Deutscher Bundestag Zur Frage von Reparationsansprüchen Griechenlands gegen Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 – 037/12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 2 Zur Frage von Reparationsansprüchen Griechenlands gegen Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 037/12 Abschluss der Arbeit: 19. April 2012 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 3 Zusammenfassung: In Griechenland werden deutsche Reparationszahlungen für die Folgen des Zweiten Weltkrieges immer wieder öffentlich diskutiert. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 regelt nach Ansicht der Bundesregierung Kriegsfolgen und Reparationspflichten abschließend. Aus völkerrechtlicher Sicht lässt sich überzeugend argumentieren, dass griechische Reparationsansprüche in Bezug auf Ereignisse bis 1945 nur dann rechtlich existieren, wenn sie (friedens)vertraglich konkretisiert worden sind. Dass Griechenlands Ansprüche auch ohne (friedens)vertragliche Regelung entstanden sein könnten, dürfte jedoch ebenfalls völkerrechtlich vertretbar sein. Folgt man dieser Position , so ergibt sich allerdings die Frage, wie es sich völkerrechtlich auswirkt, dass Griechenland seine Forderungen fast 70 Jahre nach Kriegsende und 20 Jahre nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag noch nicht in einem förmlichen Verfahren auf internationaler Ebene geltend gemacht hat. Hier könnte ein Anwendungsfall der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung vorliegen. Individuelle Ansprüche von griechischen Opfern deutscher Wehrmachtsverbrechen lässt die deutsche Rechtsprechung daran scheitern, dass nach der bis 1945 geltenden Rechtslage bei einer Verletzung des Kriegsvölkerrechts etwaige Schadensersatzansprüche gegen den verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zustanden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 4 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 5 2. Entstehung griechischer Reparationsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland? 6 2.1. Der völkerrechtliche Reparationsbegriff 6 2.2. Der Zeitpunkt der Entstehung völkerrechtlicher Reparationsansprüche 7 2.3. Reparationsansprüche gegen Deutschland auf der Grundlage eines Friedensvertrages 9 2.4. Londoner Abkommen über deutsche Auslandschulden 9 2.5. Vertrag vom 18. März 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland 10 3. Fortbestand möglicherweise entstandener griechischer Reparationsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland? 11 3.1. Auswirkungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages auf möglicherweise entstandene Reparationsansprüche Griechenlands 11 3.2. Völkerrechtliche Folgen der Charta von Paris für ein neues Europa 14 3.3. Völkerrechtliche Implikationen der bisher ausgebliebenen förmlichen Geltendmachung griechischer Reparationsansprüche 15 3.3.1. Das völkerrechtliche Institut der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung 15 3.3.2. Völkerrechtliche Argumente gegen eine Verwirkung griechischer Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung 17 3.3.3. Völkerrechtliche Argumente für eine Verwirkung griechischer Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung 18 4. Individuelle Ansprüche griechischer Staatsbürger gegen die Bundesrepublik Deutschland 19 5. Literatur 22 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 5 1. Einführung In seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage führte der griechische Außenminister Ende Februar 2012 aus, die Frage deutscher Reparationszahlungen an Griechenland zur Kompensation von Folgen des Zweiten Weltkrieges sei nach wie vor offen.1 Der stellvertretende Außenminister Dimitris Dollis bekräftigte wenige Tage später diese Position.2 Bisher hat Griechenland auf internationaler Ebene kein förmliches Verfahren eingeleitet, um Reparationsansprüche gegen Deutschland geltend zu machen. Vor dem Hintergrund der zitierten Äußerungen ist diese Möglichkeit zwar in Betracht zu ziehen, gegenwärtig ist sie jedoch rein hypothetisch. Die Frage nach offenen Reparationsansprüchen Griechenlands gegen Deutschland3 bedarf einer knappen Erläuterung ihres geschichtlichen Zusammenhangs:4 Die am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staaten trafen 1945 keine umfassende Vereinbarung bezüglich der Reparationspflichten Deutschlands. Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches war nicht mit spezifischen Reparationsversprechen verbunden. Die Londoner Konferenz über deutsche Auslandsschulden endete 1953 mit dem Abschluss eines Abkommens, das die Frage der Reparationspflichten Deutschlands gegenüber seinen ehemaligen Kriegsgegnern einem endgültigen Friedensvertrag vorbehielt. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der 1990 anstelle eines Friedensvertrages geschlossen wurde,5 regelt nach Ansicht der Bundesregierung abschließend alle Rechtsfragen bezüglich der Kriegsfolgen und Reparationspflichten. Vor diesem Hintergrund beschreibt die vorliegende Ausarbeitung den völkerrechtlichen Rahmen für Reparationsansprüche Griechenlands gegen die Bundesrepublik Deutschland (2. und 3. Kapitel). Da in der aktuellen öffentlichen Diskussion die Frage nach zwischenstaatlichen Reparationszahlungen oft mit der Problematik individuellen Schadensersatzes für die griechischen Opfer deutscher Wehrmachtsverbrechen verknüpft wird, skizziert die Ausarbeitung auch die Völkerrechtslage in diesem Bereich (4. Kapitel).6 1 Athens News Agency, 28. Februar 2012. 2 Athens News Agency, 16. März 2012. 3 Die nachfolgende Darstellung geht für den vorliegenden Zusammenhang von einer völkerrechtlichen Identität des Bundes mit dem Reich aus, vgl. BVerfGE 36, 1, 15 f. 4 Vgl. hierzu Sven Felix Kellerhoff, Schuldet Deutschland den Griechen 70 Milliarden?, http://www.welt.de/politik/deutschland/article13610386/Schuldet-Deutschland-den-Griechen-70- Milliarden.html (von WD 1 bereits elektronisch übermittelt). Zu den historischen Hintergründen vgl. Pierre d’Argent, Reparations after World War II, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). 5 Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990, BGBl. 1990 II 1318; in Kraft seit dem 15. März 1991, BGBl. 1991 II 585. 6 Innerstaatliches Recht bleibt im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung weitgehend außer Betracht: Deutsche Gesetze entfalten ihre rechtlichen Wirkungen innerhalb der deutschen Rechtsordnung; im Völkerrecht begründete Reparationsansprüche hingegen können durch innerstaatliches, einseitig erlassenes Recht nicht abgeschnitten werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 6 Die vorliegende Ausarbeitung behandelt die Reparationsfrage allein auf der Grundlage rechtswissenschaftlicher Literatur. Eine Analyse der Akten des Auswärtigen Amtes sowie des griechischen Außenministeriums konnte im Rahmen dieser Ausarbeitung nicht durchgeführt werden. Dies wäre jedoch erforderlich, um die Frage, ob Griechenland gegen Deutschland noch Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg geltend machen kann, abschließend beantworten zu können. 2. Entstehung griechischer Reparationsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland? 2.1. Der völkerrechtliche Reparationsbegriff Das Völkerrecht der Gegenwart bezeichnet als „Reparationen“ alle Wiedergutmachungsleistungen für Völkerrechtsverletzungen.7 Soweit die völkerrechtliche Literatur den Reparationsbegriff auf die Wiedergutmachung von Kriegsfolgen bezieht, verwendet sie den Begriff nicht einheitlich: (a) Zum Teil werden alle Kompensationszahlungen des kriegsverlierenden/reparationsverpflichteten Staates an den kriegsgewinnenden /reparationsberechtigten Staat als Reparationen bezeichnet. Es wird also nicht danach differenziert, ob der reparationsverpflichtete Staat gegenüber dem reparationsberechtigten Staat das Völkerrecht verletzt hat. Dieses Verständnis des Reparationsbegriffs scheint allerdings zunehmend außer Gebrauch zu fallen. (b) Zum Teil bezeichnet die völkerrechtliche Literatur auch im Kontext der Kriegsfolgen als Reparationen alle Zahlungen, die geleistet werden, um eine Völkerrechtsverletzung zu kompensieren - sei es eine Verletzung in Gestalt eines rechtswidrigen Angriffs oder von Verbrechen im weiteren Kriegsverlauf. Die vorliegende Darstellung folgt diesem neueren Reparationsbegriff. Nicht vom Reparationsbegriff erfasst sind individuelle Ansprüche auf Schadensersatz, die von individuellen Opfern von Kriegsverbrechen unmittelbar gegen einen anderen Staat gestellt werden . Diese Ansprüche können in der Regel erst nach Kriegsende und nur vor den inländischen Gerichten des verletzenden Staates erhoben werden. Derartige Ansprüche spielen in der aktuellen griechischen Diskussion um die Wiedergutmachung von Kriegsfolgen eine wichtige Rolle, sind aber völkerrechtsdogmatisch und begrifflich von dem rein zwischenstaatlich zu verstehenden Reparationsverhältnis zu trennen. Individuelle Ansprüche auf Schadensersatz für Kriegsfolgen oder gar Kriegsverbrechen können aber auch von einem Staat im Namen seiner Staatsangehörigen gegenüber einem verletzenden Staat geltend gemacht werden. Die in diesem Sinne mediatisierten Individualansprüche werden im völkerrechtlichen Schrifttum zumeist ebenfalls unter den Reparationsbegriff eingeordnet. Thema der aktuellen griechischen Diskussion ist ferner die Rückzahlung einer Zwangsanleihe. Ob es unter den Reparationsbegriff im eigentlichen Sinne fällt, wenn ein kriegsverlierender /reparationsverpflichteter Staat eine während des Krieges in einem kriegsgewinnenden /reparationsberechtigten Staat erhobene Zwangsanleihe zurückzahlt, kann dahingestellt blei- 7 Die Darstellung unter 2.1. folgt Dinah Shelton, Reparations, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 7 ben. Denn die Frage, ob eine Rückzahlungspflicht entstanden ist und fortbesteht, ist unabhängig von der Frage, ob diese Rückzahlungspflicht begrifflich als Reparation zu klassifizieren ist. 2.2. Der Zeitpunkt der Entstehung völkerrechtlicher Reparationsansprüche Die Frage nach offenen Reparationsansprüchen Griechenlands gegen Deutschland ist zunächst untrennbar verknüpft mit der Problematik, zu welchem Zeitpunkt und wodurch derartige Ansprüche rechtliche Existenz erlangen. Daher soll hier in Grundzügen erläutert werden, wann und wie ein völkerrechtlicher Reparationsanspruch entsteht. In bestimmten Rechtsgebieten erwächst die Pflicht, Schadensersatz zu leisten, bereits mit dem Eintritt des schädigenden Ereignisses, auch wenn die genaue Höhe des Schadensersatzes zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht.8 Weite Teile der völkerrechtswissenschaftlichen Literatur vertreten die Auffassung, der Reparationsanspruch entstehe „dem Grunde nach zwischen den kriegsführenden Staaten mit dem schadensstiftenden Ereignis“.9 Dafür, dass der Rechtsgrundsatz einer zeitgleichen Entstehung von Schaden und Ersatzpflicht auch im Völkerrecht gilt, könnte auch Art. 1 des Entwurf der Völkerrechtskommission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit von 2001 sprechen: Danach verpflichtet jede Völkerrechtsverletzung eines Staates diesen zur Wiedergutmachung des daraus erwachsenen Schadens.10 Auf die vorliegende Problematik angewandt würde dieser Ansatz die rechtliche Möglichkeit eröffnen , dass ein völkerrechtlicher Reparationsanspruch Griechenlands bereits während des Krieges entstanden sein könnte, und zwar unabhängig von einer späteren Feststellung durch völkervertragliche Vereinbarung. Allerdings ist zu bedenken, dass die 2001 von der ILC festgestellten Grundsätze zur Beurteilung, wann aus Sicht des Völkergewohnheitsrechts Reparationsansprüche entstehen, nicht unbedingt der bis 1945 geltenden Völkerrechtslage entsprochen haben müssen. Soweit ersichtlich, war die Staatenpraxis zum Recht der Kriegsreparationen 1945 noch nicht im Sinne des ILC-Entwurfs abgesichert . 8 Eine entsprechende Regelung findet sich im deutschen Zivilrecht in § 823 Abs. 1 BGB. 9 Statt vieler: Bert Eichhorn, Reparation als völkerrechtliche Deliktshaftung, Baden-Baden 1992, S. 189. 10 Im Wortlaut: „Every internationally wrongful act of a State entails the international responsibility of that state“, http://untreaty.un.org/ilc/reports/2001/english/chp4.pdf. Der Entwurf der ILC bildet den gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts ab, vgl. Stefan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage, Tübingen 2008, S. 249. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 8 Historisch betrachtet11 wurde der Reparationsanspruch zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als Recht des Siegers verstanden, der sich für seine Kriegskosten schadlos hielt. Auf die Rechtmäßigkeit oder -widrigkeit eines etwaigen Angriffs bzw. weiterer Kriegshandlungen kam es dabei nicht an.12 Folgte man dieser nach überwiegender Ansicht nicht mehr zeitgemäßen Doktrin, so wären griechische Reparationsansprüche jedenfalls nicht im Zeitpunkt des deutschen Angriffs oder der Verbrechen deutscher Wehrmachtsangehöriger im Laufe des weiteren Kriegsgeschehens, sondern erst nach dem Sieg über Deutschland entstanden. Die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg verknüpften Kriegsschuld und Reparationspflicht .13 Die Tatsache, dass Höhe und Dauer der Reparationszahlungen erst später durch eine zu diesem Zweck eingerichtete Kammer14 bestimmt werden sollten, ändert nichts daran, dass die spezifischen Reparationspflichten Deutschlands bereits bestanden. Denn hier ist zwischen der vorgelagerten Entstehung eines Reparationsanspruches „dem Grunde nach“ und dessen späterer konkreten Bezifferung zu differenzieren. Der Wortlaut des die Reparationspflicht begründenden Art. 231 Versailler Vertrag legt nahe, dass die vertragliche Regelung als konstituierend für den Anspruch verstanden wurde.15 Desweiteren führt eine Zusammenschau der Staatenpraxis zwischen den beiden Weltkriegen nicht zum Nachweis konsistenten Völkergewohnheitsrechts, wonach in diesem Zeitraum Reparationspflichten unabhängig von einer friedensvertraglichen Regelung anerkannt worden wären.16 Wollte man die überwiegende Staatenpraxis der Zwischenkriegszeit zur Grundlage machen, so wäre daraus wohl eher der Schluss zu ziehen, dass Griechenland etwaige Reparationsansprüche auf ausdrückliche friedensvertragliche Regelungen stützten müsste. Würden Reparationsforderungen eines Staates gegenüber einem anderen Staat an einen aktuellen Anlass anknüpfen, so ließe sich argumentieren, dass Völkerrechtsverletzungen eines Staates unmittelbar die Pflicht auslösen, den hieraus entstandenen Schaden wiedergutzumachen.17 Hingegen wäre in Bezug auf das Kriegsgeschehen bis 1945 mit überzeugenden Gründen vertretbar, dass 11 Die nachstehenden rechtsgeschichtlichen Ausführungen folgen im wesentlichen Randall Lesaffer/Mieke van der Linden, Peace Treaties after World War I, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/), (m.w.N.). 12 Dies lag nicht zuletzt darin begründet, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen von der Doktrin des „ius ad bellum“, d.h. der Vorstellung der Möglichkeit eines gerechten Kriegs, geprägt waren und das umfassende Gewaltverbots von Art. 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen noch keine Geltung beanspruchte. Anders die gegenwärtige Rechtslage: Der Angreifer haftet für alle Schäden, die aus einer illegalen Aggression oder im Zuge der Kriegsführung aus Verletzungen des humanitären Völkerrechts erwachsen, vgl. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts II. Bd. Kriegsrecht, München/Berlin 1962, § 48 S. 238 f. 13 Art. 231 Versailler Vertrag. (1919) 225 CTS 188, http://www.documentarchiv.de/wr/vv.html. 14 Art. 233 und 234 Versailler Vertrag. 15 Die Formulierung „[d]ie alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an“ impliziert die Idee der Begründung einer Verbindlichkeit durch übereinstimmende Willenserklärungen, also eine vertragliche Grundlage. 16 Vgl. Randall Lesaffer/Mieke van der Linden, (Anm. 11). 17 Dies entspricht dem gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts, wie er in Art. 1 des zitierten ILC- Entwurfs von 2001 zum Ausdruck kommt, siehe bereits oben (Anm. 10). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 9 die rechtliche Existenz von Reparationsansprüchen damals von ihrer völkervertraglichen Konkretisierung abhing. Dies spricht für die Vermutung, dass es einer ausdrücklichen internationalen Vereinbarung bedurfte, um Grund und Höhe der deutschen Reparationspflichten gegenüber Griechenland spezifisch festzustellen. Im Ergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Völkerrecht nicht abschließend und eindeutig regelt, ob griechische Reparationsansprüche gegenüber Deutschland bereits 1945 entstanden waren. 2.3. Reparationsansprüche gegen Deutschland auf der Grundlage eines Friedensvertrages Wie bekannt, schlossen Deutschland und seine ehemaligen Kriegsgegner unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Friedensvertrag. Die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht war ein völkerrechtlich bindender unilateraler Akt, der die militärischen Feindseligkeiten beendete, Reparationsfragen jedoch aussparte. Dass in den folgenden Jahren kein Friedensvertrag geschlossen wurde, lag vor allem in der Auseinanderentwicklung der alliierten Siegermächte begründet.18 Eine umfassende vertragliche Regelung der Reparationspflichten Deutschlands gegenüber allen Kriegsgegnern blieb somit vorerst aus. Dies traf auch für Griechenland zu. Folgt man der völkerrechtlich im Hinblick auf die Ereignisse bis 1945 nach wie vor vertretbaren Position, dass Reparationsansprüche nur durch deren friedensvertragliche Feststellung entstehen , so finden entsprechende griechische Forderungen bisher keine allgemein akzeptierte Grundlage im Völkervertragsrecht. 2.4. Londoner Abkommen über deutsche Auslandschulden Im Rahmen der Londoner Konferenz über deutsche Auslandsschulden schlossen die Vertragsstaaten 1953 ein Abkommen, das u.a. auch die Frage der aus dem Zweiten Weltkrieg erwachsenden Kriegsreparationen zum Gegenstand hatte (Londoner Abkommen).19 Hierzu hieß es in Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen: „Eine Prüfung der aus dem Zweiten Weltkriege herrührenden Forderungen von Staaten, die sich mit Deutschland im Kriegszustand befanden oder deren Gebiet von Deutschland besetzt war, und von Staatsangehörigen dieser Staaten gegen das Reich und im Auftrag des Reichs handelnde Stellen oder Personen einschließlich der Kosten der deutschen Besatzung, der während der Besetzung auf Verrechnungskonten erworbenen Guthaben sowie der Forderun- 18 Susanne Wasum-Rainer, Völkerrechtsfreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Exekutive, in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes, nach 60 Jahren, Berlin 2010, S. 125 ff., 126. (Frau Dr. Wasum-Rainer ist Leiterin der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes und Völkerrechtsberaterin der Bundesregierung.) 19 BGBl. 1953 II 331. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 10 gen gegen die Reichskreditkassen, wird bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt.“ Griechenland hat sich durch seine ausdrückliche Zustimmung und Ratifikation völkervertragsrechtlich an das Londoner Abkommen gebunden.20 Damit hat Griechenland sich auch verpflichtet , vorläufig keine Zahlungsansprüche zu erheben. Auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen kam es zum damaligen Zeitpunkt nicht zu einer klärenden Feststellung des Umfangs etwaiger Reparationsansprüche; alle möglicherweise bestehenden Forderungen wurden auf unbestimmte Zeit gestundet.21 Zu unterstreichen ist jedoch, dass das Moratorium nicht als Forderungsverzicht verstanden werden darf: Das Bestehen etwaiger Reparationsansprüche blieb durch das Londoner Abkommen unberührt. Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen könnte sogar dahingehend verstanden werden, dass hiermit nicht nur die vorläufige Offenheit der Reparationsfrage, sondern auch die Notwendigkeit einer endgültigen Regelung ausdrücklich bestätigt wird. 2.5. Vertrag vom 18. März 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland Durch den Vertrag vom 18. März 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland über Leistungen zugunsten griechischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind, verpflichtete sich Deutschland zur Zahlung von 115 Millionen DM an Griechenland. 22 Der Vertrag bezog sich allerdings nur auf den Ersatz von Schäden an Freiheit, Gesundheit und Leben derjenigen griechischen Staatsangehörigen , die aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren.23 Die beiden Vertragsparteien trafen also bewusst keine Regelung zugunsten aller individuellen Opfer, sondern differenzierten zwischen den Opfergruppen auf der Grundlage der nationalsozialistischen Motivation der Verfolgung. Der Vertrag stellte ausdrücklich nur für genau diejenigen Fragen, die den Vertragsgegenstand bildeten, eine abschließende Regelung dar.24 In einem Briefwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt und dem griechischen Botschafter in Deutschland behielt sich Griechenland im ausdrücklichen Widerspruch zur deutschen Position 20 BGBl. 1956 II 864. 21 Der BGH bestätigt diese Einschätzung und folgt hierbei der offiziellen Position der Bundesregierung, wie sie zugrundeliegenden Verfahren als Parteivortrag zum Ausdruck kam. Siehe BGH, Urteil vom 26.06.2003, AZ III ZR 245/98, Rz. 28 ff., insbesondere Rz. 29. Siehe auch die Vorinstanz OLG Köln 7. Zivilsenat, 27. August 1998, Az: 7 U 167/97. 22 Art. 1 des Vertrages, BGBl. 1961 II S. 1597. 23 Art. 1 des Vertrages. 24 Art. 3 des Vertrages. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 11 und mit Verweis auf Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen vor, zu einem späteren Zeitpunkt „mit dem Verlangen nach Regelung weiterer Forderungen, die aus nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen während Krieg- und Besatzungszeit herrühren“ an Deutschland heranzutreten .25 Dieser Dissens bezieht sich jedoch nur auf Ansprüche, die aus individueller Verfolgung erwachsen. Reparationsfragen im Sinne unmittelbar zwischenstaatlicher Ansprüche regelte der Vertrag nicht.26 Weder bestätigten die Vertragsparteien mit dem Vertragsabschluss, dass solche Ansprüche nach ihrer Ansicht bereits vorvertraglich entstanden seien, noch begründete der Vertrag durch eine verbindliche Feststellung das Bestehen berechtigter Reparationsansprüche. 3. Fortbestand möglicherweise entstandener griechischer Reparationsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland? Die Ausführungen des nachfolgenden Kapitels prüfen auf der Grundlage der völkerrechtlich vertretbaren , doch vom Völkerrecht nicht notwendig gebotenen Annahme, dass griechische Reparationsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland unabhängig von ihrer verbindlichen friedensvertraglichen Feststellung entstanden sein könnten, ob diese Ansprüche in diesem Falle noch fortbestünden. 3.1. Auswirkungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages auf möglicherweise entstandene Reparationsansprüche Griechenlands Der Zwei-plus-Vier-Vertrag erwähnt griechische Reparationsansprüche nicht: weder in einem diese bestätigenden, noch in einem versagenden Sinne. Nach Ansicht der Bundesregierung, der sich auch die deutsche Rechtsprechung angeschlossen hat, endete das in Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen vorgesehene Moratorium bezüglich etwaiger Reparationsansprüche, als der Vertrag vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) in Kraft trat.27 Eine weitere friedensvertragliche Regelung zu den Rechtsfolgen des Zweiten Weltkrieg werde es nicht geben.28 Nach dem Willen der Vertragspartner des Zwei-plus-Vier-Vertrages solle die Reparationsfrage in Bezug auf 25 Wiedergegeben in BGBl. 1961 II 1598. 26 Bernhard Kempen, Der Fall Distomo: griechische Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland , in: Hans-Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 179 ff., S. 192:“Die Wiedergutmachungsverträge knüpfen […] tatbestandlich nicht an beliebige Kriegsschäden […] an. Das deutsch-griechische Wiedergutmachungsabkommen lässt folglich […] die Reparationsforderungen Griechenlands unberührt.“ 27 BGH, Urteil vom 26.06.2003, AZ III ZR 245/98, 2. Leitsatz. 28 BGH, Urteil vom 26.06.2003, AZ III ZR 245/98, Rz. 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 12 Deutschland nicht mehr vertraglich geregelt werden.29 Der Bundesgerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Erklärung der Bundesregierung vom 27. Oktober 1997 im Bundestag . Danach sei es zwar wegen der bekannten Gegensätze der vier Hauptsiegermächte in der Nachkriegszeit nicht zu der im Londoner Schuldenabkommen vorgesehenen endgültigen Regelung der Reparationszahlungen gekommen, die Reparationsfrage sei gleichwohl fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges obsolet geworden, der Zwei-plus-Vier-Vertrag beantworte die Reparationsfrage abschließend und endgültig.30 Das völkerrechtliche Schrifttum sieht diese Position der Bundesregierung zum Teil kritisch. So wird vorgetragen, der Zwei-plus-Vier-Vertrag erwähne Reparationen nicht, eine abschließende Regelung würde jedoch ausdrückliche Bestimmungen erfordern.31 Folgt man jedoch der Position der Bundesregierung, so stellt sich aus völkerrechtlicher Sicht die Frage, wie sich Vereinbarungen der Vertragsparteien des Zwei-plus-Vier-Vertrages auf Nicht- Vertragsstaaten wie Griechenland auswirken. Gemäß Art. 34 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) begründet ein Vertrag für einen Drittstaat ohne dessen Zustimmung weder Pflichten noch Rechte. Ein Drittstaat ist dabei nach Art. 2 (h) WVK jeder Staat, der nicht Vertragspartei geworden ist, selbst wenn er zuvor bei der Aushandlung des Vertrags eine gewisse Rolle gespielt haben mag.32 Der Wortlaut der WVK scheint daher nahezulegen, dass die vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges, die Bundesrepublik Deutschland und die DDR durch den von ihnen geschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag allein keine Regelungen über Ansprüche Griechenlands, insbesondere über einen völkerrechtlich verbindlichen Verzicht Griechenlands auf möglicherweise noch bestehende Reparationsansprüche, treffen konnten. Der völkerrechtliche Grundsatz, dass Verträge keine Pflichten Dritter begründen können, galt bereits im Römischen Recht.33 Er wird daher oft als „pacta tertiis“-Grundsatz zitiert,34 ist nahezu 29 A.a.O. 30 A.a.O. mit Verweis auf BT-Drucks.13/8840 S. 2 sowie die Plenardebatte des Bundestages am 6. Juli 2000, BT- Plenarprotokoll 14/114 S. 10755. 31 Marc Jacob, London Agreement on German External Debts (1953), in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/), Rz. 42:“Any final settlement would arguably require some form of regulation rather than complete silence on the matter.” Jacob führt weiter aus: “In 1990 the (politically unpalatable) argument could have been made that there was still missing former territory following West Germany’s merger with Eastern Germany and that a deferral of repayments under Art. 25 [London Agreement] and/or an exclusion of reparations under Art. 5 [London Agreement] was for this reason still warranted.” (A.a.O., Rz. 43.) 32 Budislav Vukas, Treaties, Third-Party Effect, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/), Rz.1. 33 Der Absatz folgt im wesentlichen den Ausführungen von Budislav Vukas, Treaties, Third-Party Effect, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/), Rz.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 13 weltweit nachweisbar und im Völkerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Sinne von Art. 38 (1) (c) IGH Statut anerkannt. Zudem ist er durch zahlreiche Gerichtsentscheidungen bestätigt und als Völkergewohnheitsrecht akzeptiert. Indem er die Zustimmung des Drittstaates zu einem vertraglich begründeten Rechtsverlust erforderlich macht, bringt er die souveräne Gleichheit der Staaten zum Ausdruck.35 Der „pacta tertiis“-Grundsatz ist mithin in seiner systematischen Stellung in der Völkerrechtsordnung mehrfach abgesichert: Vertraglich, als allgemeiner Rechtsgrundsatz, gewohnheitsrechtlich und als Konkretisierung der souveränen Gleichheit der Staaten. Hieraus kann geschlossen werden, dass er auch im Sinne vom Art. 25 Grundgesetz als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Völkerrechts zu werten ist.36 Damit ist die völkerrechtliche Regel , dass völkervertragliche Vereinbarungen nicht zu Lasten Dritter gehen dürfen, Bestandteil des deutschen Bundesrechtes. Aus völkerrechtlicher Sicht schließt sich hieran die Frage an, ob die Anwendung des „pacta tertiis “-Grundsatzes eine Modifikation erfährt, weil die Parteien des Zwei-plus-Vier-Vertrages diesen „statt eines Friedensvertrages“ schlossen. Die Kompetenz der vier Hauptsiegermächte, bei der vertraglichen Regelung der Kriegsfolgen des Zweiten Weltkrieges stellvertretend für alle ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands aufzutreten, wurde im zeitlichen Zusammenhang des Zwei-plus- Vier-Vertrages von keinem anderen Staat förmlich infrage gestellt. Auch Griechenland hat zu diesem Zeitpunkt keinen Protest erhoben.37 Gleichwohl dürfte die Argumentation, die vertragsschließenden Staaten hätten sich allein durch den Gebrauch der Klausel „statt eines Friedensvertrages “ selbst ermächtigen können, nachteilige Regelung zu Lasten von Drittstaaten zu treffen, dem Völkerrecht eher fernliegen. Teile des völkerrechtlichen Schrifttums argumentieren, der Zwei-plus-Vier-Vertrag sei ein Statusvertrag , auf den das völkerrechtliche Verbot der Verträge zu Lasten Dritter nicht anwendbar sei.38 Unter einem Status versteht das Völkerrecht in diesem Zusammenhang Rechtsverhältnisse wie etwa die territoriale Zugehörigkeit eines Gebiets zu einem Staat, oder seine für alle Staaten 34 Abzuleiten von der Formel „pacta tertiis nec nocere nec prodesse possunt“, d.h.: Verträge können Dritten weder schaden noch nützen. 35 Dieses elementare und durch die VN-Charta bestätigte Prinzip der Völkerrechtsordnung impliziert, dass kein Staat für einen anderen eine Regelung treffen kann („par in parem non habet imperium“), siehe Artikel 2 Nr. 1 VN-Charta. 36 Die Anerkennung als Völkergewohnheitsrecht oder als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Sinne von Art. 38 (1) (c) IGH Statut sind in ständiger Rechtsprechung durch das BVerfG bestätigte Geltungsgründe i.S.v. Art. 25 GG, siehe die Nachweise bei Hans D. Jarass, Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland , Kommentar, München 2009, Art. 25, Rz. 5 und 7. 37 Vgl. allg. zu den Rechtsfolgen eines Protests: Christophe Eick, Protest, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). 38 Bernhard Kempen, Der Fall Distomo: griechische Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland , in: Hans-Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 179 ff., S. 194. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 14 verbindliche Qualifikation als entmilitarisierte Zone.39 Dem könnte entgegen gehalten werden, dass die Reparationsfrage keinen völkerrechtlichen Status in diesem Sinne, sondern eine Zahlungspflicht betrifft. Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies konkret: Folgt man der Position, dass Griechenland Reparationsansprüche erworben hat, ohne dass diese Ansprüche in einem Friedensvertrag ausdrücklich festgestellt wurden, so ließe sich aus völkerrechtlicher Sicht argumentieren, diese Ansprüche seien durch den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages nicht erloschen. 3.2. Völkerrechtliche Folgen der Charta von Paris für ein neues Europa Geht man von der eingangs formulierten Arbeitshypothese aus, Griechenlands Reparationsansprüche seien unabhängig von einer friedensvertraglichen Feststellung entstanden, so bleibt gleichwohl die Frage, ob diese Ansprüche nach wie vor bestehen. Die von Griechenland mit unterzeichnete Charta von Paris für ein neues Europa von 1990 enthält unter der Überschrift „Einheit“ nachfolgende Ausführungen: „Wir nehmen mit großer Genugtuung Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland und begrüßen aufrichtig, dass das deutsche Volk sich in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in einem Staat vereinigt hat. Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist ein bedeutsamer Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für ein geeintes demokratisches Europa, das sich seiner Verantwortung für Stabilität, Frieden und Zusammenarbeit bewusst ist.“40 Die rechtliche Bedeutung von Griechenlands „Kenntnisnahme mit großen Genugtuung“ bedarf der Auslegung: Einerseits ließe sich Griechenlands Zustimmung zur Charta von Paris als uneingeschränkte Akzeptanz des Zwei-plus-Vier-Vertrages verstehen, die den Verzicht auf Reparationen mit umfasst. Ein starkes Argument für diese Position ist zunächst der Wortlaut der Charta, der auf den Zweiplus -Vier-Vertrag als abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland verweist. Desweiteren ließe sich diese Interpretation darauf stützen, dass Griechenland keinerlei Vorbehalt zur Charta von Paris äußerte. Ein Vorbehalt wäre aus völkerrechtlicher Sicht das am besten geeignete und klarste Mittel gewesen, wenn Griechenland hätte deutlich machen wollen, dass es die Reparationsfrage nicht für erledigt hielt. 39 Grundlegend Eckart Klein, Statusverträge im Völkerrecht - Rechtsfragen territorialer Sonderregime, Berlin u.a. 1980, S. 21 ff. 40 Charta von Paris für ein neues Europa, angenommen am 21. November 1990 als Schlussakte der KSZE- Sondergipfelkonferenz vom 19.-21.11.1990, http://www.menschenrechtsbuero.de/pdf/paris90g.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 15 Andererseits ließe sich argumentieren, die „Kenntnisnahme“ stehe unter der allgemeinen Überschrift der deutschen „Einheit“. Sowohl dieser Wortlaut als auch der systematische Zusammenhang sprechen nicht unbedingt dafür, Griechenlands „Kenntnisnahme mit großer Genugtuung“ als umfassenden und endgültigen Verzicht auf Reparationen auszulegen. Die „Genugtuung“ über die abschließende Regelung könnte insofern auch einfach nur bedeuten, dass Griechenland die Wiedervereinigung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bei gleichzeitig endgültigem Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete begrüßte. Zweifel an einer extensiven Auslegung der „Kenntnisnahme mit großer Genugtuung“ ließen sich nicht zuletzt damit begründen , dass in der gesamten Charta kein einziger ausdrücklicher Hinweis auf Reparationsfragen oder konkrete Folgen des Zweiten Weltkriegs enthalten ist. Soweit öffentlich bekannt, hat Griechenland nicht als Reaktion auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag eine völkerrechtlich bindende unilaterale Erklärung mit dem Inhalt eines abschließenden und umfassenden Reparationsverzichts abgegeben. Eine solche Erklärung hätte dem Beispiel Finnlands folgen können41 und hätte die Reparationsfrage geklärt. Folgt man also der völkerrechtlich vertretbaren Annahme der Möglichkeit einer vertragsunabhängigen Entstehung von Reparationsansprüchen, so wäre im vorliegenden Fall zumindest nicht völkerrechtlich zwingend davon auszugehen, dass Griechenlands Unterzeichnung der Charta von Paris als eine ausdrückliche und unzweideutige Verzichtserklärung hinsichtlich der Reparationsansprüche zu werten sei. 3.3. Völkerrechtliche Implikationen der bisher ausgebliebenen förmlichen Geltendmachung griechischer Reparationsansprüche Auf der Grundlage der Annahme, dass Reparationsansprüche unabhängig von ihrer friedensvertraglichen Feststellung überhaupt entstehen können und sie im vorliegenden historischen Kontext Griechenland zugewachsen sind, ist aus völkerrechtlicher Sicht die Frage zu erörtern, welche rechtlichen Folgen sich daraus ergeben, dass Griechenland fast 70 Jahre nach Kriegsende und 20 Jahre nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages seine Reparationsforderungen noch nicht in einem förmlichen völkerrechtlichen Verfahren geltend gemacht hat. 3.3.1. Das völkerrechtliche Institut der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung Wie andere Rechtsgebiete kennt auch das Völkerrecht in spezifischen Zusammenhängen die Rechtsfigur der stillschweigenden Zustimmung („tacit consent“42 bzw. „acquiescence“43). Diese 41 Im einzelnen siehe Bert Eichhorn, Reparation als völkerrechtliche Deliktshaftung, Baden-Baden 1992, S. 144, Fn. 134. 42 Eingehend Doris König, Tacit Consent/Opting Out Procedures, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). 43 Eingehend Nuno Sergio Marques Antunes, Acquiescence, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 16 hat den Effekt, dass ein Recht verwirkt wird ist („estoppel“ 44), es mithin nicht mehr geltend gemacht werden kann. Die ausdrückliche Zustimmung45 eines Staates kann in der Regel durch seine stillschweigende Zustimmung („tacit consent“) ersetzt werden, wenn dies völkervertraglich für den Anwendungsbereich eines bestimmten Vertrages ausdrücklich vorgesehen ist.46 Es gibt jedoch keine für die Reparationsfrage zwischen Griechenland und Deutschland einschlägigen völkerrechtlichen Verträge , in denen eine entsprechende „tacit-consent-Klausel“ normiert wäre. Daher ist vorliegend vor allem die Möglichkeit einer völkerrechtlichen Zustimmung Griechenlands durch bloße Duldung, der der Erklärungswert einer stillschweigenden Zustimmung beigemessen wird („acquiescence“), in Betracht zu ziehen. Die völkerrechtlichen Voraussetzungen einer Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung erfordern das Schweigen oder die Untätigkeit eines Staates im Hinblick auf das Handeln eines anderen Staates, soweit spezifische Umstände vorliegen, aufgrund derer eine ausdrückliche Reaktion des schweigenden bzw. untätigen Staates erwartet werden durfte.47 Die Feststellung, ob in einer bestimmten Situation von einem Staat eine ausdrückliche Reaktion erwartet werden darf, ist stark von Billigkeitserwägungen („aequitas“) getragen. So spielt bei der Konkretisierung der Verhaltenserwartungen die Pflicht der Staaten, nach Treu und Glauben („bona fide“) zu handeln, eine entscheidende Rolle.48 Die Verwirkung durch stillschweigende Zustimmung bezieht ihre Legitimität aus den übergeordneten Zielen des Völkerrechts: Dieses soll die Verhältnisse zwischen den Staaten stabilisieren, Frieden erhalten, Konflikte vermeiden und Rechtssicherheit herstellen . Ob im einzelnen Fall eine Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung zu bejahen ist, ist nicht zuletzt im Lichte dieser Ziele der Völkerrechtsordnung zu beurteilen. 44 Zur Verwirkung im Völkerrecht siehe eingehend Thomas Cottier/Jörg Paul Müller, Estoppel, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Der Internationale Gerichtshof definiert „estoppel wie folgt:“ [T]he principle operates to prevent a State contesting before the Court a situation contrary to a clear and unequivocal representation previously made by it to another State, either expressly or impliedly, on which representation the other State was, in the circumstances, entitled to rely and in fact did rely, and as a result that other State has been prejudiced or the State making it has secured some benefit or advantage for itself.”, ICJ, Temple of Preah Vihear Case, [1962] ICJ Rep 6, S. 143. 45 Wenn Griechenland der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen diplomatischer, nicht-veröffentlichter Kommunikationen zugesichert haben sollte, keine Reparationsforderungen im Hinblick auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges mehr erheben zu wollen, so könnte es dadurch seinen Anspruch verwirkt haben, dies zu einem späteren Zeitpunkt zu tun. Ob es jedoch jemals eine solche vertrauliche ausdrückliche Zusicherung gegeben hat, ist aus allgemein zugänglichen öffentlichen Quellen nicht ersichtlich. 46 Siehe Doris König (Anm. 42), Rz. 3. 47 Nuno Sergio Marques Antunes (Anm. 43), Rz. 1, definiert “acquiescence” wie folgt: “It concerns a consent tacitly conveyed by a State, unilaterally […], through silence or inaction, in circumstances such that a response expressing disagreement or objection in relation to the conduct of another State […] would be called for. Acquiescence is thus consent inferred from a juridically relevant silence or inaction. Qui tacit consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset (he who keeps silent is held to consent if he must and can speak).” (Rz.1.) 48 Nuno Sergio Marques Antunes (Anm.43), Rz. 19 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 17 Ein stillschweigender Verzicht kann im Interesse eines Staates liegen, wenn ein ausdrücklicher Verzicht innenpolitisch schwer durchsetzbar wäre. Das völkerrechtliche Institut der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung ist daher oft keine unzumutbare Härte, sondern kann durchaus den innenpolitischen Interessen der Regierung des verzichtenden Staates entsprechen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Inhalt und Grenzen des völkerrechtlichen Instituts der Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung durch unbestimmte Rechtsbegriffe und weite Beurteilungsspielräume geprägt sind. Ob die Voraussetzungen einer Verwirkung im Einzelfall erfüllt sind, hängt zumeist von der Perspektive des Betrachters ab. Völkerrechtswissenschaftlich sind in dieser Frage bisweilen einander widersprechende Ergebnisse vertretbar. 3.3.2. Völkerrechtliche Argumente gegen eine Verwirkung griechischer Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung Die vorliegenden Informationen49 unterstützen zumindest nicht zwingend die Annahme, Griechenland habe dem Ausbleiben von Reparationen bisher stillschweigend und mit dem Effekt einer endgültigen Verwirkung zugestimmt. In den Jahren unmittelbar nach dem Londoner Abkommen von 1953 konnte Griechenland als Staat mittleren Gewichts kaum erwarten, die vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges gegen deren Willen zum Abschluss eines Friedensvertrages mit den beiden deutschen Staaten bewegen zu können. Dass Griechenland Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen akzeptierte und in den darauf folgenden Jahren auf einen geeigneten Zeitpunkt wartete, könnte eher als realistische Einschätzung der damaligen politischen Kräfteverhältnisse zu werten sein denn als ein Verhalten , das Griechenlands stillschweigende Zustimmung zum Ausdruck gebracht hätte. In dem bereits zitierten Briefwechsel von 196050 verwies die Regierung Griechenlands auf Art. 5 Abs. 2 Londoner Abkommen. Damit machte sie 1960 ihre Erwartung deutlich, es werde eine völkervertragliche Regelung der griechischen Ansprüche geben. Aus völkerrechtlicher Sicht hemmte der Briefwechsel wohl zumindest bis zum Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages eine Verwirkung griechischer Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung. Gegen eine Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung im unmittelbaren Zusammenhang der deutschen Wiedervereinigung lassen sich verschiedene öffentliche Stellungnahmen höchster Vertreter der griechischen Staatsregierung anführen: Als sich die deutsche Wiedervereinigung abzeichnete, kündigte der damalige griechische Ministerpräsiden Konstantinos Mitsotakis im April 1990 öffentlich an, Griechenland werde Entschädigung für zugefügte Zerstörungen verlangen .51 Im November 1990 – weniger als zwei Monate nach Abschluss und vier Monate vor dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier Vertrages - erklärte der damalige griechische Außenminister An- 49 Wie eingangs erwähnt, beruht die Ausarbeitung allein auf juristischer Fachliteratur. Ein Studium der Akten des Auswärtigen Amtes und des Griechischen Außenministeriums war nicht möglich. 50 Siehe oben (Anm. 25). 51 Die Tageszeitung Nr. 3254 vom 06.11.1990, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 18 tonis Samaras öffentlich, Griechenland fordere „mit Nachdruck“ Reparationen von Deutschland .52 Diese Position bestätigte Antonis Samaras knapp drei Monate nach dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier Vertrages im Juni 1991 und gab zu verstehen, dass es keine Verzichtserklärung Griechenlands gebe und die Reparationsfrage offen bleibe.53 Die Annahme, Griechenland habe seine Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg nicht endgültig und vollumfänglich verwirkt, obwohl es diese bisher nicht in einem förmlichen völkerrechtlichen Verfahren geltend gemacht hat, scheint im Lichte der genannten Gründe völkerrechtlich vertretbar. 3.3.3. Völkerrechtliche Argumente für eine Verwirkung griechischer Ansprüche infolge stillschweigender Zustimmung Ausgehend von der Fragestellung, ob Griechenland Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland geltend machen könnte, und vor dem Hintergrund der rechtsdogmatischen Ausführungen zur Verwirkung infolge stillschweigender Zustimmung (3.3.1.) soll abschließend untersucht werden, ob spezifische Umstände vorliegen, aufgrund derer eine ausdrückliche Reaktion Griechenlands erwartet werden durfte, wenn Griechenland seine Reparationsforderungen nicht verwirken wollte. Seit dem Abschluss des Londoner Abkommens hat Griechenland - soweit aus öffentlich zugänglichen Quellen ersichtlich - keine bilaterale völkerrechtliche Lösung der Reparationsfrage angestrebt : Griechenland hat weder Verhandlungen mit dem Ziel einer völkervertraglichen Regelung initiiert, noch hat es sich aktiv um eine schiedsgerichtliche Lösung bemüht. Dieser Unterlassung könnte der Erklärungswert einer stillschweigenden Zustimmung beigemessen werden. Allein die Tatsache der deutschen Wiedervereinigung könnte für sich genommen aus völkerrechtlicher Sicht als ein spezifischer Umstand zu werten sein, aufgrund dessen eine ausdrückliche Reaktion Griechenlands in den üblichen Handlungsformen zwischenstaatlicher Beziehungen erwartet werden durfte. Nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages stellte Deutschland mehrfach klar, es halte die Reparationsfrage durch diesen Vertrag für abschließend geregelt. Deutschland hat diese Position als Parteivortrag im Rahmen verschiedener gerichtlicher Verfahren54, u.a. auch vor griechischen Zivilgerichten , bekräftigt. Die deutliche und unbedingte Positionsbestimmung Deutschlands könnte als ein Umstand gewertet werden, aufgrund dessen eine ausdrückliche Reaktion Griechenlands erwartet werden durfte, wenn Griechenland seine Reparationsansprüche nicht verwirken wollte. Folgt man dieser Wertung, so hätte Griechenland zumindest im Rahmen diplomatischer Kommunikationen ausdrücklich darauf hinweisen müssen, es gedenke zu einem späteren Zeitpunkt Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg zu erheben. 52 A.a.O. 53 Wirtschaftswoche Nr. 024 vom 07.06.1991, S.36. 54 Siehe hierzu Kapitel 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 19 Ein weiterer spezifischer Umstand, aufgrund dessen kurz nach der deutschen Wiedervereinigung eine ausdrückliche Reaktion Griechenlands erwartet werden durfte, könnte in einer offiziellen Verlautbarung der Vereinten Nationen liegen, die die von der Bundesrepublik Deutschland erbrachten Reparationsleistungen als „the most comprehensive and systematic precedent of reparations by a government to groups of victims for redress of wrongs suffered“ würdigt.55 Weder aus der VN-Verjährungskonvention von 196856 noch aus der Europäischen Verjährungskonvention von 197457 lassen sich völkerrechtliche Argumente zu Gunsten des griechischen Standpunktes ableiten. Denn beide Konventionen stoppen eine Verjährung staatlicher Strafverfolgungsansprüche . Fragen der Staatshaftung, einschließlich der Reparationszahlungen für Kriegsfolgen, lassen sie hingegen unberührt.58 Fast 70 Jahre nach den Kriegsverbrechen in Griechenland, fast 60 Jahre nach dem Londoner Abkommen und 20 Jahre nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag würde die Rechtssicherheit im Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland durch die späte Geltendmachung von Reparationsansprüchen aus dem Zweiten Weltkrieg erheblich erschüttert. Die Orientierung des Völkerrechts an seinem übergeordneten Ziel, Rechtssicherheit zu schaffen, spricht dafür, die Reparationsfrage als erledigt anzusehen. Im Ergebnis gibt es aus völkerrechtlicher Sicht stichhaltige Gründe für den Standpunkt, Griechenland habe Reparationsansprüche aus dem Zweiten Weltkrieg - sofern diese unabhängig von einer friedensvertraglichen Feststellung überhaupt entstanden sind - jedenfalls durch seine stillschweigende , über Jahrzehnte andauernde Zustimmung verwirkt. 4. Individuelle Ansprüche griechischer Staatsbürger gegen die Bundesrepublik Deutschland Neben Reparationen auf zwischenstaatlicher Ebene spielen seit einigen Jahren individuelle Schadensersatzansprüche in der rechtswissenschaftlichen Diskussion um eine angemessene Wiedergutmachung von Kriegsfolgen eine zunehmende Rolle.59 55 United Nations Economic and Social Council E/CN, 4 Sub. 2/1993/8 vom 2. Juli 1993, zitiert nach Dieter Blumenwitz , Die Fragen der deutschen Reparationen, in: Hans-Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 63 ff., S. 76. 56 Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, UNTS, Bd. 754, S. 73, ILM 8 (1969). Die Bundesrepublik Deutschland hat die Konvention nicht ratifiziert. 57 Europäische Konvention über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen , ETS, Nr. 82. (http://www.conventions.coe.int/Treaty/Commun/QueVoulezVous.asp?NT=082&CM=8&DF=13/04/2012&CL=E NG). 58 Steffen Eicker, der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt u.a. 2008, S. 311 und 313. 59 Allgemein hierzu Commentary on the Additional Protocols of 8 June 1977 to the Geneva Conventions of 12 August 1949, International Committee of the Red Cross, Geneva, 1987, S. 1055-57, insbesondere Rz. 3657. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 20 Eine vorstellbare Rechtsgrundlage für die rechtliche Verfolgung entsprechender Begehren könnte sich in Amts- oder Staatshaftungsansprüchen finden.60 Dies setzt allerdings voraus, dass diese Haftungsgrundlagen auch für individuelle Schäden in Folge der Verletzung von Kriegsvölkerrecht anwendbar wären. Noch lange nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Rechtslage in dieser Hinsicht eindeutig: Das Völkerrecht erkannte individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden nicht an. Doch in den letzten Jahrzehnten gewannen die Menschenrechte und mit ihnen ein verbesserter Individualrechtsschutz erheblich an Bedeutung.61 Diese (völker)rechtliche Entwicklung mag auch bei griechischen Opfern bzw. deren Nachfahren Hoffnungen geweckt haben, doch noch Genugtuung für die während des Zweiten Weltkrieges erlittenen Verbrechen zu erfahren. Seit Mitte der 1990er Jahre erheben sie entsprechende Forderungen . Große internationale Aufmerksamkeit fand in diesem Zusammenhang vor allem die gerichtliche Auseinandersetzung um Wiedergutmachung für das SS-Massaker in dem griechischen Dorf Distomo .62 In diesem Fall hatten die griechischen Kläger vor verschiedenen nationalen63 und internationalen Gerichten64 versucht, unter Berufung auf kriegsvölkerrechtliche Anspruchsgrundlagen Schadensersatz nicht nur von den Tätern selbst, sondern auch von der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Urteile griechischer Zivilgerichte, die den Nachfahren der Opfer Schadensersatz zusprachen, durften bisher nicht vollstreckt werden. Dies hat zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Sache „Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany“65 sowie unlängst der Internationale Gerichtshof in seiner Entscheidung „Jurisdictional Immunities of the State 60 Dies bestätigt Art. 3 des Vertrages vom 18. März 1960 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland über Leistungen zugunsten griechischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind (s.o., Anm. 22). 61 Vgl. Simone Gorski, Individuals in International Law, sowie Rainer Hofmann, Compensation for Personal Damages Suffered during World War II, beide in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). 62 Zum historischen Geschehen siehe Dieter Begemann, Distomo 1944, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 30 ff. 63 Siehe Versäumnisurteil des Zivilgerichts erster Instanz („Protodikeio“) von Livadia vom 30.10.1997 sowie Urteil des Obersten Hellenischen Gerichts („Areios Pagos“) (Prefecture of Voiotia v. Federal Republic of Germany, case No. 11/2000, ILR, Vol. 129, S. 513) vom 04.05.2000. Am 17.09.2000 bestätigte das Oberste Sondergericht Griechenlands („Anotato Eidiko Dikastirio“) Deutschlands Immunität gegenüber den Entscheidungen der griechischen Zivilgerichte (Margellos v. Federal Republic of Germany, case No. 6/2002, ILR, Vol. 129, S. 525). Auf deutscher Seite siehe LG Bonn, OLG Köln sowie in letzter Instanz der BGH, Urteil vom 26. Juni 2003, AZ: III ZR 245/98, NJW 2003 S. 3488. 64 Siehe v.a. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kalogeropoulou and others v. Greece and Germany (Application No. 59021/00, Decision of 12 December 2002, ECHR Reports 2002-X, S. 417; ILR, Vol. 129, S. 537). 65 EGMR, Application No. 59021/00, Decision of 12 December 2002, ECHR Reports 2002-X, S. 417, http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=3&portal=hbkm&action=html&highlight=&sessionid=9052060 4&skin=hudoc-en. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 21 (Germany v. Italy: Greece Intervening)“66 bestätigt. Vollstreckungsmaßnahmen wären auf der Grundlage der beiden Entscheidungen nur dann rechtlich zulässig, wenn die Bundesrepublik Deutschland freiwillig auf ihre Staatenimmunität verzichtete und sich der Vollstreckung unterwürfe . Es gibt jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Bundesregierung ihre Haltung in diesem Sinne ändert. Urteile deutscher Zivilgerichte ließen die Schadensersatzansprüche der griechischen Opfer bzw. ihrer Nachfahren im wesentlichen daran scheitern, dass es zumindest 1944, d.h. zum Zeitpunkt der von Deutschen verübten Verbrechen, keine materiell-rechtliche Grundlage für individuelle Schadensersatzansprüche der Opfer von Kriegsrechtsverletzungen gegeben habe. So urteilte der BGH: „Nach der im Zweiten Weltkrieg gegebenen Rechtslage standen im Falle von Verletzungen des Kriegsvölkerrechts etwaige Schadensersatzansprüche gegen den verantwortlichen fremden Staat nicht einzelnen geschädigten Personen, sondern nur deren Heimatstaat zu.“67 Dies bestätigte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde gegen das zitierte Urteil und führte aus: „Ungeachtet von Entwicklungen auf der Ebene des Menschenrechtsschutzes, die zur Anerkennung einer partiellen Völkerrechtssubjektivität des Individuums sowie zur Etablierung vertraglicher Individualbeschwerdeverfahren geführt haben, stehen sekundärrechtliche Schadensersatzansprüche wegen völkerrechtswidriger Handlungen eines Staates gegenüber fremden Staatsangehörigen grundsätzlich nach wie vor nur dem Heimatstaat zu.“68 Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde in materiell-rechtlicher Hinsicht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt.69 Der rechtliche Rahmen für Wiedergutmachungsansprüche einzelner Griechen gegen die Bundesrepublik Deutschland, die vor deutschen Gerichten erhoben werden, könnte in Zukunft u.a. von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich einer dort gegenwärtig anhängigen Verfassungsbeschwerde zu einem anderen Sachverhalt abhängen.70 Allerdings ist kaum zu erwarten , dass das Bundesverfassungsgericht durch seine Entscheidung die Rechtsprechung rückwirkend ändert. 66 IGH Urteil vom 03.02.2012, http://www.icj-cij.org/docket/files/143/16883.pdf. 67 BGH, Urteil vom 26.06.2003, AZ III ZR 245/98, 3. Leitsatz. 68 BVerfG - 2 BvR 1476/03- vom 15.02.2006, http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20060215_2bvr147603.html, Rz. 21. 69 Der EGMR führt aus : « Compte tenu de tous les éléments devant elle, la Cour estime que l’on ne saurait soutenir que l’application et l’interprétation du droit international et interne auxquelles ont procédé les juridictions allemandes aient été entachées de considérations déraisonnables ou arbitraires (voir, en ce qui concerne la Convention de la Haye, Associazione Nazionale Reduci et 275 autres, décision précitée). L’action en indemnisation des requérants ne se fondait donc ni sur des dispositions légales émanant du droit international ou du droit interne , ni sur une décision judiciaire. », Sfountouris et autres c. Allemagne, 24120/06 vom 31.05.2011, http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=1&portal=hbkm&action=html&highlight=Distomo&sessionid= 90520604&skin=hudoc-en. 70 BVerfG Aktenzeichen 2 BvR 2660/06 und 2 BvR 487/07. In diesem Fall geht es in materieller Hinsicht um Schadensersatzansprüche ziviler Opfer im Rahmen des Kosovokrieges 1999. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 22 Im Gegensatz zur Position der deutschen Rechtsprechung argumentieren Teile des völkerrechtlichen Schrifttums gerade auch im Hinblick auf deutsche Wehrmachtsverbrechen in Griechenland, es gebe sowohl im deutschen Staats- und Amtshaftungsrecht als auch im Völkerrecht anwendbare Rechtsgrundlagen für Schadensersatzforderungen der griechischen Opfer deutscher Kriegsverbrechen .71 5. Literatur Pierre d’Argent, Reparations after World War II, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Dieter Begemann, Distomo 1944, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Orte des Grauens. Verbrechen im Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 2003, S. 30–36. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts II. Bd. Kriegsrecht, Berlin/München 1962. Dieter Blumenwitz, Die Fragen der deutschen Reparationen, in: Hans-Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 63 ff. Commentary on the Additional Protocols of 8 June 1977 to the Geneva Conventions of 12 August 1949, International Committee of the Red Cross (Hrsg.), Geneva, 1987. Thomas Cottier/Jörg Paul Müller, Estoppel, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Bert Eichhorn, Reparation als völkerrechtliche Deliktshaftung, Baden-Baden 1992. Christophe Eick, Protest, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Steffen Eicker, der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt u.a. 2008. Andreas Fischer-Lescano/Carsten Gericke, Der IGH und das transnationale Recht, in: Kritische Justiz, Heft 1, 2010 (Jahrgang 43), S. 78–88 Simone Gorski, Individuals in International Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Stefan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage, Tübingen 2008. 71 Statt vieler Andreas Fischer-Lescano und Carsten Gericke, Der IGH und das transnationale Recht, in: Kritische Justiz, Heft 1, 2010 (Jahrgang 43), S. 78–88, S. 81 (m.w.N.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 – 3000 – 037/12 Seite 23 Rainer Hofmann, Compensation for Personal Damages Suffered during World War II, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Marc Jacob, London Agreement on German External Debts (1953), in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Hans D. Jarass, Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, München 2009. Bernhard Kempen, Der Fall Distomo: griechische Reparationsforderungen gegen die Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Joachim Cremer u.a. (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, Berlin u.a. 2002, S. 179 ff. Eckart Klein, Statusverträge im Völkerrecht - Rechtsfragen territorialer Sonderregime, Berlin u.a. 1980. Doris König, Tacit Consent/Opting Out Procedures, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/) Randall Lesaffer/Mieke van der Linden, Peace Treaties after World War I, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Nuno Sergio Marques Antunes, Acquiescence, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Dinah Shelton, Reparations, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Budislav Vukas, Treaties, Third-Party Effect, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online edition (http://mpepil.com/). Susanne Wasum-Rainer, Völkerrechtsfreundlichkeit in der politischen Praxis der deutschen Exekutive , in: Thomas Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes, nach 60 Jahren, Berlin 2010, S. 125 ff.