Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 2 - 038/07 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasserin: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kurzinformation WD 2 - 038/07 Abschluss der Arbeit: 23. Februar 2007 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Internationales Recht, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg stellt die bedeutendste Einrichtung des Menschenrechtsschutzes in Europa dar. In einem Rechtsraum, der die 46 Mitgliedstaaten des Europarates mit über 800 Millionen Menschen umfasst, ist der EGMR der Wächter über die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (auch: Europäische Menschenrechtskonvention ; EMRK) sowie der Bewahrer der grundlegenden Rechte des Einzelnen.1 2. Der Europarat und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Die Satzung des Europarates, seinerzeit aus 10 Mitgliedstaaten bestehend, wurde am 5. Mai 1949 unterzeichnet. Die Bundesrepublik Deutschland ist seit dem 2. Mai 1951 Vollmitglied des Europarates. Nach Art. 1 lit. a seiner Satzung hat der Europarat die Aufgabe, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen“. Diese Obliegenheit wird unter anderem durch den Abschluss von internationalen Abkommen und durch gemeinsames Vorgehen auf dem Gebiet des Rechts erfüllt (vgl. Art. 1 lit. b der Satzung). Eines der wichtigsten Abkommen, die im Rahmen des Europarates verabschiedet wurden , ist die EMRK. Sie wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet und trat am 3. September 1953 in Kraft. Die EMRK war die erste regionale und völkerrechtlich verbindliche Menschenrechtskodifikation überhaupt. Sämtliche Europaratsmitglieder sind zugleich Vertragsparteien der EMRK. Gemäß Art. 3 der Satzung des Europarates anerkennt jedes Mitglied den Grundsatz, „dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll“.2 In der Praxis ist demzufolge die Unterzeichnung und die (alsbaldige) Ratifikation der EMRK eine Voraussetzung für den Beitritt zum Europarat.3 Die Gewährleistungen der EMRK umfassen elementare Menschenrechte wie das Recht auf Leben, das Verbot von Folter und Zwangsarbeit, den Schutz der persönlichen Freiheit, Verfahrensgrundrechte, spezielle Freiheitsrechte und das Recht auf Ehe und Familie. Weitere Rechte werden dem Einzelnen durch eine Reihe von Zusatzprotokollen eingeräumt. Hierbei sind insbesondere das 1 BT-Drs. 16/4062 v. 17. Januar 2007, S. 1. 2 Der innerstaatliche Rang der EMRK variiert zwischen den Mitgliedstaaten. In Deutschland haben die EMRK und ihre Zusatzprotokolle den Rang eines Bundesgesetzes; sie stehen damit in der Normenhierarchie unter dem Grundgesetz. 3 Peters, S. 1 f.; Meyer-Ladewig, S. 17 Rn. 1. - 4 - Protokoll Nr. 1 mit dem Schutz des Eigentums (Art. 1), dem Recht auf Bildung (Art. 2) und dem Recht auf freie Wahlen (Art. 3), das Protokoll Nr. 4 mit dem Recht auf Freizügigkeit (Art. 2) und dem Verbot der Kollektivausweisung (Art. 4) sowie das Protokoll Nr. 64 mit dem Verbot der Todesstrafe (Art. 1) hervorzuheben. Eine herausragende Bedeutung der EMRK besteht jedoch auch darin, dass auf ihrer Grundlage internationale Sicherungs- und Durchsetzungsmechanismen mit justizförmigen Verfahren geschaffen worden sind. 5 3. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 3.1. Historische Entwicklung 3.1.1. Das ursprüngliche Rechtsschutzsystem der EMRK Das Rechtsschutzsystem der EMRK bestand bis zum Jahr 1998 aus drei Organen: der „Menschenrechtskommission“ (Europäische Kommission für Menschenrechte), dem Gerichtshof (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) und dem Ministerkomitee des Europarates6. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hatte in einem ersten Verfahrensgang die Zulässigkeit einer Beschwerde zu prüfen. Dabei wurden insbesondere die Fälle ausgeschieden, die offensichtlich unbegründet waren, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Konventionsrechte lagen, in denen der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft war oder die Frist zur Einlegung einer Beschwerde nicht gewahrt wurde. Wurde der Fall jedoch nicht bereits (aus den genannten Gründen) für unzulässig erklärt, so fertigte die Kommission einen Bericht über die Frage an, ob eine Konventionsverletzung stattgefunden hat. Schließlich konnte der Gerichtshof angerufen werden. Das Recht dazu oblag jedoch nicht dem Beschwerdeführer selbst, sondern lediglich der Kommission und dem Vertragsstaat, dessen Staatsangehöriger der Verletzte war, der die Kommission mit dem Fall befasst hatte oder gegen den sich die Beschwerde richtete. Wurde der Gerichtshof nicht innerhalb einer Drei-Monats-Frist angerufen, entschied das Ministerkomitee, ob eine Verletzung stattgefunden hatte.7 Darüber hinaus war das Ministerkomitee dafür verantwortlich, dem Betroffenen gegebenenfalls eine 4 Das Protokoll Nr. 6 wird durch das Protokoll Nr. 13 ergänzt. 5 Herdegen, S. 345 f. Rn. 2. 6 Die Mitglieder des Ministerkomitees sind die jeweiligen Außenminister der Mitgliedstaaten bzw. deren Ständige Vertreter. 7 Grabenwarter, S. 41 Rn. 1 - 5 - gerechte Entschädigung zuzusprechen und die Umsetzung der Urteile des EGMR zu überwachen.8 3.1.2. Die Neuregelung des Rechtsschutzsystems der EMRK durch das 11. Protokoll Durch das Protokoll Nr. 11 zur EMRK9, das am 1. November 1998 in Kraft trat, wurde das Rechtschutzsystem der EMRK grundlegend geändert. Die Durchsetzung der Konventionsrechte wurde dem nunmehr ständigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als zentralem Kontrollorgan übertragen (vgl. Art. 19 EMRK). Damit wurde die Zweiteilung der Organe in Kommission und Gerichtshof abgelöst; die Ausführung der Urteile des EGMR wird allerdings weiterhin vom Ministerkomitee überwacht . Eine Reform war vor allem deswegen notwendig geworden, weil sich die Zahl der Vertragsstaaten seit dem Inkrafttreten der Konvention verdreifacht hatte und damit auch die Anzahl der Beschwerden erheblich anstieg.10 Ziel der Neuordnung war es, durch die Schaffung eines einzigen ständigen Gerichtshofes die Strukturen zu vereinfachen , um die Verfahrenslänge zu verkürzen und dabei gleichzeitig den gerichtlichen Charakter des Systems zu stärken. Darüber hinaus erlangte die Rechtsprechung des Gerichtshofes umfassende Verbindlichkeit, indem die Recht sprechende Rolle des Ministerkomitees abgeschafft wurde.11 3.2. Verfahren 3.2.1. Allgemeines Der EGMR entscheidet durch verschiedene Organe (Art. 27 EMRK). Rechtsprechend wird er auf drei Ebenen tätig: durch Ausschüsse mit 3 Richtern, durch Kammern mit 7 Richtern oder durch eine Große Kammer mit 17 Richtern. Die jeweiligen Zuständigkeiten sind in den Art. 28 bis 31 EMRK geregelt. Die Zusammensetzung der Kammern und Ausschüsse beruht auf einer Einteilung der Richter in (derzeit vier) verschiedene „Sektionen“. Wichtige Organe sind daneben der Präsident und das Plenum des Ge- 8 Europarat. Struktur und Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.coe.int/T/D/Menschenrechtsgerichtshof/geschichte.asp#Hintergrund. 9 Protokoll Nr. 11 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Einrichtung der Umgestaltung des Kontrollmechanismus’ betreffend, v. 11. Mai 1994 (ETS Nr. 155). 10 Hailbronner, in: Graf Vitzthum, S. 221 Rn. 249. 11 Europarat. Struktur und Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.coe.int/T/D/Menschenrechtsgerichtshof/geschichte.asp#Hintergrund. - 6 - richtshofes (Art. 26 EMRK), welche im Wesentlichen organisatorische Aufgaben erfüllen .12 Das Verfahren der Menschenrechtsbeschwerde ist in den Art. 33 bis 46 EMRK geregelt. Der Gerichtshof kann danach sowohl von den Mitgliedstaaten im Wege der Staatenbeschwerde gemäß Art. 33 EMRK als auch von Privatpersonen bzw. nicht-staatlichen Organisationen oder Vereinigungen im Wege der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 angerufen werden.13 3.2.2. Die Individualbeschwerde Die Bedeutung der EMRK für die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes beruht nicht zuletzt auf dem Individualbeschwerderecht und dem damit verbundenen effektiven Durchsetzungsmechanismus auf internationaler Ebene im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens. Seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK ist die Einräumung dieses Individualbeschwerderechts auch obligatorisch mit der Ratifikation der Konvention verbunden.14 So kann nach Art. 34 EMRK jede natürliche Person , nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe eine Individualbeschwerde mit der Behauptung erheben, durch eine Vertragspartei in einem ihrer in der EMRK oder in den Zusatzprotokollen anerkannten Rechte verletzt zu sein.15 Zur Zulässigkeit einer Individualbeschwerde ist insbesondere erforderlich, dass alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind (vgl. Art. 35 EMRK).16 3.2.3. Die Staatenbeschwerde Die Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK eröffnet jedem Mitgliedstaat der EMRK die Möglichkeit, den Gerichtshof wegen einer behaupteten Verletzung der Konvention und ihrer Protokolle durch einen anderen Mitgliedsstaat anzurufen. Der Zweck der Staatenbeschwerde besteht darin, der Staatengemeinschaft Europas eine Wächterfunktion 12 Grabenwarter, S. 42 f. Rn. 1. 13 Herdegen, S. 346 Rn. 3. 14 Allerdings können die Konventionsstaaten anlässlich der Ratifikation, aber nicht später, den Umfang der Verpflichtungen des Beschwerderechts durch Erklärungen und Vorbehalte nach Art. 56 und 57 EMRK einschränken. 15 Hailbronner, in: Graf Vitzthum, S. 221 Rn. 250. 16 In der Bundesrepublik Deutschland zählt zur innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung auch, dass der Beschwerdeführer wegen der Verletzung seiner Rechte erfolglos Verfassungsbeschwerde erhoben hat. Vgl. Auswärtiges Amt. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Europarat/EuropaeischerGerichtshofMenschenrechte .html. - 7 - hinsichtlich der Einhaltung des europäischen Menschenrechtsschutzes zuzuweisen.17 In der Praxis ist die Staatenbeschwerde von geringerer Bedeutung, zumindest was die Zahl der Verfahren anbelangt. Gleichwohl ist die (politische Wirkung) dieses Rechtsmittels nicht zu unterschätzen.18 3.3. Die Urteile des EGMR Der EGMR fällt ein Inter Partes wirkendes Feststellungsurteil.19 Dies bedeutet, dass die Entscheidung für die am Verfahren beteiligten Staaten völkerrechtlich verbindlich ist. Für die nicht beteiligten Staaten entfaltet das Urteil lediglich eine Orientierungswirkung .20 Der betroffene Konventionsstaat ist gemäß Art. 46 EMRK verpflichtet, dass Urteil zu befolgen: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen , in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofes zu befolgen“. Der Konventionsstaat ist folglich verpflichtet, (1) die Rechtsverletzung zu beenden, (2) Wiedergutmachung zu leisten und (3) gleichartige Verletzungen in Zukunft zu unterlassen . Wiedergutmachung bedeutet die weitestgehende Wiederherstellung des Zustandes, der vor der Konventionsverletzung geherrscht hat. Die Wahl der Mittel bleibt dabei dem betroffenen Staat überlassen.21 Gegebenfalls kann der EGMR der verletzten Partei nach Art. 41 EMRK auch eine gerechte Entschädigung zusprechen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass eine vollständige Wiedergutmachung durch den Vertragsstaat nicht möglich ist. Dabei ist der Ersatz sowohl materieller als auch immaterieller Schäden denkbar.22 Der EGMR hat weder die Kompetenz Rechtsnormen für nichtig zu erklären, noch die Möglichkeit, Urteile nationaler Gerichte aufzuheben, durch die Rechte der Konvention verletzt wurden. Die Aufhebung eines innerstaatlichen Gerichtsurteils ist nur in den Fällen der ausdrücklich geregelten Wiederaufnahme möglich. Im Falle der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR fand sich in Deutschland ein spezifischer Wiederaufnahmegrund bislang nur in der Strafprozessordnung hinsichtlich des Strafverfahrens (§ 359 Nr. 6 StPO). Durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22. Dezember 200623 wurde auch in die Zivilprozessordnung ein solcher Wiederaufnahme- 17 Villiger, Rn. 182. 18 Grabenwarter, S. 48 Rn. 2. 19 Peters, S. 253. 20 Heintschel von Heinegg, S. 548 Rn. 1159. 21 Peters, S. 253. 22 BMJ. Aufgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.bmj.bund.de/enid/EGMR/Europaeischer_Gerichtshof_fuer_Menschenrechte_t5.html 23 BGBl. I 2006, S. 3416. - 8 - grund eingefügt (vgl. § 580 Nr. 8 ZPO). Durch die Verweise auf die Wiederaufnahmegründe der Zivilprozessordnung wird sich diese Ergänzung auch auf andere Verfahrensordnungen auswirken (vgl. z.B. §§ 79 ArbGG, 153 VwGO, 179 SGG).24 Das Ministerkomitee des Europarates überwacht den Vollzug der Urteile des EGMR (vgl. Art. 46 Abs. 2 EMRK). Mittels dieser Verfahrensregelung ist sichergestellt, dass einem Rechtsspruch des EGMR gegen einen Vertragsstaat auf der politischen Ebene des Europarates solange nachgegangen wird, bis der verurteilte Staat die Umsetzung des Urteils meldet. Im Falle eines ausbleibenden Vollzugs wird der säumige Mitgliedstaat in der Regel durch sog. Interimsresolutionen vom Ministerkomitee aufgefordert, das Urteil zu vollziehen. Bisher hat es allerdings keinen Fall gegeben, in dem ein Mitgliedstaat des Europarates dauerhaft seine Verpflichtung zur Urteilsvollstreckung geleugnet bzw. diese verweigert hätte.25 3.4. Die Gutachten des EGMR Der EGMR kann auf Antrag des Ministerkomitees Gutachten über Rechtsfragen, die die Auslegung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle betreffen, erstatten (vgl. Art. 47-49 EMRK). Der Beschluss des Ministerkomitees, ein Gutachten beim Gerichtshof zu beantragen , bedarf der Stimmenmehrheit. Gutachten werden von der Großen Kammer erstellt und werden mit der Mehrheit der Stimmen angenommen. Jeder Richter kann dem Gutachten ein Sondervotum oder eine einfache Feststellung der Nichtzustimmung hinzufügen . 4. Ausblick und die geplante Reform des EGMR durch das Protokoll Nr. 14 Der EGMR lässt sich vom Ziel des effektiven Schutzes der Konventionsrechte, dem Verständnis der EMRK als „living instrument“ sowie dem Ziel der Konvention leiten, „Ideale und Werte der demokratischen Gesellschaft zu fördern“.26 Dabei hat die Rechtsprechung des Gerichtshofes den einzelnen (oftmals dynamisch ausgelegten) Konventionsbestimmungen sowie den Beschränkungsmöglichkeiten feste Konturen gegeben. 24 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz. Im Internet unter: http://www.bmj.bund.de/media/archive/1276.pdf. 25 Auswärtiges Amt. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.auwaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Europarat/EuropaeischerGerichtshofMenschenrechte .html. 26 EGMR, Mamatkulot ./. Türkei, EuGRZ 2003, S. 704 Ziff. 93. - 9 - Dabei lässt sich der Gerichtshof vom Ziel des effektiven Schutzes der Konventionsrechte , dem Verständnis der EMRK als „living instrument“ sowie dem Ziel der Konvention leiten, „Ideale und Werte der demokratischen Gesellschaft zu fördern“.27 Bei der Konkretisierung der Konvention als „living instrument“ berücksichtigt der EGMR auch das (Nicht-)Bestehen eines Konsenses unter den Konventionsstaaten über einen bestimmten menschenrechtlichen Standard. Das richterrechtlich geprägte Gefüge von Konventionsrechten und deren Schranken hält in seiner Subtilität auch dem Vergleich mit hoch entwickelten Grundrechtssystemen stand. Dies gilt auch für die Voraussetzungen hinsichtlich der Zulässigkeit von Beschränkungen der Konventionsrechte. So knüpft die EMRK die Einschränkungsmöglichkeiten der meisten Freiheitsrechten an eine gesetzliche Grundlage, an die Erforderlichkeit „in einer demokratischen Gesellschaft“ und an den Schutz bestimmter öffentlicher Interessen. Ähnlich wie in der deutschen Grundrechtsordnung spielt zudem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine bedeutende Rolle. Schließlich gewährt der EGMR den Vertragsstaaten bei seiner Handhabung einen gewissen Einschätzungsspielraum im Hinblick auf die besonderen lokalen oder nationalen Gegebenheiten.28 Trotz der Verankerung dieses effektiven Durchsetzungsmechanismus in der EMRK nimmt die Anzahl der Beschwerden (insbesondere der Individualbeschwerden) in einem solchen Maße zu, dass sie vom EGMR mit den ihm zur Verfügung stehenden personellen Ressourcen und unter Ausschöpfung der geltenden Bestimmungen kaum mehr bewältigt werden können. Mit dem Protokoll Nr. 14 zur EMRK, welches vom Lenkungsausschuss für Menschenrechte erarbeitet wurde, bisher aber noch nicht in Kraft getreten ist,29 soll das Verfahren vor dem EGMR reformiert werden, um den Gerichtshof zu entlasten und somit seine langfristige Funktionsfähigkeit zu sichern.30 Im Gegensatz zum 11. Zusatzprotokoll sieht das 14. Zusatzprotokoll keine grundlegende Umstrukturierung vor, sondern versucht vielmehr, dem Gerichtshof gezielt die nötigen Mittel zur effektiven Bearbeitung und gegebenenfalls schnellen Zurückweisung unzulässiger Beschwerden bereitzustellen. Die drei wesentlichen Änderungen des 14. Protokolls dienen folglich diesem Ziel. Sie betreffen (1.) die Stärkung des Filtermechanismus durch die Möglichkeit der Unzulässigkeitserklärung von Beschwerden durch Einzelrichter (neuer Art. 27 EGMR, Mamatkulot ./. Türkei, EuGRZ 2003, S. 704 Ziff. 93. 28 Herdegen, S. 347. 29 Das 14. Protokoll wurde am 13. Mai 2004 vom Ministerkomitee verabschiedet und zur Unterzeichung und Ratifikation aufgelegt. Inzwischen wurde es von allen Mitgliedstaaten mit der Ausnahme Russlands ratifiziert. Für das Inkrafttreten sind jedoch die Ratifikationen aller 46 Konventionsmitglieder erforderlich. (Aktueller Stand. Im Internet unter: http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=194&CM=&DF=&CL=ENG). 30 BMJ. Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Im Internet unter: http://www.bmj.bund.de/enid/EGMR/Reform_des_EGMR_t7.html - 10 - 26 Abs. 1 EMRK), (2.) die Einführung eines neuen Unzulässigkeitsgrundes, nach dem Beschwerden für unzulässig erklärt werden können, wenn die beschwerdeführende Person keinen erheblichen Nachteil erlitten hat (neuer Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK)31 sowie (3.) die Möglichkeit, repetitive Beschwerden durch Ausschüsse für zulässig zu erklären und materiell zu entscheiden (neuer Art. 28 Abs. 1 lit. a EMRK). Darüber hinaus werden durch das 14. Zusatzprotokoll noch weitere Modifikationen vorgenommen. So soll bspw. die Rolle des Ministerkomitees bei der Überwachung des Vollzuges der Urteile des EGMR gestärkt werden (vgl. den neuen Art. 46 Abs. 3, 4 und 5 EMRK).32 Zudem soll die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtshofes gesteigert werden, indem die Amtsdauer der Richter auf neun Jahre erhöht wird, im Gegenzug jedoch die Möglichkeit der Wiederwahl entfällt (neuer Art. 23 Abs. 1 EMRK). Schließlich fügt das Zusatzprotokoll auch einen Abschnitt in die EMRK ein, wonach die Europäische Union als supranationale Organisation der Konvention beitreten könnte (neuer Art. 59 Abs. 2 EMRK).33 31 Dieser neue Unzulässigkeitsgrund ist bei der Ausarbeitung des 14. Protokolls auf heftige Kritik gestoßen mit der Begründung, es unterlaufe das Verfahren der Individualbeschwerde. Zwei Schutzklauseln sollen nunmehr verhindern, dass das Fehlen eines erheblichen Nachteils sofort zur Unzulässigkeit der Beschwerde führt. 32 Einerseits wird dem Ministerkomitee die Möglichkeit eingeräumt, einen Entscheid des EGMR über die Auslegung eines Urteils einzuholen, falls der Vollzug des Urteils durch ein Auslegungsproblem behindert wird. Das Ministerkomitee wird andererseits ermächtigt, vor der Großen Kammer ein Versäumnisverfahren gegen Staaten einzuleiten, die die Urteile des EGMR nicht befolgen. 33 Human Rights Schweiz. Zur Reform des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte: das 14. Zusatzprotokoll vom 13. Mai 2004. Im Internet unter: http://www.humanrights.ch/home/de/Instrumente/Europarats-Organe/EGMR/Reform/content.html. - 11 - 5. Literaturangaben - Grabenwarter, Christoph (2005): Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. München. - Heintschel von Heinegg, Wolff (2005): Casebook Völkerrecht, München. - Herdegen, Matthias (2006): Völkerrecht, 5. Aufl., München. - Meyer-Ladewig, Jens (2006): Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar , 2. Aufl., Baden-Baden. - Peters, Anne (2003): Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, München. - Villiger, Mark E. (1999): Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Zürich. - Vitzthum, Wolfgang Graf (2004): Völkerrecht, 3. Aufl., Berlin.