2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 038/20 Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts (Teil 2) Völkerrechtliche Pflichten der Staaten und die Rolle der Weltgesundheitsorganisation Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 2 Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts (Teil 2) Völkerrechtliche Pflichten der Staaten und die Rolle der Weltgesundheitsorgansation Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 038/20 Abschluss der Arbeit: 2. Juli 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetlinks) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Priv.-Doz. Dr. Roman Schmidt-Radefeldt unter Mitarbeit von Rechtsreferendarin Helena Krüger Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 5 1.1. Das Völkerrecht in der (Corona-)Krise 5 1.2. Systematisierung der völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Pandemie 6 1.3. Rolle der WHO 8 1.4. Völkerrechtliche Pflichten in der Praxis 8 1.5. Zur vorliegenden Arbeit der Wissenschaftlichen Dienste 8 2. Die Weltgesundheitsorganisation 9 2.1. Rolle und Kompetenzen der WHO 9 2.2. Die WHO in der Kritik 11 3. Internationales Gesundheitsrecht 14 3.1. Internationale Gesundheitsvorschriften 14 3.2. Vorsorgeprinzip 16 3.3. Berichtspflichten 18 3.4. Melde- und Informationspflichten 18 3.5. Pflicht zur Einrichtung einer nationalen Anlaufstelle 20 3.6. Feststellung des Gesundheitsnotstandes durch die WHO 21 3.7. Empfehlungen der WHO 23 3.8. Pflicht zur Befolgung von WHO-Empfehlungen 25 3.9. Internationale Gesundheitsvorschriften und Menschenrechte 27 4. Menschenrechtliche Dimension des Gesundheitsschutzes und der Pandemievorsorge 30 4.1. Beitrag der Menschenrechte zum internationalen Gesundheitsschutz 30 4.2. Menschenrecht auf Gesundheit 31 4.3. Rechtliche Struktur und Durchsetzung sozialer Menschenrechte 33 4.4. Menschenrechtliche Verpflichtungen 35 4.4.1. Schutz des Lebens 35 4.4.2. Gesundheitsschutz 35 4.4.3. Pandemievorsorge 36 5. Sorgfaltspflichten (Due diligence) 38 6. Verpflichtung zur Kooperation 39 6.1. Internationale Gesundheitsvorschriften 39 6.2. Artikelentwürfe zum Schutz von Personen in Katastrophenfällen 40 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 4 7. Verpflichtung zur Solidarität 41 7.1. Rechtscharakter 41 7.2. Konkretisierung durch internationale Organe 42 7.3. Exportverbote für Gesundheitsgüter 44 7.4. COVID-19-Impfstoff als globales Gut 45 8. Verpflichtung zur Transparenz 48 8.1. Epidemiologische und politische Herausforderungen 48 8.2. Verpflichtung zur Veröffentlichung von Infiziertenzahlen 49 9. Die völkerrechtlichen Pflichten der Staaten in der Pandemie als Ausdruck staatenübergreifender Solidarität und globaler Reziprozität 52 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 5 1. Einführung 1.1. Das Völkerrecht in der (Corona-)Krise Krisen haben Konjunktur. Bereits das Konstatieren einer Krise erzeugt Aufmerksamkeit und führt leicht zu einer Ausweitung der Krisenrhetorik. So verleitet die Befassung mit der „Corona-Krise“ im Lichte des Völkerrechts dazu, auch die Frage nach einer „Krise des Völkerrechts“ im Zeichen der Pandemie aufzuwerfen. Betrachtet man dazu den Beginn und Verlauf der Corona-Krise im Frühjahr 2020 rückblickend durch die „völkerrechtliche Brille“, kommt man nicht umhin, krisenhafte Erscheinungen in den internationalen Beziehungen sowie im Völkerrecht zu beobachten: So ist etwa die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht nur mit Blick auf ihr Pandemiemanagement, sondern vor allem auch durch den erklärten „Rückzug“ der USA und Brasiliens in beispielloser Weise unter Druck geraten, der die Organisation nachhaltig schwächen könnte. Der VN-Sicherheitsrat dagegen erwies sich monatelang als politisch unfähig, sein Koordinierungspotential in der Krise zu entfalten .1 Die Staatengemeinschaft, allen voran die EU-Mitgliedstaaten, haben zumindest in der ersten Phase der Pandemie eine „Politik der nationalen Alleingänge“ verfolgt, die in der monatelangen Schließung von EU-Binnengrenzen und dem nationalen Exportstopp von medizinischer Ausrüstung ihren augenfälligsten Ausdruck fand. Auch wenn die gesundheitspolitischen Kompetenzen der EU (in Art. 168 AEUV) vergleichsweise schwach ausgestaltet sind, hat doch die Brüsseler Kommission viel zu spät zu ihrer Koordinierungsrolle bei der Pandemiebekämpfung gefunden. Aus Sicht des internationalen Gesundheitsrechts sehen sich Staaten wie China oder Brasilien dem Vorwurf der Intransparenz und des mutmaßlichen Verstoßes gegen völkerrechtlich bindende Gesundheitsvorschriften ausgesetzt. Diskussionen über mögliche Schadensersatzklagen gegen China wegen COVID-19 verebbten wohl auch mit der Einsicht, dass die internationale Gerichtsbarkeit bzw. das internationale Gesundheitsrecht schon in prozessualer Hinsicht keine entsprechenden Klagemöglichkeiten vorsieht. Nicht zuletzt die Grund- und Menschenrechte sind durch Reisebeschränkungen, Quarantäne oder lock-downs massiv unter Druck geraten und zum Teil in rechtswidriger Weise eingeschränkt worden. Einige osteuropäische Staaten haben nach Maßgabe von Art. 15 EMRK Konventionsrechte derogiert.2 1 Dazu Lorenz Rubner, „Ohrenbetäubendes Schweigen – Zur Blockade des Sicherheitsrates im Kampf gegen Covid -19”, Völkerrechtsblog, 11. Juni 2020, https://voelkerrechtsblog.org/ohrenbetaubendes-schweigen/. Am 1. Juli 2020 verabschiedete der VN-Sicherheitsrat einstimmig die „COVID-19-Resolution“ 2532 (2020), vgl. https://www.un.org/press/en/2020/sc14238.doc.htm, DW vom 1. Juli 2020, https://www.dw.com/de/unsicherheitsrat -beschlie%C3%9Ft-umstrittene-corona-resolution/a-54016892. 2 Entsprechende Erklärungen gegenüber dem Europarat wurden u.a. von Armenien, Georgien, Estland, Lettland, Moldawien, Bulgarien und Rumänien abgegeben. Ein Überblick findet sich auf der Homepage des Europarats, https://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/005/declarations. Sean Molloy, „Covid-19 and Derogations before the European Court of Human Rights“, VerfBlog, 10. April 2020, https://verfassungsblog.de/covid-19-and-derogations-before-the-european-court-of-human-rights/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 6 Zur Relativierung dieses Befundes lässt sich einwenden, dass Grenzschließungen nicht per se völkerrechtswidrig, sondern aus historischer Sicht – erinnert sei etwa an das habituelle Verhängen eines sog. cordon sanitaire im 18. und 19. Jahrhundert – immer schon ein probates Mittel gegen epidemische Bedrohungen gewesen sind. Und auch Derogationen müssen kein Anzeichen einer Krise, sondern können schlicht und ergreifend dadurch motiviert sein, einer möglichen Klagewelle im eigenen Land vorzubeugen. Gegen eine „Krise“ sprechen schließlich Anzeichen staatenübergreifender Solidarität: So wurden beispielsweise französische COVID-19- Patienten aus dem Elsass in Baden-Württemberg und in der Schweiz behandelt, um Beatmungskapazitäten in Frankreich frei zu halten.3 1.2. Systematisierung der völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Pandemie Versucht man, sich dem Thema „Pandemie und Völkerrecht“ jenseits aller Krisenrhetorik zu nähern, geraten die entsprechenden völkerrechtlichen Verpflichtungen von Staaten in den Blick, deren Rechtsgehalt, Verbindlichkeit und Regelungsdichte zu analysieren und deren Anwendung , Befolgung und Steuerungswirkung anhand von Beispielsfällen aus der Praxis der Pandemie zu untersuchen sind. Die Auseinandersetzung mit den völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Pandemie macht deutlich, dass Infektionsschutz im 21. Jahrhundert zwar immer noch primär von den Staaten (zum Teil sogar von ihren regionalen Gebietskörperschaften) gesteuert, gewährleistet und durchgesetzt wird, aber doch längst – ebenso wie der Umwelt- und Klimaschutz – zu einer globalen Angelegenheit und Verantwortung (international concern and responibility) der Staatengemeinschaft geworden ist. Neben der Bewahrung vor der „Geißel des Krieges“, welche die Präambel der VN-Charta von 1945 in ihrem ersten Satz quasi zur raison d´être des Völkerrechts erhebt, hat auch die „Geißel von Pest und Cholera“ (der sog. „Schwarze Tod“) menschheitsgeschichtlich fast ebenso einschneidend gewirkt wie der Krieg.4 Nicht von ungefähr erwähnt die nur ein Jahr nach der VN-Charta unterzeichnete WHO-Verfassung von 1946 in ihrer Präambel stellvertretend für alle Seuchen die „Bekämpfung insbesondere der übertragbaren Krankheiten“ als gemeinsames Ziel aller Staaten. 3 BR vom 24. März 2020, „Solidarität im Kampf gegen Corona: Wo es klappt – und wo nicht“, https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/solidaritaet-im-kampf-gegen-corona-wo-es-klappt-und-wonicht ,Ru8MVmf. Der Standard vom 30. März 2020, „Erste Ansätze europäischer Solidarität in Zeiten von Corona“, https://www.derstandard.de/story/2000116339307/erste-ansaetze-europaeischer-solidaritaet-in-zeiten-voncorona . 4 Vgl. für viele Jens Jacobsen, Schatten des Todes: Die Geschichte der Seuchen, Darmstadt 2012. SPIEGEL online vom 31. Mai 2020, „Die Pest, Europas Urangst“, https://www.spiegel.de/geschichte/die-pesteuropas -urangst-so-grausam-wuetete-der-schwarze-tod-a-00000000-0002-0001-0000-000170874358. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 7 Angesichts der Vielfalt und Heterogenität staatlicher Pandemie-Verpflichtungen erweist sich deren Systematisierung nachgerade als juristische Herausforderung: Rechtsethisch lässt sich zwischen den eher „altruistischen“ Solidarpflichten wie dem Kooperationsgebot oder dem Schädigungsverbot sowie den eher „egoistischen“ Pflichten (wie etwa dem Vorsorgeprinzip) unterscheiden . Manche Pflichten haben eher prozeduralen Charakter (z.B. Sorgfaltspflichten, Meldeund Informationspflichten); andere wiederum fordern materiell-rechtlich den Aufbau bestimmter medizinischer Kapazitäten zur Gesundheitsvorsorge. Hinsichtlich ihres Regelungsgehalts und ihrer Bindungswirkung erweisen sich manche Pflichten rechtlich ausdifferenziert (z.B. die Meldepflichten anlässlich eines nationalen Infektionsgeschehens); andere Pflichten dagegen beruhen auf Prinzipien, die eher einen politischen approach abbilden und normativ allenfalls durch völkerrechtliches soft-law unterfüttert sind (z.B. das Transparenzgebot oder das Solidaritätsprinzip ). Schließlich rühren die staatlichen Pflichten in der Pandemie aus unterschiedlichen völkerrechtlichen Quellen her, was angesichts von Überschneidungen oder Redundanzen eine Klärung des Verhältnisses zwischen verschiedenen Rechtsregimen (z.B. Gesundheitsrecht und Menschenrechte ) und ihres unterschiedlichen Beitrages zur Pandemiebekämpfung erforderlich macht. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen die völkerrechtlich verbindlichen Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005 (dazu 3.), die von 196 Parteien ratifiziert wurden 5 und damit an Globalität sogar die VN-Charta (193 Mitgliedstaaten) oder die Antifolterkonvention (170 Parteien) übersteigen. Daneben tritt die menschenrechtliche Dimension des Gesundheitsschutzes , vor allem in Gestalt des Menschenrechts auf Gesundheit (Art. 12 VN- Sozialpakt) mit seinen vielfältigen horizontalen und vertikalen Verpflichtungen zur Pandemievorsorge (dazu 4.). Schließlich existieren allgemeine, mehr oder weniger „verrechtlichte“ Völkerrechtsprinzipien wie z.B. das Kooperations-, das Solidaritäts- und das Transparenzgebot (dazu 5. bis 8.). Letztere entstammen – ebenso wie das Vorsorgeprinzip oder das Schädigungsverbot (no harm-Prinzip) – zumeist dem nationalen oder internationalen Umweltrecht, konnten aber mittlerweile auch im gesundheitsrechtlichen Kontext Fuß fassen. Die genannten Prinzipien haben sich zum Teil gewohnheitsrechtlich verfestigt oder wurden durch die Resolutionen oder General Comments internationaler Organe im Wege des völkerrechtlichen soft-law näher konturiert. Insbesondere das Menschenrecht auf Gesundheit wurde durch internationale Spruchkörper in seinem rechtlichen Gehalt ausgeformt und weiterentwickelt . Hervorzuheben sind schließlich die Empfehlungen der WHO, deren Funktion und Bindungswirkung gesondert untersucht werden soll. 5 Vgl. Stand der IGV-Ratifikationen unter https://www.who.int/ihr/legal_issues/states_parties/en/. Unterzeichner der IGV sind auch der Heilige Stuhl sowie Liechtenstein, das aber der WHO selbst nicht beigetreten ist. Die WHO zählt 194 Mitgliedstaaten. Taiwan ist auf politischen Druck Chinas hin nicht Mitglied der WHO (vgl. dazu Deutschlandfunk vom 18. Juni 2020, „Warum China Taiwan aus der WHO raushält“, https://www.deutschlandfunk.de/machtpolitik-mit-dem-virus-warum-china-taiwan-aus-derwho .799.de.html?dram:article_id=470315). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 8 1.3. Rolle der WHO Die gesundheitsrechtlichen Melde- und Informationspflichten bestehen nicht nur horizontal zwischen den Staaten untereinander, sondern sind wechselseitig auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezogen. Andere Verpflichtungen, wie z.B. die Pflicht zur Gesundheitsvorsorge, werden durch die WHO im Rahmen ihrer Empfehlungen konkretisiert und ausgeformt. Dies erklärt die zentrale politische und rechtliche Stellung der WHO im internationalen Gesundheitssystem , auch wenn ihre ureigenen Befugnisse und Instrumentarien zur Pandemiebekämpfung formal gesehen eher schwach ausgestaltet bleiben. Die Rolle der WHO und ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten werden zu Beginn dieser Arbeit beleuchtet (dazu 2.). 1.4. Völkerrechtliche Pflichten in der Praxis Zur Illustration werden im Rahmen dieser Arbeit einige im politischen Raum kontrovers diskutierte Fallkonstellationen und Probleme aus der Praxis aufgegriffen. Dazu gehört etwa die Kritik am Pandemiemanagement der WHO, ferner die Vorwürfe gegenüber China wegen einer mutmaßlichen Verletzung von Gesundheitsvorschriften, weiter die Exportverbote von Corona-Test-Kits, die Diskussion um den COVID-19-Impfstoff als globales Gut oder die vorübergehende Weigerung Brasiliens, die nationalen Corona-Infiziertenzahlen transparent zu machen. An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftlichen Dienste – auch angesichts der immer noch nicht restlos aufgeklärten Faktenlage – zu den politisch hoch umstrittenen Fragen einer mutmaßlichen Mitschuld Chinas bzw. der WHO an der Corona- Pandemie keine rechtliche Stellungnahme abgeben. Insbesondere soll auch der Arbeit der im Mai 2020 eingesetzten internationalen Untersuchungskommission zu COVID-19 nicht vorgegriffen werden. Die Frage, inwieweit bestimmte staatliche Pandemie-Maßnahmen grundrechtskonform sind, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. 1.5. Zur vorliegenden Arbeit der Wissenschaftlichen Dienste Die vorliegende, weitgehend auf Eigeninitiative des Fachbereichs WD 2 zurückgehende Arbeit knüpft an den Sachstand der Wiss. Dienste vom 5. Mai 2020 an.6 Die Wissenschaftlichen Dienste möchten damit nicht nur die seit einiger Zeit in den völkerrechtlichen Blogs geführte völker- und gesundheitsrechtliche Diskussion „im Zeichen der Pandemie“ fortführen, sondern sich substantiell mit den völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Corona-Krise auseinandersetzen. Soweit ersichtlich, existiert in der deutschsprachigen Völkerrechtsliteratur derzeit noch keine wissenschaftliche Systematisierung und Analyse dieser Pflichten. 6 „Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts: Zum rechtlichen Rahmen für Schadensersatzklagen gegen die Volksrepublik China“, WD 2 - 3000 - 037/20, https://www.bundestag.de/resource/blob/695916/4b25c70af67a2b577574ef9706c650e2/WD-2-037-20-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 9 2. Die Weltgesundheitsorganisation 2.1. Rolle und Kompetenzen der WHO Die aktuelle COVID-19-Pandemie gehört vermutlich zu den größten Herausforderungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das Maß, in dem die WHO im Zuge der Pandemiebekämpfung bei einigen Mitgliedstaaten in die Kritik geraten ist (dazu 2.2.), steht eigentlich in keinem Verhältnis zu den Befugnissen, über welche die WHO gegenüber diesen Mitgliedstaaten verfügt: Bei Lichte betrachtet dient die WHO lediglich als globales Forum zur Koordination gesundheitspolitischer Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten.7 Koordiniert werden soll zudem ein möglichst reibungsloser Informationsaustausch zwischen den Staaten und der WHO. Dabei erhält die WHO nicht nur Informationen von ihren Mitgliedstaaten, sondern gibt diese wie auf einer „Infobörse“ weiter.8 Gem. Art. 11 der Internationalen Gesundheitsvorschriften „(…) übermittelt die WHO allen Vertragsstaaten (…) baldmöglichst (…) unter Wahrung der Vertraulichkeit diejenigen für die öffentliche Gesundheit relevanten Informationen, die ihr aufgrund der Artikel 5-10 zugegangen sind und die erforderlich sind, um die Vertragsstaaten in die Lage zu versetzen, auf eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit zu reagieren .“ Abgesehen von Koordinierungstätigkeiten nimmt die WHO Aufgaben der Überwachung (Monitoring ) und des Standardsetting im globalen Gesundheitsrecht wahr. Für das Nichtbefolgen von Gesundheitsvorschriften kann die WHO die Staaten rechtlich allerdings kaum zur Verantwortung ziehen. Vor der Weltgesundheitsversammlung werden Berichte über die Nichtbefolgung von WHO-Empfehlungen zwar öffentlich gemacht – die Demarchen der WHO bleiben aber regelmäßig ohne rechtliche Konsequenzen.9 Zwangs- und Kontrollmöglichkeiten der WHO gegenüber den Mitgliedstaaten sieht das internationale Gesundheitsrecht nicht vor. So hat die WHO weder die Kompetenz, einen „lock-down“ anzuordnen, noch eine Quarantäne zu verhängen (eine solche Kompetenz hat aber auch in Deutschland nicht einmal die Bundesregierung). Auch kann die WHO keine Beatmungsgeräte oder Intensivbetten dorthin verteilen, wo sie gebraucht werden. 7 Vgl. zur Struktur und Arbeitsweise der WHO den Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste vom 14. März 2019, WD 2 - 3000 - 013/19, „Weltgesundheitsorganisation“, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/645812/e382539acdd205358b958cb7a9e8ba53/WD-2-013-19-pdfdata .pdf. 8 Allein das Nichtmitglied Taiwan ist von dem offiziellen Informationsfluss sowie dem Zugang auf die WHO- Datenbanken ausgeschlossen. 9 Pedro Villarreal, “COVID-19 Symposium: Can they really do that? States´ Obligations under the International Health Regulations in Light of COVOD-19 (Part II)”, OpinioJuris, Blog vom 31. März 2020, http://opiniojuris.org/2020/03/31/covid-19-symposium-can-they-really-do-that-states-obligations-under-theinternational -health-regulations-in-light-of-covid-19-part-ii/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 10 Die WHO ist nach Einschätzung ihres Völkerrechtsberaters, Gian Luca Burci,10 zwar so etwas wie die Hüterin der IGV, aber keine Weltgesundheitspolizei. In der Pandemie fällt der WHO indes eine nicht zu unterschätzende politisch-symbolische Rolle zu, auch wenn diese in der „Corona“-Resolution 2532 (2020) des VN-Sicherheitsrats vom 1. Juli aufgrund des Konflikts mit der USA nicht explizit hervorgehoben wird. Die Resolution der WHO- Gesundheitsversammlung vom 18. Mai 2020 („COVID-19 response“) streicht indes heraus: “Recalling the constitutional mandate of WHO to act, inter alia, as the directing and coordinating authority on international health work, and recognizing its key leadership role within the broader United Nations response and the importance of strengthened multilateral cooperation in addressing the COVID-19 pandemic.”11 Die WHO verwirklicht drei typische Charakteristika von global governance: Erstens ist die Organisation nicht nur ein internationales Forum, sondern auch ein globaler gesundheitspolitischer Akteur; zweitens bedient sie sich völkerrechtlicher „soft-law“-Instrumente (Empfehlungen und Richtlinien); drittens verfolgt das Handeln der WHO einen „Mehrebenen-Ansatz“ und erscheint damit – ganz im Sinne des global governance-Konzepts12 – eher „global“ als „international “.13 Die WHO schöpft ihre Autorität vor allem aus „soft-power“-Instrumenten wie Glaubwürdigkeit, Integrität und Neutralität. Die Effektivität der WHO in der Krise und damit auch der Erfolg globaler Pandemiebekämpfung hängen entscheidend vom Verhältnis der WHO zu ihren Mitgliedstaaten ab.14 Gerät die WHO, wie derzeit in der COVID-19-Pandemie, in die internationale Kritik – wird sie überdies zum „Spielball“ zwischen den Fronten der Supermächte USA und China – führt das zwangsläufig zu einer Schwächung der Organisation. 10 Zitiert in NZZ-Online, „Die WHO handelt nach Richtlinien, die ihr die Mitgliedsländer vorgegeben haben – genau dafür wird sie nun kritisiert“, vom 13. Mai 2020, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-die-whoist -nur-so-stark-wie-die-mitglieder-wollen-ld.1554076. 11 WHO Resolution A73/CONF./1, https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA73/A73_CONF1-en.pdf. 12 Vgl. zum Global Health Governance die Übersicht auf der Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung, https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52826/global-health-governance. 13 So Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18 vom 14. Mai 2020, S. 5, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. 14 Vgl. näher Bengy Puyvallee / Kittelsen: “Disease Knows No Borders: Pandemics and the Politics of Global Health Security”, in: Bjørkdahl / Carlsen (Hrsg.), Pandemics, Publics, and Politics Staging Responses to Public Health Crises, 2019, S. 59-73 (65 f.), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7122625/: “The tension between national interest and collective action in managing epidemic and pandemic threats has been an ongoing challenge in the current regime of global preparedness and is made particularly apparent in the relationship between the WHO and its member states”. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 11 2.2. Die WHO in der Kritik Die Historie vergangener Epidemien ist auch eine Geschichte der Kritik an der WHO: Während der Ebola-Epidemie 2014 ist die WHO vor allem für ihre offensichtlich verspätete Feststellung des Gesundheitsnotstandes politisch stark unter Druck geraten. Der Organisation wurde vorgeworfen , das Ausmaß der Gefahr unterschätzt zu haben. Ganz anders war dagegen die Reaktion auf die sog. Schweinegrippe (H1N1) fünf Jahre zuvor (2009). Hier wurde die Ausrufung des Gesundheitsnotstandes durch die WHO als verfrüht kritisiert: “(T)he organization was accused of having overreacted to and exaggerated the H1N1 threat , and faced speculation as to whether it had based its decision-making on politics or commercial interests. During the 2009 H1N1 influenza pandemic (…) a number of states took unilateral control measures, such as bans on pork imports and massive pork culls, (…) often without justification.”15 Während der COVID-19-Pandemie ist die WHO wegen ihrer mutmaßlich sinophilen Politik, aber auch wegen ihrer späten Reaktion auf die Corona-Krise in die Kritik geraten.16 So hat die WHO ihre erste Pressemitteilung zu COVID-19 am 5. Januar 2020 abgesetzt – also fast eine Woche, nachdem Sie von China offiziell über den Ausbruch einer unbekannten Atemwegserkrankung informiert worden war.17 Die Kritik an der WHO kulminierte in dem von US-Präsident Trump per Twitter angekündigten „Rückzug“ der USA18 – traditionell Befürworter der Gesundheitsorganisation – aus 15 Ebda., S. 66. Der Vorwurf, die WHO würde bei ihren Entscheidungen vor allem Wirtschaftsinteressen nachgeben , ließ sich am Ende nicht erhärten. Zu den “lessons-learned” der H1N1-Pandemie vgl.: Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 202 f. Mark Eccleston-Turner, “Vaccine procurement during an influenza pandemic and the role of Advance Purchase Agreements: Lessons from 2009-H1N1”, in: Global Public Health 2015, S. 322-335, https://www.researchgate.net/publication/280387856_Vaccine_procurement_during_an_influenza_pandemic_a nd_the_role_of_Advance_Purchase_Agreements_Lessons_from_2009-H1N1. 16 SWR aktuell vom 15. April 2020, „Handelte die WHO zu China-freundlich?“, https://www.swr.de/swraktuell/snacks/handelte-die-who-zu-china-freundlich-100.html. TAZ vom 12. März 2020, „WHO in der Kritik: Zu langsam, zu chinafreundlich“, https://taz.de/WHO-in-der- Kritik/!5671482/. Tagesspiegel vom 18. Mai 2020, „Die WHO in der Existenzkrise. Hat Trump recht mit seiner Kritik an der Weltgesundheitsorganisation ?“, https://www.tagesspiegel.de/politik/die-who-in-der-existenzkrise-hat-trump-rechtmit -seiner-kritik-an-der-weltgesundheitsorganisation/25838214.html. 17 Eine mediale Auseinandersetzung mit der Politik und den Versäumnissen der WHO in der Corona-Krise bietet die ZdF-Doku vom 17. Juni 2020, „China, Trump und Corona: Die WHO zwischen den Fronten“, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-china-trump-und-corona-100.html (verfügbar in der ZdF-Mediathek bis 17. Juni 2021). 18 Vgl. Twitter des US-Präsidenten Donald J. Trump vom 19. Mai 2020: “This is the letter sent to Dr. Tedros of the World Health Organization. It is self-explanatory!”, https://twitter.com/realDonaldTrump/status/1262577580718395393?s=20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 12 der WHO.19 Da die WHO-Verfassung von 1946 keine Kündigungsklausel vorsieht, stellt sich die Frage nach dem Rechtscharakter eines wie auch immer gearteten „Rückzugs“ der USA aus der WHO.20 Eine Zahlungseinstellung der WHO-Mitgliedsbeiträge, die Trump verfügt hat, könnte gem. Art. 7 WHO-Verfassung jedenfalls den Entzug des Stimmrechts zur Folge haben. Überdies scheint ungeklärt, inwieweit der US-Präsident nach amerikanischem Recht überhaupt die Kompetenz zur Aufkündigung der WHO-Mitgliedschaft der USA hat.21 Angesichts der fast schon reflexhaft erhobenen Vorwürfe einiger Staaten gegenüber der WHO, sie habe in der Coronakrise „versagt“,22 ist darauf hingewiesen worden, dass die WHO letztlich nur nach jenen Regeln handele, die ihr die Mitgliedstaaten vorgegeben haben.23 Auch sei daran erinnert , dass die Mitgliedstaaten einer internationalen Organisation gem. Art. 40 der ILC- Artikelentwürfe über die Verantwortlichkeit von Internationalen Organisationen (2011)24 verpflichtet sind, [to] take all the appropriate measures that may be required by the rules of the organization in order to enable the organization to fulfil its obligations. Der IGH vertritt dabei die Auffassung, dass “[u]nder international law, that organization must be deemed to have those powers which, though not expressly provided in the Charter, are conferred upon it by necessary implication as being essential to the performance of its duties.”25 19 Tagesschau vom 15. April 2020, „USA stellen Zahlungen an WHO ein“, https://www.tagesschau.de/ausland/trump-who-zahlungen-103.html. Tagesschau vom 29. Mai 2020, „USA beenden Zusammenarbeit mit WHO“, https://www.tagesschau.de/ausland/trump-who-117.html. Auch Brasilien schloss sich mittlerweile den Rückzugsdrohungen der USA an; vgl. ZdF vom 6. Juni 2020, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-brasilien-bolsonaro-who-austritt-100.html. 20 Eine Kündigungsmöglichkeit haben sich die USA offenbar anlässlich der Ratifikation der WHO-Verfassung im Jahre 1946 vorbehalten. 21 Vgl. dazu näher Gian Luca Burci, “The USA and the World Health Organization: What has President Trump actually decided and what are its consequences?”, Blog of the European Journal of International Law vom 5. Juni 2020, https://www.ejiltalk.org/the-usa-and-the-world-health-organization-what-has-president-trumpactually -decided-and-what-are-itsconsequences /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. 22 Vgl. dazu die Berichterstattung in: SZ vom 15. April 2020, „Coronavirus: Hat es die WHO ´vermasselt`?“, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-coronavirus-hat-es-die-who-vermasselt-dpa.urn-newsmldpa -com-20090101-200415-99-712915. 23 Patrick Zoll, „Die WHO handelt nach Richtlinien, die ihr die Mitgliedsländer vorgegeben haben – genau dafür wird sie nun kritisiert“, NZZ vom 13. Mai 2020, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-die-who-ist-nurso -stark-wie-die-mitglieder-wollen-ld.1554076?mktcid=nled&mktcval=165_2020-05-14&kid=_2020-5-13&trco. 24 Draft articles on the responsibility of international organizations. Adopted by the International Law Commission at its sixty-third session, in 2011, and submitted to the General Assembly as a part of the Commission’s report covering the work of that session (A/66/10, para. 87), https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/9_11_2011.pdf. 25 IGH-Gutachten vom 11. April 1949, Reparation for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, S. 182, https://www.icj-cij.org/files/case-related/4/004-19490411-ADV-01-00-EN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 13 Mit Blick auf das eingetrübte Verhältnis zwischen der WHO und ihren Mitgliedstaaten erscheint es umso notwendiger, die gegen die WHO erhobenen Vorwürfe aufzuklären. Auf den Prüfstein gehört dabei auch das Finanzierungsportfolio der WHO,26 deren Jahresbudget von 2,6 Mrd. US- Dollar sich etwa in der Größenordnung des Budgets des Charité-Klinikums bewegt. Die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zu COVID-19 wurde in Wissenschaft und Politik seit längerem diskutiert27 und auf der Sitzung der Gesundheitsversammlung am 18. Mai 2020 auf Vorschlag der EU einstimmig beschlossen.28 Ziel der Untersuchung soll es eine unabhängige und umfassende Bewertung der Reaktion auf die Pandemie sein – einschließlich der Reaktion der WHO selbst.29 Das Gesundheitsregime der WHO, das auf der Souveränität ihrer Mitgliedstaaten gründet, leidet in gewisser Weise unter einem „Konstruktionsfehler“: Um zu funktionieren, muss ein Gesundheitssystem auf Kooperation und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten angelegt sein. Im Rahmen des WHO-Systems wurde aus eben diesen Gründen auf einen Mechanismus des naming and shaming, wie er etwa dem internationalen Menschenrechtsregime zugrunde liegt, bewusst 26 Tagesschau vom 23. April 2020, „Wer finanziert die WHO?“, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/whofinanzierung -101.html. WHO-Homepage, Contributors, https://open.who.int/2018-19/contributors/contributor. Das WHO-Budget setzt sich nur zu rund 20 Prozent aus Mitgliedsbeiträgen zusammen; der Rest besteht aus freiwilligen staatlichen und privaten Zuwendungen, die überwiegend zweckgebunden sind. Vgl. insoweit auch Medico international vom 15. April 2020, „7 Thesen zur Zukunft der WHO“, https://www.medico.de/7-thesen-16997/. 27 Michel A. Becker, „Do we need an International Commission of Inquiry für COVID-19?“, Blog of the European Journal of International Law, 18. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/do-we-need-an-international-commissionof -inquiry-for-covid-19-part-i/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletterpost -title_2. EUROPOST vom 19. Mai 2020, “EU to call for independent investigation into COVID-19 origins, spread”, https://europost.eu/en/a/view/eu-to-call-for-independent-investigation-into-covid-19-origins-spread-28671. 28 Tagesschau vom 19. Mai 2020, „WHO-Staaten beschließen Corona-Untersuchung“, https://www.tagesschau.de/ausland/who-versammlung-corona-101.html. CNN vom 19. Mai 2020, “WHO approves call for inquiry into global coronavirus response”, https://edition.cnn.com/2020/05/19/china/wha-pandemic-inquiry-resolution-vote-intl/index.html. WHO Assembly, A73/CONF./1 Rev.1, 18. Mai 2020, “COVID-19 response”, https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA73/A73_CONF1Rev1-en.pdf. Vgl. zur 73. Sitzung der Weltgesundheitsversammlung Pedro A. Villarreal, “Pandemic Intrigue in Geneva: COVID-19 and the 73rd World Health Assembly”, Blog of the European Journal of International Law vom 22. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/pandemic-intrigue-in-geneva-covid-19-and-the-73rd-world-health-assembly/. 29 WHO Assembly, A73/CONF./1 Rev.1, 18. Mai 2020, “COVID-19 response”, https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA73/A73_CONF1Rev1-en.pdf: “Initiate, at the earliest appropriate moment, and in consultation with Member States, a stepwise process of impartial, independent and comprehensive evaluation, (…) including (i) the effectiveness of the mechanisms at WHO’s disposal; (ii) the functioning of the IHR and the status of implementation of the relevant recommendations of the previous IHR Review Committees; (iii) WHO’s contribution to United Nations-wide efforts; and (iv) the actions of WHO and their timelines pertaining to the COVID-19 pandemic, and make recommendations to improve global pandemic prevention , preparedness, and response capacity, including through strengthening, as appropriate, WHO’s Health Emergencies Programme.” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 14 verzichtet. Das begünstigt Staaten, die sich in puncto Pandemievorsorge in möglichst „günstigen Licht“ präsentieren wollen.30 Die Spekulationen über die Herkunft des Corona-Virus (Tiermarkt von Wuhan oder chinesisches Forschungslabor) sowie die Vorwürfe gegen China wegen (angeblicher ) Vertuschung des Ausmaßes der Krise machen dies deutlich. Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat die Regeln, Verfahren oder Empfehlungen der WHO nicht einhält, sehen die IGV – abgesehen vom Streitbeilegungsmechanismus – kein effektives Durchsetzungsinstrumentarium und keine Klagemöglichkeiten vor. Überdies zeigen sich z.B. im Bereich der Gesundheitsvorsorge, der Berichterstattung oder des Informations- und Meldewesens strukturelle Probleme im Hinblick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staaten in der Pandemie, die nachfolgend beleuchtet werden sollen. 3. Internationales Gesundheitsrecht 3.1. Internationale Gesundheitsvorschriften Kernstück des internationalen Gesundheitsrechts sind die 2005 – als Reaktion auf die SARS- Epidemie 2003 – von der Versammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf der Grundlage von Artikel 21 der WHO-Satzung31 als völkerrechtlich verbindliches Sekundärrecht der WHO32 beschlossenen Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV).33 30 Tsung-Ling Lee, “Why the WHO is failing and how to fix it”, Blog of the European Journal of International Law, 29. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/why-the-who-is-failing-and-how-to-fixit /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. Der Autor des o.g. Blogs verweist dazu auf Vorschläge, die Transparenz und Verantwortlichkeit der handelnden Akteure im internationalen Gesundheitssystem zu stärken, insb. auf die Einrichtung eines sog. „Committee C“ innerhalb der WHO – vgl. dazu Silberschmidt / Matheson / Kickbusch, “Creating a committee C of the World Health Assembly”, in: The Lancet vol. 378 (2008), S. 1483-1486, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140673608606340?via%3Dihub. 31 WHO-Verfassung / Satzung vom 22. Juli 1946, Text abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation /19460131/201405080000/0.810.1.pdf. Dabei handelt es sich um den völkerrechtlichen Gründungsvertrag der WHO. 32 Die IGV sind rechtlich gesehen kein völkerrechtlicher Vertrag. Art. 21 der WHO-Verfassung / Satzung, die als Gründungsvertrag der WHO von den Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, ermächtigt aber die Gesundheitsversammlung , Regelungen zu treffen über „sanitäre und Quarantänemaßnahmen und andere Vorkehren zur Verhinderung der Ausbreitung von Krankheiten von einem Land ins andere (…).“ 33 WHO, International Health Regulations (2005), abrufbar unter: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/246107/9789241580496-eng.pdf. Gesetz vom 20. Juli 2007 zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) vom 23. Mai 2005, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IGV/Gesetz_IGV_deen .pdf;jsessionid=DFE1AC761CF37133B2CB0E3B1F9E880B.internet121?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 15 Das Sekundärrecht von Internationalen Organisationen ist regelmäßig nicht direkt im nationalen Rechtsraum anwendbar; es enthält also keine sog. self-executing-norms.34 Aus den IGV erwachsen – anders als bei den Menschenrechten – keine individuellen Rechtspositionen.35 Individuen können sich also vor nationalen Gerichten nicht darauf berufen, dass der Staat die IGV verletzt hat. Im Falle von Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung der IGV sieht Art. 56 IGV einen Streitbeilegungsmechanismus vor, der aber bislang noch nie ins Werk gesetzt wurde. Bei Lichte betrachtet enthalten die IGV lediglich einige wenige völkerrechtliche Berichts-, Meldeund Kooperationsverpflichtungen der WHO-Mitgliedstaaten; ferner stützt sich das internationale Gesundheitsrecht auf Empfehlungen und Ratschläge der WHO sowie – last but not least – auf Solidarität und Vertrauen36 sowie auf die Gewissheit, dass sich eine Pandemie nur global bekämpfen lässt.37 Nicht erst seit der Corona-Krise gibt es Überlegungen, die rechtlichen Mechanismen der IGV zu stärken.38 Art. 54 IGV sieht eine Art „Monitoring-System“ vor, wonach die Gesundheitsversammlung der WHO die Wirksamkeit der IGV regelmäßig überprüfen lässt.39 Die IGV unterliegen damit einer ständigen Evaluierung durch ein unabhängiges Expertengremium. Zentrale Rolle kommt u.a. den sog. Joint External Evaluation (JEE) Mission Reports zu.40 34 Markus Benzing, „International Organizations or Institutions, Secondary Law“, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: März 2007, Rdnr. 21, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e508. 35 So stellen die USA anlässlich der Ratifikation der IGV klar: “[T]he US understands that the provisions of the Regulations do not create judicially enforceable private rights.“ https://www.who.int/ihr/legal_issues/states_parties/en/. 36 Vgl. dazu näher Pedro Villarreal, „The 2019-2020 novel coronavirus outbreak and the importance of good faith for international law“, Völkerrechtsblog vom 28. Januar 2020, https://voelkerrechtsblog.org/the-2019-2020- novel-coronavirus-outbreak-and-the-importance-of-good-faith-for-international-law/. 37 Einen Einblick in die Entwicklung der globalen Bekämpfungsstrategien bei Pandemien geben Antoine de Bengy Puyvallee / Sonja K. Kittelsen: “Disease Knows no Borders: Pandemics and the Politics of Global Health Security ”, in: Bjørkdahl / Carlsen (Hrsg.), Pandemics, Publics, and Politics Staging Responses to Public Health Crises, Palgrave Macmillan, 2019, S. 59-73 (59 ff.), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7122625/. 38 In diese Richtung etwa Rebecca Katz, „Pandemic policy can learn from arms control”, Nature, Vol. 575, 14. November 2019, https://media.nature.com/original/magazine-assets/d41586-019-03452-0/d41586-019- 03452-0.pdf. 39 Vgl. dazu näher Giulio Bartolini, “Are You Ready for a Pandemic? The International Health Regulations Put to the Test of Their ‘Core Capacity Requirements’ ”, Blog of the European Journal of International Law, 1. Juni 2020, https://www.ejiltalk.org/are-you-ready-for-a-pandemic-the-international-health-regulations-put-to-thetest -of-their-core-capacity-requirements/. 40 https://www.who.int/ihr/procedures/mission-reports/en/: “The purpose of the external evaluation is to assess country-specific status, progress in achieving the targets under Annex 1 of the IHR, and recommend priority actions (…). External evaluations should be regarded as an integral part of a continuous process of strengthening capacities for the implementation of the IHR.” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 16 3.2. Vorsorgeprinzip Das Vorsorgeprinzip (precautionary principle) entstammt ursprünglich dem nationalen Umweltrecht , gehört aber heute auch zu den zentralen Prinzipien des Umweltvölkerrechts sowie des Lebensmittel- oder Gesundheitsrechts. Im Sinne von Risikoprävention sollen alle denkbaren Risiken und Schäden für die Umwelt bzw. die menschliche Gesundheit trotz unvollständiger oder ungesicherter Wissensbasis so weit wie möglich vermieden oder verringert werden. Technische Standards, Organisation und Verfahren müssen staatlicherseits so ausgestaltet werden, dass das Risiko beherrschbar bleibt.41 Ob das Vorsorgeprinzip bereits einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts beschreibt, oder eher einen politischen approach abbildet, ist umstritten42 – gleichwohl lassen sich im Umwelt- aber auch im Gesundheitsrecht gewisse „Verrechtlichungstendenzen “ beobachten. Aus gesundheitsrechtlicher Sicht erscheint das Vorsorgeprinzip vor allem menschenrechtlich abgestützt. Jedenfalls ergeben sich inhaltliche Überschneidungen zwischen den Pflichten aus den IGV und der leistungsrechtlichen Komponente des Menschenrechts auf Gesundheit gem. Art. 12 VN-Sozialpakt. Die IGV enthalten Verpflichtungen der Staaten zur Gesundheitsvorsorge und zum Kapazitätsaufbau . Gemäß Art. 13 Abs. 1 IGV „schafft, stärkt und unterhält jeder Vertragsstaat (…) die Kapazitäten nach Anlage 1, um umgehend und wirksam auf Gefahren für die öffentliche Gesundheit und gesundheitliche Notlagen von internationaler Tragweite zu reagieren.“ In der Präambel zu den IGV werden die WHO-Mitgliedstaaten nachdrücklich „ersucht, die nach den Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) erforderlichen Kapazitäten zu schaffen, zu verstärken und aufrechtzuerhalten und die zu diesem Zweck nötigen Mittel zu erschließen.“ Anlage 1 zu den IGV enthält eine Liste diverser Kernkapazitäten für die Überwachung und Reaktion sowie für Gesundheitsmaßnahmen auf der kommunalen, regionalen und nationalen Ebene. Dazu zählen insbesondere organisatorische, überwachungstechnische und logistische Vorkehrungen, um Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung unverzüglich durchführen zu können. Die WHO erarbeitet z.B. Indikatoren zur Überwachung der Fortschritte beim Kapazitätsaufbau in den Vertragsstaaten43 und berichtet regelmäßig über Fortschritte bei der Implementierung der entsprechenden Verpflichtungen.44 41 Maurmann, Dorothee, Rechtsgrundsätze im Völkerrecht am Beispiel des Vorsorgeprinzips, Baden-Baden: Nomos 2008. 42 Dazu näher Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Springer, 4. Aufl. 2019 Rdnr. 895. Die Streitfrage wurde offen gelassen im IGH-Urteil vom 25. September 1997, Gabčíkovo-Nagymaros, § 113. 43 WHO (Hrsg.), “Checklist and indicators for monitoring progress in the development of IHR core capacities in States Parties”, 2013, https://www.who.int/ihr/checklist/en/. 44 Vgl. z.B. WHO Dok. A72/8 vom 4. April 2019, Annual report on the implementation of the International Health Regulations (2005), “Public health emergencies: preparedness and response”, Rdnr. 35 f., https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA72/A72_8-en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 17 „Overall, in 2018, States Parties made encouraging progress in preparing for and responding to public health emergencies under the framework of the International Health Regulations (2005). Many States Parties recorded laudable achievements in building and maintaining IHR core capacities particularly in respect of surveillance, laboratory and IHR coordination . However, significant gaps still remain, particularly with regard to capacities in the most vulnerable countries with weak health systems and in conflict-affected and fragile settings, as well as States Parties’ capacity to manage all-hazards health emergencies . In this context, timely and transparent reporting of country capacity and eventrelated information is therefore essential.” Die Vorgaben in Art. 13 IGV zum Kapazitätsaufbau und zur Gesundheitsvorsorge lassen den WHO-Staaten allerdings weite politische Ermessensspielräume bei der Ausgestaltung ihrer Gesundheitssysteme und bei der Prioritätensetzung. Art. 3 Abs. 4 IGV erinnert in diesem Zusammenhang an den Grundsatz der Staatensouveränität: „Die Staaten haben im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen und den Grundsätzen des Völkerrechts das souveräne Recht, bei der Verfolgung ihrer jeweiligen Gesundheitspolitik Gesetze zu erlassen und durchzuführen.“ Die Corona-Krise hat die Schwächen und Stärken der nationalen Gesundheitssysteme offengelegt . Eine internationale Studie (der sog. Global-Health-Security-Index), welche die Umsetzung der IGV durch die einzelnen Länder im Detail untersuchte, kam schon 2019 zu dem Ergebnis, dass auf einer Skala von 1 bis 100 – wobei 100 einem „perfekt“ vorbereiteten Land entsprechen würde – der weltweite Durchschnitt bei 40,2 liegt.45 Deutschland liegt nach dieser Studie mit einem Index Score von 66.0 auf Platz 14. Zu bewahrheiten scheint sich das geflügelte Wort der Virologen in der Corona-Krise, das besagt: There´s no glory in prevention.46 Ein Beispiel für nachhaltige Vorsorge bietet etwa der Stadtstaat Singapur, wo 900 spezielle designierte Arztpraxen und Kliniken (wie das National Centre for Infectious Diseases) für Corona- Verdachtsfälle eingerichtet wurden und mehr als in jedem anderen Land der Welt im Vergleich zu seiner Bevölkerungszahl auf COVID-19 getestet wurde.47 In Deutschland wäre z.B. eine Bevorratung mit Schutzkleidung, Mundschutz u.a. Medizinprodukten auf gesetzlicher Grundlage – ähnlich wie die Erdölbevorratung oder die staatliche Ernährungsvorsorge – möglich. 45 Global Health Security Index 2019, https://www.ghsindex.org/. 46 Vgl. Christian Drosten, Coronavirus-Update, Folge 24, https://www.ndr.de/nachrichten/info/24-Coronavirus- Update-Wir-muessen-weiter-geduldig-sein,podcastcoronavirus166.html. 47 Weltspiegel vom 29. März 2020, „Singapur: Lehren aus SARS“, https://www.daserste.de/information/politikweltgeschehen /weltspiegel/singapur-116.html und Video unter https://www.daserste.de/information/politikweltgeschehen /weltspiegel/videos/singapur-video-100.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 18 3.3. Berichtspflichten Die WHO selbst hat keine Kompetenz, in den Mitgliedstaaten gesundheitsrelevante Daten zu erheben und ist insoweit auf funktionierende nationale Gesundheitssysteme angewiesen. Jeder WHO-Mitgliedstaat ist verpflichtet, neben den turnusmäßigen Jahresberichten an die WHO auch „statistische und epidemiologische Berichte in der von der Gesundheitsversammlung zu bestimmenden Weise zu erstatten“ (Art. 64 WHO-Verfassung). Berichterstattung per se bietet indes noch keine ausreichende Gewähr dafür, dass der Staat seinen Verpflichtungen zur Pandemieeindämmung oder zur Gesundheitsvorsorge auch tatsächlich nachkommt. Art. 9 IGV ermöglicht es der WHO, Berichte aus anderen Quellen, also auch inoffizielle Meldungen zu berücksichtigen.48 3.4. Melde- und Informationspflichten Herzstück der Pandemievorsorge ist das in Art. 6 ff. IGV geregelte sog. Schnellwarnsystem zwischen den Mitgliedstaaten und der WHO.49 Art. 6 IGV enthält dabei eine verbindliche Meldepflicht für epidemiologisch riskante Vorfälle binnen 24 Stunden: „Jeder Vertragsstaat bewertet Ereignisse in seinem Hoheitsgebiet und benutzt dabei das Entscheidungsschema in Anlage 2 [zu den IGV]. Jeder Vertragsstaat meldet der WHO unter Verwendung des effizientesten verfügbaren Kommunikationsmittels über die nationale IGV-Anlaufstelle und binnen 24 Stunden nach der Bewertung von für die öffentliche Gesundheit relevanten Informationen alle Ereignisse, die in Übereinstimmung mit dem Entscheidungsschema eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite in seinem Hoheitsgebiet darstellen können, sowie alle als Reaktion auf solche Ereignisse durchgeführten Gesundheitsmaßnahmen (…). Im Anschluss an eine Meldung übermittelt ein Vertragsstaat der WHO auch weiterhin rechtzeitig die ihm über das gemeldete Ereignis zur Verfügung stehenden genauen und hinreichend detaillierten für die öffentliche Gesundheit relevanten Informationen, möglichst einschließlich Falldefinitionen, Laborergebnissen, der Quelle und Art des Risikos, der Zahl der Krankheits- und Todesfälle, der die Ausbreitung der Krankheit beeinflussenden Bedingungen und der getroffenen Gesundheitsmaßnahmen; des Weiteren berichtet er nötigenfalls über die bei der Reaktion auf eine mögliche gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite aufgetretenen Schwierigkeiten und die dafür benötigte Unterstützung.“ 48 So wurde die WHO offenbar schon am 31. Dezember 2019 durch eine E-Mail des Nichtmitgliedstaats Taiwan vor einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Corona-Virus gewarnt (vgl. Welt vom 27. April 2020, „Warum Taiwan im Kampf gegen das Coronavirus so gut dasteht“, https://www.welt.de/politik/ausland/article207544133/Coronavirus-in-Taiwan-Wie-das-Land-die-Pandemieeindaemmt .html). 49 Vgl. zum Schnellwarnsystem der WHO und dessen Umsetzung in Deutschland die Übersicht auf der Homepage des BBK https://www.bbk.bund.de/DE/Service/IGV/Allgm-Info/Allgemeine-Infos_einstieg.html (Stand: März 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 19 In der Praxis umstritten ist die inhaltliche Reichweite der Meldepflicht. Die WHO versteht die in Art. 6 und 7 IGV normierten Meldepflichten – ganz im Sinne der Zielrichtung der IGV – weit und bezieht auch Virusproben mit ein. Demgegenüber weigerte sich etwa Indonesien während der sog. „Vogelgrippe“ im Jahre 2006, extrahierte Virenstichproben des Krankheitserregers H5N1, welcher die Epidemie verursacht hatte, an die WHO weiterzugeben. Die indonesische Regierung machte eine Herausgabe der Virusproben davon abhängig, dass eine ausreichende Versorgung der indonesischen Bevölkerung mit den anhand der Virusproben entwickelten Impfstoffen garantiert würde.50 Während der sog. MERS-Epidemie (Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus, MERS-CoV) im Jahre 2015 argumentierte Saudi-Arabien, dass eine pharmakologische Verarbeitung der in Saudi-Arabien extrahierten Virusproben des MERS-Virus die staatlichen Rechte am geistigen Eigentum verletzen würde.51 Um den WHO-Mitgliedstaaten Anreize zu verschaffen, Virusproben mit pandemischem Material weiterzugeben, hat die WHO mit der – völkerrechtlich aber nicht verbindlichen – Influenzapandemie-Vorsorge-Rahmenordnung52 die wirtschaftsmächtigen Mitgliedstaaten dazu angehalten, mit der heimischen Pharmaindustrie Preise auszuhandeln , so dass Impfstoffen auch für Entwicklungsländer bezahlbar bleiben. Die Unterrichtungspflicht der WHO-Mitgliedstaaten gilt auch „extraterritorial“: Gem. Art. 9 Abs. 2 IGV „unterrichten die Vertragsstaaten die WHO nach Möglichkeit binnen 24 Stunden, nachdem sie Anzeichen einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit außerhalb ihres Hoheitsgebiets , die zu einer grenzüberschreitenden Ausbreitung der Krankheit führen kann, festgestellt haben – manifestiert durch eingeschleppte beim Menschen auftretende Fälle (…).“ Das Melde- und Schnellwarnsystem der WHO hängt letztlich von der Informationsbereitschaft und -fähigkeit des betroffenen Mitgliedstaates ab. So hat die WHO keine Kompetenz, gegen den Willen des betroffenen Staates eigene und unabhängige Untersuchungen vor Ort durchzuführen. Problematisch erweist sich insbesondere die in Art. 6 IGV normierte „24-Stunden-Meldefrist“ gegenüber der WHO: Denn der Zeitpunkt, ab wann diese Frist zu laufen beginnt, ist letztlich eine „Grauzone“ – ungeachtet der in Anhang 2 zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften festgelegten Entscheidungsschemata und Entscheidungskriterien für eine Bewertung und Meldung von 50 Indonesien argumentierte, dass es sich bei den Virusproben rechtlich um „biologische Ressourcen“ nach dem VN-Übereinkommen über biologische Vielfalt von 1992 handele, die gemäß dem Übereinkommen dem Ursprungsstaat zustehen (vgl. dazu näher Anika Klafki, Risiko und Recht, Tübingen: Mohr 2017, S. 178 f.). Zum ganzen auch Halabi, Sam F., “Multipolarity, Intellectual Property, and the Internationalization of Public Health Law”, in: Michigan Journal of International Law 2014 (Vol. 35), S. 715-771 (759), https://repository.law.umich.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1068&context=mjil. 51 David P. Fidler, „Who owns MERS? The Intellectual Property Controversy Surrounding the Latest Pandemic”, in: Foreign Affairs vom 6. Juni 2013, https://www.foreignaffairs.com/articles/saudi-arabia/2013-06-06/whoowns -mers. 52 WHO, Influenzapandemie-Vorsorge-Rahmenordnung für den Austausch und den Zugang zu Impfstoffen und anderen Leistungen, 2011, https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/44796/9789241503082_eng.pdf;jsessionid=F3456338CBBB85 A4B98B140DF471BABF?sequence=1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 20 pandemischen Ereignissen. So hat China den Ausbruch der Corona-Epidemie der WHO offiziell am 31. Dezember 2019 gemeldet.53 Dagegen wird in einer der renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften, The Lancet, über Fälle einer „unbekannten viralen Pneumonie“ in China berichtet , die offenbar schon Ende November oder Anfang Dezember 2019 aufgetreten sein sollen.54 Bereits anlässlich der SARS-Epidemie (2002/03) wurde China eine intransparente Informationspolitik vorgeworfen. China hatte das wahre Ausmaß der Infektion anfangs offenbar vertuscht, was eine schnelle Reaktion verhindert und die Verbreitung zunächst begünstigt hatte. Die informationelle „Zurückhaltung“ von Staaten im Anfangsstadium einer Epidemie erscheint indes psychologisch nachvollziehbar: Die Einschaltung der WHO und ggf. die nachfolgende Ausrufung einer Gesundheitsnotlage nach Art. 12 IGV kann gravierende Maßnahmen seitens der anderen Staaten und der WHO nach sich ziehen. Überdies unterliegen epidemiologische Situationen einem gewissen (politischen) Einschätzungsspielraum des betroffenen Staates. Sie bergen daher – insbesondere bei nicht-demokratischen Regimen – die Gefahr von Vertuschungen, politischen Rücksichtnahmen oder Fehleinschätzungen (Corona als „normale Grippe“) mangels virologischer Expertise. 3.5. Pflicht zur Einrichtung einer nationalen Anlaufstelle Zur Koordinierung des Melde- und Schnellwarnsystems der WHO sowie für die Durchführung von Gesundheitsmaßnahmen verpflichtet Art. 4 IGV die Mitgliedstaaten, eine nationale IGV- Anlaufstelle (national focal point) zu errichten – in Deutschland zuständig ist das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum (GMLZ) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) mit Sitz in Bonn.55 53 WHO, “Novel Coronavirus – China”, 12. Januar 2020, https://www.who.int/csr/don/12-january-2020-novelcoronavirus -china/en/. 54 “Clinical features of patients infected with 2019 novel coronavirus in Wuhan, China”, The Lancet, Vol. 295, S. 497-506, 15. Februar 2020, https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)30183- 5/fulltext. The Guardian vom 13. März 2020, “First Covid-19 case happened in November”, https://www.theguardian.com/world/2020/mar/13/first-covid-19-case-happened-in-november-chinagovernment -records-show-report. 55 Wenn eine potentielle Ereignismeldung das GMLZ erreicht, wird zunächst geprüft, ob eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch infektiöse, chemische, radiologische oder nukleare Einwirkungen vorliegt oder die Ursache noch unbekannt ist. Die Entscheidung darüber, welche Mitteilung die nationale IGV-Anlaufstelle an die WHO sendet, trifft die jeweils entscheidungsbefugte Behörde. Diese ist im Bereich übertragbarer Krankheiten : das Robert Koch-Institut (RKI) gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 21 3.6. Feststellung des Gesundheitsnotstandes durch die WHO Das rechtlich „schärfste Schwert“ der WHO ist die Feststellung einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite (Gesundheitsnotstand, engl.: Public-Health Emergency of International Concern, PHEIC).56 Diese erfolgt gem. Art. 12 IGV durch den WHO-Generalsekretär im Einvernehmen mit dem Vertragsstaat, in dessen Hoheitsgebiet das Ereignis aufgetreten ist. Eine solche Kompetenz eines Leitungsorgans einer internationalen Organisation ist im Vergleich mit anderen Organisationen außergewöhnlich – knüpfen sich doch an diese Feststellung bestimmte Rechtsfolgen.57 Rechtsdogmatisch vergleichbar ist die Feststellung des Gesundheitsnotstandes nach Art. 12 IVG mit der Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, die durch den Deutschen Bundestag auf der Grundlage von § 5 Infektionsschutzgesetz vorgenommen werden kann. Nach der Regelungsmechanik des nationalen seuchenrechtlichen Notstandes werden durch die konstitutive Feststellung einer außergewöhnlichen Gefahrenlage exekutive Befugnisse aktiviert, die von den in der Normallage geltenden Bestimmungen abweichen.58 Die Feststellung einer Gesundheitsnotlage beruht auf epidemiologischen Untersuchungen der WHO – allein im Jahr 2019 ist die WHO über 400 gesundheitsrelevanten „Fällen“ nachgegangen und hat diese untersucht.59 Bei der Feststellung der Gesundheitsnotlage finden u.a. wissenschaftliche Erkenntnisse sowie die Empfehlungen des Notfallausschusses Berücksichtigung.60 Die Sitzungen und Beschlüsse des Notfallausschusses sind in der Literatur als „black-box“-Entscheidung kritisiert worden, da keine Protokolle veröffentlicht würden und die Begründungen der 56 Ein Flussdiagramm zu den Entscheidungsabläufen findet sich bei Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 189 f. 57 So kann die WHO durch Empfehlungen Einfluss auf die Seuchenbekämpfung in den Mitgliedstaaten nehmen (s.u. 3.7.) Vgl. auch Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18 vom 14. Mai 2020, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. David Fidler, “From International Sanitary Conventions to Global Health Security: The new International Health Regulations”, in: Chinese Journal of International Law 2005, S. 325-392 (377), abrufbar unter: https://www.repository.law.indiana.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1399&context=facpub. 58 Mayen, Thomas, „Der verordnete Ausnahmezustand“, NVwZ 2020, S. 829-834 (830), https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/files/anwaltsblatt.de/anwaltsblatt-online/2020-398.pdf. 59 Vgl. den Bericht des WHO Executive Board, Dok. EB 146/17 vom 23. Dezember 2019, “WHO’s work in health emergencies”, https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/EB146/B146_17-en.pdf. 60 Gem. Art. 48 Abs. 2 IGV setzt sich der Notfallausschuss aus den vom WHO-Generaldirektor ausgewählten Sachverständigen der IGV-Sachverständigenliste und gegebenenfalls anderen Sachverständigenbeiräten der Organisation zusammen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 22 Entscheidungen – warum etwa eine Situation die Kriterien des Gesundheitsnotstandes nach Art. 12 IGV erfüllt oder nicht – nicht immer überzeugen oder sogar widersprüchlich ausfallen.61 Angesichts der Corona-Krise hat die WHO am 30. Januar 2020 den Gesundheitsnotstand ausgerufen . Diese Entscheidung ist zum Teil als verspätet kritisiert worden;62 sie ist Gegenstand einer COVID-19-Untersuchung, welche die WHO-Gesundheitsversammlung am 18. Mai 2020 beschlossen hat. Am 12. März 2020 wurde der Gesundheitsnotstand zur „Pandemie“ hochgestuft,63 nachdem sich die Virus-Epidemie weltweit ausgebreitet hatte. Die Feststellung einer Pandemie durch die WHO ist – anders als die Feststellung der Gesundheitsnotlage durch den WHO-Generaldirektor – in den IGV nicht explizit geregelt. Einschlägig sind vielmehr die sog. WHO-Pandemic 61 So Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18 vom 14. Mai 2020, S. 11, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. David P. Fidler, “To Declare or Not to Declare: The Controversy over Declaring a Public Health Emergency of International Concern for the Ebola Outbreak in the Democratic Republic of the Congo” in: Asian Journal of WTO & International Health Law and Policy Vol. 14 (2019), S. 287-330 (309), https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3460190. 62 Zumindest wäre der WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus rechtlich nicht gehindert gewesen, früher zu handeln – so im Ergebnis Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020- 18 vom 14. Mai 2020, SS. 10, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. 63 WHO-Meldung vom 31. Januar 2020, „2019-nCoV-Ausbruch zur gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite erklärt“, http://www.euro.who.int/de/health-topics/healthemergencies /pages/news/news/2020/01/2019-ncov-outbreak-is-an-emergency-of-international-concern. WHO-Meldung vom 12. März 2020, „WHO erklärt COVID-19-Ausbruch zur Pandemie“, http://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/whoannounces -covid-19-outbreak-a-pandemic. In der Vergangenheit hat die WHO fünf Mal die Gesundheitsnotlage ausgerufen: - 2019 Ebola in der Grenzregion des Kongo - 2016 Zika-Infektion in Brasilien - 2014 Ebola in Westafrika; dort erkrankten mehr als 28.000 Menschen, über 11.000 starben - 2014 Kinderlähmung – die Gesundheitsnotlage dauert bis heute an - 2009 Schweinegrippe-Epidemie (H1N1). Zur Pandemie (der höchsten Alarmstufe 6) hatte die WHO – nach der sog. Hong-Kong-Grippe (1968) – auch die sog. Schweinegrippe (2009/10) erklärt. Weltweit hatten sich damals mehr als 28.000 Menschen infiziert, https://www.sueddeutsche.de/wissen/who-ruft-pandemie-aus-hoechste-gefahrenstufe-fuer-schweinegrippe- 1.443735. Vgl. zum Ganzen näher Lawrence Gostin / Ana Ayala, „Global Health Security in an Era of Explosive Pandemic Potential”, in: Journal of National Security Law & Policy 2017, Vol. 9 No. 1, S. 53-80 (70 f.), https://scholarship.law.georgetown.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=2967&context=facpub. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 23 Guidelines.64 Rechtliche Konsequenzen sind mit der Feststellung einer Pandemie – im Gegensatz zur Feststellung des Gesundheitsnotstandes – nicht verbunden.65 Die Ausrufung einer globalen Pandemie erfüllt vielmehr die Funktion eines epidemiologischen „Weckrufs“ der WHO, der den Staaten den Ernst der Lage verdeutlichen soll. 3.7. Empfehlungen der WHO Die Feststellung des Gesundheitsnotstandes durch die WHO zieht zwar keine unmittelbaren völkerrechtlichen Verpflichtungen der WHO-Mitgliedstaaten nach sich,66 bildet aber die rechtliche Grundlage für weitergehende Maßnahmen der WHO. Dazu zählen zeitlich befristete (aber verlängerbare ) Empfehlungen der WHO.67 Diese zeichnen sich durch einen „reflektierten Multilateralismus “ (Bogdandy / Villareal) aus, der nicht auf eine Ersetzung zentraler Staatsfunktionen, sondern auf deren kooperative Ergänzung im Lichte gemeinsamer Herausforderungen abzielt.68 Art. 15 Abs. 2 IGV sieht vor: „Zeitlich befristete Empfehlungen können Gesundheitsmaßnahmen umfassen, die von dem Vertragsstaat durchgeführt werden sollten, der sich in einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite befindet, oder von anderen Vertragsstaaten, und zwar im Hinblick auf Personen, Gepäck, Fracht, Container, Beförderungsmittel, Güter und/oder Postpakete , um die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern oder zu verringern und eine unnötige Beeinträchtigung des internationalen Verkehrs zu vermeiden .“ Gem. Art. 18 Abs. 1 IGV können die von der WHO in Bezug auf Personen gegebene Empfehlungen (recommendations) an die Vertragsstaaten u.a. folgende Ratschläge (advice) beinhalten: Den Reiseverlauf in betroffenen Gebieten überprüfen; eine Impfung oder eine andere Prophylaxe verlangen ; Quarantäne- oder andere Gesundheitsmaßnahmen für verdächtige Personen durchführen; 64 World Health Organization, Pandemic Influenza Risk Management. A WHO Guide to inform & harmonize national & international pandemic preparedness and response (2017), 25-26, https://www.who.int/influenza/preparedness/pandemic/PIRM_update_052017.pdf. 65 Möglich ist etwa die Aktivierung von „ruhenden“ Verträgen mit Pharma-Unternehmen. 66 Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18 vom 14. Mai 2020, S. 4, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. 67 Vgl. zu den verschiedenen Kategorien von WHO-Empfehlungen Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 195 ff. 68 Armin v. Bogdandy / Pedro Villarreal, „Es geht nicht ohne die WHO“, in: FAZ vom 23. April 2020, S. 6, https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/trotz-trumps-kritik-es-geht-nicht-ohne-die-who- 16737324.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 24 eine Absonderung betroffener Personen durchführen; eine Nachverfolgung der Kontakte verdächtiger / betroffener Personen durchführen; die Einreise verdächtiger und betroffener Personen verweigern; die Einreise nicht betroffener Personen in betroffene Gebiete verweigern; und bei der Ausreise von Personen aus betroffenen Gebieten ein Screening durchführen und/oder Beschränkungen auferlegen. Im Zuge der COVID-19-Pandemie gab die WHO Empfehlungen zur Durchführung von Corona- Tests und zum Tragen von Mundschutzmasken ab.69 Empfehlungen zu Massenquarantänen (lockdowns ) wurden dabei nicht ausgesprochen, obwohl dies nach Art. 18 Abs. 1 IGV möglich gewesen wäre.70 Bereits im Februar 2020 verfasste sie einen Bericht über den Ausbruch des Virus in China und gab – sowohl gegenüber China als auch gegenüber den damals noch nicht vom Corona-Virus betroffenen Staaten – entsprechende Empfehlungen ab: “For uninfected countries: 1. Prepare to immediately activate the highest level of emergency response mechanisms to trigger the all-ofgovernment and all-of society approach that is essential for early containment of a COVID-19 outbreak; 2. Rapidly test national preparedness plans in light of new knowledge on the effectiveness of nonpharmaceutical measures against COVID-19; incorporate rapid detection, large-scale case isolation and respiratory support capacities, and rigorous contact tracing and management in national COVID-19 readiness and response plans and capacities; 3. Immediately enhance surveillance for COVID-19 as rapid detection is crucial to containing spread; consider testing all patients with atypical pneumonia for the COVID-19 virus, and adding testing for the virus to existing influenza surveillance systems; 4. Begin now to enforce rigorous application of infection prevention and control measures in all healthcare facilities, especially in emergency departments and outpatient clinics, as this is where COVID-19 will enter the health system; and 5. Rapidly assess the general population’s understanding of COVID-19, adjust national health promotion materials and activities accordingly, and engage clinical champions to communicate with the media. For the public: 1. Recognize that COVID-19 is a new and concerning disease, but that outbreaks can be managed with the right response and that the vast majority of infected people will recover; 2. Begin now to adopt and rigorously practice the most important preventive measures for COVID-19 by frequent hand washing and always covering your mouth and nose when sneezing or coughing; 69 SZ vom 5. Juni 2020, „Auch die WHO empfiehlt jetzt Schutzmasken“, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/coronavirus-covid-19-forschung-1.4788734. WHO, “Laboratory testing strategy recommendations for COVID-19”, interim guidance, 21. März 2020, https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/331509/WHO-COVID-19-lab_testing-2020.1-eng.pdf. 70 Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19), 16.-24. Februar 2020, https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/who-china-joint-mission-on-covid-19-final-report.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 25 3. Continually update yourself on COVID-19 and its signs and symptoms (i.e. fever and dry cough), because the strategies and response activities will constantly improve as new information on this disease is accumulating every day; and 4. Be prepared to actively support a response to COVID-19 in a variety of ways, including the adoption of more stringent ‘social distancing’ practices and helping the high-risk elderly population.” Zwecks Abgleichung und Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Anstrengungen zur Pandemievorsorge veröffentlicht die WHO zudem regelmäßig Orientierungshilfen (guidance) zu pandemierelevanten Themen.71 3.8. Pflicht zur Befolgung von WHO-Empfehlungen Ob eine staatliche Pflicht zur Befolgung von WHO-Empfehlungen existiert, hängt entscheidend von deren Rechtsverbindlichkeit ab. Der Rechtscharakter von WHO-Empfehlungen war schon während der Verhandlungen der IGV ein umstrittener Diskussionspunkt, der staatliche Souveränitätsansprüche auf den Plan rief.72 Art. 1 Abs. 1 IGV definiert eine zeitlich befristete Empfehlung als „ein von der WHO nach Artikel 15 erteilter nicht verbindlicher Rat zur zeitlich befristeten und risikospezifischen Anwendung als Reaktion auf eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite, um die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern oder einzudämmen und Beeinträchtigungen des internationalen Verkehrs auf ein Mindestmaß zu begrenzen.“ Obwohl „Empfehlungen“ formal gesehen rechtlich unverbindlich sind, sind sie gleichwohl rechtlich nicht irrelevant.73 So können nicht-bindende Rechtsakte indirekte Auswirkungen auf das Völkerrecht haben – insbesondere bei der Herausbildung von soft law oder Gewohnheitsrecht .74 71 Vgl. z.B. WHO guidance for surveillance during an influenza pandemic (2017), https://www.who.int/influenza/preparedness/pandemic/WHO_Guidance_for_surveillance_during_an_influenza _pandemic_082017.pdf. 72 David P. Fidler, “From International Sanitary Conventions to Global Health Security: The new International Health Regulations”, in: Chinese Journal of International Law 2005, S. 325-392 (381), abrufbar unter: https://www.repository.law.indiana.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1399&context=facpub. 73 Bogdandy, Armin von / Villareal, Pedro, “Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order”, Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18 vom 14. Mai 2020, S. 5, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3600058. 74 Markus Benzing, „International Organizations or Institutions, Secondary Law“, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: März 2007, Rdnr. 34, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e508. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 26 Die Bedeutung des WHO-Gesundheitsrechts heben die sog. Syrakus-Prinzipien vom 24. August 1984 zu den Bestimmungen des VN-Zivilpakts75 hervor: “Due regard shall be had to the International Health Regulations of the World Health Organization” (Art. 26). Zum Teil wird vertreten, dass eine Verletzung der (völkerrechtlich unverbindlichen) WHO- Empfehlungen durch einen Mitgliedstaat auch einer Verletzung der (völkerrechtlich verbindlichen ) IGV gleichkommt.76 Dagegen spricht indes die Praxis der WHO-Gesundheitsversammlung, die z.B. über Missachtungen von WHO-Empfehlungen während der Ebola-Epidemie berichtet hat, aber keine Resolution verabschiedete, in der dieses Verhalten als Rechtsbruch bezeichnet wird.77 Gleichwohl sehen die IGV an verschiedenen Stellen Formulierungen vor, die sich mit dem Diktum der „rechtlichen Unverbindlichkeit“ von WHO-Empfehlungen nur schwer vereinbaren lassen: So geht etwa Art. 23 der WHO-Verfassung (1946) davon aus, dass die Gesundheitsversammlung „ermächtigt“ ist [engl.: „have authority“], den Mitgliedstaaten Empfehlungen über jede innerhalb der Zuständigkeit der Organisation liegende Frage zu machen. Eine solche „Ermächtigung“ erfolgt durch die Mitgliedstaaten als „Herren“ der WHO- Verfassung, die damit zum Ausdruck bringen, dass sie die WHO im Sinne von global governance mit gewissen Kompetenzen ausstatten wollten. Art. 15 Abs. 2 IGV verwendet – in der maßgeblichen englischen Textfassung78 – eine Formulierung , die nicht unbedingt an “rechtliche Beliebigkeit” erinnert: „Temporary recommendations may include health measures to be implemented by the State Party“.79 Art. 43 Abs. 1 IGV bestimmt, dass kein Vertragsstaat daran gehindert sei, als Reaktion auf eine Pandemie Gesundheitsmaßnahmen durchzuführen, die „das gleiche oder ein höheres Maß an Seuchen- und Gesundheitsschutz wie die WHO-Empfehlungen“ erreichen. 75 United Nations, Economic and Social Council, “Siracusa Principles on the Limitation and Derogation Provisions in the International Covenant on Civil and Political Rights”, UN-Dok. E/CN .4/1985/4 Annex, abrufbar unter: https://undocs.org/en/E/CN.4/1985/4. Die – völkerrechtlich unverbindlichen – Syrakus-Prinzipien beinhalten allgemeine anerkannte Rechtsgrundsätze mit Blick auf die Einschränkung und Derogation von Menschenrechten und dienen u.a. als Interpretationshilfe und Argumentationsbasis zur Auslegung der internationalen Menschenrechte des VN-Zivilpaktes. 76 Roojin Habibi u.a., “Do not violate the International Health Regulations during the COVID-19 outbreak”, in: The Lancet Vol. 395 (2020), S. 664-666, https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140- 6736(20)30373-1.pdf. 77 Pedro A. Villarreal, “The (not-so) Hard Side of the IHR: Breaches of Legal Obligations”, Blog Global Health Law Groningen, 26. Februar 2020, https://www.rug.nl/rechten/onderzoek/expertisecentra/ghlg/blog/the-not-so-hardside -of-the-ihr-breaches-of-legal-obligations-26-02-2020. 78 Gem. Art. 66 Abs. 1 IGV sind der arabische, chinesische, englische, französische, russische und spanische (= VN-Amtssprachen) Wortlaut der Vorschriften gleichermaßen verbindlich. 79 Art. 15 Abs. 2 IGV wird in der deutschen Textfassung – unzutreffend – mit der deutlich zu “schwachen“ Formulierung übersetzt: „(…) die von dem Vertragsstaat durchgeführt werden sollten.“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 27 Daraus könnte man schlussfolgern, dass Art. 43 IGV impliziert, dass ein „Unterschreiten“ der WHO-Empfehlungen in puncto Seuchenschutz nicht zulässig ist.80 Im Ergebnis lässt sich eine formale völkerrechtliche Bindung der Staaten an WHO- Empfehlungen kaum begründen. Gleichwohl sind WHO-Empfehlungen rechtlich relevant, denn sie konkretisieren die IGV und setzen Standards für internationale Gesundheitsmaßnahmen. Die WHO-Mitgliedstaaten müssen indes keine rechtlichen Konsequenzen befürchten, wenn sie WHO-Empfehlungen nicht befolgen. Insoweit lässt sich vielleicht – einschränkend – von einer „politischen Befolgungspflicht“ sprechen. 3.9. Internationale Gesundheitsvorschriften und Menschenrechte Gesundheitsschutz steht in einem Spannungsverhältnis zu den internationalen Menschenrechten . Bereits der preußische Gelehrte, Schriftsteller und Staatsmann Wilhelm von Humboldt (1767-1835), beseelt von den Ideen der Aufklärung, entwickelte 1792 in seiner Abhandlung Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen,81 eine gewisse Abwehr gegen einen überzogenen Anspruch des Staates, das „physische Wohl“ der Bürger gegen „Beschädigungen durch die Natur“ zu erhalten oder zu befördern. Der „Geist“ einer solchen Gesundheitspolitik , so Humboldt, vertrage sich nicht mit der Politik eines freiheitlichen Gemeinwesens , weil Gesundheitspolitik latent darauf abziele, die individuelle Freiheit zu beschneiden.82 Die Internationalen Gesundheitsvorschriften zielen keineswegs darauf ab, alle Lebensbereiche der Gesundheit unterzuordnen: Pandemiebekämpfung steht vielmehr unter Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit und der Güterabwägung.83 Art. 3 Abs. 1 IGV bestimmt, dass die Durchführung dieser Vorschriften unter uneingeschränkter Achtung der Würde des Menschen, der Menschenrechte und der Grundfreiheiten zu erfolgen hat. Art. 2 IGV konkretisiert den Zweck der IGV wie folgt: „Zweck und Anwendungsbereich dieser Vorschriften bestehen darin, die grenzüberschreitende Ausbreitung von Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, davor zu schützen und dagegen Gesundheitsschutzmaßnahmen einzuleiten, und zwar auf eine Art und Weise , die den Gefahren für die öffentliche Gesundheit entspricht und auf diese beschränkt ist und eine unnötige Beeinträchtigung des internationalen Verkehrs und Handels vermeidet .“ 80 Die rechtliche Konstruktion eines “Untermaßverbotes“ mit flexiblem Spielraum „nach oben“ hat sich insbesondere im EU-Umweltrecht (vgl. Art. 193 AEUV, Schutzmaßnahmen der Mitgliedstaaten), aber auch im Rahmen des Menschenrechtsschutzes bewährt. 81 Wilhelm v. Humboldt, „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“, Neudruck Wuppertal 1947, S. 27 ff. 82 Jürgen Overhoff, „Der Prophet der Krise“, in: DIE ZEIT Nr. 23 vom 28. Mai 2020, S. 17. 83 Näher dazu Gostin, Lawrence O., Global Health Law, Cambridge: Harvard Univ. Press 2014, S. 183 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 28 Zu den zentralen Pflichten von Staaten in der Pandemie gehört also neben dem Gesundheitsschutz auch die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Bürger. In ihrem Policy Brief zum Thema „COVID-19 und die Menschenrechte“84 weisen die Vereinten Nationen darauf hin, dass, “[I]n the current crisis, human rights can help States to recalibrate their response measures to maximize their effectiveness in combating the disease and minimize the negative consequences. The centrality of protection, which underpins the response in humanitarian settings, ensures that we collectively preserve our common humanity and dignity.” Im Rahmen der allfälligen Abwägung zwischen Gesundheit und Freiheit nehmen Staaten die Beschränkung grundrechtlich geschützter Freiheiten der Bürger (Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit etc.) oder der Wirtschaft zwangsläufig in Kauf. Derartige Maßnahmen sind mittlerweile Gegenstand zahlreicher nationaler und internationaler Gerichtsverfahren.85 Erinnert sei dabei an die Rechtfertigungsdogmatik bei den Menschenrechten:86 So sind Eingriffe z.B. in die konventionsrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit aus Art. 11 Abs. EMRK gerechtfertigt, wenn sie „notwendig sind … zum Schutz der Gesundheit“. Eine vergleichbare Einschränkung findet sich z.B. beim Menschenrecht auf Freizügigkeit und Ausreisefreiheit gem. Art. 12 VN-Zivilpakt, der gem. Abs. 3 eingeschränkt werden darf „zum Schutz der (…) Volksgesundheit“. Art. 43 IGV – eine der zentralen Vorschriften der IGV – zielt auf die Vereinbarkeit von Gesundheitsschutz und Menschenrechten ab und entfaltet dabei eine menschenrechtliche Schutzwirkung . Die Norm regelt u.a. die rechtlichen Voraussetzungen für den Fall, dass ein WHO- Mitgliedstaat über den von der WHO empfohlenen Standard hinausgehen und unter dem „Deckmantel“ der Pandemiebekämpfung weitergehende Maßnahmen (wie z.B. Reisebeschränkungen , Im- und Exportverbote u.a.m.) ergreifen will. Die WHO kann hier „mäßigend“ und in gewisser Weise „grundrechtsschützend“ auf die Gesundheitspolitik der Mitgliedstaaten einwirken – sie schlüpft gewissermaßen ihre Rolle einer Wächterin über die Menschenrechte in der Pandemie.87 84 United Nations, Covid-19 and Human Rights, April 2020, https://www.un.org/sites/un2.un.org/files/un_policy_brief_on_human_rights_and_covid_23_april_2020.pdf. 85 Vgl. dazu u.a. Diane Desierto, „Calibrating Human Rights and Necessity in a Global Public Health Emergency: Revive the UN OHCHR’s ICESCR Compliance Criteria“, Blog of the European Journal of International Law, 26. März 2020, https://www.ejiltalk.org/calibrating-human-rights-and-necessity-in-a-global-public-healthemergency -revive-the-un-ohchrs-icescr-compliance-criteria/. 86 David P. Fidler, “From International Sanitary Conventions to Global Health Security: The new International Health Regulations”, in: Chinese Journal of International Law 2005, S. 325-392 (382 f.), abrufbar unter: https://www.repository.law.indiana.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1399&context=facpub. 87 Rana Moustafa Essawy, “The WHO: The Guardian of Human Rights during Pandemics?” Blog of the European Journal of International Law, 15. Juni 2020, https://www.ejiltalk.org/the-who-the-guardian-of-human-rightsduring -pandemics/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 29 Zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wurden in einigen Mitgliedstaaten schon sehr früh Reise- und Flugverbote nach China angeordnet, die von der WHO zum damaligen Zeitpunkt ausdrücklich nicht empfohlen wurden.88 Teile der Literatur89 halten entsprechende Reisebeschränkungen daher für nicht vereinbar mit Art. 43 IGV, da die staatlichen Freiheitsbeschränkungen den in Art. 43 Abs. 1 und 2 IGV niedergelegten Anforderungen nicht entsprächen. Nach dieser Vorschrift müssen die – vermeintlich – gesundheitsindizierten staatlichen Maßnahmen nachweislich wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen. Weiter ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. Reisebeschränkungen würden nach Auffassung in der Literatur die globale Solidarität zwischen den Staaten untergraben, welche die WHO bei ihren Empfehlungen zu berücksichtigen habe. Frühere Epidemien hätten zudem gezeigt, dass Reisebeschränkungen nur begrenzten Nutzen für die öffentliche Gesundheit mit sich bringen;90 sie seien deshalb grundrechtlich problematisch.91 Überdies müssten die IGV im Lichte des SPS-Abkommens der WTO ausgelegt werden.92 Die Gegenauffassung sieht in Art. 43 IGV staatliche Handlungsspielräume jenseits der entsprechenden WHO-Empfehlungen.93 88 WHO Statement on the second meeting of the International Health Regulations (2005) Emergency Committee regarding the outbreak of novel coronavirus (2019-nCoV), 30. Januar 2020: The Committee does not recommend any travel or trade restriction based on the current information available, https://www.who.int/newsroom /detail/30-01-2020-statement-on-the-second-meeting-of-the-international-health-regulations-(2005)- emergency-committee-regarding-the-outbreak-of-novel-coronavirus-(2019-ncov). 89 Habibi / Burci u.a., “Do not violate the International Health Regulations during the COVID-19 outbreak” (2020), in: The Lancet Vol. 395 (2020), S. 664-666 (664), https://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140- 6736(20)30373-1.pdf. Meier / Habibi / Yang, “Travel restrictions violate international law”, in: Science, 27. März 2020, https://science.sciencemag.org/content/sci/367/6485/1436.2.full.pdf. 90 Errett / Sauer / Rutkow, “An integrative review of the limited evidence on international travel bans as an emerging infectious disease disaster control measure”, in: Journal of Emergency Management Vol. 18 No. 1 (2020), S. 7-14, https://www.wmpllc.org/ojs/index.php/jem/article/view/2688/pdf (zum Herunterladen). 91 Human Rights Watch, 19. März 2020, “Human Rights Dimensions of COVID-19 Response”, https://www.hrw.org/news/2020/03/19/human-rights-dimensions-covid-19-response. 92 Art. 5 des SPS-Abkommens (= WTO Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures abrufbar unter: https://www.wto.org/english/tratop_e/sps_e/spsagr_e.htm) verlangt, dass “all sanitary measures affecting trade must, specifically, be based on an assessment as appropriate to the circumstances of the risks to human life or health”. Das Übereinkommen über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen (SPS) legt fest, welche Regelungen zum Schutz der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen zulässig sind. 93 Caroline Foster, “Justified Border Closures do not violate the International Health Regulations 2005”, Blog of the European Journal of International Law, 11. Juni 2020, https://www.ejiltalk.org/justified-border-closures-do-notviolate -the-international-health-regulations- 2005/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 30 Art. 43 IGV macht deutlich, dass Gesundheitsschutz auch nach internationalem Gesundheitsrecht nicht verabsolutiert werden darf, sondern im Wege praktischer Konkordanz in einen gerechten Ausgleich mit rechtlich geschützten Freiheiten gebracht werden muss.94 Aus Art. 43 Abs. 1 IGV ergibt sich nachgerade eine der grundrechtlichen Dogmatik entsprechende staatliche Abwägungsverpflichtung zwischen Gesundheitsschutz und individueller Freiheit: „[Staatliche Gesundheitsmaßnahmen] dürfen den internationalen Verkehr nicht stärker beeinträchtigen und für Personen nicht invasiver oder störender sein als unter vertretbarem Aufwand verfügbare Alternativen, die ein angemessenes Maß an Gesundheitsschutz erreichen würden.“ Gem. Art. 57 IGV berühren die IGV nicht die Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten aus anderen völker- bzw. menschenrechtlichen Übereinkünften. Vielmehr sollen die entsprechenden Rechtsnormen im Sinne gegenseitiger Vereinbarkeit ausgelegt werden. Damit ergibt sich mit Blick auf das Menschenrechtsregime kein Konkurrenz-, sondern ein Komplementärverhältnis zwischen Menschenrechten und Gesundheitsrecht. 4. Menschenrechtliche Dimension des Gesundheitsschutzes und der Pandemievorsorge Die gesundheitsrechtlichen Verpflichtungen der Staaten – insbesondere die Melde- und Informationspflichten sowie die Pflicht, entsprechende Kapazitäten der Gesundheitsvorsorge vorzuhalten – werden durch das Menschenrecht auf Gesundheit und das Recht auf Leben individualrechtlich abgestützt und ergänzt.95 4.1. Beitrag der Menschenrechte zum internationalen Gesundheitsschutz Der „Beitrag“ der Menschenrechte zum internationalen Gesundheitsschutz und zur Pandemiebekämpfung ist zwar überschaubar, aber gleichwohl nicht zu unterschätzen. Zwar umfasst das Menschenrecht auf Gesundheit in Art. 12 VN-Sozialpakt mit seinen zwei Absätzen im Vergleich zu den über 50 materiellrechtlichen und zum Teil ausgesprochen detaillierten und technischen internationalen Gesundheitsvorschriften (zuzüglich mehrerer Anlagen) inhaltlich eine nur sehr begrenzte Regelungsmaterie. Infolgedessen erweist sich die (potentielle) Steuerungswirkung des internationalen Gesundheitsrechts auf das gesundheitspolitische Handeln der Staaten ungleich 94 Vgl. zu den menschenrechtlichen Implikationen des Gesundheitsschutzes Human Rights Watch, 19. März 2020, “Human Rights Dimensions of COVID-19 Response”, https://www.hrw.org/news/2020/03/19/human-rightsdimensions -covid-19-response. 95 Olha Bozhenko, “More on Public International Law and Infectious Diseases: Foundations of the Obligation to Report Epidemic Outbreaks”, Blog of the European Journal of International Law, 15. August 2019, https://www.ejiltalk.org/more-on-public-international-law-and-infectious-diseases-foundations-of-theobligation -to-report-epidemic-outbreaks/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 31 größer als beim Recht auf Gesundheit, welches allenfalls punktuell Korrekturen staatlicher Gesundheitspolitik vorzunehmen vermag. Die IGV erweisen sich gegenüber dem allgemeineren „Menschenrecht auf Gesundheit“ materiell-rechtlich als lex specialis. Andererseits sind die komplementären Menschenrechtsverpflichtungen Gegenstand einer vielfältigen Judikatur nationaler und internationaler Gerichte, welche die menschenrechtlichen Bestimmungen anwenden, auslegen und weiterentwickeln. Dabei sind die menschenrechtsspezifischen Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen, insbesondere durch die kontinuierliche Auslegungspraxis der VN-Ausschüsse (z.B. durch die sog. General Comments), deutlich ausgeprägter als im Rahmen des internationalen Gesundheitsregimes. Daneben gewährleisten die Beschwerdeverfahren der Menschenrechtspakte zumindest eine gewisse Justitiabilität der Menschenrechtsgarantien auf horizontaler und vertikaler Ebene. Aus den internationalen Menschenrechten erwachsen neben den (vertikalen) Pflichten eines Staates zum Gesundheitsschutz und Gesundheitsvorsorge gegenüber der Bevölkerung auch horizontale völkerrechtliche Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten und deren Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf grenzüberschreitende Solidarität und Kooperation. Angesichts pandemischer Situationen können staatliche Infektionsschutzmaßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie, welche die Freiheit der eigenen Bevölkerung beschneiden (z.B. Reiseverbote), gleichzeitig positive Ausstrahlungswirkung (z.B. Unterbrechung einer Infektionskette etc.) zugunsten anderer Staaten und deren Bevölkerung entfalten.96 4.2. Menschenrecht auf Gesundheit Das Menschenrecht auf Gesundheit ist u.a. in Art. 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 1948, in Art. 12 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche , soziale und kulturelle Rechte (im Folgenden: VN-Sozialpakt oder IPwskR) sowie in zahlreichen regionalen Menschenrechtsinstrumenten verankert.97 Den VN-Sozialpakt haben 170 Staaten 98 ratifiziert, darunter auch China und Deutschland, wo der Pakt im Rang eines Bundesgesetzes gilt. 96 Vgl. allgemein WHO Fact Sheet, The Right to Health, Fact Sheet No. 31, https://www.ohchr.org/Documents/Publications/Factsheet31.pdf. Weilert, Katarina, „Das völkerrechtliche Menschenrecht auf Gesundheit und seine Umsetzung in Deutschland“, in: Gesundheits- und Sozialpolitik (G+S) 2018, S. 55 (56). 97 Vgl. Art. 16 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte von 1987, Art. 11 der Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 oder Art. 11 der Europäischen Sozialcharta von 1996. Vgl. näher Stephen P. Marks, “The emergence and scope of the human right to health”, in: Zuniga / Marks / Gostin (Hrsg.), Advancing the Human Right to Health, Oxford 2013, S. 8 f. 98 Die USA haben den VN-Sozialpakt zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, https://indicators.ohchr.org/. Zu den Erklärungen und Vorbehalten zum VN-Sozialpakt vgl. https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter=4&clang=_en. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 32 Art. 12 VN-Sozialpakt, der das Recht universell und verbindlich festschreibt, lautet: (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. (2) Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen (…) zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung epidemischer, endemischer, Berufs- und sonstiger Krankheiten; zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen. Während Art. 12 Abs. 1 VN-Sozialpakt den Grundsatz der „Anerkennung“ des Rechts auf Gesundheit formuliert, widmet sich Abs. 2 den Verpflichtungen des Staates, insb. im Bereich der Pandemievorsorge und der Gesundheitsversorgung. Das Menschenrecht auf Gesundheit verfolgt einen „integrativen“ Ansatz, indem es den ganzheitlichen Charakter der globalen Gesundheit betont und als grundlegende Elemente die Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Akzeptanz und Qualität von Gesundheitsgütern und -diensten umfasst.99 In seinem General Comment No. 14100 betont der zur Überwachung des VN-Sozialpaktes eingesetzte VN-Sozialausschuss, dass nach Art. 12 VN-Sozialpakt ein Rechtsanspruch auf ein Gesundheitssystem besteht, welches allen Menschen gleichermaßen ermögliche, das (jeweils) höchste Maß an Gesundheit zu erreichen: „By contrast, the entitlements include the right to a system of health protection which provides equality of opportunity for people to enjoy the highest attainable level of health.“101 Der Wortlaut des Art. 12 VN-Sozialpakt, der ein für den Menschen „erreichbares Höchstmaß (highest attainable standard) an körperlicher und geistiger Gesundheit“ gewährt, macht deutlich, dass das Recht auf Gesundheit kein absolutes Recht darstellt. Vielmehr bleibt das Recht auf Gesundheit einer Abwägung mit anderen Grundrechten im Sinne praktischer Konkordanz 99 Brigit Toebes, The Right to Health as a Human Right in International Law, Amsterdam: Hart 1999, S. 114 ff. Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 259. Michael Krennerich, Soziale Menschenrechte – Zwischen Recht und Politik, 2013, S. 205 f. Das Recht auf Gesundheit sieht vor, dass Gesundheitseinrichtungen, -güter und -dienstleistungen in ausreichender Menge zur Verfügung stehen, für alle ohne Diskriminierung zugänglich und erschwinglich sind, die medizinische Ethik respektieren und medizinisch von guter Qualität sein müssen, vgl. UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 8 f., UN-Dok. E/C.12/2000/4 vom 11. August 2000, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. 100 Die General Comments (Allgemeine Bemerkungen) der VN-Fachausschüsse dienen der Auslegung des jeweiligen Übereinkommens und enthalten Rechtsauffassungen unabhängig vom Einzelfall. Sie sind völkerrechtlich nicht bindend, legen aber den Vertragstext in maßgeblicher Weise aus und können sogar zur Entstehung von Völkergewohnheitsrecht beitragen. Vgl. näher David Roth-Isigkeit, „Die General Comments des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen – ein Beitrag zur Rechtsentwicklung im Völkerrecht“, in: Menschen- Rechts Magazin Heft 2/2012, S. 196-201, https://publishup.uni-potsdam.de/opus4- ubp/frontdoor/deliver/index/docId/6145/file/mrm17_h2_196_210.pdf. 101 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 8 f., UN-Dok. E/C.12/2000/4 vom 11. August 2000, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 33 zugänglich. Auch ist Art. 12 VN-Sozialpakt keineswegs auf COVID-19-Erkrankungen begrenzt: Dort wo aus Gründen der Pandemiebekämpfung wichtige Operationen verschoben, ärztliche Untersuchungen reduziert oder Rehabilitationsmaßnahmen abgesagt werden müssen, wird das Menschenrecht auf Gesundheit ebenso tangiert bzw. beeinträchtigt, wie durch unzureichende Maßnahmen der Pandemievorsorge (Hygienemaßnahmen u.a.m.). 4.3. Rechtliche Struktur und Durchsetzung sozialer Menschenrechte Während die menschenrechtlichen Garantien des VN-Zivilpakts als „Abwehrrechte gegen den Staat“ i.d.R. unmittelbar anwendbar sind, besteht die Besonderheit der im VN-Sozialpakt verbürgten Garantien darin, dass es sich bei ihnen um Teilhaberechte im Sinne positiver Leistungsrechte handelt.102 Der Staat muss also zu ihrem Schutz aktiv gesetzgeberisch und organisatorisch tätig werden, weshalb bei der Implementierung der Menschenrechte stets auch wirtschaftliche und finanzielle Erwägungen eine Rolle spielen.103 In Teilen haben die im VN-Sozialpakt verankerten sog. „Rechte der zweiten Generation“ den Charakter von Staatszielbestimmungen.104 Gleichwohl lassen sich aus ihren justiziablen Kernbereichen mittelbare und auch unmittelbare Rechtspflichten für die Staaten ableiten. Den Vertragsstaaten des VN-Sozialpakts wird eine progressive Umsetzung ihrer Verpflichtungen auferlegt. Das bedeutet, dass der Vertragsstaat Maßnahmen ergreifen muss, um vertraglich vorgegebene Ziele stufenweise zu verwirklichen.105 Der VN-Sozialausschuss kann die Einhaltung der im Sozialpakt garantierten Rechte durch Prüfung von Individualbeschwerden gegen Vertragsstaaten nach dem 2013 in Kraft getretenen Fakultativprotokoll106 zum VN-Sozialpakt kontrollieren, sofern diese das Protokoll ratifiziert haben.107 Abgesehen davon haben der Europäische Gerichts- 102 Brigit Toebes, The Right to Health as a Human Right in International Law, Amsterdam: Hart 1999, S. 6. Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR, Commentary, Oxford Univ. Press 2014, Introduction, S. 1. 103 Brigit Toebes, The Right to Health as a Human Right in International Law, Amsterdam: Hart 1999, S. 7. Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 246. WHO Fact Sheet, The Right to Health, Fact Sheet No. 31, S. 5, https://www.ohchr.org/Documents/Publications/Factsheet31.pdf. 104 Brigit Toebes, The Right to Health as a Human Right in International Law, Amsterdam: Hart 1999, S. 6. 105 WHO Fact Sheet, The Right to Health, Fact Sheet No. 31, S. 22 ff., https://www.ohchr.org/Documents/Publications/Factsheet31.pdf. Brigit Toebes, The Right to Health as a Human Right in International Law, Amsterdam: Hart 1999, S. 139 ff. Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 246. 106 Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights vom 10. Dez. 2008, https://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/OPCESCR.aspx. Zum Ratifikationsstand, https://treaties.un.org/pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3-a&chapter=4&clang=_en. 107 Deutschland hat das Fakultativprotokoll bislang nicht ratifiziert. Kritisch dazu DIMR, „Ratifikation des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt sollte zügig erfolgen“, 16. Januar 2019, https://www.institut-fuermenschenrechte .de/aktuell/news/meldung/article/ratifikation-des-fakultativprotokolls-zum-un-sozialpaktsollte -zuegig-erfolgen/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 34 hof für Menschenrechte (EGMR) oder der Inter-Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) die Garantien des VN-Sozialpakts zur Konkretisierung menschenrechtlicher Verpflichtungen herangezogen.108 Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat auf den VN-Sozialpakt zurückgegriffen;109 gleiches gilt für deutsche Gerichte bei der Auslegung deutschen Rechts.110 Im Urteil Poblete Vilches gegen Chile vom 8. März 2018 stellte der IAGMR erstmals fest, dass auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unmittelbar justiziabel seien.111 Im Oktober 2018 verurteilte der IAGMR Guatemala wegen Verletzung seiner Pflichten aus Art. 26 AMRK (Cuscul Piraval u.a. gegen Guatemala).112 Der Gerichtshof stellte fest, dass Guatemalas System der öffentlichen Gesundheitsfürsorge für Menschen mit HIV/Aids trotz entsprechender Gesetzgebung unzureichend sei. Guatemala sei seiner positiven Pflichten zur Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit, des Rechts auf Leben sowie des Rechts auf Vornahme progressiver Schritte hin zu einer vollständigen Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht nachgekommen und für den Verstoß unmittelbar verantwortlich. Für die Zukunft bleibt abzuwarten , inwieweit die Rechtsprechung des IAGMR Anstöße zu den notwendigen strukturellen Reformen der Gesundheitssysteme in den lateinamerikanischen Staaten zu geben vermag. Eher skeptisch hat Villareal in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass das Menschenrecht auf Gesundheit nicht isoliert von seinen sozio-ökonomischen Kontext betrachtet werden könne .113 108 EGMR, Dubská und Kreizová v. Tschechien, Entsch. vom 15.11.2016, Nr. 28859/11, § 128. Anna Kothe, “Vulnerability in times of Corona. Guidelines from the Inter-American Court of Human Rights on the Right to Health”, Völkerrechtsblog vom 28. Mai 2020, https://voelkerrechtsblog.org/vulnerability-in-timesof -corona/. 109 EuGH, Orkem v. Kommission, Urt. v. 18.10.1989, Rs. 347/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 18, 31; EuGH, Parlament gegen Rat, Urt. vom 27.6.2006, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37; EuGH, Dynamic Medien Vertriebs-GmbH v. Avides Media AG, Urt. v. 14.2.2008, Rs. C-244/06, Slg. 2008, I-505, Rn. 39. Vgl. auch Christoph Vedder, Die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte und ihre Verfahren, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band VI/2: Europäische Grundrechte II – Universelle Menschenrechte, 2009, S. 237 (298 f.), Rn. 164 mit Fn. 234. 110 Vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 28.5.1993 – 2 BvF 2/90, Rn. 183; BSG, Urt. v. 15.10.2014 – B 12 KR 17/12 R. 111 IAGMR, Poblete Vilches vs. Chile, Entsch. vom 8. März 2018, https://www.corteidh.or.cr/docs/casos/articulos/seriec_349_esp.pdf (Spanisch). Vgl. dazu Pedro Villarreal, „The Direct Justiciability of the Right to Health at the IACtHR”, Völkerrechtsblog, 22. Oktober 2018, https://voelkerrechtsblog.org/the-direct-justiciability-of-the-right-to-health-at-the-iacthr/. Lucas Sánchez, “Der IAGMR und WSK-Rechte. Eine wegweisende Rechtsprechungsänderung”, Völkerrechtsblog , 20. August 2018, https://voelkerrechtsblog.org/der-iagmr-und-wsk-rechte/. 112 IAGMR, Cuscul Piraval vs. Guatemala, Urt. v. 23.8.2018, Rdnr. 72. Eine englische Zusammenfassung des Urteils findet sich beim International Justice Resource Center vom 6. November 2018, https://ijrcenter.org/2018/11/06/inter-american-court-state-inaction-on-hiv-violated-progressive-realizationobligation /. 113 Pedro Villarreal, „The Direct Justiciability of the Right to Health at the IACtHR”, Völkerrechtsblog, 22. Oktober 2018, https://voelkerrechtsblog.org/the-direct-justiciability-of-the-right-to-health-at-the-iacthr/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 35 4.4. Menschenrechtliche Verpflichtungen 4.4.1. Schutz des Lebens Das Menschenrecht auf Gesundheit steht in engem Zusammenhang mit dem Recht auf Leben. Bei der Verwirklichung des Menschenrechts auf Leben aus Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte (im Folgenden: VN-Zivilpakt)114 haben Staaten die positive Pflicht, erforderliche Maßnahmen zu ergreifen, um das Leben des Einzelnen zu schützen und Risiken zu minimieren.115 So betont der zur Überwachung des VN-Zivilpaktes eingesetzte VN- Menschenrechtsausschuss, dass Staaten geeignete Maßnahmen zum Schutz vor lebensbedrohlichen Krankheiten ergreifen müssen.116 Zu diesen Maßnahmen gehört nicht nur die Gewährleistung von Zugang zu Medikamenten und anderen überlebenswichtigen Gütern, sondern auch die Bereitstellung von Notfalldiensten, die Organisation von Notfallplänen oder die Schaffung gesundheitsrelevanter Strukturen.117 Diese positive Schutzpflicht umfasst das Ergreifen sofortiger Maßnahmen bei Ausbruch lebensbedrohlicher Krankheiten, um schwerwiegende Folgen zu unterbinden oder zumindest abzumildern.118 4.4.2. Gesundheitsschutz Das Menschenrecht auf Gesundheit verpflichtet Staaten, ein System der medizinischen Versorgung schaffen, um Gesundheitsgefahren effizient abwehren zu können.119 114 Art. 6 VN-Zivilpakt lautet: „Every human being has the inherent right to life. This right shall be protected by law. No one shall be arbitrarily deprived of his life.” 115 EGMR, L.C.B. vs. United Kingdom, Entsch. vom 9. Juni 1998, Nr. 23413/94, § 36. EGMR, Brincat et al. vs. Malta, Entsch. vom 24. Juli 2014, Nr. 60908/11, §§ 79 f. IAGMR (Inter-American Court of Human Rights), Ximenes-Lopes v. Brasilien, Entsch. vom 4. Juli 2006, §§ 89 f. 116 Human Rights Committee (CCPR), General Comment No. 36, UN-Dok. CCPR/C/GC/36 vom 3. September 2019, Rdnr. 26, https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=CCPR/C/GC/36&Lang=e n; sowie General Comment No. 6, Rdnr. 5, der ausdrücklich auf die Pflicht zur Verhinderung und Beseitigung von Epidemien hinweist, https://www.refworld.org/docid/45388400a.html. 117 EGMR, G.N. et al. vs. Italien, Entscheidung vom 1. Dezember 2009, Nr. 43134/05, §§ 79 f. 118 Näher Coco / de Souza Dias, „Part I: Due Diligence and COVID-19: States’ Duties to Prevent and Halt the Coronavirus Outbreak”, Blog of the European Journal of International Law vom 24. März 2020, https://www.ejiltalk.org/part-i-due-diligence-and-covid-19-states-duties-to-prevent-and-halt-the-coronavirusoutbreak /. 119 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rn. 16 https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4 Olha Bozhenko, “More on Public International Law and Infectious Diseases: Foundations of the Obligation to Report Epidemic Outbreaks”, Blog of the European Journal of International Law vom 15. August 2019, https://www.ejiltalk.org/more-on-public-international-law-and-infectious-diseases-foundations-of-theobligation -to-report-epidemic-outbreaks/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 36 Der VN-Sozialausschuss unterscheidet zwischen Kernpflichten (minimum core obligations),120 unmittelbar anwendbaren Verpflichtungen (obligations of immediate effect) und sonstigen Verpflichtungen, die – je nach vorhandenen Ressourcen – progressiv umgesetzt werden müssen. Entsprechend den geläufigen Kategorien staatlicher Pflichten im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes (respect – protect – fulfil) ordnet der Ausschuss die Verpflichtungen im Übrigen drei verschiedenen Untergruppen zu – nämlich der Verpflichtung zur Achtung, zum Schutz und zur Gewährleistung: “The obligation to respect requires States to refrain from interfering directly or indirectly with the enjoyment of the right to health. The obligation to protect requires States to take measures that prevent third parties from interfering with article 12 guarantees. Finally, the obligation to fulfil requires States to adopt appropriate legislative, administrative, budgetary , judicial, promotional and other measures towards the full realization of the right to health.”121 4.4.3. Pandemievorsorge Nach Art. 12 Abs. 2 lit. c) VN-Sozialpakt sind die Staaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zur „Prävention, Behandlung und Kontrolle von epidemischen, endemischen, beruflichen und anderen Krankheiten“ zu ergreifen.122 Da der VN-Sozialausschuss wiederholt klargestellt hat, dass er die Liste der Verpflichtungen in Art. 12 Abs. 2 IPwskR als nicht abschließend ansieht,123 wird man unter lit. c) auch die Prävention, Behandlung und Kontrolle von Pandemien fassen können. Der VN-Sozialausschuss führt diesbezüglich aus, dass die Staaten die epidemiologische Überwachung und Datenerfassung sowie andere Strategien zur Krankheitsbekämpfung verbessern sollen. Die Staaten sind auch verpflichtet, Maßnahmen gegen potenzielle Gefahren zu ergreifen, die sich auf epidemiologische Daten stützen, was notwendigerweise die Erhebung und Verarbeitung von Daten impliziert.124 Ebenso wenig darf ein Staat relevante und ggf. lebenswichtige 120 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 43, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. 121 UN CESCR, General Comment Nr. 14 (2000), Rdnr. 33, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. 122 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 16, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. Pedro Villarreal, „Public International Law and the 2018-2019 Ebola Outbreak in the Democratic Republic of Congo“, Blog of the European Journal of International Law vom 1.8.2019, https://www.ejiltalk.org/publicinternational -law-and-the-2018-2019-ebola-outbreak-in-the-democratic-republic-of-congo/. 123 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 7, 13, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR, Commentary, Oxford Univ. Press 2014, Art. 12, S. 991. 124 UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 16, 38, https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 37 Gesundheitsinformationen, etwa mit Blick auf Ansteckungsschutz oder Seuchenprävention zurückhalten oder verfälschen.125 In seinem General Comment No. 14 (2000) konturiert der VN-Sozialausschuss folgende Kooperationsverpflichtungen , die horizontal im Verhältnis zu anderen Staaten bestehen:126 States parties have to respect the enjoyment of the right to health in other countries (…). Similarly, States parties have an obligation to ensure that their actions as members of international organizations take due account of the right to health. States parties have a joint and individual responsibility, in accordance with the Charter of the United Nations and relevant resolutions of the United Nations General Assembly and of the World Health Assembly, to cooperate in providing disaster relief and humanitarian assistance in times of emergency (…). Moreover, given that some diseases are easily transmissible beyond the frontiers of a State, the international community has a collective responsibility to address this problem. Violations of the right to health can occur through the direct action of States or other entities insufficiently regulated by States. (…) Violations through acts of commission include (…) the adoption of legislation or policies which are manifestly incompatible with pre-existing domestic or international legal obligations in relation to the right to health. Daneben ergibt sich eine Pflicht zu internationaler Kooperation und Unterstützung aus Art. 2 Abs. 1 IPwskR.127 Dem Menschenrecht auf Gesundheit lässt sich weiter die Pflicht der Staaten entnehmen, bei Ausbrüchen von Infektionskrankheiten die eigene Bevölkerung sowie die Staatengemeinschaft zu informieren.128 125 Michael Krennerich, Soziale Menschenrechte – Zwischen Recht und Politik, Schwalbach/Ts. 2013, S. 210. 126 Zum Folgenden UN CESCR, General Comment No. 14 (2000), Rdnr. 38 ff., https://undocs.org/en/E/C.12/2000/4. 127 Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR, Commentary, Oxford Univ. Press 2014, Art. 12, S. 1034. 128 Olha Bozhenko, “More on Public International Law and Infectious Diseases: Foundations of the Obligation to Report Epidemic Outbreaks”, Blog of the European Journal of International Law, 15. August 2019, https://www.ejiltalk.org/more-on-public-international-law-and-infectious-diseases-foundations-of-theobligation -to-report-epidemic-outbreaks/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 38 5. Sorgfaltspflichten (Due diligence) Due Diligence bezeichnet (Verhaltens-)Standards, die bei der Erfüllung von Sorgfaltspflichten zwecks Schadensbegrenzung und Risikoprüfung einzuhalten sind. Dabei hat ein Staat alles in seiner Macht stehende zu tun, was in einer Gefahrensituation vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. Due diligence-Standards finden sich – zum Teil gewohnheitsrechtlich verankert – in Bereichen des Umweltvölkerrechts, der Menschenrechte sowie im globalen öffentlichen Gesundheitsrecht. Das Schädigungsverbot (no-harm-Prinzip) wurde ursprünglich in wegweisenden Entscheidungen des Umweltvölkerrechts sowie der Arbeit der International Law Commission (ILC) zu den Artikelentwürfen zur Verhütung grenzüberschreitender Schäden (Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities)129 aus dem Jahre 2001 entwickelt. Obwohl das no harm-Prinzip dem Umweltvölkerrecht entlehnt ist, gibt es Tendenzen einer Ausweitung auf andere Gebiete des Völkerrechts.130 Das no harm-Prinzip verpflichtet die Staaten, erhebliche grenzüberschreitende Schäden für andere Staaten oder deren Bevölkerung, die von ihrem Hoheitsgebiet ausgehen oder ihrer Kontrolle entstammen, zu verhindern oder zumindest bestehende Risiken nach besten Kräften zu minimieren .131 Aus dem Schädigungsverbot erwachsen Sorgfaltspflichten wie z.B. kontinuierliche Überwachung oder Kontrollen risikoreicher Tätigkeiten, Risikobewertungen, Notfallpläne, Informationsaustausch , die Meldung risikobewehrter Vorfälle sowie internationale Zusammenarbeit.132 Ein Mangel an Kapazitäten entschuldigt kein Fehlverhalten. Maßnahmen, die ein Staat zur Erfüllung seiner Sorgfaltspflichten ergreift, müssen zudem im Einklang seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen. 129 ILC Daft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities, with commentaries 2001, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_7_2001.pdf. 130 Vgl. ILA Study Group on Due Diligence in International Law, Second Report, Juli 2016, https://www.researchgate.net/publication/306481726_ILA_Study_Group_on_Due_Diligence_in_International_L aw_-_Second_Report. Jelena Bäumler, Das Schädigungsverbot im Völkerrecht, Heidelberg: Springer 2017, S. 293. Coco / de Souza Dias, „Part I: Due Diligence and COVID-19: States’ Duties to Prevent and Halt the Coronavirus Outbreak”, Blog of the European Journal of International Law, 24. März 2020, https://www.ejiltalk.org/part-idue -diligence-and-covid-19-states-duties-to-prevent-and-halt-the-coronavirus-outbreak/. 131 Vgl. Draft Articles on Prevention, Article 3 and Commentary: „Article 3. Prevention: The State of origin shall take all appropriate measures to prevent significant transboundary harm or at any event to minimize the risk thereof.” 132 Jelena Bäumler, Das Schädigungsverbot im Völkerrecht, Heidelberg 2017, S. 292 f. Coco / de Souza Dias, „Part I: Due Diligence and COVID-19: States’ Duties to Prevent and Halt the Coronavirus Outbreak”, Blog of the European Journal of International Law vom 24. März 2020, https://www.ejiltalk.org/parti -due-diligence-and-covid-19-states-duties-to-prevent-and-halt-the-coronavirus-outbreak/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 39 6. Verpflichtung zur Kooperation Die Pflicht der Staaten zur Kooperation – gewissermaßen der operative Kern des Solidaritätsprinzips (dazu 7.) – bildet eines der rechtlichen Fundamente des internationalen Gesundheitsrechts .133 Bereits in den 1960er Jahren stellte der deutsch-amerikanische Völkerrechtler Wolfgang Friedmann134 fest, dass sich das Völkerrecht der Koexistenz zu einem Völkerrecht der Kooperation weiterentwickelt habe.135 Die Pflicht der Staaten zur Kooperation gehört heute zu den Prinzipien des internationalen Rechts136 und findet sich, ausgehend von der in Art. 1 Ziff. 3 i.V.m. Art. 56 der VN-Charta niedergelegten allgemeinen Zusammenarbeitspflicht, in zahlreichen Vertragstexten und Rechtsregimen – vom Weltraum-, über das Umwelt- und Wirtschaftsrecht bis hin zum Menschenrechtsschutz. Im internationalen Gesundheitsrecht entwickelten sich seit der internationalen Sanitätskonferenz von Paris 1851 kooperative Ansätze zur Eindämmung von Pest und Cholera sowie der Verabschiedung eines einheitlichen maritimen Quarantänekodex.137 Mit den drei internationalen Sanitätskonventionen von 1892, 1897 und 1933 wurde der Infektionsschutz endgültig zu einer zwischenstaatlichen Angelegenheit. 6.1. Internationale Gesundheitsvorschriften Die Internationalen Gesundheitsvorschriften konkretisieren das völkerrechtliche Kooperationsgebot auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge und Pandemiebekämpfung. Die IGV bilden dabei den Rechtsrahmen für eine Koordination des internationalen Gesundheitsmanagements durch die WHO, die auf Kooperation der Staaten angewiesen ist. Art. 44 IGV verpflichtet die Vertragsstaaten – soweit möglich – zur Zusammenarbeit untereinander in folgenden Bereichen: 133 Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 181 ff. 134 Wolfgang Gaston Friedmann (geb. 1907 in Berlin, gest. 1972 in New York), emigrierte 1934 nach London; zuletzt Professor für Internationales Recht an der Columbia University NYC. Die Juristische Fakultät der Columbia University verleiht zum Gedenken an Wolfgang Friedmann seit 1975 den Wolfgang Friedmann Memorial Award für herausragende Leistungen im Bereich des internationalen Rechts. 135 Friedmann, The Changing Structure of International Law, London: Steven & Sons 1964. 136 Wolfrum, Rüdiger, „Cooperation, International Law of”, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: April 2010, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1427?prd=EPIL. 137 Vgl. näher Makane Moïse Mbengue, „Public Health, International Cooperation”, Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: August 2010, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e527?rskey=3wMjM4&result=4&prd=MPIL. David P. Fidler, “From International Sanitary Conventions to Global Health Security: The new International Health Regulations”, in: Chinese Journal of International Law 2005, S. 325-392 (377), abrufbar unter: https://www.repository.law.indiana.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1399&context=facpub. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 40 a) der Feststellung und Bewertung von pandemischen Ereignissen und der Reaktion auf diese; b) der Leistung oder Erleichterung technischer Zusammenarbeit und logistischer Unterstützung , vor allem bei der Schaffung, der Stärkung und der Aufrechterhaltung der nach diesen Vorschriften erforderlichen Kapazitäten zum Schutz der öffentlichen Gesundheit; c) der Erschließung finanzieller Mittel zur Erleichterung der Erfüllung ihrer Verpflichtungen aufgrund dieser Vorschriften. Die jeweils auf die wirtschaftlichen, finanziellen und logistischen Möglichkeiten und Kapazitäten beschränkten Verpflichtungen verlangen keine „Preisgabe staatlicher Ressourcen.“ Kein Staat ist verpflichtet, anderen Staaten auf die Gefahr hin, selber in eine Notlage zu geraten, eigene Kapazitäten zur Verfügung zu stellen – selbst wenn sich die Notlage im Nachhinein (ex post) als nicht lebensbedrohend erweisen sollte. Ist Hilfe dagegen möglich, so ist sie auch rechtlich geboten . 6.2. Artikelentwürfe zum Schutz von Personen in Katastrophenfällen Allgemeine staatliche Kooperationsverpflichtungen finden sich auch in den Draft Articles on the Protection of Persons in the Event of Disasters138 (im Folgenden: Artikelentwürfe). Deren Anwendbarkeit auf eine Pandemie-Situation lässt sich angesichts der relativ weit gefassten Legaldefinition des Begriffes „disaster“ in Art. 3 (a) der Artikelentwürfe ohne weiteres annehmen.139 Die Artikelentwürfe wurden – ebenso wie die ILC-Artikelentwürfe zur Staatenverantwortlichkeit – von der International Law Commission (ILC) 2016 angenommen und spiegeln nach Auffassung einiger Völkerrechtler jedenfalls teilweise das Völkergewohnheitsrecht im Bereich des internationalen Katastrophenschutzrechts wider.140 Die Artikelentwürfe enthalten allgemeine – aber nicht über die IGV hinausgehende – Verpflichtungen zur gegenseitigen Kooperation im Katastrophenfall, die in Art. 8 konkretisiert werden: “Cooperation in the response to disasters includes humanitarian assistance, coordination of international relief actions and communications, and making available relief personnel, equipment and goods, and scientific, medical and technical resources.” 138 Text mit Kommentierungen abrufbar unter: https://legal.un.org/docs/?path=../ilc/texts/instruments/english/commentaries/6_3_2016.pdf&lang=EF. 139 Der Begriff “disaster” wird dort definiert als katastrophales Ereignis, das zu weitverbreiteten Todesfällen, großem menschlichem Leid und großer Not führt (calamitous event resulting in widespread loss of life, great human suffering and distress). 140 Talita de Souza Dias / Antonio Coco, “Due Diligence and COVID-19: States’ Duties to Prevent and Halt the Coronavirus Outbreak (Part II)”, Blog of the European Journal of International Law, 25. März 2020, https://www.ejiltalk.org/part-ii-due-diligence-and-covid-19-states-duties-to-prevent-and-halt-the-coronavirusoutbreak /. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 41 7. Verpflichtung zur Solidarität 7.1. Rechtscharakter Über Solidarität zwischen den Staaten und den Menschen untereinander wird in der Corona- Krise viel gesprochen.141 Bereits in den späten 1970er Jahren hat der tschechisch-französische Völkerrechtler Karel Vašák142 mit seinem Konzept der „Drittgenerationsrechte“143 eine Diskussion über die sog. Solidaritätsrechte (solidarity rights) angestoßen.144 „Solidarität“ ist heute ein im Entstehen begriffenes Prinzip des Völkerrechts,145 das u.a. im Flüchtlings- und Menschenrechtsregime, im Umweltvölkerrecht, im internationalen Katastrophenschutzrecht oder im internationalen Gesundheitsrecht Niederschlag gefunden hat. Unter dem „Dach“ des Solidaritätsprinzips existieren heute – neben einer Vielzahl von politischen Forderungen – auch vertraglich bzw. gewohnheitsrechtlich verbürgte staatliche Kooperationspflichten : Eine Pflicht der Vertragsstaaten des VN-Sozialpakts zu internationaler Kooperation und Unterstützung folgt bereits aus Art. 2 Abs. 1 IPwskR;146 eine Pflicht zur Kooperation ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3, Art. 2, Art. 55 und 56 VN-Charta sowie aus der Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation among States der UN- Generalversammlung aus dem Jahr 1970.147 141 Ling Chen / Vushakha Wijenayake, “Look for everyday solidarity. International Law in pandemic times”, Völkerrechtsblog, 25. Mai 2020, https://voelkerrechtsblog.org/look-for-everyday-solidarity/. 142 Karel Vašák (1929-2015), Völkerrechtsberater der UNESCO; von 1969-1980 Generaldirektor des vom Friedensnobelpreisträger René Cassin gegründeten International Institute for Human Rights, Straßburg. 143 Vgl. dazu näher Armin Barthel, Die Menschenrechte der dritten Generation, Aachen 1991. Mit Blick auf die „digitale Existenz“ des Menschen wird heute bereits von einer vierten Menschenrechtsgeneration gesprochen, vgl. «Los derechos humanos de tercera y cuarta generación », online abrufbar: http://www.encuentrojuridico.com/2013/01/los-derechos-humanos-de-tercera-y.html. 144 Vgl. dazu Domaradzki / Khvostova / Pupovac, “Karel Vasak’s Generations of Rights and the Contemporary Human Rights Discourse”, in: Human Rights Review Vol. 20 (2019), S. 423-443, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s12142-019-00565-x.pdf. 145 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 303. Vgl. aus der kaum mehr überschaubaren Literatur: Peter Hilpold, „Solidarität als Rechtsprinzip – völkerrechtliche , europarechtliche und staatsrechtliche Betrachtungen“, in: JöR Bd. 55 (2007), S. 195ff., https://www.peterhilpold.com/wp-content/uploads/2017/04/Solidarit%C3%A4t-J%C3%B6R.pdf. Carozza/Crema, “On Solidarity in International Law”, 2014, online abrufbar unter: https://www.fciv.org/downloads/Carozza%20Crema.pdf. Vgl. auch die Draft declaration on the right to international solidarity, die zahlreiche Kooperations- und Solidaritätsverpflichtungen der Staaten enthält, https://www.ohchr.org/Documents/Issues/Solidarity/DraftDeclarationRightInternationalSolidarity.pdf. 146 Saul/Kinley/Mowbray, ICESCR, Commentary, Oxford Univ. Press 2014, Art. 12, S. 1034. 147 “Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations”, New York, 24 October 1970, https://www.un.org/ruleoflaw/files/3dda1f104.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 42 Letztere wird heute als Teil des Völkergewohnheitsrechts angesehen.148 Der VN-Sozialausschuss hält die Verpflichtung zur Kooperation bereits für ein etabliertes Prinzip des Völkerrechts.149 Nicht zuletzt das internationale Gesundheitsrecht hat sich die Prinzipien von Kooperation und Solidarität zu Eigen gemacht und „Gesundheit“ als common concern and responsibility etabliert.150 Bereits die – völkerrechtlich unverbindliche – Präambel der WHO-Satzung von 1946 ist vom Gedanken globaler Solidarität getragen. Dort heißt es: „Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab. Die von jedem einzelnen Staate in der Verbesserung und dem Schutz der Gesundheit erzielten Ergebnisse sind wertvoll für alle. Ungleichheit zwischen den verschiedenen Ländern in der Verbesserung der Gesundheit und der Bekämpfung der Krankheiten, insbesondere der übertragbaren Krankheiten, bildet eine gemeinsame Gefahr für alle. Für die Erreichung des besten Gesundheitszustandes ist es von besonderer Bedeutung, dass die Erkenntnisse der medizinischen (…) Wissenschaften allen Völkern zugänglich sind.“ 7.2. Konkretisierung durch internationale Organe Der VN-Menschenrechtsausschuss hat in seiner Resolution vom 15. August 2008 den Grundsatz der Solidarität konturiert:151 “International solidarity and international cooperation are based on the foundation of shared responsibility. In the broadest sense, solidarity is a communion of responsibilities and interest between individuals, groups and States, connected by the ideal of fraternity and the notion of cooperation. The relationship between international solidarity and international cooperation is an integral one, with international cooperation as a core vehicle by which collective goals and the union of interests are achieved.” 148 Rüdiger Wolfrum, “Cooperation, International Law of”, Max Planck Encyclopedias of International Law, Stand: April 2010, Rn. 13, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law- 9780199231690-e1427?prd=EPIL. Lawrence O. Gostin, Global Health Law, Harvard Univ. Press, Cambridge 2014, S. 251. 149 UN CESCR, General Comment No. 3 (1990), Rn. 14, https://www.refworld.org/pdfid/4538838e10.pdf. 150 Samantha Besson, “COVID-19 and the WHO’s Political Moment,” Blog of the European Journal of International Law, 25. Juni 2020, https://www.ejiltalk.org/covid-19-and-the-whos-politicalmoment /?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2. 151 UN-Dok. A/HRC/9/10, 15. August 2008, “Human rights and international solidarity”, Rdnr. 6, https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G08/151/04/PDF/G0815104.pdf?OpenElement. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 43 Im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie rief der VN-Sozialausschuss zu internationaler Kooperation sowie zur Unterstützung derjenigen Staaten auf, die von den Folgen des Ausbruchs besonders schwer betroffen sind und über nur schwache Gesundheitssysteme verfügen:152 „Particularly as the virus spreads to developing countries and countries with weaker health systems, countries should cooperate regionally and internationally to confront this global problem together. States parties to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights have to cooperate with other States to complement national programmes to promote economic, social and cultural rights. International cooperation can occur bilaterally or multilaterally, through the UN and through international financial institutions , to mitigate the impact of the pandemic (…). Enhanced international cooperation should increase the preparedness of States and of international organizations, especially WHO, to respond to pandemics, for instance by sharing scientific information on potential pathogens. It should also improve early warning mechanisms, based on timely and transparent information provided by States on emerging epidemics that have the potential to become pandemics. This would allow early interventions, based on the best scientific evidence, aimed at controlling these epidemics and preventing them from becoming a pandemic. If a pandemic develops, sharing the best scientific knowledge and its applications, especially in the medical field, becomes crucial to mitigate the impact of the disease and to expedite the discovery of effective treatments and vaccines. Furthermore, in the aftermath of the pandemic, scientific research should be promoted to learn lessons and increase preparedness for possible pandemics in the future.“153 Wegweisend für die Weiterentwicklung und Konkretisierung des Solidaritätsprinzips in der Pandemie erscheint schließlich die – völkerrechtlich nicht verbindliche – Resolution der VN- Generalversammlung vom 2. April 2020,154 in der zur weltweiten Solidarität in der Corona-Krise ausgerufen wird. Darin bekräftigt die Generalversammlung ihr Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit und zum Multilateralismus sowie ihre nachdrückliche Unterstützung für die zentrale Rolle des Systems der Vereinten Nationen bei der globalen Reaktion auf die Pandemie der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19) (Ziff. 1). Die Generalversammlung fordert ferner eine verstärkte internationale Zusammenarbeit, um die Pandemie einzudämmen, abzuschwächen und zu besiegen, unter anderem durch den Austausch von Informationen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und bewährten Verfahren sowie durch die Befolgung der von der Weltgesund- 152 UN CESCR, „Statement on the coronavirus disease (COVID-19) pandemic and economic, social and cultural rights” vom 17. April 2020, E/C.12/2020/1, Rn. 23, https://undocs.org/E/C.12/2020/1. 153 UN CESCR Statement „COVID-19: UN Experts call for international solidarity to alleviate financial burdens of developing countries and the most vulnerable”, vom 7. April 2020, https://reliefweb.int/report/world/covid-19- un-experts-call-international-solidarity-alleviate-financial-burdens. 154 Resolution der Generalversammlung, verabschiedet am 2. April 2020, A/RES/74/270, „Weltweite Solidarität zur Bekämpfung der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19)“, https://www.un.org/Depts/german/gv- 74/band3/ar74270.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 44 heitsorganisation empfohlenen einschlägigen Leitlinien (Ziff. 5). Und sie fordert das System der Vereinten Nationen unter der Führung des Generalsekretärs auf, mit allen maßgeblichen Akteuren zusammenzuarbeiten, um ein koordiniertes globales Vorgehen gegen die Pandemie und ihre nachteiligen sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen auf alle Gesellschaften zu mobilisieren (Ziff. 9). 7.3. Exportverbote für Gesundheitsgüter Mit der Pflicht zur Solidarität schwer in Einklang zu bringen sind US-Exportverbote für Corona- Test-Kits an besonders betroffene Staaten. In den Blick geraten dabei der Iran oder Russland sowie Entwicklungsländer wie Myanmar und Pakistan aufgrund der bestehenden Wirtschaftssanktionen . Aus diesem Grund durfte etwa das Berliner Labor TIB Molbiol, welches das erste Corona- Test-Kit entwickelte und herstellte,155 trotz Beststellungen aus diesen Staaten die Test-Kits nicht exportieren.156 Zwar sieht das US-Sanktionsregime Ausnahmen beim Export humanitärer Güter vor (z.B. bestimmte Impfstoffe und medizinischer Geräte), worunter nach Angaben des USamerikanischen Department of Treasury auch „legitimate humanitarian-related trade“ fallen soll.157 Die Behörde listet Ausnahmen wie Schutzmasken, Handschuhe und Beatmungsgeräte auf; Corona-Test-Kits sind jedoch davon nicht explizit umfasst.158 Für die Ausfuhr entsprechender Güter ist nach US-Recht eine Sondergenehmigung erforderlich. Daher führen die US-Sanktionen dazu, dass der Export von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung in diese Staaten langsam , teuer und kompliziert ist.159 Die rechtliche Unsicherheit über die Ausnahmepraxis der USA führt aber dazu, dass zahlreiche deutsche Lieferanten Geschäfte mit den betreffenden Staaten aus Angst, gegen die Sanktionen zu verstoßen, scheuen. Angesichts ihrer Bedeutung für die Eindämmung der Infektionskrankheit stehen Exportverbote von COVID-19-Tests prinzipiell in Widerspruch zu den gesundheitsrechtlich und menschenrechtlich abgestützten Kooperationsund Solidaritätspflichten der Staaten in der Pandemie. Der VN-Sozialausschuss kritisierte schon 155 Der Gründer des genannten Berliner Labors warnte bereits Anfang Februar 2020 vor den möglichen Folgen der Covid-19-Epidemie. Er habe zahlreiche Bestellungen von Corona-Test-Kits aus dem gesamten asiatischen Raum erhalten, was ihn darauf schließen ließ, dass sich das Virus weiter ausbreiten werde. Vgl. Tagesspiegel vom 6. März 2020, „Berliner Firma produziert Coronavirus-Tests für die ganze Welt“, https://www.tagesspiegel.de/berlin/tib-molbiol-berliner-firma-produziert-coronavirus-tests-fuer-die-ganzewelt /25602142.html. 156 DW vom 20.März 2020, „Corona-Tests: Maschinen auf Hochtouren“, https://www.dw.com/de/corona-testsmaschinen -auf-hochtouren/a-52853100. 157 US Department of the Treasury, Washington, D.C., Office of Foreign Assets Control, Fact Sheet: Provision of Humanitarian Assistance and Trade to Combat COVID-19 Date, April 16, 2020, https://www.treasury.gov/resource-center/sanctions/Programs/Documents/covid19_factsheet_20200416.pdf. 158 US Department of the Treasury, Washington, D.C., Office of Foreign Assets Control, Fact Sheet: Provision of Humanitarian Assistance and Trade to Combat COVID-19 Date, April 16, 2020, S. 2, https://www.treasury.gov/resource-center/sanctions/Programs/Documents/covid19_factsheet_20200416.pdf. 159 NZZ vom 10. April 2020 „Das Coronavirus verschärft den Streit um die Iran-Sanktionen“, https://www.nzz.ch/international/die-epidemie-verschaerft-den-streit-um-die-iran-sanktionen-ld.1550905. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 45 früher Embargos, welche die Versorgung eines anderen Staates mit geeigneten Medikamenten und medizinischer Ausrüstung beeinträchtigen.160 7.4. COVID-19-Impfstoff als globales Gut Das völkerrechtliche Solidaritätsprinzip überwölbt auch die Diskussion um die globale Verwertung und Zugänglichmachung eines – derzeit in der Entwicklung befindlichen – Impfstoffes gegen COVID-19.161 Dabei stoßen „Profitinteressen“ der Pharmaindustrie (Patentschutz, geistiger Eigentumsschutz, Aktionärsinteressen) und Weltgesundheit aufeinander. Würde man die Verteilung eines künftigen Impfstoffes den Kräften des Marktes überlassen, wäre nicht auszuschließen, dass reiche Nationen bevorzugt beliefert würden, weil sie höhere Preise zahlen könnten.162 David P. Fidler, Experte für internationales Gesundheitsrecht am Council for Foreign Relations,163 analysiert den strategischen Vorteil reicher Industriestaaten im internationalen Gesundheitssystem: “Developing countries provided information and virus samples to the WHO-operated system ; pharmaceutical companies in industrialized countries then obtained free access to such samples, exploited them, and patented the resulting products, which the developing countries could not afford”.164 Gleichwohl existieren diplomatische Bemühungen, politische Vorschläge und rechtliche Ansätze, um die faire Verteilung eines künftigen COVID-19-Impfstoffes sicherzustellen. 160 Michael Krennerich, Soziale Menschenrechte – Zwischen Recht und Politik, 2013, S. 223. 161 Helene Bubrowski, „Corona-Impfstoff für alle?: Forscherdrang und Machtkampf“, FAZ.net vom 21. Mai 2020, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wird-die-welt-einen-corona-impfstoff-solidarisch-teilen- 16777577.html und „Wer macht das Impfstoffrennen“, in: FAZ vom 20. Mai 2020, S. 8. DW vom 4. Mai 2020, „Corona-Impfstoff: Zwischen Profitinteressen und Weltgesundheit“, https://www.dw.com/de/beim-wettlauf-um-coronavirus-impfstoff-sto%C3%9Fen-profitinteressen-auf-denzustand -der-weltgesundheit/a-53277751. Elizabeth Sidiropoulos (vom South African Institute of International Affairs), “Are States Ready to Commit to Providing Global Public Goods?”, Institut Montaigne, Blog vom 10. April 2020, https://www.institutmontaigne.org/en/blog/are-states-ready-commit-providing-global-public-goods. 162 Vgl. in diesem Sinne auch die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDIS 90/ DIE GRÜNEN vom 29. April 2020, BT- Drs. 19/18868, „Internationale Forschungskoordination zur Entwicklung von Impfstoffen, Diagnostika und Therapeutika gegen COVID-19“, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/188/1918868.pdf. 163 Der Council on Foreign Relations (CFR) ist ein privater US-Think Tank mit Fokus auf außenpolitische Themen. Der CFR, mit Sitzen in New York City und Washington, wurde 1921 in New York gegründet. Dem CFR wird eine herausragende Funktion im Formulierungsprozess außenpolitischer Strategien zugesprochen und er gehört zusammen mit Chatham House und Carnegie Endowment for International Peace zu den weltweit einflussreichsten privaten Think Tanks. 164 David P. Fidler, “Influenza Virus Samples, International Law, and Global Health Diplomacy”, in: 14 EMERGING INFECTIOUS DISEASE J. 2008, S. 88, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2600156/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 46 So plant die EU, im Rahmen einer Online-Geberkonferenz zunächst 7,5 Milliarden Euro (8 Milliarden Dollar) einzusammeln, um die weltweite Finanzierungslücke des Global Preparedness Monitoring Board (GPMB) und anderer Organisationen zu kompensieren. Mit dem Geld könnte eine globale Beschaffungsagentur für Impfstoffe und Medikamente ins Leben gerufen werden, welche die Impfstoffe nach einem vereinbarten Schlüssel fair verteilt.165 Der chinesische Präsident Xi Jinping versprach auf der Jahresversammlung der WHO, dass China den Impfstoff auch ärmeren Ländern zur Verfügung stellen würde, wenn einem chinesischen Forscherteam der Durchbruch bei der Entwicklung gelänge.166 UNO-Generalsekretär António Guterres hat angesichts von COVID-19 zur weltweiten Solidarität und Kooperation aufgerufen und den (künftigen) Impfstoff gegen Corona bereits jetzt zum "globalen öffentlichen Gut" (global public good) erklärt;167 dem hat sich Bundeskanzlerin Merkel in einer politischen Erklärung angeschlossen.168 Die Gesundheitsversammlung der WHO hat auf ihrer 73. Sitzung am 18. Mai 2020 einstimmig eine COVID-19-Resolution verabschiedet,169 die eine entsprechende, völkerrechtlich allerdings nicht verbindliche Erklärung enthält: „The World Health Assembly (…) recognizes the role of extensive immunization against COVID-19 as a global public good for health in preventing, containing and stopping transmission in order to bring the pandemic to an end, once safe, quality, efficacious, effective, accessible and affordable vaccines are available.” 165 EU-Kommission, Ankündigung vom 3. Mai 2020, “ Nur die globale Antwort wirkt gegen das Virus“, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/AC_20_795. 166 Ärzteblatt vom 18. Mai 2020, „China will möglichen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 weltweit zur Verfügung stellen“, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/112945/China-will-moeglichen-Impfstoff-gegen-SARS-CoV-2- weltweit-zur-Verfuegung-stellen. 167 Vereinte Nationen, Policy Brief April 2020, “COVID-19 and Human Rights: We are all in this together”, S. 18 f., https://www.un.org/sites/un2.un.org/files/un_policy_brief_on_human_rights_and_covid_23_april_2020.pdf: “International cooperation, as well as flexible policies on intellectual property, to access the latest technology and research on potential treatments, including any future vaccine, are necessary to defeat this threat on a global scale. Treatment and vaccines must be considered a global public good.” 168 Presse-Statement von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen der WHO-Spenden-Videokonferenz vom 24. April 2020: https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pressestatement-von-bundeskanzlerin-merkel-imrahmen -der-who-spenden-videokonferenz-1746960: „Ich freue mich, dass sich die globalen internationalen Gesundheitsakteure zusammengeschlossen haben und ganz im Sinne des Sustainable Development Goal Nummer 3, der Gesundheit, hier eine Initiative ergriffen haben. Wir werden dieses Virus nur dann besiegen, wenn wir unsere Kräfte bündeln und eine schlagkräftige Allianz bilden. Ich stimme dem UN-Generalsekretär zu: Es handelt sich um ein globales öffentliches Gut, diesen Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen.“ 169 A73/CONF./1 Rev.1, “COVID-19 response”, 18. Mai 2020, https://apps.who.int/gb/ebwha/pdf_files/WHA73/A73_CONF1Rev1-en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 47 Das Konzept der “globalen öffentlichen Güter” (Global Public Goods, kurz: GPGs) hat sich seit der Jahrtausendwende zu einem Referenzrahmen in der globalen Umweltschutz-, Klimaschutzund Entwicklungspolitik entwickelt.170 GPGs bezeichnen dabei öffentliche Güter (wie Wasser und Luft), die sich nicht auf nationalstaatliche Grenzen beschränken, sondern weltweit nutzbar sein sollen. Das Konzept der GPGs erschöpft sich jedoch weitgehend in seinem politischen Appellcharakter im Kontext des Solidaritätsgebotes. Allein an die Tatsache, dass ein bestimmtes Gut – wie z.B. ein Impfstoff – politisch als „globales öffentliches Gutes“ qualifiziert wird, knüpfen sich keine völkerrechtlichen Rechtsfolgen. Das „GPG“ ist weder ein politisches „Gütesiegel“ noch kann es per se Privatisierungen, Aneignungen oder Ausbeutung rechtlich verhindern. Insbesondere für eine „gerechte“ globale Verteilung von Impfstoff existieren keine verbindlichen völkerrechtlichen Normen. Allerdings könnte die Qualifizierung eines künftigen COVID-19-Impfstoffes als „globales öffentliches Gut“ bei der Auslegung und Anwendung von nationalem Recht Relevanz entfalten, wenn es etwa darum geht, gesetzgeberische Ermessensspielräume „völkerrechtsfreundlich“ auszufüllen. Immerhin sieht das deutsche Recht im Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Patentschutz Regelungen vor, welche die wirtschaftlichen Individualinteressen zugunsten der öffentlichen Gesundheitsvorsorge zurückdrängen. Dazu zählt die staatliche Benutzungsanordnung von patentgeschützten Erfindungen,171 die in §13 des Patentgesetzes (PatG)172 geregelt, aber bis heute noch nicht zur Anwendung gekommen ist. Daneben ermöglichen es Zwangslizenzen (§ 24 PatG), Medikamente und Impfstoffe gegen den Willen des Patentinhabers lokal herzustellen und sie kostengünstiger abzugeben, was gerade für ärmere Entwicklungsländer von Bedeutung sein kann. Durch das im März 2020 geänderte Infektionsschutzgesetz (IfSchG)173 wird u.a. das Bundesgesundheitsministerium (BGM) ermächtigt, im Rahmen einer (vom Bundestag festzustellenden) 170 Begriffsprägend insoweit Kaul/Grunberg/Stern (Hrsg.), Global public goods: international cooperation in the 21st century, Oxford University Press, 1999. Jens Martens / Roland Hain, Globale öffentliche Güter, Working Paper, Heinrich Böll Stiftung, 2002 (25 Seiten), online abrufbar: https://www2.weed-online.org/uploads/gpg2002.pdf. Inge Kaul, “Global Public Goods. A concept for framing the Post-2015 Agenda?”, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik , Discussion Paper 2/2013, online: https://www.die-gdi.de/uploads/media/DP_2.2013.pdf. 171 Zu den Patenten, die in der Corona-Krise relevant werden können, zählen neben Impfstoffen – sofern sie in Deutschland patentiert werden sollen – auch die Herstellung von Ersatzteilen für Beatmungsgeräte durch 3D- Drucker oder COVID-19-Test-Kits u.a.m. 172 Patentgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1980 (BGBl. 1981 I, S. 1), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 8. Oktober 2017 (BGBl. I, S. 3546) geändert worden ist, https://www.gesetze-iminternet .de/patg/PatG.pdf. § 13 PatentG lautet: „Die Wirkung des Patents tritt insoweit nicht ein, als die Bundesregierung anordnet, dass die Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll. (…) Der Patentinhaber hat (…) gegen den Bund Anspruch auf angemessene Vergütung.“ 173 Vgl. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020, BGBl. I 2020, S. 587 ff., https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl120s0587.pdf%27% 5D__1590605353741. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 48 „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ nach § 5 IfSchG Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten, Labordiagnostik usw. zu ergreifen, Regelungen zu deren Abgabe, zur Preisbildung u.a. vorzusehen sowie die Anordnung nach §13 PatG zu treffen. Patentrechtler sprechen angesichts der neuen Rechtslage von „schweren Zeiten“ für Patentinhaber.174 Hinsichtlich der spezifisch patentrechtlichen bzw. verfassungsrechtlichen Fragen (Sozialbindung des Eigentums gem. Art. 14 Abs. 2 GG) sei an dieser Stelle auf einschlägige Rechtsanalysen verwiesen.175 Völkerrechtlich sind (grenzüberschreitende) Zwangslizenzen der WTO-Mitgliedstaaten nach Maßgabe des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS-Agreement)176 möglich. Entwicklungsländer, die über keine eigene Pharmaindustrie verfügen, können somit billige Medikamente importieren, die in Drittländern unter Zwangslizenz hergestellt wurden.177 8. Verpflichtung zur Transparenz Ähnlich wie das Vorsorgeprinzip entstammt auch das Transparenzprinzip, das bislang wohl noch kein Gewohnheitsrecht darstellt, dem Umweltrecht sowie den Grundsätzen nachhaltiger Entwicklung. Davon umfasst sind z.B. Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit sowie Anspruch auf Zugang zu Information.178 Insbesondere die Erfüllung von staatlichen Melde- und Berichtspflichten gegenüber der WHO muss vom Gedanken der Transparenz getragen sein, um pandemische Entwicklungen frühzeitig erkennen und eindämmen zu können. 8.1. Epidemiologische und politische Herausforderungen Transparenz herzustellen fällt nicht immer leicht. Die Coronakrise hat deutlich gemacht, dass Zahlen, Parameter (z.B. die epidemiologische Nettoreproduktionszahl R) und Statistiken, selbst wenn diese auf seriöser Grundlage erstellt werden (z.B. durch das Robert Koch-Institut oder die Johns-Hokins-Universität), das Infektionsgeschehen allenfalls annähernd abbilden können. 174 Vgl. näher Kirsch/Zeman, „Schwere Zeiten für Patentinhaber“, Legal Tribune online (LTO) vom 30. April 2020, https://www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/infektionsschutzgesetz-coronapandemie-patente-medizinanordnung -gesundheitsministerium-interesse-allgemeinheit-nutzung/. 175 Vgl. etwa Marvin Bartels, „Das Patentrecht und seine Zwangslizenz in der Coronakrise“, CR-online vom 25. März 2020, https://www.cr-online.de/blog/2020/03/25/das-patentrecht-und-seine-zwangslizenz-in-dercoronakrise /. Peter-Tobias Stoll, „Private Impfstoffentwicklung und öffentliches Interesse“, VerfBlog, 19. März 2020, https://verfassungsblog.de/private-impfstoffentwicklung-und-oeffentliches-interesse. 176 Text abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=LEGISSUM%3Ar11013. 177 Näher BMZ, https://www.bmz.de/de/themen/welthandel/welthandelssystem/WTO/TRIPS/index.html. 178 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019 Rdnr. 898. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 49 In vielen Staaten mangelt es dagegen an einer entsprechenden datentechnischen Infrastruktur zur Erfassung des Infektionsgeschehens. Zudem verbreiten sich über soziale Netzwerke Desinformation und fake news – eine Herausforderung , welche die Vereinten Nationen in Anlehnung an die Pandemie als „infodemic“ bezeichnen . So twitterte VN-Generalsekretär Guterres: “Our common enemy is COVID-19, but our enemy is also an ´infodemic` of misinformation”.179 Ähnlich wie der Kampf gegen das Virus muss dabei auch der Kampf gegen Desinformation menschenrechtliche Garantien (Meinungs- und Pressefreiheit ) im Blick behalten. Eine Pandemie stellt insoweit nicht nur eine Gesundheits- oder Wirtschaftskrise dar, sondern birgt vor allem auch die Gefahr einer Informations- und Kommunikationskrise.180 In der aktuellen COVID-19-Pandemie die Kommunikationskrise noch von einem politischen Konflikt – der sino-amerikanischen Rivalität181 – flankiert, überlagert und verstärkt. Dieser Konflikt manifestierte sich in der monatelangen politischen Unfähigkeit des VN-Sicherheitsrats, eine „Corona- Resolution“ zu verabschieden. Insbesondere die von den USA geforderte Aufnahme von Transparenzappellen in den Resolutionstext des VN-Sicherheitsrats fand keinen Konsens.182 8.2. Verpflichtung zur Veröffentlichung von Infiziertenzahlen Als ein praktisches Beispiel für die Verletzung von Transparenzpflichten erscheint der Fall „Brasilien“. Im Zuge der Ausbreitung der Corona-Pandemie in Brasilien verfügte die brasilianische Regierung am 7. Juni 2020, nicht mehr die Gesamtzahl aller Coronavirus-Todesfälle und Corona-Infektionen im Internet zu veröffentlichen. Das brasilianische Gesundheitsministerium entfernte dazu die Datensammlung, die die Entwicklung der vergangenen Monate aufzeigte, aus dem Netz. Publik gemacht werden sollte nur noch eine Zahl zu den vergangenen 24 Stunden. Brasiliens Präsident Bolsonaro twitterte, die Gesamtzahlen seien „nicht repräsentativ“ für die gegenwärtige Lage in Brasilien.183 Das „Ansinnen“ der brasilianischen Regierung löste nicht nur Proteste in der Zivilgesellschaft aus, sondern rief Medienberichten zufolge auch die Bundesstaa- 179 United Nations, Department of Global Communications, “UN tackles ‘infodemic’ of misinformation and cybercrime in COVID-19 crisis”, https://www.un.org/en/un-coronavirus-communications-team/un-tackling- %E2%80%98infodemic%E2%80%99-misinformation-and-cybercrime-covid-19. 180 So auch Pedro Villarreal, „The 2019-2020 novel coronavirus outbreak and the importance of good faith for international law“, Völkerrechtsblog vom 28. Januar 2020, https://voelkerrechtsblog.org/the-2019-2020-novelcoronavirus -outbreak-and-the-importance-of-good-faith-for-international-law/. 181 Barbara Lippert / Volker Perthes (Hrsg.), „Strategische Rivalität zwischen USA und China“, SWP-Studie 2020, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2020S01_lpt_prt_WEB.pdf 182 Tagesschau vom 9. Mai 2020, „Coronavirus-Resolution. USA sorgen für Eklat im UN-Sicherheitsrat“, https://www.tagesschau.de/ausland/usa-un-sicherheitsrat-resolution-101.html. 183 DW vom 7. Juni 2020, https://www.dw.com/de/brasilien-verschweigt-ab-sofort-corona-gesamtzahlen/a- 53716005. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 50 ten auf den Plan, die im Kampf gegen die Pandemie zum Teil wesentlich strengere Einschränkungen verhängt haben, als es die Regierung für richtig hält. Der Nationale Rat der Gesundheitssekretäre hatte angekündigt, die Daten fortan selbst zu veröffentlichen, statt sie wie bislang an das Gesundheitsministerium zur Veröffentlichung zu übermitteln.184 Presseberichten zufolge hatte offenbar auch der brasilianische Parlamentspräsident Rodrigo Maia eine Rückkehr zu der international üblichen statistischen Erfassung verlangt.185 Am 9. Juni 2020 verfügte das Oberste Gericht Brasiliens die Wiederherstellung von Transparenz bei der Statistik zur Erfassung von Corona-Infektionen.186 Der Staat sei nach Auffassung der Richter verpflichtet, der Gesellschaft die notwendigen Informationen zur Verfügung zu stellen. Das Gericht wies u.a. auf die katastrophalen Folgen der Pandemie für die Bevölkerung hin, wenn die Regierung nicht international anerkannten Maßnahmen wie die Erhebung, Prüfung, Speicherung und Offenlegung relevanter epidemiologischer Daten nachkomme.187 Daraufhin kündigte Brasiliens Präsident Bolsonaro an, künftig wieder detaillierte Daten zur Entwicklung der COVID-19- Pandemie in Brasilien zu veröffentlichen. Ungeachtet des Falles „Brasilien“ stellt sich die Frage nach einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Staaten, der Weltöffentlichkeit „ungeschminkte“ Zahlen über aktuellen Stand und Entwicklung der Pandemie im eigenen Land zur Verfügung zu stellen, die ein möglichst realitätsnahes Bild von der pandemischen Gesamtlage im Land vermitteln. Informationen, Zahlen und Statistiken über die pandemische Gesamtsituation einschließlich die entsprechenden Infiziertenzahlen und Angaben über die Zahl und Entwicklung von Todesopfern über einen längeren Zeitraum hinweg sind epidemiologisch unerlässlich, um das Pandemiegeschehen global abzubilden, transparent zu machen und um mögliche Infektionswege nachverfolgen zu können. Eine regelrechte „Pflicht zur Transparenz“ ist dem Völkerrecht nicht ohne weiteres entnehmen. Gleichwohl lässt sich die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Infiziertenzahlen im Hinblick auf das internationale Gesundheitsrecht und die Menschenrechte normativ abstützen. 184 DW vom 9. Juni 2020, „Brasiliens Kampf um die Corona-Zahlen“, https://www.dw.com/de/brasiliens-kampfum -die-corona-zahlen/a-53735754. 185 TAZ vom 6. Juni 2020, „Brasiliens Coronastatistik: Keine Zahlen – keine Vorwürfe“, https://taz.de/Brasiliens- Coronastatistik/!5690825/. 186 Urteil des Gerichts ist in portugiesischer Sprache abrufbar unter: http://www.stf.jus.br/arquivo/cms/noticiaNoticiaStf/anexo/ADPF690cautelar.pdf. 187 Deutschlandfunk vom 9. Juni 2020, „Oberstes Gericht verfügt Veröffentlichung von Corona-Zahlen“, https://www.deutschlandfunk.de/brasilien-oberstes-gericht-verfuegt-veroeffentlichungvon .1939.de.html?drn:news_id=1139382. FAZ vom 9. Juni 2020, „Brasilien muss seine Corona-Zahlen veröffentlichen“, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/brasilien-muss-seine-corona-zahlen-veroeffentlichen- 16807532.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 51 Die Meldepflichten der WHO-Mitgliedstaaten nach Art. 6 IGV greifen hier allerdings zu kurz, denn sie beziehen sich nur auf die Ereignisse zu Beginn eines möglichen Ausbruchs einer epidemischen Krise in einem bestimmten Land – nicht dagegen auf die (fortlaufende) Informationsverpflichtung eines später betroffenen Staates im Zuge eines fortgeschrittenen Pandemiegeschehens . Einschlägig erscheint aber die Kooperationspflicht aus Art. 44 Abs. 1 IGV, wonach sich die Staaten „bei der Feststellung von Ereignissen“ – dazu zählt auch die statistische Erfassung der Pandemiesituation in jedem einzelnen betroffenen Land – zur Zusammenarbeit verpflichten. Die Verpflichtung besteht ausdrücklich nur „soweit möglich“ und nimmt damit Rücksicht auf Staaten , die womöglich über keine ausreichenden technischen Möglichkeiten zur statistischen Erfassung von Gesundheitsdaten verfügen. Art. 8 der ILC-Artikelentwürfe zum Schutz von Personen in Katastrophenfällen (2016) sieht explizit eine Verpflichtung zur „coordination of (…) communications“ vor, die sich auf das Teilen und den Austausch von katastrophenbezogenen Informationen bezieht. Die Kommentierung zu den ILC-Artikelentwürfen188 weist darüber hinaus auf die sog. Tampere Convention von 1998 hin, die sich u.a. auch mit Fragen der Kommunikation und des Informationsaustausches in Katastrophenfällen befasst.189 Schließlich lässt sich eine Verpflichtung zur Veröffentlichung von Pandemiestatistiken aus dem Menschenrecht auf Gesundheit herleiten. Nach Art. 12 VN-Sozialpakt darf ein Staat relevante und ggf. lebenswichtige Gesundheitsinformationen, etwa mit Blick auf Ansteckungsschutz oder Seuchenprävention weder zurückhalten noch verfälschen.190 188 Draft articles on the protection of persons in the event of disasters, with commentaries, https://legal.un.org/docs/?path=../ilc/texts/instruments/english/commentaries/6_3_2016.pdf&lang=EF. 189 Tampere Convention on the Provision of Telecommunication Resources for Disaster Mitigation and Relief Operations vom 18. Juni 1998, https://www.itu.int/en/ITU-D/Emergency- Telecommunications/Documents/Tampere_Convention/Tampere_convention.pdf, Art. 3 der Tampere Convention nimmt explizit Bezug auf “the sharing of information about health hazards and the dissemination of such information to the public”. Die Tampere-Konvention ist u.a. von Deutschland, Brasilien , Russland und den USA zwar unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert worden, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXV- 4&chapter=25&lang=en&clang=_en. 190 Michael Krennerich, Soziale Menschenrechte – Zwischen Recht und Politik, Schwalbach/Ts. 2013, S. 210. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 52 9. Die völkerrechtlichen Pflichten der Staaten in der Pandemie als Ausdruck staatenübergreifender Solidarität und globaler Reziprozität Führt man die pandemiebedingten Sorgfalts-, Berichts-, Melde- und Informationspflichten der Staaten auf ihren gesundheitsrechtlichen Kerngehalt bzw. auf ihr Telos (griech.: Sinn und Zweck) zurück, so konkretisieren sie in unterschiedlicher Weise eine „altruistische Prinzipientrias “ aus Solidarität, Kooperation und Transparenz.191 Internationale Kooperation und Solidarität gehören zu den rudimentären Postulaten des internationalen Gesundheitssystems; sie sind damit gleichsam Voraussetzung für eine effektive globale Pandemiebekämpfung. Das internationale Gesundheitssystem lebt – um das berühmte Böckenförde -Dilemma192 zu bemühen – gewissermaßen mit von den (vor)rechtlichen Voraussetzungen kooperativ-solidarischen Handelns, die es jedoch rechtlich nur sehr eingeschränkt garantieren kann und gegen den Willen der souveränen Staaten kaum durchzusetzen vermag. Gerade weil im internationalen Gesundheitsrecht so gut wie keine zwischenstaatlichen Sanktionsmechanismen existieren, bedarf es anderweitiger Triebfedern, Anreize und Kontrollmechanismen, um die Normbefolgung gewährleisten zu können. Dabei fällt der WHO, aber auch der (globalen) Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle zu. Von ihrer Struktur her handelt es sich bei den Pflichten der Staaten in der Pandemie – ähnlich wie bei Klimaschutzverpflichtungen – um kollektive und interdependente Verpflichtungen. Wesentliches Merkmal kollektiver Normstrukturen ist der Umstand, dass die Rechtstreue möglichst aller Staaten unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen des gemeinsamen Ziels ist. Kollektive Verpflichtungen konzentrieren sich also nicht auf das Verhältnis zu einem einzelnen Staat, sondern auf das Kollektiv der Staatengemeinschaft als Ganzes. Die einseitige Suspendierung einer kollektiven Verpflichtung – wie dies etwa Brasilien in Bezug auf die Transparentmachung der Infiziertenzahlen getan hat – berührt damit gleichzeitig auch die rechtlich geschützten Interessen aller anderen Staaten. Zu den Strukturelementen internationaler (Solidar-)Verpflichtungen im Völkerrecht gehört ferner der Grundsatz der Reziprozität.193 Kennzeichnend für Reziprozität ist die synallagmatische wechselbezügliche Erfüllungsstruktur des quid pro quo. Erst durch Gegenseitigkeit – um nicht zu sagen: wechselseitige Abhängigkeit – entstehen Beziehungen, gegenseitiges Vertrauen sowie mitmenschliche Solidarität und Kooperationsbereitschaft. 191 Das „Vorsorgeprinzip“, das eine menschenrechtlich abgestützte staatliche Verpflichtung zur Gesundheitsvorsorge zugunsten der eigenen Bevölkerung beinhaltet, trägt demgegenüber eher „egoistische“ Züge. 192 Böckenförde, Ernst Wolfgang, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 92–114 (112). Danach lebt der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Der Rechtsphilosoph Böckenförde (1930-2019) war von 1983 bis 1996 Richter am BVerfG. 193 Kleinlein, Thomas, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, Heidelberg: Springer 2012, S. 399, abrufbar unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-642-24884-9.pdf. Vgl. grundelegend Deceaux, Emmanuel, La réciprocité en droit international, Paris 1980, S. 61. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 038/20 Seite 53 Die Corona-Pandemie zeigt sich dabei als Krise, die der Menschheit ihre gegenseitige Abhängigkeit , aber auch ihre Zusammengehörigkeit vor Augen führt. Wo fast jede Person potentiell infiziert (und damit eine Gefahr) aber gleichzeitig auch potentiell schutzwürdig ist, erweist sich das Grundprinzip der Reziprozität als handlungsleitend für die Pandemieeindämmung und Pandemievorsorge . Innerhalb reziproker Strukturen ist die Erwartung, dass sich nicht nur der Mitmensch, sondern auch andere Staaten so verhalten wie man selbst, zentrales Motiv der Rechtsbefolgung. In dem Maße, in dem die Pflichten der Staaten in der Pandemie als Ausdruck staatenübergreifender Solidarität begriffen werden, wandelt sich die bilaterale Gegenseitigkeit zu einer wahrhaft globalen Reziprozität.194 Die aktuelle Pandemie hat die Solidarverpflichtungen einmal mehr ins Bewusstsein gerufen. Diese Pflichten gilt es, politisch einzufordern, rechtlich zu schärfen und – als Baustein zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts – dogmatisch weiterzuentwickeln. Die fortschreitende Konstitutionalisierung könnte dabei auch den eingangs konstatierten „krisenhaften“ Erscheinungsformen des Völkerrechts entgegenwirken. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat in diesem Zusammenhang auf ein Paradoxon der COVID-19-Pandemie aufmerksam gemacht. So hätte die Schließung staatlicher Grenzen sowie die Isolation der Bevölkerung uns Menschen gleichwohl kosmopolitischer denn je gemacht: „Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte reden die Menschen überall auf der Welt über dasselbe und teilen dieselben Ängste. (…) Es mag vielleicht nur für die Dauer dieses einen seltsamen Moments in unserer Geschichte sein, aber wir können nicht leugnen, dass wir gegenwärtig erleben , wie es sich anfühlt, eine gemeinsame Welt zu bevölkern.“195 *** 194 Kleinlein, Thomas, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, Heidelberg: Springer 2012, S. 340. 195 Ivan Krastev, „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“, Berlin: Ullstein 2020, S. 80.