreiten, indem sie einen seiner Satzung entsprechenden Antrag stellt.“ Staaten brauchen diese Jurisdiktionsklausel nicht zu akzeptieren; vielmehr kann jeder Staat erklären , dass er sich durch Art. 14 Abs. 1 als nicht gebunden betrachtet. Belarus hat von dieser Vorbehaltsregelung Gebraucht gemacht: “The Byelorussian Soviet Socialist Republic does not consider itself bound by the provisions of paragraph 1 of Article 14 providing for the reference of disputes concerning the interpretation or application of the Convention to arbitration or to the International Court at the request of one of the parties.”11 Infolge dieser Erklärung kann Belarus nicht auf der Grundlage des Montrealer Abkommens vor dem IGH verklagt werden. 10 Der Konventionstext ist der englischen Originalfassung abrufbar unter https://treaties.un.org/doc/Publication /UNTS/Volume%20974/volume-974-I-14118-english.pdf. 11 Vgl. ICAO, „Status of Belarus with Regard to International Law Instruments”, https://www.icao.int/secretariat /legal/Status%20of%20individual%20States/belarus_en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 046/21 Seite 8 4. „Pekinger Zusatzprotokoll“ zum Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen Eine Jurisdiktionsklausel zum IGH enthält darüber hinaus das Zusatzprotokoll12 zum Übereinkommen zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Flugzeugen13 (sog. Pekinger Zusatzprotokoll). Während das Pekinger Übereinkommen als Instrument des Luftstrafrechts die Strafbarkeit natürlicher Personen regelt, verpflichtet das Zusatzprotokoll die Vertragsstaaten dazu, die im Pekinger Übereinkommen genannten Straftaten mit „schweren Strafen“ zu bedrohen (vgl. Art. 3 des Zusatzprotokolls ). Verstößt ein Vertragsstaat gegen diese Vereinbarung, eröffnet die Jurisdiktionsklausel in Art. 20 des Pekinger Übereinkommens einen Weg zum IGH.14 Belarus hat das Pekinger Übereinkommen und das Pekinger Zusatzprotokoll bislang nicht ratifiziert . Ein Weg zum IGH ist daher auf dieser Grundlage versperrt. 5. Fazit Mangels einer belarussischen Unterwerfungserklärung gem. Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut ist die Gerichtsbarkeit des IGH für die erzwungene Landung des Passagierflugs FR4978 nicht ohne Weiteres eröffnet. Belarus kann lediglich unter den Voraussetzungen des Art. 84 der Chicagoer Konvention vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt werden. Eine Jurisdiktion des IGH für die die Montrealer Konvention ist durch den von Belarus formulierten Vorbehalt ausgeschlossen. *** 12 Der vollständige Text des Zusatzprotokolls ist abrufbar im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021, Teil II Nr. 4, 26. Februar 2021, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/Bundesgesetzblatt_Pekinger _Uebereinkommen.pdf;jsessionid=5BFA27D241E8B01C3BCEB366E290BD4C.2_cid297?__blob=publication- File&v=2. 13 Das sog. Pekinger Übereinkommen ersetzt die Bestimmungen des Übereinkommens vom 23. September 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt. Das Pekinger Protokoll ersetzt und ergänzt das Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahrzeugen. Der ICAO, Convention on the Suppression of Unlawful Acts Relating to International Civil Aviation, https://www.icao.int/secretariat/legal/Docs/beijing_convention_multi.pdf. 14 Auch hier steht jedem Vertragsstaat der Vorbehalt zu, eine Bindung durch Art. 20 Abs. 1 durch eine Erklärung gemäß Art. 20 Abs. 2 auszuschließen.