© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 040/16 Völkerrechtliche Aspekte der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei durch die Deutsche Marine im Rahmen der NATO- Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 2 Völkerrechtliche Aspekte der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei durch die Deutsche Marine im Rahmen der NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 040/16 Abschluss der Arbeit: 15. März 2016 (auch letzter Zugriff auf die Internet-Quellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Die Rückführung von Flüchtlingen im Rahmen der NATO- Operation in der Ägäis 4 2. Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht 5 2.1. Völkerrechtliche Bindungen der Türkei an das Refoulement-Verbot 7 2.2. Einhaltung des Verbots der Kettenabschiebungen durch die Türkei 8 3. Verbot von Kollektivausweisungen 10 4. Rechtliche und politische Folgerungen 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 4 1. Die Rückführung von Flüchtlingen im Rahmen der NATO-Operation in der Ägäis Die im März 2016 angelaufene NATO-Seeraumüberwachungs- und -Aufklärungsoperation in der Ägäis hat den Auftrag, Schleuserstrukturen aufzuklären und Schlepperboote an die griechische bzw. türkische Küstenwache zu melden. Ferner sollen in Seenot geratene Schiffe mit Flüchtlingen geborgen und die Flüchtlinge in die Türkei zurückgeführt werden.1 Der Einsatz dient insoweit der Unterstützung Griechenlands bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen im Bereich des Flüchtlingsrechts und des Schutzes der EU-Außengrenzen sowie der Förderung einer Kooperation zwischen der griechischen und der türkischen Küstenwache. Ein gewaltsames Abdrängen und Aufbringen der Schlepper-Schlauchboote durch die Kriegsschiffe umfasst das NATO- Einsatzmandat nicht.2 An der NATO-Operation beteiligen sich zurzeit Fregatten aus Kanada, Griechenland, der Türkei und Deutschland (Einsatzgruppenversorger „Bonn“); eine Aufstockung durch weitere NATO- Partnerstaaten (FRA, GB, DK, NL) ist geplant. Die Schiffe des NATO-Flottenverbandes operieren entlang der türkischen Küste mit ihren vorgelagerten griechischen Inseln (fast) ausschließlich in türkischen oder griechischen Hoheitsgewässern , wobei der genaue Grenzverlauf in der Ägäis an einigen Stellen nach wie vor umstritten ist. Der Einsatz der Schiffe in internationalen Gewässern der Hohen See ist geographisch praktisch ausgeschlossen. Hinsichtlich der in griechischen Gewässern aufgegriffenen und geretteten Flüchtlinge stellt sich die Frage nach der Völkerrechtskonformität ihrer Rückführung in die Türkei. Werden Flüchtlingsboote bereits in türkischen Gewässern aufgegriffen, handelt es sich rechtlich (lediglich) um eine Verhinderung des illegalen Grenzübertritts gemäß den türkischen Grenzvorschriften. Zuständig ist hier die türkische Küstenwache – weder die EU-Grenzschutzbehörde FRONTEX noch die griechische Küstenwache darf in türkischen Hoheitsgewässern operieren. In einem Rechtsgutachten für PRO ASYL vom 29. Februar 2016 äußert der Asylrechtsanwalt Dr. Reinhard Marx völker- und europarechtliche Bedenken hinsichtlich der ins Auge gefassten Rückführungspraxis von Flüchtlingen in die Türkei.3 1 Nach internationalem Seerecht ist lediglich ein Verbringen an einen „sicheren Ort“ (place of safety) gefordert; es besteht kein Anspruch, in einen Hafen seiner Wahl (bzw. in ein bestimmtes Land) gebracht zu werden. Vgl. zum Ganzen Gutachten WD 2 - 3000 - 034/16 vom 23.2.2016, „Seenotrettung durch deutsche Kriegsschiffe“. 2 Zu den Rahmenbedingungen der NATO-Operation vgl. Gutschker, Kebab Connection, in: FAS v. 6.3.2016, S. 3 sowie SPIEGEL online, http://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-mission-bundeswehr-soll-in-der-aegaeisfluechtlinge -abschrecken-a-1079280.html. 3 Marx, Reinhard, Rechtsgutachten v. 29.2.2016 zur Frage, ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ eingestuft werden kann, verfügbar unter: http://www.proasyl.de/fileadmin/fmdam /f_Presse/160304_Gutachten_Marx_Tuerkei_als_sicherer_Drittstaat_korr.pdf. Zweifelnd auch Müller, Reinhard, „Menschenverachtend – oder doch erlaubt?“, in: FAZ v. 9.3.2016, S. 10. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 5 Im Folgenden soll die Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei am Maßstab des Refoulement- Verbots (dazu 3.) sowie des Verbots der Kollektivausweisung (dazu 4.) untersucht werden. Eine Prüfung der Rückführung von Flüchtlingen am Maßstab des Europarechts, insbesondere der EU-Asylverfahrensrichtlinie,4 erfolgt nicht. 2. Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht Das menschen- und flüchtlingsrechtlich verbriefte Refoulement-Verbot wird explizit in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), in Art. 3 der VN-Antifolterkonvention (CAT) sowie in Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta garantiert. Überdies ergibt es sich indirekt aus Art. 7 des internationalen Zivilpakts (IPBPR) und aus Art. 3 der EMRK. Das Refoulement-Verbot, das sich zunächst als Staatenverpflichtung nach der GFK darstellt, ist durch die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu einem umfassenden individuellen Menschenrecht ausgestaltet worden. Nach der gefestigten Rechtsprechung des EGMR verbietet Art. 3 EMRK die Ausweisung oder Abschiebung in einen anderen Staat, wenn es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Ausländer dort – oder durch die weitere (Ketten-)Abschiebung in einen anderen Staat – einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, gefoltert, unmenschlich behandelt bestraft oder getötet zu werden.5 Das Rückschiebeverbot gilt auch für jene Gegenden, wo eine konkrete Gefahr für Leib und Leben des Flüchtlings durch eine Bürgerkriegssituation besteht.6 Zudem hat der EGMR 2011 im Fall M.S.S. gegen Belgien entschieden, dass die Rückführung von Flüchtlingen nach Griechenland im Rahmen der Dublin II-Verordnung gegen Art. 3 EMRK verstößt, soweit in den Aufnahmelagern erniedrigende Haft- und Lebensbedingungen festgestellt werden.7 Das jüngste Beispiel für solche Bedingungen ist die Situation in dem überfüllten Flüchtlingslager in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze (Westbalkanroute).8 4 Richtlinie 2013/32/EU v. 26.6.2013. 5 St. EGMR-Rechtspr. seit Soering gegen Großbritannien (1989); Karpenstein/ Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015; Art. 1, Rdnr. 22 m.w.N.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 20, Rdnr. 40 f. 6 EGMR (Große Kammer), Ahmed gegen Österreich (1996); Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München : Beck, 2. Aufl. 2015; Art. 3, Rdnr. 24 m.w.N. 7 EGMR, Urt. v. 21.1.2011 (GK), Beschw. Nr. 30696/09. 8 Vgl. Bericht bei SZ online, http://www.sueddeutsche.de/politik/idomeni-so-muss-es-nach-dem-zweitenweltkrieg -ausgesehen-haben-1.2898740). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 6 Legt man als Maßstab für unmenschliche Zustände in Flüchtlingslagern (Art. 3 EMRK) die Situation in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze an, zeigt sich die Situation in den EU-finanzierten türkischen Aufnahme- und Flüchtlingslagern vergleichsweise konventionskonform . Angesichts einer auf mehrere Millionen geschätzten (und wachsenden) Zahl von Flüchtlingen muss man allerdings die Lage in der Türkei9 auch mit Blick auf eine mögliche Überlastung türkischer Aufnahmekapazitäten genau beobachten.10 An das Refoulement-Verbot sind die EMRK-Mitgliedstaaten unabhängig davon gebunden, wo staatliche Hoheitsgewalt (z.B. durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen) ausgeübt wird. Die Vertragsstaaten müssen also die Inanspruchnahme der Konventionsrechte für alle Personen innerhalb ihrer Gewalt oder ihrer wirksamen Kontrolle sicherstellen, auch wenn Hoheitsgewalt nicht innerhalb des Staatsgebietes, sondern etwa an Bord von Schiffen im Ausland oder auf Hoher See ausgeübt wird.11 Konventionsrechtlich gebunden ist damit auch die deutsche Fregatte eines NATO-Verbandes in griechischen / türkischen Hoheitsgewässern oder auf Hoher See. Das Refoulement-Verbot gilt nicht nur mit Blick auf Abschiebungen direkt in den Heimatstaat eines Flüchtlings, sondern auch bei Rückführungen in jeden anderen Staat, in dem die Gefahr der Weiterabschiebung in den Heimatstaat besteht. Das Refoulement-Verbot enthält insoweit einen indirekten Schutz in Form des Verbotes der Kettenabschiebung.12 Der um Schutz ersuchte EMRK-Mitgliedstaat muss daher nicht nur prüfen, ob in dem Drittstaat, in den die Rückführung erfolgen soll, selbst keine unmenschlichen Bedingungen für Flüchtlinge vorherrschen. Er muss auch prüfen, ob in diesem Staat ausreichende Garantien dafür bestehen, dass der Flüchtling nicht direkt oder indirekt in sein Herkunftsland abgeschoben wird, in welchem eine unmenschliche Behandlung oder Bürgerkrieg droht.13 9 Zur Menschenrechtslage in der Türkei vgl. Länderbericht von Human Rights Watch mit Übersichten, links zu Länderberichten anderer Organisationen unter: http://www.humanrights.ch/de/service/laenderinfos/tuerkei/. 10 So berichtet etwa Amnesty International, dass türkische Behörden im September 2015 damit begonnen hätten, Personen, die irregulär die Grenze zur Türkei überquert haben, in mehr als tausend Kilometer entfernte, im Süden und Osten der Türkei eingerichtete Haftanstalten zu bringen. Der Zugang zur Außenwelt sei unterbunden, Mobiltelefone seien beschlagnahmt und der Kontakt zu Familienangehörigen sei unterbunden worden. Die Inhaftierung habe mehrere Wochen, durchschnittlich etwa zwei Monate gedauert; einige Inhaftierte seien körperlich misshandelt worden (Amnesty International, Europe's Gatekeeper: Unlawful detention and deportation of refugees from Turkey, 2015, Dezember 2015, https://www.amnesty.org/en/documents/eur44/3022/2015/en/). 11 Vgl. zur extraterritorialen Anwendbarkeit der EMRK das EGMR-Urteil vom 23.2.2012, Beschw. Nr. 27765/09 – Hirsi Jamaa gegen Italien. 12 Hailbronner, Ausländerrecht. Kommentar, Losebl. (86. Aktualisierung Juni 2014), Ordner 2, A 1, Kommentar zum AufenthG, § 60, Rdnr. 73; Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 20, Rdnr. 44. 13 EGMR, NVwZ 2011, 413, 417, Rn 342 ff. – M.S.S.; EGMR, NVwZ 2012, 809, 814 Rn 146 ff. – Hirsi Jamaa; ebenso BVerwGE 49, 202, 20 f.; BVerwGE 62, 206, 210; BVerwGE 69, 323, 325. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 7 Entscheidend kommt es darauf an, ob die Türkei solche Garantien des non-refoulement erfüllt und insoweit als „sicherer Drittstaat“ behandelt werden kann.14 Die Bundesregierung hat im Rahmen der Fragestunde des Deutschen Bundestages am 17. Februar 2016 auf die Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE) vom 11. Februar 2016 hin die Auffassung vertreten, dass ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot nicht vorliege und dass auch keine Kettenabschiebungen drohen würden.15 Was die politische Verfolgung in der Türkei anbetrifft, so mag dies auf syrische Flüchtlinge zutreffen . Anders liegt der Fall bei kurdisch-stämmigen türkischen Staatsangehörigen, die eine politisch oder ethnisch motivierte Verfolgung sehr wohl geltend machen könnten. Eine Rückführung solcher Personen von Griechenland in die Türkei wäre konventionsrechtlich ausgesprochen bedenklich. Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass aus diesen Gruppen momentan kein signifikanter Migrationsdruck über die Ägäis bestehe. 2.1. Völkerrechtliche Bindungen der Türkei an das Refoulement-Verbot Die Türkei ist Mitglied der EMRK und daneben an das CAT sowie an den IPBPR völkerrechtlich gebunden. Dagegen hat die Türkei die GFK (als einziger Mitgliedstaat der GFK) mit einem „regionalen Vorbehalt“ gem. Art. 1 B GFK ratifiziert, der die Geltung der Konvention auf Flüchtlinge aus europäischen Staaten beschränkt – also allen Schutzsuchenden aus Syrien, Afghanistan, dem Irak usw. den Flüchtlingsschutz nach der GFK verweigert.16 Gleichwohl darf die Türkei Flüchtlinge aus nichteuropäischen Staaten nicht in ihr Herkunftsland abschieben, weil das Refoulement -Verbot gem. Art. 33 Abs. 1 GFK nach überwiegender Auffassung gewohnheitsrechtlichen Charakter hat17 und damit auch Staaten bindet, welche die GFK nicht (oder nur mit geographischem Vorbehalt) ratifiziert haben. 14 Die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes ist Voraussetzung für die Anerkennung eines Staates als „sicheren Drittstaat“ i.S.v. Art. 38 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2012/32/EU). Selbst wenn die Türkei von einzelnen EU-Mitgliedstaaten (ggf. von Griechenland) als „sicherer Drittstaat“ i.S.v. Art. 38 der Asylverfahrensrichtlinie eingestuft werden sollte, dürfte dieser EU-Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht gleichwohl keine unwiderlegbare Vermutung der Sicherheit festlegen. 15 Vgl. die Antwort des Parl. Staatssekretärs im BMVg Dr. Brauksiepe, BT-Drs. 18/15194, Anlage 18. 16 Damit scheidet eine Qualifikation der Türkei als sog. „sicherer europäischer Drittstaat“ i.S.v. Art. 39 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) aus, die in Art. 39 Abs. 2 a) eine vorbehaltslose Ratifikation der GFK fordert. 17 Vgl. Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Baden-Baden: Nomos, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1493; Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Heidelberg: Springer 2009, S. 268; Reichel, Ernst, Das staatliche Asylrecht „im Rahmen des Völkerrechts“, Berlin: Duncker 1987, S. 184 m.w.N.; Weber, Albrecht, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen, in: ZAR 2012, S. 265-270 (269). Die Berichte von UNHCR (Report, UN Doc. E/1985/62, 1985, Rn 22 f.) sprechen dem Refoulement-Verbot sogar den Charakter von jus cogens (zwingendem Recht) zu. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 8 Nach Auffassung des EGMR reicht es allerdings nicht aus, dass ein Staat die bezeichneten Konventionen ratifiziert hat;18 vielmehr muss er sie auch in der Praxis wirksam anwenden.19 So hat die Türkei im Jahre 2013 innerstaatlich das Refoulement-Verbot umgesetzt und im „Ausländer - und internationalen Schutzgesetz“20 gesetzlich verankert. Gemäß dem Rechtsgutachten von R. Marx fehlt jedoch die Inkorporation des Zurückweisungsverbotes in das türkische Recht.21 2.2. Einhaltung des Verbots der Kettenabschiebungen durch die Türkei Interessant erscheint in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit dem EGMR-Fall Hirsi Jamaa gegen Italien.22 In dem Fall ging es um die Rückführung (sog. „push-back- Operation“) von 11 somalischen und 13 eritreischen Bootsflüchtlingen nach Libyen, die auf Hoher See (im Mittelmeer nahe Lampedusa) aufgegriffen wurden. Die Rückführung der Flüchtlinge durch Italien nach Libyen begründete nach Auffassung des EGMR einen Verstoß gegen das Refoulement-Verbot. Die Situation in Libyen beschreibt der EGMR wie folgt: „Zahlreiche Berichte von internationalen Gremien bzw. NGO’s vermitteln ein beunruhigendes Bild über die Behandlung, die heimlichen Einwanderern in Libyen zuteilwird. Ein Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarats vom 28.4.2010 bestätigt dies. Laut diesen Berichten wurden zu dem besagten Zeitpunkt von Libyen keinerlei Regeln betreffend den Schutz von Flüchtlingen eingehalten. Ein Unterschied zwischen illegalen Einwanderern und Asylwerbern wurde nicht gemacht. Sie alle wurden ausnahmslos festgenommen und unter Bedingungen angehalten, die von Besuchsdelegationen wie etwa Human Rights Watch und Amnesty International als unmenschlich beschrieben wurden. Für den Fall, dass heimliche Einwanderer nicht in ihr Heimatland abgeschoben wurden – ein Risiko, dem sie ständig ausgesetzt waren – und es ihnen gelang, ihre Freiheit wiederzuerlangen, waren sie im Inland besonders prekären Lebensbedingungen als Folge ihres illegalen Status unterworfen. (…) 18 EGMR-Urteil v. 28.2.2008 im Fall Saadi gegen Italien, Rz. 147. 19 Marx, Rechtsgutachten a.a.O. (Anm. 3), S. 5 unter Verweis auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Ungarn vom 10. Dezember 2012 – Nr. 2/2012 (XII..10) KMK. 20 Gesetz Nr. 6458 v. 11.4.2013. 21 So Marx, Rechtsgutachten a.a.O. (Anm. 3), S. 12 und 16, der die Umsetzung des Refoulement-Verbots im türkischen Recht für unzureichend hält. 22 EGMR, Urteil vom 23.2.2012, Beschw. Nr. 27765/09, dt. Fassung verfügbar unter: https://www.jura.unibremen .de/uploads/ZERP/testseminarMigrR/13._Hirsi-Entscheidung_deutsch.pdf. Vgl. dazu Weber, Albrecht, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen. Bedeutung des Straßburger Hirsi-Jamaa-Urteils für den Flüchtlingsschutz, in: ZAR 2012, S. 265-270, verfügbar unter: http://www.zar.nomos.de/fileadmin/zar/doc/Aufsatz_ZAR_12_08.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 9 Die Existenz innerstaatlicher Gesetze bzw. die Ratifikation internationaler Verträge zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte genügte in diesem Fall nicht, adäquaten Schutz vor dem Risiko einer Misshandlung zu bieten. Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert und es gibt auch kein Verfahren zum Schutz von Flüchtlingen einschließlich der Gewährung von Asyl. Da die libyschen Behörden der Einräumung des Flüchtlingsstatus keine Bedeutung zumessen, können auch die Aktivitäten des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge keine Garantie gegen willkürliche Rückführungen darstellen.“ Grundlage für die Verurteilung Italiens im Fall Hirsi war u.a. die Tatsache, dass sich Italien seiner konventionsrechtlichen Verantwortung dadurch entziehen wollte, dass die italienische Küstenwache eine Abschiebung von Flüchtlingen im push-back-Verfahren aus dem EMRK-Raum hinaus in einen Staat vornehmen, in dem keine konventionsrechtlichen Garantien hinsichtlich einer Einhaltung des Verbots der Kettenabschiebung (als Teil des Refoulement-Verbots) bestanden . Hierin liegt ein Unterschied zu den geplanten Rückführungen in den EMRK-Staat Türkei. Gleichwohl ist zu prüfen, ob die Türkei auch in der Praxis die Einhaltung des konventionsrechtlichen Verbots der Kettenabschiebung wirksam garantiert. Das Rechtsgutachten von Reinhard Marx23 zitiert in diesem Zusammenhang unterschiedliche Berichte und Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen: Nach Auffassung der European Stability Initiative würde die Türkei das Abschiebungsverbot auch in der Praxis wirksam beachten. Angehörige der Europäischen Kommission hätten im September 2015 in Interviews erklärt, sie hätten keine Kenntnis von Zuwiderhandlungen gegen dieses Prinzip in der Türkei. Auch hätten türkische Behörden erklärt, syrische Flüchtlinge würden nicht nach Syrien zurückverbracht.24 Dagegen habe Human Rights Watch von zahlreichen Zurückweisungen syrischer Flüchtlinge nach Syrien berichtet.25 Auch die Untersuchungen von Amnesty International hätten ergeben, dass türkische Behörden in der zweiten Jahreshälfte von 2015 mehr als hundert Personen abgeschoben hätten, obwohl ihnen in Syrien und im Irak das Risiko schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen gedroht hätte.26 23 Marx, Rechtsgutachten, a.a.O. (Anm. 3), S. 13 f. 24 European Stability Initiative, Background Document. Turkey as a „Safe Third Country“ for Greece, 17 October 2015, S. 7 f., http://www.esiweb.org/pdf/ESI%20-%20Turkey%20as%20a%20safe%20third%20country%20- %2017%20October%202015.pdf. 25 Human Rights Watch, Turkey: Syrians Pushed Back at the Border, November 23, 2015, https://www.hrw.org/news/2015/11/23/turkey-syrians-pushed-back-border. 26 Amnesty International, Europe's Gatekeeper: Unlawful detention and deportation of refugees from Turkey, 2015, Dezember 2015, https://www.amnesty.org/en/documents/eur44/3022/2015/en/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 10 Ob es sich bei den geschilderten Refoulement-Verstößen um Einzelfälle aus dem syrischtürkischen Grenzgebiet handelt oder ob sich hier bereits ein „Muster“ genereller Nichtbeachtung des Verbots der Kettenabschiebung abzeichnet, von dem auch die Flüchtlinge aus der Ägäis betroffen wären, lässt sich ohne eine genaue Kenntnis der Lage vor Ort nicht beantworten. 3. Verbot von Kollektivausweisungen Das Refoulement-Verbot führt im Ergebnis zu einer Schutzverpflichtung der Staaten („duty to protect“), Flüchtlingen auch auf Hoher See nicht nur den nötigen Schutz zu gewähren, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, Asyl im Sinne der Genfer Konvention oder internationalen Schutz zu beantragen.27 Eine Rückführung von Flüchtlingen durch die NATO-Schiffe ohne Ansehen der Person und ohne Prüfung des Einzelfalls könnte der NATO-Operation daher den Charakter einer „Kollektivausweisung “ verleihen. Kollektivausweisungen (i.S.v. Art. 4 des IV. Protokolls zur EMRK sowie Art. 19 Abs. 1 der EU- Grundrechtecharta) sind solche, bei denen eine Einzelfallprüfung nicht stattfindet und Personen nach generellen Kriterien (Staatsangehörigkeit, Rasse etc.) ausgewiesen werden.28 Der EGMR hat im Hirsi-Urteil von 2012 festgestellt, dass das Verbot der Kollektivausweisungen nach Art. 4 des IV. Protokolls zur EMRK bezwecke, Staaten an der Ausweisung bestimmter Fremder zu hindern, ohne ihre persönlichen Umstände zu untersuchen und ihnen Gelegenheit zu verschaffen, ihre Argumente gegen die geplante Maßnahme vorzubringen. Im Fall Hirsi hatte die Vorgehensweise der italienischen Behörden zum Ziel, illegale Einwanderer von der Landung auf italienischem Boden abzuhalten. Der EGMR sah hier aus folgenden Gründen das Verbot der Kollektivausweisung als verletzt an: 27 Weber, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen, in: ZAR 2012, S. 269. Allerdings begründet das Refoulement-Verbot selbst keinen Rechtsanspruch auf Asyl. 28 Ständige Rechtspr. des EGMR, Urt. vom 5.2.2002 – Čonka gegen Belgien, Beschwerde Nr. 51564/99, Ziff. 56; EGMR, Urt. vom 20.9.2007 – Sultani gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 45223/05, Ziff. 81 ff. Zur Kollektivausweisung vgl. näher Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 5. Aufl. 2012, § 22, Rdnr. 57; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München: Beck 2012, Art. 4 ZP IV, Rdnr. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 11 „(…) Dabei erfolgte der Transfer der Flüchtlinge nach Libyen ohne Prüfung ihrer individuellen Situation. Die italienischen Behörden führten auch keine Identitätskontrollen durch, sondern beschränkten sich darauf, die abgefangenen Einwanderer auf ein Kriegsschiff zu verladen, das sie nach Libyen brachte. Das Personal an Bord war in keiner Weise geschult, persönliche Interviews im Beisein von Dolmetschern oder Rechtsberatern durchzuführen. Es bestanden somit keine ausreichenden Garantien, die gewährleistet hätten, dass jeder einzelne Fall Gegenstand sorgfältiger Überprüfung war.“ Um dem Eindruck einer „Kollektivausweisung“ entgegen zu wirken, müssten im Rahmen der hier untersuchten NATO-Seeraumüberwachungsoperation in der Ägäis Verwaltungskapazitäten an Bord der Schiffe vorgehalten werden, um die Identität jedes einzelnen Flüchtlings überprüfen zu können. Die Flüchtlinge müssen zudem perspektivisch Gelegenheit erhalten, Asyl zu beantragen . Dem Vernehmen nach erwägen die Niederlande, Immigration Officer an Bord von Schiffen mitzuführen. Nach Auffassung des BVerwG entsteht der Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG erst mit Erreichen des deutschen Staatsgebietes und nicht schon an Bord eines deutschen Kriegsschiffes außerhalb deutscher Hoheitsgewässer.29 In Betracht käme allerdings – mit Blick auf die Zuständigkeit der griechischen Behörden – ein Asylverfahren nach griechischem Recht. Möglich wäre insoweit die Durchführung schneller Verfahren auf einer griechischen Insel (sog. „Hotspots“). Denkbar ist auch das Mitführen eines griechischen Verbindungsbeamten auf den Schiffen des NATO-Flottenverbandes. 4. Rechtliche und politische Folgerungen Obgleich die Türkei zahlreichen völkerrechtlichen Bindungen betreffend das Refoulement -Verbot unterliegt, bleiben gewisse Zweifel, ob die menschen- und flüchtlingsrechtlichen Verpflichtungen in der Praxis stets nach europäischen Standards umgesetzt werden . Dies gilt insbesondere für die Gefahr von „Kettenabschiebungen“. Eine über die EMRK-Verpflichtungen hinausgehende bilaterale Zusicherung der Türkei gegenüber den NATO-Partnern über die menschenrechtskonforme Behandlung von zurückgeführten Flüchtlingen aus Griechenland wäre in diesem Zusammenhang hilfreich. 29 BVerwGE 69, 323. Das Kriegsschiff ist insoweit kein „schwimmendes Territorium“; vgl. zum Ganzen das Gutachten von WD 3 – 3000 – 060/16, „Asylantragstellung an Bord eines deutschen Kriegsschiffes“ v. 23.2.2016 sowie WD 3 – 3000 – 073/16 „Schutzsuchende auf Schiffen der Deutschen Marine“ vom 14.3.2016. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 040/16 Seite 12 Gemessen an den Zuständen im Flüchtlingslager in Idomeni (griechisch-mazedonische Grenze) oder Libyen (Hirsi-Urteil) begründet die Situation in der Türkei prima facie keine unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen. Eine Rückführung von Flüchtlingen wäre daher auch kein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot aus Art. 3 EMRK. Jedoch gilt es hier, Einzelfallprüfungen – z.B. mit Blick auf etwaige kurdische Flüchtlinge – zu ermöglichen . Sog. „Push-back“-Operationen wie im Fall Hirsi verstoßen gegen die Menschenrechte. Für die NATO-Operation in der Ägäis müssen daher Verwaltungskapazitäten an Bord der Schiffe des NATO-Flottenverbandes vorgehalten werden, um die Identität jedes einzelnen Flüchtlings überprüfen zu können. Überdies müssen Flüchtlinge perspektivisch Gelegenheit erhalten, Asyl zu beantragen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang das Mitführen eines griechischen Verbindungsbeamten auf Schiffen des NATO-Flottenverbandes . Möglich wäre auch die Durchführung schneller Verfahren auf einer griechischen Insel (sog. „Hotspots“), wobei Griechenland dabei administrativ und finanziell unterstützt werden müsste. Ende der Bearbeitung