© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 037/20 Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts (Teil 1) Zum rechtlichen Rahmen für Schadensersatzklagen gegen die Volksrepublik China Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 2 Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts (Teil 1) Zum rechtlichen Rahmen für Schadensersatzklagen gegen die Volksrepublik China Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 037/20 Abschluss der Arbeit: 5. Mai 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung in die Thematik 4 2. Prozessuale Ebene 6 2.1. Verfahrensrechtliche Fragen 6 2.2. Praxis: Schadensersatzklagen wegen COVID-19 in den USA 6 2.3. Völkerrechtlicher Grundsatz der Staatenimmunität 8 2.4. Internationale Streitschlichtung 8 2.5. Die Pandemie als sicherheitspolitische Herausforderung 11 3. Materiell-rechtliche Ebene 12 3.1. Das Recht der Staatenverantwortlichkeit 12 3.2. Völkerrechtliche Verpflichtungen von Staaten in der Pandemie 13 3.2.1. Internationale Gesundheitsvorschriften 14 3.2.2. Internationale Menschenrechte 15 3.2.3. Völkerrechtliche Prinzipien: Kooperationsgebot und Schädigungsverbot 15 3.3. Ausschluss der Rechtswidrigkeit einer Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen 16 4. Forensische Ebene 16 4.1. Aufklärung und Beweise 16 4.2. Kausalketten 18 4.3. Staatenpraxis 19 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 4 1. Einführung in die Thematik In Folge der aktuellen COVID 19-Pandemie gewinnt die Diskussion über die Zuweisung von Verantwortung für den Ausbruch und die globale Verbreitung des Corona-Virus an Dynamik. Im Fokus der Berichterstattung stehen dabei Fragen der rechtlichen Haftung für wirtschaftliche Schäden.1 Konkret geht es dabei um Möglichkeiten, China wegen der COVID 19-Pandemie gerichtlich zu verklagen. Der vorliegende Sachverhalt dient nicht dazu, die Erfolgsaussichten einer etwaigen Klage gegen China im Einzelnen zu prüfen und einzuschätzen. Offen wären nicht nur die prozessualen Modalitäten einer möglichen Klage; ungeklärt wäre in Teilen auch der Sachverhalt selbst. Überdies stellen sich Beweis- und Kausalitätsfragen sowie das Problem der Schadensbezifferung – zu alldem können die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages seriöser Weise kaum einen sinnvollen Beitrag leisten. Rechtlich vielversprechend erscheint dagegen eine Befassung mit den völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Pandemie. Losgelöst von der Frage ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit und vom konkreten Fall „China“ weist das Thema nachgerade über COVID 19 hinaus: Im Sinne von „lessons learned“ geht es bereits heute schon darum, de lege ferenda auszuloten, ob die völkerrechtlichen Instrumentarien und Rahmenbedingungen überzeugende Antworten für kommende Pandemien bereithalten oder ggf. nachgeschärft werden sollten.2 Schon nach dem Ebola- Ausbruch 2018/19 wurde überlegt, wie sich jenseits rechtlicher Verpflichtungen Anreize dafür schaffen lassen, dass auch autoritäre Staaten in einem möglichst frühen Stadium über einen etwaigen Ausbruch infektiöser Krankheiten die Weltöffentlichkeit informieren und unzensiert berichten.3 1 ZEIT online vom 22. April 2020, „Ein Geschenk für Donald Trump“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020- 04/usa-china-donald-trump-coronavirus-entschaedigung-klagen-schuld-wahlkampf/komplettansicht. Der Tagesspiegel vom 21. April 2020, „Ausbruch am Anfang vertuscht – kann China eigentlich verklagt werden ?“, https://www.tagesspiegel.de/politik/vorwuerfe-gegen-peking-ausbruch-am-anfang-vertuscht-kann-chinaeigentlich -verklagt-werden/25757372.html. CNBC News, 24. April 2020, “China ‘owes us’: Growing outrage over Beijing’s handling of the coronavirus pandemic ”, https://www.cnbc.com/2020/04/24/lawsuits-outrage-over-chinas-handling-of-the-coronaviruspandemic .html. Handelsblatt vom 22. April 2020, „Die Stunde der Anwälte: Amerikaner verklagen China wegen Corona-Lügen“, https://www.handelsblatt.com/politik/international/virus-pandemie-die-stunde-der-anwaelte-amerikanerverklagen -china-wegen-corona-luegen/25763438.html?ticket=ST-82106-CV0oJTFuXqdUXgvrXuvC-ap6. The Wall Street Journal, 22. April 2020, “Lawsuits Target China for Coronavirus Damage”, https://www.wsj.com/articles/lawsuits-target-china-for-coronavirus-damage-11587585212. 2 In diese Richtung Gian Luca Burci, „The Outbreak of COVID-19 Coronavirus: Are the International Health Regulations fit for purpose“, Blog of the European Journal of International Law, 27. Februar 2020, https://www.ejiltalk.org/the-outbreak-of-covid-19-coronavirus-are-the-international-health-regulations-fit-forpurpose /. 3 Olha Bozhenko, „More on Public International Law and Infectious Diseases: Foundations of the Obligation to Report Epidemic Outbreaks“, Blog of the European Journal of International Law, 15. August 2019, https://www.ejiltalk.org/more-on-public-international-law-and-infectious-diseases-foundations-of-theobligation -to-report-epidemic-outbreaks/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 5 Über die Effektivität der völkerrechtlichen Instrumentarien für eine Pandemievorsorge und Pandemiebekämpfung4 wurde auch im Nachgang zur sog. Schweinegrippe (H1N1) 2009 diskutiert , als sich die Internationalen Gesundheitsvorschriften,5 die von der WHO im Jahre 2005 als Antwort auf die SARS-Epidemie (2003) und auf den Ausbruch der Vogelgrippe (H5N1 im Jahre 2004/05) erlassen wurden, erstmals bewähren mussten. In den Beiträgen des Jahres 2009 wurde einmal mehr das zum Teil nur unzureichend abgestimmte Handeln von Staaten nach Ausbruch der Schweinegrippe kritisiert, die zum Teil auf ihre „virale Souveränität“ gepocht hätten. Es wurde deutlich gemacht, dass das globale Pandemie-Krisenmanagement letztlich auf gegenseitigem Vertrauen (good faith) beruhe, da die staatlichen Berichts- und Meldepflichten sowie die damit korrespondierenden Überwachungsmaßnahmen und Empfehlungen der WHO – insbesondere zur Stärkung der öffentlichen Gesundheitsvorsoge-Kapazitäten – nicht zwangsweise durchgesetzt werden könnten. Angesichts dieses Befundes kann man sich des Eindrucks nicht erwehren , dass sich die Diskussionen des Jahres 2009 auch im Jahre 2020 nahtlos fortsetzen lassen. Der vorliegende Sachstand widmet sich der Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts. Dabei geht es zunächst um den rechtlichen Rahmen für Schadensersatzklagen gegen die Volksrepublik China; ein zweiter Sachstand setzt sich dann vertieft mit den völkerrechtlichen Pflichten von Staaten in der Pandemie auseinander. Die Sachstände verstehen sich als Einstieg in das Thema „Pandemie und Völkerrecht“ – neben einer überblicksartigen Darstellung der einschlägigen Rechtsmaterie sollen vor allem die neue völkerrechtliche Debatte zu COVID-19 aufgegriffen und Anstöße für weitergehende Fragestellungen gegeben werden. Die Ausführungen erheben nicht den Anspruch, jede Rechtsfrage abschließend zu beantworten; angesichts der Komplexität der Materie können sie allenfalls ansatzweise rechtliche Lösungswege aufzeigen. Das Thema „Schadensersatzklagen gegen einen anderen Staat wegen COVID-19“ lässt sich aus drei Blickwinkeln beleuchten: In prozessualer Hinsicht geht es zunächst um Fragen des Rechtsweges (dazu 2.); materiell-rechtlich ist zu prüfen, ob und inwieweit der beklagte Staat gegen völkerrechtliche Verpflichtungen verstoßen hat (dazu 3. sowie vertieft in einem zweiten Sachstand) und aus forensischer Sicht stellen sich Beweis- und Kausalitätsfragen im Hinblick auf einen noch nicht restlos aufgeklärten Sachverhalt (dazu 4.). 4 Condon/Sinha, „The Effectiveness of Pandemic Preparation: Legal Lessons from the 2009 Influenza Epidemic“, International Federation of Red Cross and Red Crescent Society, Disaster Law Working Paper Series, No. 1, Sept. 2009, https://www.ifrc.org/Global/Publications/IDRL/working-papers/pandemic-preparedness-sept-2009.pdf. Rebecca Katz/Julie Fischer, „The Revised International Health Regulations: A Framework for Global Pandemic Response“, in: Global Health Governance Vol. III No. 2 (2010), insb. S. 12 ff., abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/264868835_The_Revised_International_Health_Regulations_A_Frame work_for_Global_Pandemic_Response. 5 WHO, International Health Regulations, Third Edition (2005) https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/246107/9789241580496-eng.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 6 2. Prozessuale Ebene 2.1. Verfahrensrechtliche Fragen Eine Studie zur Verantwortlichkeit Chinas für die COVID 19-Pandemie des britischen Think- Tank Henry Jackson Society6 hat die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten für Klagen gegen die Volksrepublik China ausgelotet. Denkbar sind danach Klagen von Privatpersonen und Unternehmen vor nationalen (heimischen oder chinesischen7) Gerichten, wohingegen juristische Meinungsverschiedenheiten zwischen Staaten in der Regel vor internationalen Streitschlichtungsorganen wie dem Internationalen Gerichtshof (IGH), den Menschenrechtsgerichtshöfen (Staatenbeschwerdeverfahren), oder internationalen Schiedsgerichten (Permanent Court of Arbitration, Den Haag) ausgetragen werden. Indes bedarf jede Klage zunächst einer Konkretisierung der Streitparteien: Geht es um Klagen von Einzelpersonen, Unternehmen oder Staaten gegen einen auswärtigen Staat, gegen seine Regierung, Staatsführung oder die Kommunistische Staatspartei; gegen ein staatliches Unternehmen oder Forschungslabor oder gegen einzelne Verantwortliche in personam (z.B. Provinzgouverneure). Daneben stellt sich die Frage, ob ein bestimmtes Gericht für bestimmte Klagearten und Streitparteien überhaupt zuständig ist. 2.2. Praxis: Schadensersatzklagen wegen COVID-19 in den USA In den USA haben sowohl Einzelpersonen8 und Sammelkläger9 als auch der US-Bundesstaat Missouri Schadensersatzklagen bei nationalen US-Gerichten erhoben. Der Bundesstaat Missouri hat seine Klage gleichzeitig gegen die chinesische Regierung, die Kommunistische Partei China, verschiedene chinesische Ministerien, die Regionalregierung der Provinz Hubei, die Stadtverwaltung von Wuhan sowie das Wuhan-Institut für Virologie gerichtet und vor einem der US- 6 Henry Jackson Society, “Coronavirus Compensation? Assessing China’s Potential Culpability and Avenues of Legal Response”, April 2020, S. 23 ff., abrufbar unter: https://henryjacksonsociety.org/wpcontent /uploads/2020/04/Coronavirus-Compensation.pdf. 7 Die Studie der Henry Jackson Society (S. 28) beruft sich auf die Global Health and Human Rights Database der Georgetown University und rekurriert dabei auf zwei Präzedenzfälle – u.a. des Hong Kong Special Administrative Region Court of First Instance – im Zusammenhang mit Kontamination durch HIV / Hepatitis C. 8 Vgl. Südtiroler News, 23. April 2020, “Hotelier verklagt China auf Schadensersatz”, https://www.suedtirolnews.it/italien/unglaublich-hotelier-klagt-china-auf-schadenersatz. The Guardian, 23. April 2020, “From an Italian hotel to a US state, coronavirus lawfare takes off” https://www.theguardian.com/world/2020/apr/23/from-italian-hotel-to-us-state-coronavirus-lawfare-takes-hold. Egypt Independent vom 11. April 2020, “Chinese ambassador to Cairo slams calls for Chinese compensation over coronavirus”, https://egyptindependent.com/chinese-ambassador-to-cairo-slams-calls-for-china-tocompensate -world-over-virus/. 9 Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 2. April 2020, “Corona-Sammelklage: USA fordern über 20 Billionen von China”, https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/503242/Corona-Sammelklage-USA-fordern-ueber-20- Billionen-von-China. Fox News vom 25. März 2020, “Class-action suit seeks to bill China for coronavirus fallout: 'We want the court to make them pay’”, https://www.foxnews.com/politics/class-action-suit-seeks-to-make-china-pay. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 7 Bundesgerichte in Missouri eingereicht.10 Die bisher größte Sammelklage einer amerikanischen Anwaltskanzlei11 ist in Florida anhängig, ähnliche Klagen gegen die Regierung in Peking sowie chinesische Regierungsstellen oder einzelne chinesische Entscheidungsträger sind in Kalifornien, Pennsylvania, Nevada und Texas eingereicht worden.12 Bislang befinden sich diese Verfahren in den USA im Stadium der Klageerhebung. Soweit ersichtlich hat sich noch kein US-Gericht zu seiner Zuständigkeit geäußert, geschweige denn eine (zulässige) Klage zur Entscheidung angenommen oder entschieden. Medienberichten zufolge schätzen amerikanische Juraprofessoren die Chancen von Klagen in den USA insgesamt als sehr gering ein. Wenn die Vereinigten Staaten Ansprüche gegen China geltend machen wollten, müssten sie dies in einem internationalen Forum tun, wird Chimène Keitner, Professorin für internationales Recht an der University of California, in den Medien zitiert.13 Es gebe derzeit keine zivilrechtliche Zuständigkeit für solche Klagen vor US-Gerichten. Nach US-amerikanischem Verfahrensrecht existiert zwar traditionell ein sehr weitgefasstes Verständnis von extraterritorialer Jurisdiktion und damit auch von der Zuständigkeit von US- Gerichtsbarkeit für Sachverhalte im Ausland.14 Gleichwohl sehen sich Klagen von Einzelpersonen oder Unternehmen, die bei nationalen Gerichten eingereicht werden und sich gegen einen auswärtigen Staat richten, dem Problem der Staatenimmunität gegenüber. 10 DER SPIEGEL vom 22. April 2020, „Erster US-Bundesstaat klagt gegen China wegen Coronavirus”, https://www.spiegel.de/politik/ausland/missouri-klagt-gegen-china-wegen-coronavirus-a-dc4352ea-1e93-47e7- a623-41182305f4ef. Missouri Attorney General: Missouri Attorney General Schmitt Files Lawsuit against Chinese Government, 21. April 2020, https://ago.mo.gov/home/news/2020/04/21/missouri-attorney-general-schmitt-files-lawsuitagainst -chinese-government. 11 Abrufbar unter: https://www.bermanlawgroup.com/practice-area/class-action/coronavirus-class-action. Der Klage von Berman Law haben sich unterschiedliche US-Bürger angeschlossen – von Covid-19-Erkrankten und Hinterbliebenen über Krankenhauspersonal bis hin zu Bürgern, die wegen der US-Pandemiemaßnahmen ihren Job verloren haben oder Konkurs gegangen sind. 12 The Washington Post vom 24. April 2020, “Suing China over the coronavirus won’t help”, https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/04/23/suing-china-over-coronavirus-wont-help-heres-whatcan -work/. 13 DER SPIEGEL vom 22. April 2020, „Erster US-Bundesstaat klagt gegen China wegen Coronavirus” (Fn. 10). 14 Deutlich wird dies immer wieder angesichts der Wirtschaftsembargo- und Sanktionspolitik der USA gegenüber ausländischen Staaten wie Iran, Kuba etc. (vgl. z.B. den sog. Helms-Burton-Act = Cuban Liberty and Democratic Solidarity (LIBERTAD) Act of 1996). Die US-Gesetze bieten US-Bürgern weitgefasste rechtliche Möglichkeiten, um vor US-Gerichten gegen ausländische Firmen, die mit den sanktionierten Staaten Handel treiben, zu klagen (https://www.noerr.com/de/newsroom/news/helms-burton-verklagen-us-burger-bald-in-kuba-tatigeeuropaische -unternehmen). Ob auch Klagen von US-Bürgern gegen ausländische Staaten möglich sein sollen, wird in den USA offenbar derzeit geprüft. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 8 2.3. Völkerrechtlicher Grundsatz der Staatenimmunität Die völkerrechtliche Staatenimmunität gehört als Ausfluss des Prinzips der Staatengleichheit (Art. 2 Nr. 1 VN-Charta) zu den zentralen Grundsätzen des Völkerrechts. Danach darf kein Staat über einen anderen Staat zu Gericht sitzen („par in parem non habet iudicium bzw. iuridictionem “). Staaten ist es folglich verwehrt, Hoheitsakte fremder Staaten (sog. acta iure imperii) vor ihren eigenen Gerichten auf deren Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.15 Dazu zählt aber praktisch das gesamte „Pandemie-Krisenmanagement“ der chinesischen Regierung (Quarantänemaßnahmen , Beschränkung des Reiseverkehrs, Eindämmungsmaßnahmen, Berichterstattung gegenüber der WHO). Dass Klagen von Privatleuten und Unternehmen vor US-Gerichten letztlich am Grundsatz der Staatenimmunität scheitern werden, wird von vielen US-Juristen als sehr wahrscheinlich angesehen . Das Problem der Staatenimmunität kehrt aus prozessrechtlicher Sicht spätestens dann zurück, wenn es darum geht, Urteile nationaler Gerichte gegen einen anderen Staat dortselbst zu vollstrecken – was im Falle Chinas nicht nur rechtlich, sondern auch politisch ausgesprochen heikel anmutet. Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass in den USA derzeit nicht nur über Klagen gegen China, sondern auch über unilaterale Sanktionen (z.B. Einfrieren von chinesischen Auslandskonten usw.) nachgedacht wird.16 Deren völkerrechtliche Zulässigkeit hängt u.a. davon ab, ob China ein völkerrechtswidriges Vorverhalten nachgewiesen werden kann. 2.4. Internationale Streitschlichtung Ob China von den USA wegen COVID-19-Schäden vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt werden könnte, wird derzeit lebhaft und kontrovers diskutiert.17 Dabei stehen vor allem Fragen der Jurisdiktion des Weltgerichts im Fokus. 15 Epping, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München, 7. Aufl. 2018, § 7 Rdnr. 265 ff. Arnauld, Andreas v., Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 323 ff. Staatenimmunität, WD Aktueller Begriff 18/09, 5. März 2009, https://www.bundestag.de/resource/blob/190502/242de3dcac4776fdb44c4c4de6fa2996/staatenimmunitaetdata .pdf. 16 Frankfurter Rundschau vom 1. Mai 2020, „Trump gibt China die Schuld am Coronavirus und lässt Sanktionen vorbereiten“, https://www.fr.de/politik/corona-krise-usa-donald-trump-china-schuld-virus-sanktionen-zr- 13651059.html. 17 Observer Research Foundation (ORF), 4. April 2020, „Corona: The case for taking China to ICJ”, https://www.orfonline.org/expert-speak/corona-the-case-for-taking-china-to-icj-64096/. The Diplomat, 20. April 2020, “Taking China to Court Over COVID-19?”, https://thediplomat.com/2020/04/taking-china-to-court-over-covid-19/. Peter Tzeng, “Taking China to the International Court of Justice over COVID-19”, Blog of the European Journal of International Law, 2. April 2020, https://www.ejiltalk.org/taking-china-to-the-international-court-of-justiceover -covid-19/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 9 Der IGH ist nur dann für einen Fall zuständig, wenn er die Gerichtsbarkeit (jurisdiction) über die Parteien des Rechtsstreits18 besitzt. Hierzu ist es erforderlich, dass sich alle Parteien dem Gerichtshof gem. Art. 36 IGH-Statut unterworfen haben. Eine solche Unterwerfung kann auf drei Wegen erfolgen: Ad hoc durch eine Erklärung nur für ein bestimmtes Verfahren, durch einem völkerrechtlichen Vertrag (sog. kompromissarische Klausel) oder in Form einer generellen Unterwerfungserklärung (sog. Fakultativklausel).19 Die Volksrepublik China hat – ebenso wie die USA – keine allgemeine Unterwerfungserklärung gegenüber dem IGH abgegeben. Eine ad hoc-Unterwerfung Pekings für ein IGH-Verfahren zwecks Klärung von Verantwortlichkeiten in der COVID-19-Pandemie ist nur schwer vorstellbar. Die Vergangenheit hat vielmehr gezeigt, dass China nicht einmal bereit ist, Entscheidungen internationaler Streitschlichtungsorgane zu akzeptieren.20 Die Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations, IHR)21 als völkerrechtlich bindendes22 Sekundärrecht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) begründen keine IGH-Zuständigkeit gegen den expliziten Willen der Parteien. Die Berichts- und Informationsverpflichtungen der WHO-Staaten nach Artikel 6 und 7 IHR, über deren mögliche Verletzung viel diskutiert wird, bestehen ihrem Wortlaut nach nur gegenüber der WHO, die als Internationale Organisation vor dem IGH aber nicht klagebefugt ist. Statt einer „Rechtswegklausel“ zum IGH statuieren die Internationalen Gesundheitsvorschriften in Artikel 56 (nur) einen internen Streitschlichtungsmechanismus für Meinungsverschiedenheiten zwischen zwei WHO-Mitgliedstaaten über die Auslegung oder Anwendung der IHR- Regelungen. Voraussetzung für die Streitschlichtung ist die ausdrückliche Zustimmung der be- 18 Als Parteien eines Verfahrens vor dem IGH können nur die Vertragsstaaten des IGH-Statuts auftreten. Dies sind gemäß Artikel 93 Absatz 1 der VN-Charta alle VN-Mitglieder. 19 Vgl. näher v. Arnauld, Andreas, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 472 ff. 20 Vgl. etwa die Entscheidung des Haager Schiedshofes im Fall der Philippinen gegen China betreffend das Südchinesische Meer. Vgl. dazu SPIEGEL online vom 12. Juli 2016, https://www.spiegel.de/politik/ausland/suedchinesisches-meer-schiedshof-in-den-haag-ruegt-china-iminselstreit -a-1102538.html; Legal Tribune Online vom 12. Juli 2016, „Chinas Ansprüche im Südchinesischen Meer unrechtmäßig“, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/schiedsgericht-den-haag-ansprueche-chinasuedchinesisches -meer-unrechtmaessig/. 21 WHO, International Health Regulations, Third Edition (2005) https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/246107/9789241580496-eng.pdf. 22 Einige WHO-Mitgliedstaaten – darunter die USA und China – stellten gegenüber der WHO ihre Rechtsauffassungen zu den rechtlichen Implikationen der Internationalen Gesundheitsvorschriften klar. Die chinesische Regierung erklärt etwa: (China) „will comply immediately, on a voluntary basis, with provisions of the International Health Regulations.“ Die USA „understands that the provisions of the Regulations do not create judicially enforceable private rights.“ Eine Liste der Erklärungen, die anlässlich der Implementierung der Gesundheitsvorschriften abgegeben wurden, ist abrufbar unter https://www.who.int/ihr/legal_issues/states_parties/en/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 10 teiligten Parteien.23 Soweit ersichtlich, ist dieser Streitschlichtungsmechanismus seit Verabschiedung der IHR im Jahre 2005 in der Praxis noch nicht bemüht worden. In der Diskussion über die IGH-Zuständigkeit für Corona-Schadensersatzklagen hat eine Vorschrift aus der WHO-Verfassung vom 22. Juli 194624 bislang nur wenig Beachtung gefunden. Art. 75 WHO-Verf. lautet: Jede Frage oder jeder Streitfall betreffend die Auslegung oder die Anwendung dieser Verfassung, der nicht auf dem Verhandlungsweg oder durch die Gesundheitskonferenz geregelt werden kann, ist von den Parteien dem Internationalen Gerichtshof gemäß dem Statut dieses Gerichtshofes zu unterbreiten, es sei denn, dass die beteiligten Parteien sich auf eine andere Regelung einigen. Der IGH selbst hat in seinem „Armed Activities“-Urteil (DR Kongo gegen Ruanda) aus dem Jahre 2006 festgestellt, dass „Article 75 of the WHO Constitution provides for the Court’s jurisdiction “.25 Damit besteht dem Grunde nach eine Jurisdiktion des IGH unabhängig von einer entsprechenden Unterwerfungserklärung der Parteien, da die Unterwerfung gem. Art. 75 WHO- Verfassung bereits vertraglich impliziert ist und durch die Ratifikation der WHO-Verfassung von China und den USA auch akzeptiert wurde. Die Jurisdiktion des IGH nach Art. 75 WHO-Verf. beschränkt sich jedoch ausdrücklich auf die „Auslegung und Anwendung“ der WHO-Verfassung. Fraglich ist somit, ob und inwieweit ein Staat seine Schadensersatzforderung wegen COVID-19-Schäden gegen einen anderen Staat materiell-rechtlich26 auf eine Verletzung der WHO-Verfassung stützen könnte – also auf ein Regelwerk, das doch im Wesentlichen nur den institutionellen und instrumentellen Rahmen für das Funktionieren der WHO vorgibt.27 In den Völkerrechtsblogs ist am Rande darüber diskutiert worden, ob sich z.B. aus den Regelungen der WHO-Verfassung über die Berichterstattung der Staaten (Art. 63 f. WHO-Verf.) in Verbindung mit den Internationalen Gesundheitsvorschriften, welche auf der Grundlage von Art. 21 WHO-Verfassung erlassen wurden, bestimmte Verpflichtungen ergeben, deren Verletzung man China vorwerfen könnte.28 23 In Art. 56 Abs. 3 IHR heißt es dazu: „A State Party may at any time declare in writing to the Director-General that it accepts arbitration as compulsory with regard (…) to a specific dispute in relation to any other State Party accepting the same obligation.” 24 Text abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation /19460131/201405080000/0.810.1.pdf. 25 IGH, Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda), Urteil vom 3. Februar 2006, Rdnr. 99, https://www.icj-cij.org/files/case-related/126/126-20060203-JUD-01-00-EN.pdf. 26 Vgl. zur materiellen Rechtslage die Ausführungen unter 3. 27 Die WHO-Verfassung regelt z.B. die Aufgaben der WHO, die Mitgliedschaft, die Kompetenzen der WHO-Organe usw. 28 Vgl. Peter Tzeng, “Taking China to the International Court of Justice over COVID-19”, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 2. April 2020. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 11 Ob eine solche Argumentation bzw. „Konstruktion“ am Ende rechtlich tragfähig ist, ist derzeit noch völlig offen. Was bedeutet dies im Ergebnis für die Möglichkeit, China vor dem IGH wegen COVID-19 zu verklagen? Der Weg zum IGH ist in jedem Fall verfahrensrechtlich kompliziert, politisch heikel und juristisch alles andere als geklärt. Eine Klage vor dem IGH ist salopp formuliert eine andere „Hausnummer“ als das Beantragen eines Mahnbescheids beim Amtsgericht Charlottenburg: Es ist eine politisch weitreichende Entscheidung, die monatelang juristisch vorbereitet werden muss. China ist in der über 70-jährigen Geschichte des Internationalen Gerichtshofs bis heute noch nie verklagt worden.29 Denkt man die IGH-Klage „vom Ende“ her, so statuiert Art. 94 Abs. 1 VN-Charta zwar eine völkerrechtliche Pflicht zur Befolgung der IGH-Urteile, doch hapert es an der Vollstreckung. Art. 94 Abs. 2 VN-Charta bestimmt insoweit: Kommt eine Streitpartei ihren Verpflichtungen aus einem Urteil des Gerichtshofs nicht nach, so kann sich die andere Partei an den Sicherheitsrat wenden; dieser kann, wenn er es für erforderlich hält, Empfehlungen abgeben oder Maßnahmen beschließen, um dem Urteil Wirksamkeit zu verschaffen. Was diese Regelung mit Blick auf ein (vetomächtiges) ständiges Sicherheitsratsmitglied wie China in der Praxis bedeutet, bedarf keiner weiteren Erklärung. 2.5. Die Pandemie als sicherheitspolitische Herausforderung Eine Befassung des VN-Sicherheitsrats mit dem chinesischen Krisenmanagement der Corona- Pandemie erscheint wegen der chinesischen Vetomöglichkeit praktisch ausgeschlossen. Abgesehen davon hat sich der VN-Sicherheitsrat in Sachen Pandemiebekämpfung bislang nicht als sonderlich stark erwiesen. In seiner Resolution 2177 (2014) hatte sich der VN-Sicherheitsrat – allerdings nicht unter Kapitel VII der Charta handelnd – mit dem Ebola-Ausbruch 2014 befasst.30 Insoweit konnte er sich nur dazu „durchringen“, die Mitgliedstaaten nachdrücklich aufzufordern , die gemäß den Internationalen Gesundheitsvorschriften herausgegebenen Empfehlungen der WHO betreffend den Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 umzusetzen.31 29 Homepage ICJ, https://www.icj-cij.org/en/list-of-all-cases. 30 S/RES/2177 (2014) vom 18. September 2014, https://www.un.org/Depts/german/sr/sr_14/sr2177.pdf. 31 Vgl. dazu näher Hood, Anna, "Ebola: A Threat to the Parameters of a Threat to the Peace?" in Melbourne Journal of Int.´l Law 2 (2015) http://classic.austlii.edu.au/au/journals/MelbJIL/2015/2.html. Vgl. zur Rolle des VN-Sicherheitsrats in der Corona-Krise Marko Svicevic, „COVID-19 as a Threat to International Peace and Security: What place for the UN Security Council?“, Blog of the European Journal of International Law, 27. März 2020, https://www.ejiltalk.org/covid-19-as-a-threat-to-international-peace-and-securitywhat -place-for-the-un-security-council/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 12 In dem Maße, wie geheimdienstliche Erkenntnisse (s.u. 4.1.) das „mediale Narrativ“ über den Ursprung des Corona-Virus von einer durch Fledermäuse übertragenen zoonotischen Influenza32 hin zu einem in chinesischen Forschungslabors gezüchteten „Killervirus“ verschieben können, steigt auch die Gefahr einer Diskursverschiebung der COVID-19-Pandemie (in Anlehnung an Präsident Macrons „Kriegsrhetorik“)33 auf die sicherheits- und verteidigungspolitische Agenda.34 3. Materiell-rechtliche Ebene Schadensersatzforderungen gegen einen anderen Staat bedürfen einer Grundlage im sog. „materiellen“ Recht. Völkerrechtlich relevant sind dabei das Recht der Staatenverantwortlichkeit sowie die darauf bezogenen völkerrechtlichen Verpflichtungen von Staaten in der Pandemie . An dieser Stelle wird der Rechtsrahmen zunächst einmal grob skizziert: 3.1. Das Recht der Staatenverantwortlichkeit Aus dem Wesen einer Rechtspflicht folgt, dass der Staat für Verletzungen seiner Völkerrechtspflichten verantwortlich ist und für sie einstehen muss. In der völkerrechtlichen Literatur wird hier vom Grundsatz der Staatenverantwortlichkeit (state responsibility) gesprochen – in der deutschsprachigen Literatur synonym auch der Begriff der „Haftung“ (liability) verwendet. Zielt die Klage eines Staates gegen einen anderen Staat auf Schadensersatz (compensation) bzw. Wiedergutmachung (satisfaction) für begangenes Unrecht, so geben die Regelungen der International Law Commission (ILC) über das Recht der Staatenverantwortlichkeit (ILC Artikelentwurf ) Aufschluss über die völkerrechtlich verbindliche Rechtslage.35 Die von der VN- 32 Der Begriff Zoonose leitet sich aus den griechischen Wörtern zoon (Lebewesen) und nosos (Krankheit) ab. Zoonosen sind Infektionskrankheiten, die von Bakterien oder Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können. 33 SZ vom 17. März 2020, „Frankreich im ´Gesundheitskrieg` gegen Corona“ https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-frankreich-im-gesundheitskrieg-gegen-corona-dpa.urnnewsml -dpa-com-20090101-200316-99-353511. 34 Über die sog. „securitization“ von COVID-19 vgl. Eliana Cusato, „Beyond War Talk: Laying Bare the Structural Violence of the Pandemic”, Blog of the European Journal of International Law, 3. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/beyond-war-talk-laying-bare-the-structural-violence-of-the-pandemic/. 35 Artikelentwurf für die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln, angenommen von der Völkerrechtskommission (International Law Commission - ILC) auf ihrer 53. Sitzung (2001) und zur Kenntnis genommen von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (General Assembly) auf ihrer 56. Tagung (2001), deutsche Fassung abrufbar unter: http://eydner.org/dokumente/darsiwaev.PDF. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 13 Völkerrechtskommission36 ausgearbeiteten und der VN-Generalversammlung im Jahre 2001 vorgelegten Regeln stellen heute in weiten Teilen eine Kodifizierung des geltenden Gewohnheitsrechts zur Staatenverantwortlichkeit dar.37 Kernbestandteil des ILC-Artikelentwurfs sind Regelungen über das völkerrechtliche Delikt und die Haftung für völkerrechtliches Unrecht. Der ILC- Artikelentwurf bildet das rechtliche Gerüst für eine Prüfung von Schadensersatzansprüchen (aber auch von Sanktionen) gegen einen anderen Staat. In dem ILC-Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit heißt es: „Der verantwortliche Staat unterliegt der Verpflichtung, volle Wiedergutmachung für den Nachteil zu leisten, der durch das völkerrechtswidrige Handeln verursacht wurde (Art. 31). Der für ein völkerrechtswidriges Handeln verantwortliche Staat unterliegt der Verpflichtung, den dadurch verursachten Schaden zu ersetzen, (…). Der Schadensersatz deckt alle finanziell abschätzbaren Schäden einschließlich des Verlustes von Gewinnen , soweit dieser nachgewiesen ist (Art. 36). Ein völkerrechtswidriges Handeln eines Staates liegt vor, wenn ein Verhalten, bestehend aus einer Handlung oder Unterlassung, dem Staat nach dem Völkerrecht zurechenbar ist und eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung des Staates begründet (Art. 2). Für die Bestimmung eines Handelns eines Staates als völkerrechtswidrig gilt das Völkerrecht. Diese Bestimmung wird nicht dadurch beeinflusst, dass innerstaatliches Recht dasselbe Handeln als rechtmäßig bestimmt (Art. 3). Eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung durch einen Staat liegt vor, wenn ein Handeln dieses Staates nicht im Einklang steht mit dem, was durch die Verpflichtung, ungeachtet deren Art und Ursprungs, von ihm verlangt wird (Art. 12).“ 3.2. Völkerrechtliche Verpflichtungen von Staaten in der Pandemie Der Anspruch auf Schadensersatz nach dem ILC-Artikelentwurf setzt ein in zurechenbarer Weise begangenes völkerrechtliches Unrecht voraus. Dieses Unrecht besteht in der Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen, wobei die Verletzung in einem Handeln oder einem Unterlassen bestehen kann. 36 Die Völkerrechtskommission (International Law Commission, ILC, Homepage abrufbar unter https://legal.un.org/ilc/) ist ein Nebenorgan der VN und wurde 1947 von der VN-Generalversammlung zur Weiterentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts eingesetzt. Vorwiegend mit der Ausarbeitung von Konventionsentwürfen befasst, erstreckt sich die Arbeit der ILC auf nahezu alle internationalen Rechtsfragen. Zu den 34 unabhängigen renommierten Völkerrechtsexperten gehört seit 2007 auch der Völkerrechtler der Humboldt Universität Georg Nolte. 37 Arnauld, Andreas v., Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019 Rdnr. 380 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 14 Solche Verpflichtungen können sich aus allgemeinen Prinzipien wie z.B. dem völkergewohnheitsrechtlichen Kooperationsgebot38 ergeben, das sowohl durch internationales Gesundheitsrecht als auch durch die Menschenrechte in Richtung von Informations-, Warn- und Berichtspflichten konkretisiert wird.39 Diese Pflichten werden auch unter dem Begriff due diligence diskutiert . Den Verpflichtungen ist gemeinsam, dass sie nicht nur im Verhältnis zum geschädigten Staat, sondern im Grunde gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft bzw. der ganzen Menschheit bestehen.40 Die Wissenschaftlichen Dienste widmen diesen Fragen – wie eingangs erwähnt – eine eigenständige Arbeit, die an die Ausführungen in diesem Sachstand anknüpft.41 An dieser Stelle sollen die in Betracht kommenden staatlichen Pandemiepflichten zumindest ansatzweise kategorisiert und skizziert werden. 3.2.1. Internationale Gesundheitsvorschriften Informations-, Warn-, Berichts- und Konsultationspflichten (due diligence) können sich auch aus den völkerrechtlich verbindlichen (weil von den Mitgliedstaaten ratifizierten) Internationalen Gesundheitsvorschriften von 2005 der WHO42 sowie aus den (weitgehend gewohnheitsrechtlich geltenden) Artikel-Entwürfen der International Law Commission (ILC) über den Schutz von Personen im Fall von Naturkatastrophen (von 2016) ergeben.43 38 Wolfrum, Rüdiger, “Cooperation“, Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: April 2010. Rana Moustafa Fouad, “The legal duty to cooperate amid COVID-19: A missed opportunity?”, Blog of the European Journal of International Law, 22. April 2020, https://www.ejiltalk.org/the-legal-duty-to-cooperate-amidcovid -19-a-missed-opportunity/. 39 Vgl. näher Pedro A. Villarreal, „COVID 19 Symposium: States’ Obligations Under the International Health Regulations in Light of COVID-19“, Opinio Juris, 31. März 2020, http://opiniojuris.org/2020/03/31/covid-19- symposium-can-they-really-do-that-states-obligations-under-the-international-health-regulations-in-light-ofcovid -19-part-i/. Antonio Coco / Talita de Souza Dias, „Due Diligence and COVID-19: States’ Duties to Prevent and Halt the Coronavirus Outbreak“ (3 Teile), Blog of the European Journal of International Law, 24. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/part-i-due-diligence-and-covid-19-states-duties-to-prevent-and-halt-the-coronavirusoutbreak /. 40 Mit Blick auf die Pandemie spiegeln die globalen Verpflichtungen ein stückweit die „planetarische Verantwortung “ jedes Staates wider. 41 Vgl. Gutachten WD 2 – 3000 – 038/20, „Die Corona-Pandemie im Lichte des Völkerrechts (Teil 2) – Völkerrechtliche Verpflichtungen von Staaten in der Pandemie“ (in Fertigstellung). 42 WHO, International Health Regulations, Third Edition (2005) https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/246107/9789241580496-eng.pdf. Gesetz vom 20. Juli 2007 zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005) (IGV) vom 23. Mai 2005, https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IGV/Gesetz_IGV_deen .pdf;jsessionid=DFE1AC761CF37133B2CB0E3B1F9E880B.internet121?__blob=publicationFile. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften sind dem Gesetz als Anhang beigefügt. 43 Draft articles on the protection of persons in the event of disasters, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft_articles/6_3_2016.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 15 3.2.2. Internationale Menschenrechte Grund- und Menschenrechte im Verhältnis Staat-Bürger werden in erster Linie mit Blick auf freiheitsbeschränkende staatliche Pandemiemaßnahmen (Quarantäne, „Lock-down“, Demonstrationsverbote , religiöse Beschränkungen usw.) relevant, wobei Grundrechte gegenüber der Gesundheitsvorsorgepflicht des Staates abzuwägen sind.44 Gleichwohl können sich aus den internationalen Menschenrechtsverträgen – insb. aus dem Recht auf Leben gem. Art. 6 des VN- Zivilpakts sowie aus dem Recht auf Gesundheit aus Art. 12 des VN-Sozialpakts – auch weitergehende Verpflichtungen zur (Pandemie-)Vorsorge und zur Staatenkooperation ergeben. Schon „virologische Desinformation“ durch einen Staat kann unter Umständen eine Menschenrechtsverletzung begründen.45 3.2.3. Völkerrechtliche Prinzipien: Kooperationsgebot und Schädigungsverbot Völkerrechtliche Verpflichtungen von „Pandemie-Staaten“ können sich zudem aus allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts wie z.B. dem Solidaritätsprinzip, dem Kooperationsgebot oder dem Schädigungsverbot (no-harm principle)46 ergeben, das etwa durch die ILC-Draft Articles on Prevention of Transboundary Harm from Hazardous Activities47 von 2001 konkretisiert wurde. 44 Wann nationale Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Pandemiemaßnahmen im Instanzenzug auch den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof erreichen, scheint nur eine Frage der Zeit. Vgl. zum Themenkreis „COVID 19 Maßnahmen und der Schutz der Menschenrechte“: Mariela Morales Antoniazzi /Silvia Steininger, „How to Protect Human Rights in Times of Corona? Lessons from the Inter-American Human Rights System“, Blog of the European Journal of International Law, 1. Mai 2020, https://www.ejiltalk.org/how-to-protect-human-rights-in-times-of-corona-lessons-from-the-inter-americanhuman -rights-system/. Diane Desierto, „Calibrating Human Rights and Necessity in a Global Public Health Emergency: Revive the UN OHCHR’s ICESCR Compliance Criteria“, Blog of the European Journal of International Law, 26. März 2020, https://www.ejiltalk.org/calibrating-human-rights-and-necessity-in-a-global-public-health-emergency-revivethe -un-ohchrs-icescr-compliance-criteria/. Alessandra Spadaro, „Do the containment measures taken by Italy in relation to COVID-19 comply with human rights law?“, Blog of the European Journal of International Law, 16. März 2020, https://www.ejiltalk.org/do-thecontainment -measures-taken-by-italy-in-relation-to-covid-19-comply-with-human-rights-law/. 45 Marko Milanovic, “Viral Misinformation and the Freedom of Expression”, EJIL:Talk! Blog of the European Journal of International Law, 13. April 2020, https://www.ejiltalk.org/viral-misinformation-and-the-freedom-ofexpression -part-i/. Vgl. dazu den vom der Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) der EU verfassten Bericht über „Narrative und Desinformationen bezüglich der Corona-Pandemie" vom 22. April 2020, https://euvsdisinfo.eu/eeas-specialreport -update-2-22-april/. 46 Dazu allgemein Jelena Bäumler, Das Schädigungsverbot im Völkerrecht, Heidelberg: Springer 2017, https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-662-53299-7. 47 Abrufbar unter: https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_7_2001.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 16 3.3. Ausschluss der Rechtswidrigkeit einer Verletzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen Nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit können Schadensersatzansprüche gegen einen Staat im Ergebnis daran scheitern, dass die Pflichtverletzung eines Staates aus Gründen höherer Gewalt (force majeure),48 einer Notlage (distress)49 oder eines Notstandes (necessity) gerechtfertigt ist (vgl. Art. 23 bis 25 ILC-Artikelentwurf zur Staatenverantwortlichkeit). In der völkerrechtlichen Diskussion wird indes dahingehend argumentiert, dass alle drei Rechtfertigungsgründe von ihren Voraussetzungen her auf die Situation der COVID-19-Pandemie nicht wirklich passen und einer möglichen Staatenverantwortlichkeit Chinas daher auch nicht entgegenstehen.50 4. Forensische Ebene Vor Gericht geht es um die Frage, ob sich ein Sachverhalt, der die Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen begründet, aufklären und beweisen lässt. 4.1. Aufklärung und Beweise Spekulationen über den Ursprung des Corona-Virus51 existieren zuhauf.52 Politiker in Deutschland haben die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission gefordert,53 deren 48 Art. 23 ILC-Artikelentwurf lautet: „Die Rechtswidrigkeit eines Handelns eines Staates, das nicht im Einklang mit einer völkerrechtlichen Verpflichtung dieses Staates steht, ist ausgeschlossen, wenn das Handeln auf force majeure zurückzuführen ist; dies ist der Eintritt einer unüberwindbaren Kraft oder eines unvorhergesehenen Ereignisses außerhalb der Kontrolle des Staates, was es den Umständen nach tatsächlich unmöglich macht, die Verpflichtung zu erfüllen.“ 49 Art. 24 ILC-Artikelentwurf lautet: „Die Rechtswidrigkeit eines Handelns eines Staates, das nicht im Einklang mit einer völkerrechtlichen Verpflichtung dieses Staates steht, ist ausgeschlossen, wenn der Urheber des fraglichen Handelns in einer Notlage keine andere vernünftige Möglichkeit hat, das Leben des Urhebers oder das Leben anderer Personen, die dem Urheber zur Obhut anvertraut sind, zu retten.“ 50 Vgl. dazu Paddeu/Jephcott, “COVID-19 and Defences in the Law of State Responsibility”, EJIL:Talk!, Blog of the European Journal of International Law, 17. März 2020 (2 Teile) https://www.ejiltalk.org/covid-19-and-defencesin -the-law-of-state-responsibility-part-i/ und https://www.ejiltalk.org/covid-19-and-defences-in-the-law-of-stateresponsibility -part-ii/. 51 Vgl. dazu den Beitrag von Andersen/Rambaut/Lipkin/Holmes/Garry, “The proximal origin of SARS-CoV-2“, in: Nature vom 17. März 2020, abrufbar unter: https://www.nature.com/articles/s41591-020-0820-9.pdf. 52 SPIEGEL online vom 29. Januar 2020, „Die Gerüchte-Pandemie“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-verschwoerungstheorien-die-geruechte-pandemie-a- 0e7d1ffb-9aa8-49c7-a0b4-5fb8fd7db593. SPIEGEL online vom 17. April 2020, „Was steckt hinter dem Corona-Labor von Wuhan?“, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/news-des-tages-was-steckt-hinter-dem-corona-labor-von-wuhan-a- 8ea75b08-ae6d-47b5-8f6c-837fb19afe7f. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. Mai 2020, S. 53 ff. „Like a bat out of hell. Die evolutionären Sprünge der Viren.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 17 Arbeitsmöglichkeiten aber entscheidend von der Kooperation Chinas abhängen wird. Ein aktuelles Geheimdienstdossier der sog. „Five Eyes“ erhärtet laut Medienberichten Spekulationen über Sicherheitslücken im Institut für Virologie in Wuhan und wirft China Vertuschungspolitik vor. So habe es offenbar seit Anfang Dezember Hinweise gegeben, dass sich das Virus von Mensch zu Mensch übertrage. Zudem werde China in dem Geheimdienstdossier vorgeworfen, Virusproben vernichtet zu haben und Veröffentlichungen von Wissenschaftlern über das Virus streng zu kontrollieren .54 Die WHO wiederum bezweifelt die Erkenntnisse der Geheimdienste.55 Neben Spekulationen über die Herkunft und Ausbreitung des Virus steht Chinas Informationspolitik gegenüber der WHO und der Öffentlichkeit seit Ausbruch des Corona-Virus im November 2019 weltweit in der Kritik. Die Studie der Henry Jackson Society enthält eine präzise Chronologie des chinesischen Pandemie-Managements im Zeitraum zwischen dem 17. November 2019 (erster bestätigter Corona-Fall) und dem 11. März 2020 (WHO ruft weltweite Pandemie aus).56 Die gegenüber China erhobenen Vorwürfe reichen laut Medienberichten vom Verschleiern des Ausmaßes der Krise, über das Vorenthalten bzw. Unterdrücken von vertraulichen Berichten (z.B. über die Gefahr einer Mensch-zu-Mensch-Infektion), zum Teil durch massiven Druck auf Mediziner und Journalisten, ferner die verspätete Meldung gegenüber der WHO bis hin zu Versäumnissen beim „Corona-Krisenmanagement“ (verspätete Abriegelung des Tiermarktes in Wuhan, fehlende Reisewarnungen etc.).57 53 SPIEGEL online vom 28. April 2020, „Deutsche Außenpolitiker fordern unabhängige Untersuchung in Wuhan“, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/coronavirus-deutsche-aussenpolitiker-fordern-unabhaengigeuntersuchung -in-wuhan-a-6b2d6869-35bc-4d27-85e2-f4b3c111b6a7. 54 SPIEGEL online vom 3. Mai 2020, „Five Eyes-Geheimdienstpapier. Schwere Vorwürfe gegen China wegen Coronavirus“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/schwere-vorwuerfe-gegen-china-wegen-coronavirus-a- 4d030766-897f-47de-9960-cca1a6c1b053. FR vom 3. Mai 2020, „Corona-Ursprung: Geheimdienste werfen China Vertuschung vor“, https://www.fr.de/panorama/corona-china-covid19-ursprung-virus-labor-sars-cov-2-who-geheimdienst-zr- 13747808.html. 55 Tagesschau vom 4. Mai 2020, „Herkunft des Coronavirus. WHO nennt Pompeos Kritik spekulativ", https://www.tagesschau.de/ausland/who-corona-us-anschuldigungen-101.html. 56 Henry Jackson Society, “Coronavirus Compensation? Assessing China’s Potential Culpability and Avenues of Legal Response”, April 2020, S. 9 ff., abrufbar unter: https://henryjacksonsociety.org/wpcontent /uploads/2020/04/Coronavirus-Compensation.pdf. 57 Tagesspiegel vom 27. April 2020, „Pekings Propaganda in der Coronakrise. Wie China die Kritik der EU zum Verstummen bringen wollte“, https://www.tagesspiegel.de/politik/pekings-propaganda-in-der-coronakrise-wiechina -die-kritik-der-eu-zum-verstummen-bringen-wollte/25777530.html. Tagesschau vom 21. April 2020, „Kritik an China: Zensur über Gesundheit gestellt“, https://www.tagesschau.de/inland/reporter-ohne-grenzen-china-corona-101.html. Telepolis vom 6. April 2020, „Für die Coronavirus-Pandemie ist die KP-China verantwortlich“, https://www.heise.de/tp/features/Fuer-die-Coronavirus-Pandemie-ist-die-KP-China-verantwortlich- 4697288.html?seite=all. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 18 4.2. Kausalketten Bei einer Schadensersatzklage geht es neben der Aufklärung von Pflichtverletzungen des Beklagten auch um die Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem geltend gemachten Schaden des Klägers. Der IGH hat im sog. bosnischen Völkermordfall (2007)58 die Frage nach der Kausalität einem bestimmten „Test“ unterworfen (“sufficiently direct and certain causal nexus test“), wonach der verletzte Staat darlegen muss, dass ein schädigendes Ereignis (z.B. die Corona- Pandemie) mit hinreichender Sicherheit (“with a sufficient degree of certainty“) hätte eingedämmt oder abgewendet werden können, wenn der beklagte Staat seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen wäre. In der Pandemie besteht das Problem nun darin, dass sich eindimensionale (quasi „ungestörte“) Kausalketten zwischen einer Pflichtverletzung und dem eingetretenen Schadensereignis praktisch kaum identifizieren und beweisen lassen. Zwischen dem Ausbruch des Virus in China und dem konkreten Schadensereignis (z.B. einem Geschäftskonkurs) in den USA stehen zahlreiche Handlungen und Ereignisse, die das Schadensereignis nachhaltig (mit) beeinflusst haben könnten und daher bei der Frage nach der Kausalität berücksichtigt werden müssen. Bei einer etwaigen Schadensersatzklage gegen China wäre es praktisch nicht möglich, im Rahmen einer lückenlosen Beweisführung zu unterscheiden zwischen Corona-Schäden, die sich allein auf Versäumnisse des beklagten Staates zurückführen lassen, und solchen Schäden, die durch ein etwaiges Pandemie -„Missmanagement“ des klagenden Staates hervorgerufen, getriggert oder vergrößert wurden .59 Während der Pandemie haben nämlich Staaten, Unternehmen und Menschen souveräne Entscheidungen getroffen, widerstreitende Interessen gegeneinander abgewogen, Zielkonflikte aufgelöst und dabei ggf. auch Fehler gemacht; sie sind Risiken eingegangen, haben Infektionsketten durchbrochen und Grundrechte beschränkt. Wer dann am Ende „pandemiebedingt“ seinen Job verliert, wird den Grund für seine Entlassung nicht zuerst auf dem Tiermarkt von Wuhan suchen, sondern andere, näherliegende Ursachen in Betracht ziehen. Wenn jemand an (oder mit) COVID-19 verstorben ist, müssen bei der Obduktion auch Vorerkrankungen offengelegt werden. Die International Law Commission (ILC) hat in ihren Erläuterungen zum Artikelentwurf zur Staatenverantwortlichkeit auf das Problem der „Multikausalität“ hingewiesen: 58 DW vom 26. Februar 2007, „UN-Gericht: Keine Entschädigung für Bosnien-Herzegowina“, https://www.dw.com/de/un-gericht-keine-entsch%C3%A4digung-f%C3%BCr-bosnien-herzegowina/a-2365583. 59 Vgl. die Pressemeldung vom 18. April 2020: „Trump "entgleist"? Kritik an Corona-Management wird lauter“, https://www.nordbayern.de/politik/trump-entgleist-kritik-an-corona-management-wird-lauter-1.10037102. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 19 „(…) It is only injury caused by the internationally wrongful act of a State, for which full reparation must be made. This phrase is used to make clear that the subject matter of reparation is, globally, the injury resulting from and ascribable to the wrongful act, rather than any and all consequences flowing from an internationally wrongful act.“60 Psychologisch ist es nachvollziehbar, dass Staaten und individuell Geschädigte nach „Schuldigen “ suchen und Verantwortlichkeiten einfordern – womöglich auch deswegen, um von eigenen Versäumnissen abzulenken. In einer globalisierten Welt ist die Frage nach Kausalität indes komplex geworden.61 Zu den Lehren der Pandemie gehört vielleicht auch die schmerzhafte Erkenntnis , dass die Frage nach der Schuld nicht wirklich weiterführt. 4.3. Staatenpraxis Staaten haben in der Vergangenheit regelmäßig davon abgesehen, Reparationen für Schäden in Zusammenhang mit der Verletzung von Infektionsschutzregelungen gerichtlich geltend zu machen . Bezeichnenderweise sehen die Internationalen Gesundheitsvorschriften keinen Rechtsweg für Schadensersatzforderungen, sondern nur einen Streitschlichtungsmechanismus vor – und selbst dieser ist bis heute nicht ins Werk gesetzt worden. David Fidler vom Council on Foreign Relations62 analysiert die traditionelle Zurückhaltung von Staaten, gegen andere Staaten wegen angeblicher Verletzungen von infektionsschutzrechtlichen Pflichten vor Gericht zu ziehen:63 „States have not seriously pursued compensation against countries accused of breaching treaty obligations to report disease events or refrain from imposing trade or travel measures that have no scientific basis. (…) States have not been keen to use customary law on state responsibility in the infectious disease context because of how political and epidemiological considerations align. Fulfilling treaty obligations to report disease outbreaks involves challenging scientific and public health questions and difficult political calculations. Pathogenic threats with the potential for cross-border spread can appear in any country. For example, although the origin of the devastating influenza pandemic of 1918-19 remains unclear, the United 60 Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries; Erläuterung zu Art. 31 (Reparation) Rdnr. 9, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. 61 Dafür braucht man nicht einmal die sog. „Chaostheorie“ zu bemühen. 62 Der Council on Foreign Relations (CFR) ist ein privater US-Think Tank mit Fokus auf außenpolitische Themen. Der CFR, mit Sitzen in New York City und Washington, wurde 1921 in New York gegründet. Dem CFR wird eine herausragende Funktion im Formulierungsprozess außenpolitischer Strategien zugesprochen und er gehört zusammen mit Chatham House und Carnegie Endowment for International Peace zu den weltweit einflussreichsten privaten Think Tanks. 63 David Fidler, “COVID-19 and International Law: Must China Compensate Countries for the Damage?”, 27. März 2020, Blog Just Security, https://www.justsecurity.org/69394/covid-19-and-international-law-must-chinacompensate -countries-for-the-damage-international-health-regulations/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 037/20 Seite 20 States is on the list of potential countries of origin. The H1N1 virus that caused an influenza pandemic in 2009 was first detected in the United States. This reality creates a shared interest among states not to litigate disease notification issues.“ Es bleibt abzuwarten, was die wegen COVID-19 in den USA erhobenen Klagen gegen China zur Staatenpraxis im internationalen Gesundheitsrecht beitragen werden. ***