© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 043/21 Völkerrechtliche Aspekte des Gaza-Konflikts vom Mai 2021 Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 2 Völkerrechtliche Aspekte des Gaza-Konflikts vom Mai 2021 Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 043/21 Abschluss der Arbeit: 8. Juni 2021 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Humanitäres Völkerrecht 8 2.1. Anwendungsfragen 8 2.2. Unterscheidungsgebot zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen 11 2.3. Völkerrechtliche Grenzen der Kampfführung 13 2.3.1. Exzessverbot 13 2.3.2. Pflicht zu Vorsichtsmaßnahmen 14 2.3.3. Verbot unterschiedsloser Angriffe 14 2.3.4. Situation im Gaza-Konflikt 14 3. Unabhängige Untersuchung und rechtliche Aufarbeitung 15 3.1. Internationales Komitee vom Roten Kreuz 15 3.2. VN-Sicherheitsrat 16 3.3. VN-Menschenrechtsrat 16 3.4. Internationaler Strafgerichtshof 16 3.5. VN-Rassendiskriminierungsausschuss 19 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 4 1. Einleitung Der Konflikt zwischen der militanten palästinensischen Organisation Hamas1 und Israel ist am 10. Mai 2021 – dem sog. „Jerusalem-Tag“, an dem die israelische Souveränität über ganz Jerusalem demonstrativ bekräftigt wird2 – militärisch eskaliert. Schauplatz der Ausschreitungen war der Tempelberg, der mit dem Felsendom und der Al-Aqsa-Moschee für Juden wie für Muslime zu den wichtigsten heiligen Stätten zählt. Medienberichten zufolge3 hatten Tausende überwiegend jugendliche Palästinenser nach dem muslimischen Abendgebet vor der Moschee gegen die drohende Zwangsräumung von Häusern palästinensischer Familien protestiert. Sie warfen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper auf die rund 700 Polizisten, die ihnen gegenüberstanden. In der Folge drangen die Sicherheitskräfte auf das Gelände der Al-Aqsa-Moschee vor und setzten Gummigeschosse , Tränengas und Blendgranaten gegen Palästinenser ein. Die Rede ist von mindestens 330 Verletzten, darunter etwa 20 Polizisten; mehr als 250 Menschen wurden in ein Spital eingeliefert . In den Wochen zuvor hatten einige von Knesset-Abgeordneten angeführte Protestzüge durch Ost-Jerusalem, bei denen Parolen wie »Tod den Arabern« skandiert wurden, bereits Emotionen der Palästinenser befeuert. In der Folge nahm die Hamas israelische Städte unter Raketenbeschuss. Ein Großteil wurde durch das israelische Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ abgefangen.4 1 Vgl. zur Organisation Hamas DW vom 15. Mai 2021, „Wer ist die Hamas und wer unterstützt sie?“, https://www.dw.com/de/wer-ist-die-hamas-und-wer-unterst%C3%BCtzt-sie/a-57536236. Die politische Einstufung der Hamas als „Terrororganisation“ wird von den Staaten nach ihrem nationalen (Vereins-)Recht unterschiedlich vorgenommen (vgl. dazu Gutachten WD 3 – 3000 – 263/08, „Verhältnis der Bundesregierung und der Europäischen Union zur Hamas“). Am 26. Juli 2017 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) zugunsten einer Neueinstufung der Hamas als terroristische Organisation, vgl. ZEIT online vom 26. Juli 2017, „EU darf Hamas als Terrororganisation einstufen“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2017- 07/hamas-eu-terrorganisation-eugh. Eine von den USA eingebrachte Resolution der VN-Generalversammlung vom 29. November 2018, “Activities of Hamas and other militant groups in Gaza” (https://unwatch.org/wp-content/uploads/2018/12/A73L.42.pdf), welche die Hamas terroristischer Umtriebe bezichtigt, fand keine Mehrheit. Als Konsequenz aus den antisemitischen Demonstrationen im Mai 2021 in Deutschland plant die Bundesregierung ein Verbot der Hamas-Flagge, https://www.br.de/nachrichten/meldung/spd-und-union-planen-rasches-verbot-der-hamas-fahne,3003b7d8c. 2 Vgl. Asseburg, Muriel / Lintl, Peter, „Gefährliche Eskalation um Jerusalem: Deutschland und die EU müssen handeln“, 17. Mai 2021, https://www.swp-berlin.org/publikation/gefaehrliche-eskalation-um-jerusalem-deutschland -und-die-eu-muessen-handeln/. 3 Vgl. zum Folgenden: Die Presse vom 11. Mai 2021, „Warum die Gewalt im Nahen Osten explodiert“, https://www.diepresse.com/5978168/warum-die-gewalt-im-nahen-osten-explodiert. ZEIT online vom 8. Mai 2021, „Mehr als 220 Verletzte bei Zusammenstößen in Ostjerusalem“, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-05/ostjerusalem-israel-palaestinenser-unruhen-verletzte. 4 Verlässliche Zahlen hinsichtlich der von der Hamas abgefeuerten und durch Israel abgefangenen Raketen existieren nicht. Die Israelis sprechen von über 3000, vgl. DW vom 17. Mai 2021, „Israel: Schon 3150 Raketen aus Gaza abgefeuert“, https://www.dw.com/de/israel-schon-3150-raketen-aus-gaza-abgefeuert/a-57550700. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 5 Israelische Streitkräfte beantworteten den Raketenbeschuss mit Bombardements mehrerer Häuser im Gaza-Streifen.5 Ziel der Luftschläge waren neben dem Tunnel-System der Hamas6 vor allem die Kommandozentralen der Hamas-Führung in Gaza-Stadt. Bombardiert wurde aber auch das Gebäude des Medienhauses Al-Jalaa in Gaza-Stadt, in dem u.a. die Nachrichtenagentur Associated Press und der TV-Sender Al-Jazeera ihren Sitz hatten.7 Über die Zahl der Toten auf beiden Seiten existieren keine gesicherten Angaben.8 Mittlerweile haben sich die Konfliktparteien auf eine Waffenruhe geeinigt.9 Betrachtet man die militärische Antwort Israels auf den Raketenbeschuss der Hamas unter dem Gesichtspunkt des ius ad bellum,10 so wird man Israel das Recht auf Verteidigung seiner Städte und Bewohner gegen Angriffe, welche die Schwelle der Gewaltanwendung i.S.v. Art. 51 VN- Charta überschreiten,11 nicht absprechen können. Gleichwohl unterscheidet sich der Gaza- Konflikt von einem „klassischen“ zwischenstaatlichen Kriegsszenario vor allem mit Blick auf die nicht-staatliche Konfliktpartei Hamas,12 die vom Territorium eines von Israel wirtschaftlich und politisch weitgehend abhängigen Gebietes aus agiert. 5 Faz.net vom 14. Mai 2021, „Israel verschärft seine Angriffe gegen die Hamas, https://www.faz.net/aktuell/politik /ausland/nahost-konflikt-israel-verschaerft-angriffe-auf-ziele-der-hamas-17340583.html. 6 SPIEGEL online vom 14. Mai 2021, „Nach Angriff auf Hamas-Tunnelsystem – Israels Armee gibt Einzelheiten der Operation bekannt“, https://www.spiegel.de/ausland/israel-nach-angriff-auf-hamas-tunnelsystem-armeegibt -einzelheiten-der-operation-bekannt-a-f5108695-fbd5-40aa-8f58-0e6735b1846f. 7 Orf.at vom 15. Mai 2021, „Israels Luftwaffe zerstört Medienhaus“, https://orf.at/stories/3213138/. 8 Der VN-Menschenrechtsrat berichtet von 242 Palästinensern, darunter 63 Kinder; demgegenüber stünden 10 getötete israelische Zivilisten, darunter zwei Kinder, vgl. Statement by the High Commissioner for Human Rights, 27. Mai 2021, https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/NewsDetail.aspx?NewsID=27117&Lang ID=E. 9 Zeit.de vom 21. Mai 2021, „Waffenruhe im Gazakonflikt hält“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021- 05/waffenstillstand-israel-hamas-palaestinenser-gazastreifen. Vgl. aber RND vom 3. Juni 2021, „Trotz neuer Regierung - Hamas will Widerstand gegen Israel fortsetzen“, https://www.rnd.de/politik/trotz-neuer-regierung-hamas-will-widerstand-gegen-israel-fortsetzen- GPH42XLNLL4HQSR4HGDDXA63MA.html. 10 Das ius ad bellum (= Recht zum Kriege) ist eigentlich ein ius contra bellum, da Kriege völkerrechtlich verboten (Art. 2 Nr. 4 VN-Charta) und militärische Gewaltanwendung nur unter beschränkten Kautelen (Selbstverteidigung oder Autorisierung durch den VN-Sicherheitsrat) gerechtfertigt ist. 11 Die Aggressionsdefinition der VN-Generalversammlung (GA Res. 3314 (XXIX) v. 14. Dezember 1974), die Art. 51 VN-Charta insoweit konkretisiert, nennt in Art. 3 lit. b) explizit der „Beschießung oder Bombardierung fremden Gebiets.“ Vgl. zum Begriff näher Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 1085. 12 Die Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde im aktuellen Gaza-Konflikt wird an dieser Stelle nicht näher beleuchtet – vgl. insoweit nur die Stellungnahme der Permanent Observer Mission of the State of Palestine to the United Nations vom 11. Mai 2021, https://palestineun.org/?s=Gaza. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 6 Ob sich der völkerrechtliche Status Gazas13 in Ermangelung einer israelischen Militärpräsenz vor Ort heute immer noch als klassische „Besetzung“ i.S.v. Art. 42 der Haager Landkriegsordnung 14 qualifizieren kann,15 ist umstritten. Israel hat seine Siedlungen und Militärbasen im Gazastreifen 2005 geräumt; seit 2007 stellt die Hamas die „Regierung“ in Gaza-Stadt. Gleichwohl ist der Gazastreifen kein souveräner Staat, sondern wird hinsichtlich seines Land- und Seezugangs (einschließlich des Luftraums) von Israel kontrolliert. Faktische Abhängigkeiten von Israel ergeben sich überdies mit Blick auf die Grundversorgung des Gazastreifens mit Strom und Wasser.16 In der Max Planck Encyclopedia of International Law heißt es dazu: “The status of the Gaza Strip since this evacuation has been a subject of controversy. As foreign presence is the essence of occupation, Israel argues that the occupation was terminated with the evacuation . However, the evacuation was accompanied by certain severe measures that cast doubt on this contention. These measures include Israeli control over access to the Gaza Strip via air, land, and sea. In addition, the Gaza Strip is dependent, to a very large extent, on the provision of basic necessities , including electricity and fuel, by Israel. It seems that the doubtful legality of these measures should be considered separately from the issue of the legal status of the Gaza Strip and the occupation of Gaza that ended with Israel’s disengagement”17 Für die völkerrechtliche Qualifizierung als „Besatzung“ kommt es entscheidend darauf an, ob man den besatzungsrechtlich relevanten Begriff der „effektiven Kontrolle“ (effective control)18 auf eine militärische Kontrolle in dem Gebiet (d.h. vor Ort) verengt („boots on the ground“),19 oder ob 13 Vgl. grundlegend Stephan Sina, Der völkerrechtliche Status des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens nach den Osloer Verträgen, Heidelberg: Springer 2004. 14 Die Legaldefinition in Art. 42 HLKO lautet: „Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.“ Text der HLKO auf Deutsch abrufbar unter: https://www.jura.uni-muenchen.de/fakultaet /lehrstuehle/satzger/materialien/haag1907d.pdf. 15 Vgl. in diese Richtung Amnesty International, „Q&A on Gaza“, 16. Februar 2017, https://www.amnesty .org.uk/gaza-questions. 16 Vgl. zur Situation in Gaza z.B. Israelnetz vom 30. Juli 2017, „Gaza am Rande des Zusammenbruchs“, https://www.israelnetz.com/gesellschaft-kultur/gesellschaft/2017/01/30/gaza-am-rande-des-zusammenbruchs/. 17 Benjamin Rubin, “Israel, Occupied Territories”, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: Oktober 2009, Rdnr. 67, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1301?prd=EPIL. 18 Eine militärische Besetzung setzt voraus, dass die Hoheitsgewalt über das Gebiet durch die Besatzung ausgeübt wird (vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck 7. Aufl. 2018, § 61 Rdnr. 22). 19 So etwa Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, § 14 Rdnr. 1294. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 7 man etwa auch eine Totalblockade der Land- und Wasserzugänge – mit der Möglichkeit, das Gebiet jederzeit militärisch einzunehmen – ausreichen lässt.20 Eine solche Sichtweise nehmen vor allem internationale Gremien (und die in ihnen vertretenen Staaten21) im Hinblick auf die Situation in Gaza ein, wenn sie weiterhin von „besetzten Gebieten“ sprechen.22 Die völkerrechtliche Literatur zeigt sich zurückhaltender und gibt etwa zu bedenken, dass nur die militärische Präsenz vor Ort eindeutig Aufschluss über Beginn und Ende einer besatzungsrechtlichen Situation (und den damit einhergehenden besatzungsrechtlichen Verpflichtungen einer Besatzungsmacht) zu geben vermag.23 Die im Zusammenhang mit dem Gaza-Konflikt auftretenden Rechtsfragen des ius ad bellum bedürften insoweit einer dogmatischen Schärfung des Selbstverteidigungsrechts gegenüber nicht-staatlichen Akteuren24 im Kontext eines besatzungsrechtlich geprägten Konflikts.25 20 Vgl. für die Auffassung, die eine Kontrolle auf dem Gebiet selbst fordert; a.A. z.B. Michael Bothe, „De Facto Control of Land or Sea Areas”, in: Israel Yearbook on Human Rights (IsrYBHR) 45 (2015), S. 35-49 (37). 21 Das Auswärtige Amt sieht Gaza – allerdings ohne nähere Begründung – als „besetztes Gebiet“ an, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/regionaleschwerpunkte/nahermittlererosten/besetzte-gebiete /2263564. 22 Vgl. etwa Resolution des VN-Sicherheitsrats 1860 (2009) vom 8. Januar 2009: „(…) betonend, dass der Gazastreifen einen integralen Bestandteil des 1967 besetzten Gebiets darstellt und Teil des palästinensischen Staates sein wird“, https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_08-09/sr1860.pdf. Human Rights Council „Report of the United Nations Fact-finding Mission on the Gaza Conflict” (2009), UN Doc. A/HCR/12/48 vom 25. September 2009, paras 273-279, https://digitallibrary.un.org/record/666096: “The ultimate authority over the Occupied Palestinian Territory still lies with Israel. (…) When Israel unilaterally evacuated troops and settlements from the Gaza Strip, it left in place a Palestinian local administration. There is no local governing body to which full authority has been transferred” (Rn. 279). 23 Marco Sassoli, International Humanitarian Law 2019, Rdnr. 8.196 m.w.N. 24 Vgl. zur Thematik allgemein Corinna Dau, Die völkerrechtliche Zulässigkeit von Selbstverteidigung gegen nichtstaatliche Akteure, Baden-Baden: Nomos: 2018. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München 7. Aufl. 2018, § 56 Rdnr. 24 ff., der darauf hinweist , dass der Vorschrift des Art. 51 VN-Charta nicht entnommen werden könne, dass allein Staaten Urheber eines bewaffneten Angriffs sein können. Die Angriffshandlung müsse noch nicht einmal zwingend einem (anderen ) Staat zurechenbar sein. Vgl. insoweit die Resolutionen 1368 (2001) und 1373 (2001) des VN-Sicherheitsrates im Kontext des „9/11“- Szenarios. Demgegenüber hat der IGH in seinem Mauer-Gutachten vom 9. Juli 2004 (“Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory”, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related /131/131-20040709-ADV-01-00-EN.pdf), ein Selbstverteidigungsrecht Israels mit Blick auf den Mauerbau verneint. Doch lässt sich dem (umstrittenen) IGH-Gutachten nicht pauschal entnehmen, dass jeder bewaffnete Angriff, der vom Territorium des Opferstaates ausgeht, dem Selbstverteidigungsrecht entzogen sei. 25 Vgl. in diese Richtung Marko Milanovic, „A Follow-Up on Israel and Gaza“, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 3. Januar 2009, https://www.ejiltalk.org/a-follow-up-on-israel-and-gaza/. Ders., „Self-Defense and Non-State Actors: Indeterminacy and the Jus ad Bellum“, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 21. Februar 2010, https://www.ejiltalk.org/self-defense-and-non-state-actorsindeterminacy -and-the-jus-ad-bellum/. Norman Paech, „Gaza und das Völkerrecht“, in: Zeitschrift für internationale Politik 2009, S. 77-87, https://publishup .uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/2760/file/Paech_WT65.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 8 Diese Fragen sollen an dieser Stelle indes nicht weiter vertieft werden.26 Auftragsgemäß befasst sich der vorliegende Sachverhalt zum einen mit Fragen des humanitären Völkerrechts (ius in bello) am Beispiel der Zerstörung des Medienhauses Al-Jalaa in Gaza-Stadt (dazu 2.). Zum anderen geht es um Möglichkeiten einer unabhängigen Untersuchung der militärischen Kampfhandlungen (dazu 3.). 2. Humanitäres Völkerrecht 2.1. Anwendungsfragen Die Anwendung bestimmter Regelungen des humanitären Völkerrechts – dazu zählen u.a. die Haager Landkriegsordnung von 1907, die Genfer Konventionen von 1949 sowie zahlreiche spezielle Abkommen – richtet sich nach dem Charakter des jeweiligen bewaffneten Konflikts. Unterschieden wird zwischen dem internationalen bewaffneten Konflikt (dem traditionellen zwischenstaatlichen Krieg) und dem nicht-internationalen Konflikt (interner Konflikt, umgangssprachlich : Bürgerkrieg).27 So regelt etwa das 1. Zusatzprotokoll (von 1977) zu den Genfer Konventionen (im Folgenden: 1. ZP)28 u.a. das Kampfführungsrecht des internationalen bewaffneten Konflikts. Das 2. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen sowie der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen kommen klassischerweise im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zur Anwendung und die IV. Genfer Abkommen gilt für Besatzungssituationen (nach Beendigung eines Konflikts).29 In allen Konstellationen sind zudem menschenrechtliche Vorgaben zu beachten.30 Der Nahostkonflikt – insbesondere der Gaza-Konflikt zwischen der Hamas und Israel, der sich u.a. in den Jahren 2008/2009, im Jahre 2012, 2014 und zuletzt wieder im Mai 2021 gewaltsam entladen hat – lässt sich mit den herkömmlichen Begrifflichkeiten des humanitären Völkerrechts nicht ohne weiteres fassen. 26 Vgl. hierzu International Bar Association, Webinar “Legal analysis of the ongoing conflict between Israel and Palestine”, 24. Mai 2021, podcast https://www.ibanet.org/conference-details/CONF2009#postEventContent. 27 Andreas v. Arnauld, Völkerrrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 1195. 28 Protocol Additional to the Geneva Conventions of 12 August 1949, and Relating to the Protection of Victims of International Armed Conflicts (Protocol I), 8 June 1977, Text abrufbar unter: https://www.drk.de/fileadmin /user_upload/PDFs/Das_DRK/Materialien/Allgemein/DRK_Zusatzprotokoll_01_Genfer_Abkommen.pdf. 29 Vgl. überblicksartig zu den humanitär-völkerrechtlichen Quellen Gasser/Melzer, Humanitäres Völkerrecht, Zürich u.a.: Schulthess, 2. Aufl. 2012, S. 64 ff. 30 Dazu grundlegend Gerd Oberleitner, Human Rights in Armed Conflict: Cambridge Univ. Press 2015. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 9 Fragen der rechtlichen und dogmatischen Einordnung dieses Konflikts sind seit langem umstritten .31 Während der interne bewaffnete Konflikt üblicherweise dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Regierung auf dem eigenen Territorium gegen aufständische Teile der eigenen Bevölkerung vorgeht ,32 befindet sich Israel im Konflikt mit den Palästinensern,33 ihrer Vertretung (Autonomiebehörde ) sowie mit militanten palästinensischen Gruppierungen. Kern des Konflikts sind u.a. Streitigkeiten über Territorien, die völkerrechtlich jedenfalls nicht als Teil des israelischen Staatsgebietes gelten.34 Andererseits stehen sich im Nahostkonflikt keine souveränen Staaten gegenüber;35 dies gilt insbesondere für den Gaza-Konflikt zwischen Israel und der nicht-staatlichen Hamas. Die Heterogenität heutiger Konflikte – darunter „asymmetrische“ Konflikte wie etwa der sog. „war on terror“, militärische Auseinandersetzungen mit „Warlords“ in failed states oder Bürgerkriege mit militärischer Intervention von Drittstaaten – haben die kategoriale Trennung zwischen 31 Vgl. zur Diskussion u.a. Dapo Akande, “Israeli raids in Gaza: Proportionality and the Status of Hamas Policemen ”, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 29. Dezember 2009, https://www.ejiltalk .org/israeli-raids-in-gaza-proportionality-and-the-status-of-hamas-policemen/#more-283. Marko Milanovic, „A Follow-Up on Israel and Gaza“, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 3. Januar 2009, https://www.ejiltalk.org/a-follow-up-on-israel-and-gaza/. 32 Vgl. zur Begrifflichkeit Robert Zischg, „Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt und Völkerrecht“, Baden- Baden: Nomos 1995, S. 30 f. sowie Gasser/Melzer, Humanitäres Völkerrecht, Zürich, 2. Aufl. 2012, S. 67 ff. 33 Die Existenz eines „palästinensischen Volks“ wurde völkerrechtlich anerkannt durch die Resolution der VN- Generalversammlung vom 22. November 1974, UN-Dok. A/RES/3236 (XXIX) v. 22. November 1974 https://unispal.un.org/DPA/DPR/unispal.nsf/0/025974039ACFB171852560DE00548BBE. Auch der IGH stellt die völkerrechtliche Existenz eines palästinensischen Volkes außer Frage, vgl. ICJ Advisory Opinion vom 9. Juli 2004, “Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory ”, Rdnr. 118, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/131/131-20040709-ADV-01-00-EN.pdf. 34 So sind die gegenwärtig völkerrechtlich geltenden Grenzen des Staates Israel im Zuge des Unabhängigkeitskrieges gegen die arabischen Nachbarstaaten 1948/49 festgelegt; insbesondere diente die damalige Demarkationslinie (sog. Grüne Linie) als Grundlage für die Anerkennung Israels durch die internationale Gemeinschaft und Aufnahme Israels in die VN im Jahre 1949. Vgl. Gerd Seidel, „Die Palästinafrage und das Völkerrecht“, in: Archiv des Völkerrechts 2006, S. 121-158. Iain Scobbie / Sarah Hibbin, “The Israel-Palestine Conflict in International Law: Territorial Issues”, in: SSRN Electronic Journal, 2010, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1621382. Vgl. auch das sog. „Mauer-Gutachten” (Advisory Opinion) des IGH vom 9. Juli 2004, “Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory”, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related /131/131-20040709-ADV-01-00-EN.pdf. 35 Vgl. näher Gutachten WD 2 – 3000 – 009/19, „Zur völkerrechtlichen Anerkennung Palästinas“, https://www.bundestag.de/resource/blob/631838/0697a1a6392406b6501bdfc557ee8b23/WD-2-009-19-pdfdata .pdf. Konrad-Adenauer Stiftung (Hrsg.), „Legal Fact Sheet: Palästinensische Staatlichkeit nach Völkerrecht“, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=cd0e70e8-3b04-c7c8-e37f-8b9b64553bc8&group Id=268421. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 10 internationalen und nicht-internationalen Konflikten zunehmend aufgeweicht.36 Vor allem aus Sicht des Völkerstrafrechts haben sich der internationale und der nicht-internationale bewaffnete Konflikt rechtlich weitgehend angenähert.37 In der völkerrechtlichen Literatur finden sich Ansätze einer evolutiven oder dynamischen Auslegung des Begriffs „internationaler Konflikt“, der auch Konflikte erfassen soll, in denen ein Staat einem Völkerrechtssubjekt gegenüber steht, das jedenfalls über ausreichende Handlungsfähigkeit verfügt, um seine Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht zu erfüllen.38 In diesem Zusammenhang plädierte etwa der sog. Goldstone-Bericht39 zum Gaza-Konflikt 2008/2009 für eine umfassende Bindung auch nicht-staatlicher Akteure (wie die Hamas) an Normen des humanitären Völkerrechts. Andere Ansätze suchen den Weg über das Gewohnheitsrecht: So wird man heute nicht nur von einer gewohnheitsrechtlichen Bindung nicht-staatlicher Akteure an Normen des humanitären Völkerrechts ausgehen dürfen;40 vielmehr lassen sich zentrale Regelungen des Kampfführungsrechts (wie sie im 1. ZP verankert sind) gewohnheitsrechtlich mittlerweile auch auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwenden.41 Aufgrund der gewohnheitsrechtlichen Geltung wesentlicher Teile des 1. ZP bleibt es rechtlich unbeachtlich, dass Israel nur die Genfer Konventionen , nicht aber das 1. ZP ratifiziert hat. Im Ergebnis lässt sich die Anwendbarkeit der Kampfführungsregeln des 1. ZP für die Konfliktparteien Hamas und Israel im Gaza-Konflikt 2021 gewohnheitsrechtlich begründen.42 Im Falle 36 Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rdnr. 10.23 ff. 37 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 1196 und 1350. 38 In diese Richtung etwa Friederike Bredt, „Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts im Israel-Palästina- Konflikt“, Berlin: Duncker & Humblot, 2009, S. 253 ff. 39 Goldstone-Report, “Human Rights in Palestine and Other Occupied Arab Territories, Report of the United Nations Fact-Finding Mission on the Gaza Conflict”, A/HRC/12/48, 25. September 2009, https://www2.ohchr .org/english/bodies/hrcouncil/docs/12session/A-HRC-12-48.pdf. Dazu Christian J. Tams, „Der Goldstone-Bericht zum Gaza-Krieg 2008/2009 aus Sicht des Völkerrechts“, in: Vereinte Nationen (Zeitschrift) 6/2010, S. 243-248, https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/fileadmin/publications /PDFs/Zeitschrift_VN/VN_2010/Heft_6_2010/02_Tams_beitrag_6-10_29-11-2010.pdf. 40 Vgl. insoweit Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 61 Rdnr. 41 und § 62 Rdnr. 35 sowie Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rdnr. 4.41 ff. 41 Gasser/Melzer, Humanitäres Völkerrecht, Zürich u.a.: Schulthess, 2. Aufl. 2012, S. 58. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München 7. Aufl. 2018, § 60 Rdnr. 31. Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rn. 4.34 ff. Vgl. eingehend dazu die Gewohnheitsrechtsstudie des IKRK von 2005, https://www.drk.de/fileadmin/user_upload /PDFs/Das_DRK/Materialien/Vertragstexte_Voelkergewohnheitsrecht/Zusammenfassung_Gewohnheitsrechtsstudie .PDF. 42 So im Ergebnis auch Heintschel v. Heinegg in: SZ v. 18. Mai 2021, “Die Regeln des Krieges“, https://www.sueddeutsche .de/politik/nahost-israel-gaza-hamas-voelkerrecht-1.5296620. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 11 von schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts können sich Verantwortliche beider Konfliktparteien wegen Kriegsverbrechen (vgl. Art. 8 des IStGH-Statuts) strafbar machen. 2.2. Unterscheidungsgebot zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen Der Schutz ziviler Objekte ist in den Art. 52 ff. des 1. ZP geregelt. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 bestimmt, dass zivile Objekte weder angegriffen noch zum Gegenstand von Repressalien gemacht werden dürfen. Zivile Objekte sind alle Objekte, die keine militärischen Ziele darstellen. Militärische Ziele sind gem. Art. 52 Abs. 2 ZP I nur solche Objekte, die „(…) auf Grund ihrer Beschaffenheit, ihres Standortes, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt.“ Besonders schwierig gestaltet sich der Umgang mit Objekten, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen (sog. dual use-objects).43 Wird ein ziviles Objekt (z.B. ein Wohn- oder Bürohaus oder ein Krankenhaus) von einer Konfliktpartei auch militärisch genutzt (z.B. zur Lagerung von Waffen oder als Kommandozentrale), so kann es seinen zivilen Charakter verlieren. Art. 52 Abs. 3 des 1. ZP formuliert in diesem Zusammenhang eine Vermutung zugunsten des zivilen Charakters bzw. der zivilen Nutzung des Objekts: „Im Zweifelsfall wird vermutet, dass ein in der Regel für zivile Zwecke bestimmtes Objekt, wie beispielsweise eine Kultstätte, ein Haus, eine sonstige Wohnstätte oder eine Schule, nicht dazu verwendet wird, wirksam zu militärischen Handlungen beizutragen.“ Abzustellen ist dabei nicht auf die Zweifel eines „objektiven“ Beobachters, z.B. eines Richters, der die Kampfhandlungen im Nachhinein (ex post) juristisch bewertet. Abzustellen ist vielmehr auf die ex-ante Sichtweise des Kommandeurs einer Konfliktpartei, der konkret vor der Entscheidung steht, ein bestimmtes Objekt anzugreifen. Hat er Zweifel an der militärischen Nutzung des Objekts, so darf er den Befehl zum Angriff nicht geben. Die Darlegungslast für die militärische Bedeutung, die ein ziviles Ziel als „militärisches“ Ziel qualifiziert, trägt gem. Art. 52 Abs. 3 des 1. ZP die angreifende Konfliktpartei.44 43 Dazu Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rn. 8.307. So können etwa Rundfunk- und Fernsehstationen in einem bewaffneten Konflikt nicht nur zur freien Berichterstattung, sondern auch zur ideologischen Indoktrinierung der Bevölkerung und damit zur Aufrechterhaltung des Kampfeswillens genutzt werden. Militärisch nutzen lassen sich auch zivile Infrastruktur oder die Stromversorgung. 44 So Stefan Oeter, „Kampfmittel und Kampfmethoden in bewaffneten Konflikten und ihre Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht“, in: Hasse/Müller/Schneider (Hrsg.), Humanitäres Völkerrecht, Baden-Baden: Nomos 2001, S. 78-109 (89). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 12 Im Mai 2021 sorgte die Zerstörung eines Gebäudes im Gazastreifen, in dem u.a. Presseagenturen (z.B. Associated Press) ihren Sitz hatten, für Aufsehen. Die Behauptung Israels, wonach das Hochhaus (auch) militärisch vom Hamas-Geheimdienst genutzt worden sei,45 wird seitens der Associated Press bezweifelt: “´We have had no indication Hamas was in the building or active in the building`, AP President and CEO Gary Pruitt said in a statement. ´This is something we actively check to the best of our ability. We would never knowingly put our journalists at risk.`”46 Die Berichterstattung zu dem Vorfall hat bislang keine Klarheit bezüglich der Fakten gebracht.47 Zwar hat die Hamas bereits im Gaza-Konflikt 2014 offenbar zum Mittel „menschlicher Schutzschilde “ gegriffen;48 für die Vorfälle im Mai 2021 bleibt indes das Ergebnis einer unabhängigen Untersuchungskommission abzuwarten. Auch in zurückliegenden Gaza-Konflikten sind umstrittene Militäraktionen im Nachhinein überprüft worden – in manchen Fällen wurden einzelne Handlungen als völkerrechtskonform bewertet, in anderen nicht.49 45 The Times of Israel vom 15. Mai 2021, “IDF fells Gaza tower used by media outlets, says it housed Hamas military assets”, https://www.timesofisrael.com/idf-fells-gaza-tower-used-by-media-outlets-says-it-housed-hamas -military-assets/. 46 AP News vom 16. Mai 2021, “Israel strikes Gaza home of Hamas leader, destroys AP office”, https://apnews .com/article/israel-west-bank-gaza-middle-east-israel-palestinian-conflict- 7974cc0c03897b8b21e5fc2f8c7d8a79. 47 Meldete die Presse am 17. Mai 2021, dass den Amerikanern keine Beweise vorliegen würden (vgl. AP vom 17. Mai 2021, “Blinken hasn’t seen any evidence on AP Gaza building strike”, https://apnews.com/article/middleeast -israel-business-israel-palestinian-conflict-government-and-politics-abd641af1607fbae7f49e1cce7dbc49e), so wurde tags darauf von israelischen Informationen an die US-Regierung berichtet, die aber eingestuft blieben (vgl. Times of Israel, 18. Mai 2021, “Blinken: Israel has given us intel on strike on Gaza media tower”, https://www.timesofisrael.com/blinken-israel-handed-over-intel-on-strike-on-gaza-media-tower/): “Secretary doesn’t comment on content of new info on bombing of high-rise used by AP, Al Jazeera, which Israel says was Hamas asset; Israel says classified intel given to Pentagon”. Die VN-Hochkommissarin für Menschenrechte, die Michelle Bachelet, weist in ihrem Statement vom 27. Mai 2021 (https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/NewsDetail.aspx?NewsID=27117&LangID=E) darauf hin, dass sie für die Behauptung Israels, die Luftschläge hätten militärisch genutzten Gebäuden gegolten, bislang keine Beweise gesehen habe (vgl. insoweit Tagesschau online vom 27. Mai 2021, „UN-Menschenrechtsrat. Scharfe Kritik an Israel und der Hamas“, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/un-menschrechtsrat-israelhamas -101.html). 48 SZ vom 10. Juli 2014, „Hamas nutzt Gaza-Bewohner als menschliche Schutzschilde“, https://www.sueddeutsche .de/politik/eskalation-im-nahen-osten-hamas-nutzt-gaza-bewohner-als-menschliche-schutzschilde- 1.2039824. Das Verhalten stellt gem. Art. 8 Abs. 2 b lit. xxiii) IStGH-Statut ein Kriegsverbrechen dar. 49 So Nolte, Georg, in: Tagesspiegel online vom 23. Mai 2021, „Humanitäres Völkerrecht im Gazakrieg. Wer ist hier der Kriegsverbrecher?“, https://www.tagesspiegel.de/politik/humanitaeres-voelkerrechtim -gazakrieg-wer-ist-hier-der-kriegsverbrecher/27208238.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 13 2.3. Völkerrechtliche Grenzen der Kampfführung An dieser Stelle sei noch einmal klargestellt, dass die völkerrechtlichen Grenzen der Kampfführung für beide Konfliktparteien gleichermaßen gelten. Im Folgenden werden drei rudimentäre Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts beleuchtet. 2.3.1. Exzessverbot Auch ein militärisch „zweckentfremdetes“ ziviles Objekt ist nach humanitärem Völkerrecht nicht schutzlos gestellt.50 Grenzen der Kampfführung ergeben sich u.a. aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (sog. Übermaßverbot, Art. 51 Abs. 5 lit. b) des 1. ZP). Verboten sind danach Angriffe, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung verursachen und die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.51 Medienvertreter und Journalisten, die nicht unmittelbar zur Berichterstattung über Kampfhandlungen akkreditiert sind, werden dabei als Zivilisten behandelt, sodass sie in gleicher Weise zu schonen sind.52 Jede Konfliktpartei muss unter Nutzung ihrer militärtechnischen Möglichkeiten dafür Sorge tragen, dass die Folgen ihres Handelns nicht außer Verhältnis zum militärischen Nutzen stehen. Dabei bedarf es einer wertenden Betrachtung im Lichte des erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteils für die angreifende Konfliktpartei (Prognoseentscheidung). Maßstab dafür ist nicht allein der individuelle Angriff, sondern die Militäroperation als solche, zu der dieser Angriff beitragen soll. Da es sich um eine Prognoseentscheidung (ex ante-Betrachtung) handelt, muss sich der erwartete militärische Vorteil am Ende (ex post-Betrachtung) nicht tatsächlich realisiert haben. Allerdings darf die Prognoseentscheidung nicht bloß auf vagen Vermutungen oder Hoffnungen beruhen, sondern muss militärisch begründet sein.53 Maßgeblich ist dabei die Perspektive eines „vernünftigen Kommandeurs“, der zu einer Abwägung militärischer und humanitärer Belange willens und fähig ist.54 50 Stefan Oeter, „Kampfmittel und Kampfmethoden in bewaffneten Konflikten und ihre Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht“, in: Hasse/Müller/Schneider (Hrsg.), Humanitäres Völkerrecht, Baden-Baden: Nomos 2001, S. 78-109 (90). 51 Im verbindlichen engl. Originaltext: “(T)he following types of attacks are to be considered as indiscriminate: an attack (…) which would be excessive in relation to the concrete and direct military advantage anticipated.” 52 Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rn. 8.143. 53 Vgl. näher zu den Anforderungen des sog. „Exzess- oder Übermaßverbots“ Heintschel v. Heinegg, on: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 65 Rdnr. 35. Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rn. 8.319 ff. 54 Matthias Herdegen, in: Tagesspiegel online vom 23. Mai 2021, „Humanitäres Völkerrecht im Gazakrieg. Wer ist hier der Kriegsverbrecher?“, https://www.tagesspiegel.de/politik/humanitaeres-voelkerrechtim -gazakrieg-wer-ist-hier-der-kriegsverbrecher/27208238.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 14 2.3.2. Pflicht zu Vorsichtsmaßnahmen Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet die Konfliktparteien überdies, Vorsichtsmaßnahmen beim Angriff (aktive Maßnahmen) und gegen die Wirkungen von Angriffen (passive Maßnahmen) zu treffen. Ein militärischer Befehlshaber muss dabei alle ihm zur Verfügung stehenden Aufklärungsmittel und Informationen nutzen. Art. 57 Abs. 2 lit a) des 1. ZP lautet: „Wer einen Angriff plant oder beschließt (…) hat alles praktisch Mögliche [engl: „feasible precautions “] zu tun, um sicherzugehen, dass die Angriffsziele weder Zivilpersonen noch zivile Objekte (…) sind.“ Die Zivilbevölkerung soll u.a. dadurch geschützt werden, dass sie, soweit die Umstände dies erlauben, vor den Angriffen gewarnt wird. Eine besondere Form ist nicht vorgeschrieben. Art. 57 Abs. 2 lit. c) des 1. ZP lautet: „Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, muss eine wirksame Warnung vorausgehen, es sei denn, die gegebenen Umstände erlaubten dies nicht“. 2.3.3. Verbot unterschiedsloser Angriffe Grenzen der Kampfführung ergeben sich schließlich aus dem Verbot des unterschiedslosen Angriffs (Art. 51 Abs. 4 des 1. ZP). Dabei handelt es sich um Angriffe, die sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richten oder richten können und deren Wirkungen daher auch nicht begrenzbar sind.55 Dazu zählt u.a. ein Flächenbombardement oder ein Raketenbeschuss von Städten, der keinem militärischen Ziel gilt, sondern vor allem die Zivilbevölkerung in Schrecken versetzen soll. Wer – wie die Hamas – Raketen auf ein bewohntes Gebiet abschießt, ohne auf ein konkretes militärisches Objekt zu zielen, und dabei zwangsläufig Zivilisten tötet, begeht in der Regel ein Kriegsverbrechen (Art. 8 Abs. 2 lit b) IStGH-Statut).56 2.3.4. Situation im Gaza-Konflikt Beim Beschuss des Al-Jalaa-Medienhauses in Gaza im Mai 2021 ist Israel – soweit bekannt – der Warnpflicht nachgekommen und hat die Bewohner des Hauses vorab über den Luftangriff 55 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München: Beck, 7. Aufl. 2018, § 65 Rdnr. 33. 56 So Georg Nolte, in: Tagesspiegel online vom 23. Mai 2021, „Humanitäres Völkerrecht im Gazakrieg. Wer ist hier der Kriegsverbrecher?“, https://www.tagesspiegel.de/politik/humanitaeres-voelkerrechtim -gazakrieg-wer-ist-hier-der-kriegsverbrecher/27208238.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 15 informiert, so dass alle rechtzeitig das Haus verlassen konnten. Verletzte oder Tote waren offenbar nicht zu beklagen.57 Folglich lässt sich auch ein Verstoß gegen das Übermaßverbot nicht feststellen . Abzuwarten bleiben aber auch hier die Untersuchungen der Militäraktion durch ein unabhängiges Gremium. Hinsichtlich des Raketenbeschusses israelischer Städte müsste die Hamas darlegen, dass der Beschuss ausschließlich militärischen Zielen gegolten hat und dass sie die Bevölkerung vorab gewarnt hat. 3. Unabhängige Untersuchung und rechtliche Aufarbeitung Im Folgenden geht es um Möglichkeiten, die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Mai 2021 in humanitär-völkerrechtlicher und völkerstrafrechtlicher Hinsicht aufzuarbeiten.58 3.1. Internationales Komitee vom Roten Kreuz Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat die Aufgabe, Opfer bewaffneter Konflikte zu schützen und genießt dafür einen privilegierten Zugang zum Kampfgeschehen (vgl. Art. 81 des 1. ZP). So hat das IKRK im jüngsten Gaza-Konflikt die Konfliktparteien aufgerufen, den Schutz der Zivilisten sicherzustellen und besseren Zugang zu den Verwundeten in Gaza zu gewährleisten.59 Das IKRK ist bestrebt, auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts durch die Konfliktparteien hinzuwirken60 und kann durch seine Expertise zur rechtlichen Aufarbeitung eines bewaffneten Konflikts beitragen. 57 Guardian, 15. Mai 2021, „Israeli strike destroys Gaza tower housing media organisations“, https://www.theguardian .com/world/2021/may/15/israeli-strikes-destroy-gaza-jalaa-tower-media-al-jazeera-associated-press. Agentur Reuters, 15. Mai 2021, “Israel destroys Gaza tower housing AP and Al Jazeera offices”, https://www.reuters.com/world/middle-east/gaza-tower-housing-ap-al-jazeera-collapses-after-missile-strikewitness -2021-05-15/. 58 Forderungen in diese Richtung sind bereits während der Kampfhandlungen laut geworden, vgl. z.B. Amnesty International, “Pattern of Israeli attacks on residential homes in Gaza must be investigated as war crimes”, 17. Mai 2021, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/05/israelopt-pattern-of-israeli-attacks-onresidential -homes-in-gaza-must-be-investigated-as-war-crimes/. 59 International Committee of the Red Cross, 16. Mai 2021, “Israel and the occupied territory: Hostilities between Gaza and Israel must stop and much-needed humanitarian activities must start now”, https://www.icrc.org/en/document/israel-and-occupied-territory-hostilities-between-gaza-and-israel-must-stopand -much-needed. 60 Siehe Sassoli, Marco, International Humanitarian Law, 2019, Rn. 5.163 ff. Jakob Kellenberger, Humanitäres Völlerrecht, Stuttgart u.a.: Huber Verlag, 2010, S. 149 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 16 3.2. VN-Sicherheitsrat Der VN-Sicherheitsrat hat sich im Mai 2021 mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas befasst, konnte sich jedoch auf keine verbindliche Resolution verständigen.61 In einer (völkerrechtlich unverbindlichen) Erklärung vom 22. Mai 2021 (Presidential Statement) betonten die Mitglieder des Sicherheitsrats lediglich die Notwendigkeit humanitärer Hilfe für Gaza nach Inkrafttreten eines Waffenstillstandes.62 Die Einsetzung einer Gaza-Untersuchungskommission durch den VN-Sicherheitsrat erscheint derzeit wenig wahrscheinlich. 3.3. VN-Menschenrechtsrat Der VN-Menschenrechtsrat hatte bereits anlässlich des Gaza-Konflikts 2008-2009 eine Untersuchungskommission eingesetzt, die sich im sog. Goldstone-Report von 2009 mit völkerrechtlichen Aspekten des Konflikts sowie mit einzelnen Rechtsverstößen der Konfliktparteien auseinandergesetzt hat.63 Eine weitere Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats befasste sich mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Jahre 2014.64 Angesichts der jüngsten Auseinandersetzungen hat der VN-Menschenrechtsrat in seiner Resolution vom 27. Mai 2021 beide Konfliktparteien scharf kritisiert und – u.a. gegen die Stimme Deutschlands – eine Untersuchung der Kampfhandlungen in die Wege geleitet.65 3.4. Internationaler Strafgerichtshof Rechtlich komplizierter gestaltet sich dagegen die Möglichkeit, die Kampfhandlungen in Gaza- Stadt durch die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Fatou Bensouda (ab 16. Juni 2021: ihr Nachfolger Karim Khan) untersuchen zu lassen. Rechtsgrundlage für ein 61 Deutsche Welle vom 18. Mai 2021, UN-Sicherheitsrat tritt auf der Stelle, https://www.dw.com/de/un-sicherheitsrat -tritt-auf-der-stelle/a-57575848. 62 United Nations, Security Council Press Statement on Gaza Ceasefire, SC/14527, 22. Mai 2021, https://www.un.org/press/en/2021/sc14527.doc.htm. 63 Goldstone-Report, United Nations, Human Rights Council, Human Rights in Palestine and Other Occupied Arab Territories, Report of the United Nations Fact-Finding Mission on the Gaza Conflict, A/HRC/12/48, 25. September 2009, https://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/12session/A-HRC-12-48.pdf. 64 United Nations Human Rights Council, The United Nations Independent Commission of Inquiry on the 2014 Gaza Conflict, https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/CoIGazaConflict/Pages/ReportCoIGaza.aspx. Siehe Tagesspiegel vom 22. Juni 2016, „UN-Bericht zum Gaza-Krieg 2014, Israelis und Palästinenser begingen zahlreiche Kriegsverbrechen“, https://www.tagesspiegel.de/politik/un-bericht-zum-gaza-krieg-2014-israelisund -palaestinenser-begingen-zahlreiche-kriegsverbrechen/11952388.html. 65 UN Human Rights Council, Resolution A/HRC/S-30/L.1 vom 27. Mai 2021 (mit 24 gegen 9 Stimmen angenommen ), sowie Pressemitteilung vom 27. Mai 2021„Human Rights Council Establishes International Commission of Inquiry to Investigate Violations in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem, and in Israel”, https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/HRC/Pages/NewsDetail.aspx?NewsID=27119&LangID=E. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 17 Tätigwerden des IStGH, der unter anderem für die Verfolgung von Kriegsverbrechen zuständig ist, ist das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.66 Israel ist dem Statut nicht beigetreten und damit kein Mitglied des IStGH.67 Die Palästinensische Autonomiebehörde erklärte dagegen am 2. Januar 2015 den Beitritt zum Römischen Statut als „Staat von Palästina“.68 Der IGH hat wesentliche prozedurale Vorgänge in Zusammenhang mit der Mitgliedschaft Palästinas auf seiner Homepage zusammengefasst.69 Da die Staatsqualität der palästinensischen Autonomiegebiete international umstritten ist,70 wird zum Teil auch die Wirksamkeit des Beitritts Palästinas zum Römischen Statut und in der Folge die Zuständigkeit des IStGH für die palästinensischen Gebiete in Zweifel gezogen.71 Insbesondere Deutschland hat sich dezidiert gegen eine Zuständigkeit des IStGH für die palästinensischen Autonomiegebiete ausgesprochen mit dem rechtlichen Argument, Palästina erfülle aus deutscher Sicht nicht die klassischen Elemente der Staatlichkeit .72 Ihre Rechtsauffassung hat die Bundesregierung in einem Verfahren vor dem IStGH durch einen sog. amicus curiae Brief vorgetragen.73 66 Deutsche Übersetzung des Römischen Statuts: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html. Kriegsverbrechen sind in Art. 8 des Statuts aufgelistet. 67 Siehe Liste der Beitritte zum Römischen Statut unter International Criminal Court, The State Parties to the Rome Statute, https://asp.icc-cpi.int/en_menus/asp/states%20parties/pages/the%20states%20parties %20to%20the%20rome%20statute.aspx#P. 68 ICC, “The State of Palestine accedes to the Rome Statute“, Pressemitteilung vom 7. Januar 2015, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1082_2. 69 ICC, „State of Palestine“, https://www.icc-cpi.int/palestine. 70 Palästina pflegt mittlerweile diplomatische Beziehungen zu 139 (von 194) Staaten. Eine Liste ihrer diplomatischen Beziehungen führt die Mission of the State of Palestine to the UN unter: https://palestineun.org/aboutpalestine /diplomatic-relations/. 71 Vgl. zur völkerrechtlichen Diskussion Özgen Özdemir, „Staat oder kein Staat unter dem Rom-Statut, das ist hier die einzige Frage!“, Völkerrechtsblog, 17. März 2015, https://voelkerrechtsblog.org/de/staat-oder-kein-staat-unter -dem-rom-statut-das-ist-hier-die-einzige-frage/. Daniel Ventura, „Palestine’s statehood and its accession to the Rome Statute“, Völkerrechtsblog, 19. März 2015, http://voelkerrechtsblog.org/palestines-statehood-and-its-accession-to-the-rome-statute/. Alexander Loengarov, “State of Jurisdiction: The International Criminal Court and the Situation in Palestine”, The Washington Institute for Near East Policy, 24. April 2020, https://www.washingtoninstitute .org/pdf/view/1204/en. 72 Vgl. zur deutschen Position ausführlich Stefan Talmon, “Germany publicly objects to the International Criminal Court’s ruling on jurisdiction in Palestine”, in: German Practice in International Law - GPIL, 11. Februar 2021, https://gpil.jura.uni-bonn.de/2021/02/germany-publicly-objects-to-the-international-criminal-courts-ruling-onjurisdiction -in-palestine/. 73 Observations by the Federal Republic of Germany, 16. März 2020, ICC/01/18, para 51 f., abrufbar unter: https://legal-tools.org/doc/8bwxco/pdf. Ein Amicus Curiae Brief (amicus curiae = „Freund des Gerichts“) ist ein Schriftsatz an ein Gericht, in dem eine am Verfahren nicht selbst beteiligte Person oder Organisation rechtliche Argumente und eine Handlungsempfehlung für einen vor Gericht ausgetragenen Fall darlegen kann. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 18 Auf Antrag der Chefanklägerin (gem. Art. 19 Abs. 3 des Römischen Statuts) entschied eine Vorverfahrenskammer des IStGH (Pre-Trial Chamber) am 5. Februar 2021, dass sich die territoriale Zuständigkeit des Gerichts mit Blick auf die Situation in Palästina auch auf die von Israel seit 1967 besetzten Gebiete, nämlich Gaza und West Bank, inklusive Ost-Jerusalem erstreckt.74 Die Entscheidung ist nicht nur in der internationalen Presse75, sondern auch in der völkerstrafrechtlichen Fachwelt76 kritisch aufgenommen worden. Der IStGH selbst hat einen fact-sheet mit Fragen und Antworten zu der Entscheidung herausgegeben.77 Darin macht der IStGH deutlich, dass es sich hier um eine Entscheidung einer Vorverfahrenskammer handelt, die nach Maßgabe des Art. 82 Abs. 1 lit. a) des IStGH-Statuts angefochten (appeal) und im Instanzenweg von einer Berufungskammer aufgehoben werden kann. Auch weist der IStGH in seinem fact sheet darauf hin, dass die Entscheidung der aus drei Richtern bestehenden Vorverfahrenskammer nicht einstimmig , sondern als Mehrheitsentscheidung (2:1) ergangen ist. Der ungarische Kammervorsitzende Péter Kovács hatte dabei eine 154 Seiten umfassende abweichende Stellungnahme (dissenting opinion) formuliert,78 die bei einer mögliche Überprüfung der Entscheidung eine Rolle spielen könnte. Überdies erinnert der IStGH daran, dass sich seine Aufgabe darauf beschränkt, das strafrechtliche Verhalten von Einzelpersonen zu untersuchen; die Verfolgung und Verurteilung von Staaten, insbesondere solchen, die nicht Mitglied des Römischen Statuts sind, ist nicht Aufgabe des IStGH. 74 International Criminal Court, Pre-Trial Chamber I, No.: ICC-01/18, 12. Mai 2021, S. 4, https://www.icccpi .int/CourtRecords/CR2021_01165.PDF. Zu Reaktion Deutschlands auf die Entscheidung der Kammer vgl. Niederschrift der Regierungspressekonferenz vom 8. Februar 2021, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungspressekonferenz-vom-8-februar -2021-1851964: „In der Sache geht es um eine Zuständigkeitsfrage. Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs bezieht sich auf den territorialen Umfang förmlicher Ermittlungen der Anklagebehörde und ausdrücklich nicht auf die Staatlichkeit der palästinensischen Gebiete. Sie bedeutet, dass die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs Ermittlungen zu etwaigen Völkerrechtsverbrechen in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten aufnehmen kann. Es ist nun an der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs, zu entscheiden, ob tatsächlich Ermittlungen aufgenommen werden.“ 75 Vgl. BBC vom 5. Februar 2021, “ICC rules it has jurisdiction over West Bank and Gaza 'abuses'”, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-55956771. Agentur Reuters, “International Criminal Court says it has jurisdiction in Palestinian territories”, https://www.reuters.com/article/us-icc-palestinians-israel-idUSKBN2A52CW. 76 Vgl. nur Kai Ambos, “Solid jurisdictional basis? The ICC’s fragile jurisdiction for crimes allegedly committed in Palestine”, EJIL: Talk! Blog of the European Journal of International Law, 2. März 2021, https://www.ejiltalk.org/solid-jurisdictional-basis-the-iccs-fragile-jurisdiction-for-crimes-allegedly-committedin -palestine/. 77 International Criminal Court, “Questions and Answers on the Decision on the International Criminal Court’s territorial jurisdiction in the Situation in Palestine”, 15. Februar 2021, https://www.icc-cpi.int/items- Documents/palestine/210215-palestine-q-a-eng.pdf. 78 Partly Dissenting opinion of Judge Kovács, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/Related Records/CR2021_01167.PDF. In seiner Stellungnahme setzt sich der Kammervorsitzende vor allem mit der Staatsqualität Palästinas auseinander. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 19 Schließlich macht der IStGH in seinem fact sheet deutlich, dass die Entscheidung der Vorverfahrenskammer nicht automatisch zu einer Untersuchungstätigkeit des IStGH führt. Diese liegt vielmehr im Ermessen der Chefanklägerin. Die Chefanklägerin hat in diesem Zusammenhang bereits angekündigt, die Auseinandersetzungen im jüngsten Gaza-Konflikt beobachten zu wollen.79 Verschiedene Nichtregierungsorganisation wie Reporter ohne Grenzen und Amnesty International haben die Chefanklägerin bereits aufgefordert, Untersuchungen des Gaza-Konflikts 2021 einzuleiten,80 so wie sie dies im März 2021 mit Blick auf die Vorfälle im Gaza-Konflikt von 2014 angekündigt hatte.81 3.5. VN-Rassendiskriminierungsausschuss Hinzuweisen ist schließlich auf die Spruchpraxis des VN-Ausschusses gegen Rassendiskriminierung , der zur Überwachung der VN-Rassendiskriminierungskonvention82 eingesetzt ist. Der Ausschuss hat im Mai 2021 erstmals eine Staatenbeschwerde83 Palästinas gegen Israel für zulässig erklärt.84 79 Reuters, 13. Mai 2021, “ICC prosecutor warns against crimes in escalating Israeli-Palestinian violence”, https://www.reuters.com/world/middle-east/icc-prosecutor-warns-against-crimes-escalating-israel-palestinianviolence -2021-05-13/: In dem Bericht heißt es: “These are events that we are looking at very seriously, Bensouda said. We are monitoring very closely and I remind that an investigation has opened and the evolution of these events could also be something we look at.” 80 Reporter ohne Grenzen, 16. Mai 2021, “RSF asks ICC prosecutor to say whether Israeli airstrikes on media in Gaza constitute war crimes”, https://rsf.org/en/news/rsf-asks-icc-prosecutor-say-whether-israeli-airstrikes -media-gaza-constitute-war-crimes; Amnesty International, Meldung vom 17. Mai 2021, “Pattern of Israeli attacks on residential homes in Gaza must be investigated as war crimes”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/05/israelopt-pattern-ofisraeli -attacks-on-residential-homes-in-gaza-must-be-investigated-as-war-crimes/. 81 Statement of ICC Prosecutor, Fatou Bensouda, respecting an investigation of the Situation in Palestine, 3. März 2021, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=210303-prosecutor-statement-investigation-palestine. 82 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination vom 21. Dezember 1965, Text abrufbar unter: https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/cerd.aspx. 83 Art. 11 der VN-Rassendiskriminierungskonvention sieht die Möglichkeit zu Staatenbeschwerden vor: “If a State Party considers that another State Party is not giving effect to the provisions of this Convention, it may bring the matter to the attention of the Committee.” 84 Decision on the admissibility of the inter-State communication submitted by the State of Palestine against Israel, CERD/C/103/R.6, 20. Mai 2021, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CERD/Shared%20Documents/1_Global /CERD_C_103_R-6_9416_E.pdf. Bereits am 12. Dezember 2019 hatte der Ausschuss seine Zuständigkeit (jurisdiction) für diesen Fall erklärt, https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CERD/CERD-C-100-5.pdf. Vgl. dazu Jan Eiken, “Breaking new ground – Again? The CERD Committee’s decision on admissibility in Palestine v. Israel”, EJIL Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 31. Mai 2021, https://www.ejiltalk .org/breaking-new-ground-again-the-cerd-committees-decision-on-admissibility-in-palestine-visrael /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 043/21 Seite 20 Auch wenn jenem Verfahren ein anderer Sachverhalt zugrunde liegt, erscheint es rechtlich nicht ausgeschlossen, dass auch das Vorgehen der israelischen Sicherheitskräfte gegen die Palästinenser auf dem Tempelberg im Mai 2021 zum Gegenstand einer Staatenbeschwerde vor dem Rassendiskriminierungsausschuss gemacht wird. ***