Zum Status von Tibet: Völkerrechtliche Grundlagen und die Haltung der Bundesregierungen Ausarbeitung (Aktualisierte und ergänzte Fassung der Ausarbeitung WD 2 – 182/06) © 2008 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000-037/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser: Zum Status von Tibet: Völkerrechtliche Grundlagen und die Haltung der Bundesregierungen Ausarbeitung WD 2 – 3000-037/08 (Aktualisierte und ergänzte Fassung der Ausarbeitung WD 2 – 182/06) Abschluss der Arbeit: 18. April 2008 Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Abteilungsleiters W beim Deutschen Bundestag. - 3 - Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Der Status Tibets im Spiegel der Völkerrechtswissenschaft 4 2.1. Die völkerrechtlichen Kriterien des Staatsbegriffes 4 2.2. Die Zweischneidigkeit des Souveränitätsgedankens 5 2.3. Das umstrittene Verhältnis zwischen Tibet und China bis 1950 6 3. Der Status Tibets in den bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China 9 3.1. Die sog. „Ein-China-Politik“ der VR China in den internationalen Beziehungen 9 3.2. Diplomatische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China 9 3.3. Die Haltung der Bundesregierungen in der „Tibet-Frage“ 10 4. Literaturangaben 13 - 4 - 1. Einleitung Die nachfolgende Ausarbeitung beleuchtet den Status von Tibet. Die Darstellung ist zweigeteilt. Zunächst wird auf die rechtswissenschaftliche Debatte über den völkerrechtlichen Status Tibets eingegangen. Im Anschluss daran wird die Haltung der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die jeweilige Bundesregierung, dargestellt. 2. Der Status Tibets im Spiegel der Völkerrechtswissenschaft Der Status Tibets ist in der Völkerrechtswissenschaft umstritten. Es geht im Kern um die Frage, ob Tibet Teil des chinesischen Staates ist. Zu diesem Aspekt der sog. „Tibet- Frage“1 fällt eine eindeutige völkerrechtliche Aussage schwer. Der Grund für die Schwierigkeiten liegt allerdings weniger in rein rechtlichen Fragen begründet. Die Schwierigkeiten sind vielmehr der in der Völkerrechtswissenschaft uneinheitlichen Würdigung der chinesisch-tibetischen Geschichte bis 1950 geschuldet. 2.1. Die völkerrechtlichen Kriterien des Staatsbegriffes Die Existenz und die territoriale Ausdehnung von Staaten wird in der völkerrechtlichen Literatur und der Staatenpraxis grundsätzlich unter Effektivitätsgesichtspunkten bestimmt . Ein Staat liegt demnach dann vor, wenn über die auf einem bestimmten Teil der Erdoberfläche (Staatsgebiet) dauerhaft ansässigen Personen (Staatsvolk) eine effektive Hoheitsgewalt ausgeübt wird (Staatsgewalt). Staatsgewalt bedeutet die Fähigkeit, eine Ordnung auf dem Staatsgebiet zu organisieren (Verfassungsautonomie = innere Souveränität ) und nach außen selbstständig und von anderen Staaten rechtlich unabhängig im Rahmen und nach Maßgabe des Völkerrechts zu handeln (äußere Souveränität).2 Dagegen kommt es nach überwiegender – aber nicht einhelliger – Auffassung auf die völkerrechtliche Anerkennung durch bestehende Völkerrechtssubjekte, also z.B. andere Staaten , nicht an.3 Unter Anerkennung versteht man die einseitige Erklärung eines bestehenden Völkerrechtssubjekts, dass es sich bei dem anerkannten Herrschaftsverband um einen Staat im Sinne des Völkerrechts handelt.4 Anerkennungen haben jedoch eine 1 Neben und unabhängig von der Debatte über den völkerrechtlichen Status Tibets wird auch die Frage des gegenwärtigen Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes innerhalb Chinas diskutiert. 2 , S. 7. 3 Heintschel von Heinegg, S. 51 Rn. 90; Ipsen, S. 267 ff. 4 Ipsen, S. 266 Rn. 22; Die Nichtanerkennung eines Staates bedeutet nicht, dass zwischen den betroffenen Subjekten keinerlei Rechtsbeziehungen bestehen, sondern nur, dass der übliche völkerrechtliche Verkehr, etwa die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, nicht stattfindet und sich die betreffenden Subjekte gegenseitig nicht als Völkerrechtssubjekte behandeln. - 5 - wichtige Indizfunktion in Fällen, in denen die Staatseigenschaft eines bestimmten Gebietes umstritten oder unklar ist. In der völkerrechtlichen Debatte wird die Frage, ob China entsprechend diesen Voraussetzungen effektive Staatsgewalt in Tibet ausübt – so sie denn überhaupt aufgeworfen wird – ganz überwiegend bejaht. Tibet ist seit der Kontrollnahme durch die chinesische Volksbefreiungsarmee im Jahr 1950 unter tatsächlicher Kontrolle chinesischer Behörden . Aus dem Effizienzgedanken wird in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend geschlossen, dass die Frage nach der Legitimität eines Staates als solche grundsätzlich irrelevant ist. Allerdings gibt es hiervon eine gewichtige Ausnahme: Territorien, welche unter Verletzung des Gewaltverbotes von einem anderen Staat im Wege der Annexion erlangt wurden, können nicht Teil des eigenen Staatsgebietes werden, selbst wenn der annektierende Staat effektive Staatsgewalt auszuüben in der Lage ist (Grundsatz: ex iniuria non oritur ius).5 Der Grund für diese Ausnahme wurzelt im Souveränitätsgedanken ; er findet seine Rechtsgrundlage im Briand-Kellog-Pakt aus dem Jahr 1928 und ist in der Charta der Vereinten Nationen (VN-Charta) von 1945 verankert: Die kriegerische Gewaltanwendung gegenüber anderen Staaten ist danach verboten (Art. 1 und 2 Briand- Kellog Pakt; Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta). 2.2. Die Zweischneidigkeit des Souveränitätsgedankens Der Souveränitätsgedanke ist indes zweischneidig. Einerseits folgt daraus, dass es völkerrechtlich nicht verboten ist, Separationsbestrebungen auf dem eigenen Staatsgebiet zu bekämpfen. Ein solches Vorgehen ist vielmehr Ausdruck der inneren Souveränität eines Staates. Anderen Staaten ist es mithin verboten solche Separationsbestrebungen zu unterstützen. Sie würden damit das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten verletzen. Bei der Niederschlagung von Separationsbewegungen ist ein Staat aber grundsätzlich an seine völkerrechtlichen Pflichten im Übrigen gebunden; also auch an völkerrechtlich geltende Menschenrechte oder die VN-Charta.6 Andererseits ist ein bestimmtes Gebiet, welches sich dauerhaft von der Herrschaftsgewalt des ursprünglichen Staates zu trennen vermag, als neuer Staat zu behandeln, sobald es seinerseits die Kriterien des Staatsbegriffes erfüllt; also effektive Staatsgewalt über die dauerhaft auf dem losgelösten Gebiet lebenden Personen erringt (Entstehen eines neuen Völkerrechtsubjektes durch Sezession).7 Vor dem Hintergrund, dass ein Erwerb von Territorien unter Verletzung des Gewaltverbotes durch Annexion eines anderen 5 Hobe/Kimminich, S. 85. 6 Vgl. Köngeter, passim. 7 Zur Sezession: Ipsen, S. 421 ff. - 6 - Staates völkerrechtswidrig ist, würde Gewalt, die nach diesem Zeitpunkt vom ursprünglichen Staat ausgeht, nun ihrerseits gegen das Gewaltverbot verstoßen. Aus dieser Rechtslage speist sich die völkerrechtliche Diskussion um die rechtliche Bewertung des Militäreinsatzes im Jahr 1950. Der Spannungsbogen möglicher Bewertungen lässt sich dabei wie folgt umreißen: Die Ereignisse des Jahres 1950 werden völkerrechtlich einerseits als Annexion Tibets durch China gewertet.8 Diese Auffassung hätte zur Folge, dass Tibet nicht als legitimes Staatsgebiet Chinas anzusehen wäre. Das andere Ende des Meinungsspektrums bildet die Auffassung, Tibet sei 1950 Teil Chinas gewesen, wenn auch mit ggf. gelockerter Herrschaftsgewalt, und der Einsatz der Volksbefreiungsarmee sei ein Fall der legitimen Gewaltausübung im inneren Chinas mit dem Zweck der endgültigen Niederschlagung tibetischer Separationsbestrebungen.9 2.3. Das umstrittene Verhältnis zwischen Tibet und China bis 1950 Eine Analyse der in der völkerrechtlichen Literatur geführten Debatte kann nur vor dem Hintergrund der tatsächlichen Entwicklung des Verhältnisses von China und Tibet bis zum Jahr 1950 erfolgen. In der Literatur wird dafür im Schwerpunkt die Entwicklung des tibetisch-chinesischen Verhältnisses seit dem Jahr 1720 zugrunde gelegt.10 Hierfür spricht in der Tat, dass die Übertragung völkerrechtlicher Maßstäbe auf die Zeit davor mit Schwierigkeiten verbunden wäre, weil dessen Geltung im zentralasiatischen Raum immer fraglicher wird, je weiter man in der Zeit zurück geht. Das Völkerrecht heutiger Prägung entspringt letztlich dem europäischen Staatensystem seit der Mitte des 17. Jahrhunderts und hat sich erst im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte zu einem universellen fortentwickelt. Die nachfolgende Skizzierung der historischen Entwicklung bis 1950 beruht im Wesentlichen auf den Arbeiten von van Walt van Praag und von Hughes;11 sie kann daher keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern beleuchtet schlaglichtartig in der völkerrechtlichen Debatte immer wieder in Bezug genommene Ereignisse: Im Jahr 1717 hatten die Dsungaren die tibetische Hauptstadt Lhasa besetzt. Der Dalai Lama war dabei in dsungarische Gefangenschaft geraten. Der chinesische Kaiser griff in diesen Konflikt ein, verdrängte die Dsungaren aus Tibet und befreite den Dalai Lama. 1720 kam es zu einem Abkommen zwischen dem chinesischen Kaiser und dem Dalai Lama, 8 Anand, S. 140; van Walt van Praag, S. 142 ff. 9 Zu dieser Auffassung: Kunz, S. 107 ff.; für eine dezidiert chinesische Sicht: Li, passim. The Legal Position of Tibet, American Journal of International Law 10 Hughs, S. 858: “For the purposes of international law, the modern history of Tibet really begins in 1720”. 11 van Walt van Praag, passim; ferner: Hughes, S. 858 f.; s. auch Brockhaus, 20. Auflage, Stichwort „Tibet“ und Anand, passim. - 7 - durch welches Tibet in eine Art von Vasallenverhältnis zu China kam, dessen rechtliche Verhältnisse mit den Begriffen des modernen Völkerrechts offenbar nicht erklärt werden können.12 Ab 1728 entsandte der chinesische Kaiser Repräsentanten nach Tibet, sog. Ambane. Diese übten im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert erhebliche politische Macht in Tibet aus. Der genaue Umfang der Befugnisse der Ambane wurde indes von tibetischer und chinesischer Seite unterschiedlich beurteilt. In der Literatur ist daher die Auffassung vertreten worden, die Reichweite des Verlustes der Eigenständigkeit Tibets sei unklar.13 Dieses feudalistisch geprägte Vasallenverhältnis Chinas zu Tibet wird häufig mit dem Begriff der „Suzeränität“ beschrieben, wobei das kaiserliche China ihn offenbar nicht selbst für die Beschreibung seines Verhältnisses zu Tibet herangezogen hat.14 Das feudalistisch geprägte Abhängigkeitsverhältnis Tibets zu China ist mit den Instrumenten des Völkerrechts jedenfalls nur unzureichend erfassbar und der Begriff der Suzeränität ein rechtlich nicht klar definierter Begriff.15 Einigkeit scheint jedoch darin zu bestehen, dass Tibet in innen- wie außenpolitischen Fragen nicht unabhängig von den kaiserlichen Ambanen agieren konnte.16 Die faktische Macht der chinesischen Kaiser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war schwächer. Nominell wurde der Anspruch auf Aufrechterhaltung des als „Suzeränität “ beschriebenen Verhältnisses von chinesischer Seite stets bekräftigt. Dies manifestiert sich auch in völkerrechtlichen Abkommen Chinas mit Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Gegenstand Tibet war, und in deren Folge Russland und Großbritannien, freilich ohne Beteiligung Chinas oder Tibets, die „Suzeränität “ Chinas über Tibet ausdrücklich anerkannten.17 Faktisch war der Zugriff Chinas auf Tibet jedoch geschwächt. Was unter anderem damit illustriert werden kann, dass die Durchführung völkerrechtlicher Verträge Großbritanniens mit China am Widerstand Tibets scheiterten, ohne dass China Maßnahmen zur Vertragserfüllung ergriff. Dies veranlasste Großbritannien im Jahr 1904 zu einer militärischen Expedition nach Tibet (sog. Younghusband Expedition). Es kam dabei zu einem Abkommen zwischen der tibetischen Regierung – ohne Beteiligung des Dalai Lama, der vor den Briten geflohen war – und Großbritannien. Darin verpflichtete sich Tibet gegenüber Großbritannien zur Einhaltung der britisch-chinesischen Verträge. In den Jahren vor der chinesischen Revolution 1911 konnte der chinesische Kaiser seine Macht in Tibet noch einmal festigen und unternahm es, Tibet mit militärischer Gewalt zu einer Provinz Chinas zu machen. Das 12 Hughes, S. 858. 13 Hughes, S. 858. 14 Li, S. 394. 15 Alexandrowicz-Alexander, S. 265; Hughes, S. 859; Li, S. 394 f. 16 Alexandrowicz-Alexander, S. 267; Anand, S. 114; Li, S. 395 f. 17 Nachweise bei Hughs, S. 858 f.; van Walt van Praag, S. 26 ff. - 8 - Verhältnis Chinas zu Tibet Ende 1910 ist dergestalt beschrieben worden, dass China nicht mehr nur Suzeränität, sondern volle Souveränität über Tibet inne gehabt habe.18 Im Zuge der chinesischen Revolution des Jahres 1911 soll sich Tibet für unabhängig erklärt haben.19 Die chinesischen Truppen wurden jedenfalls zurückgeschlagen. Zum Ende des Jahres 1912 hatte Tibet eine de facto Unabhängigkeit erreicht. Im selben Jahr schloss es einen Vertrag mit der Mongolei, in welchem beide wechselseitig ihre Unabhängigkeit anerkannten.20 Zur Klärung der tibetisch-indischen Grenze verhandelten Großbritannien, China und Tibet im Jahr 1913/14 in Simla einen Vertrag.21 Der Entwurf des Vertrages sah unter anderem eine Aufteilung Tibets in zwei Teile vor. Der größere Teil, das sog. „Äußere Tibet“ sollte bei der Ausgestaltung seiner inneren Angelegenheiten frei von chinesischem Einfluss sein. Gleichzeitig sah der Entwurfstext jedoch auch eine Anerkennung der Suzeränität Chinas über ganz Tibet vor. Zum Abschluss kam es jedoch nicht, weil China mit den ebenfalls enthaltenen Grenzregelungen nicht einverstanden war. Der Vertrag wurde daher im Juli 1914 lediglich zwischen Großbritannien und Tibet geschlossen. Tibet wurde zwar nicht Mitglied des Völkerbundes, entwickelte in der Folgezeit aber eine faktische Unabhängigkeit, bei gleichzeitig aufrechterhaltenen Ansprüchen Chinas. Während des zweiten Weltkrieges war es neutral. Im Jahr 1950 rückten Truppen der chinesischen Volksbefreiungsarmee auf tibetisches Gebiet vor und besetzten es. Im Jahr 1951 kam es zum Abschluss eines Abkommens zwischen China und der tibetischen Regierung, in welchem die chinesische Herrschaftsmacht rechtlich geregelt wurde, Tibet aber auch Autonomierechte22 eingeräumt wurden. Gemäß der Verfassung der Volksrepublik China vom 4. Dezember 198223 wird in Tibet das System der nationalen Gebietsautonomie praktiziert (vgl. Art. 30 Ziff. 1). Nationale Gebietsautonomie bedeutet, dass unter der einheitlichen Staatsführung in den von nationalen Minderheiten bewohnten Gebieten Organe eingerichtet werden, die das Autonomierecht ausüben. Faktisch sind die Autonomierechte nach Einschätzung der meisten Autoren indes sehr gering. 18 Anand, S. 111. 19 Dies ist strittig: Bejahend: McCabe, S. 369 ff; kritisch: Rubin, S. 812 ff. 20 Hughes, S. 859. 21 Hierzu van Walt van Praag, S. 54 ff. 22 Nach Hughes, S. 859, gehörten dazu die Garantie des bestehenden politischen Systems; der Status, die Funktionen und die Gewalt des Dalai Lama sowie die Religionsfreiheit und der Bestand der Klöster. 23 In englischer Übersetzung in: A.P. Blaustein/G.H. Flanz (Hrsg.), Constitutions of the Countries of the World, „People’s Republik of China“. - 9 - 3. Der Status Tibets in den bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China 3.1. Die sog. „Ein-China-Politik“ der VR China in den internationalen Beziehungen Die VR China macht die Aufnahme diplomatischer Beziehungen davon abhängig, dass die sog. „Ein-China-Politk“ anerkannt wird. Diese bedeutet für die Volksrepublik China , dass Taiwan sowie sämtliche Festlandgebiete des Staates (darunter die Insel und die Provinz Hainan, die autonomen Gebiete Innere Mongolei, Tibet und Xinjiang) untrennbare Teile des chinesischen Territoriums darstellen. Bereits am 1. Oktober 1949, als die Volksrepublik ausgerufen wurde, gab die zentrale Volksregierung Chinas gegenüber den Regierungen aller Länder folgende Stellungnahme ab: „Unsere Regierung ist die einzige legitime Regierung, die das gesamte Volk der Volksrepublik China vertritt. Unsere Regierung ist bereit, mit jeder ausländischen Regierung, die gewillt ist, an den Prinzipien der Gleichberechtigung, des gegenseitigen Nutzens und der gegenseitigen Achtung der Souveränität und der territorialen Integrität festzuhalten, diplomatische Beziehungen aufzunehmen“.24 An dieser Position hält die chinesische Regierung bis heute fest. Viele Staaten bemühen sich um die Sicherung menschenrechtlicher Standards sowie um einen Autonomiestatus für die tibetische Bevölkerung. Zugleich wächst jedoch auch die Bereitschaft der Staaten, den chinesischen Gebietsanspruch auf Tibet anzuerkennen.25 Nach Aussage des Auswärtigen Amtes unterhalten, bis auf wenige Ausnahmen26, fast alle Staaten diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China. Voraussetzung dafür war die Akzeptanz der „Ein China-Politik“, die auch die Anerkennung Tibets als Teil des chinesischen Staatsgebietes umfasst. Nur wenige Staaten haben eine solche Anerkennung jedoch ausdrücklich separat erklärt.27 3.2. Diplomatische Beziehungen zischen der Bundesrepublik Deutschland und der VR China Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik China haben am 11. Oktober 1972 diplomatische Beziehungen aufgenommen. Seitdem sind die Kontakte zwischen den beiden Staaten immer „vielfältiger und enger“ geworden – sie werden heute als „freundschaftlich und gut“ bezeichnet. China ist mittlerweile außerhalb Europas der 24 Vgl. Weißbuch “Das Ein China Prinzip und die Taiwanfrage“, Amt des Staatsrates für die Angelegenheiten Taiwans und Presseamt der Volksrepublik China , 1993. 25 Herdegen, S. 172 Rn. 10. 26 Dazu zählen insbesondere Staaten Afrikas und Lateinamerikas. 27 Am 29. April 1954 erfolgte eine entsprechende Erklärung durch Indien, am 20. September 1956 durch Nepal. - 10 - zweitwichtigste Exportmarkt Deutschlands nach den USA, Deutschland ist Chinas wichtigster Handelspartner in Europa.28 Deutschland vertritt ebenso wie seine EU- Partner eine „Ein China-Politik“.29 3.3. Die Haltung der Bundesregierungen in der „Tibet-Frage“ Anlass für eine erstmalige Stellungnahme der Bundesregierung zum völkerrechtlichen Status Tibets nach 1950 gab eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Grünen im Jahr 1986 zur menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Situation Tibets.30 Am 6. Oktober 1986 traf die Bundesregierung, vertreten durch den damaligen Bundesaußenminister, Hans- Dietrich Genscher, bezüglich des Status Tibets folgende Aussage: „In Übereinstimmung mit der gesamten Staatengemeinschaft, einschließlich des Nachbarlandes Indien, geht die Bundesregierung davon aus, dass Tibet Teil des chinesischen Staatsverbandes ist“.31 Ein expliziter Zusammenhang zwischen dieser Formulierung und einem bestimmten Ereignis in den deutsch-chinesischen Beziehungen ist nicht ersichtlich. Vor der Reise des Bundeskanzlers Helmut Kohl nach Tibet im Jahr 1987 erhielt die Abgeordnete Petra Kelly auf ihre schriftliche Frage, ob der Bundeskanzler „die ungeklärte völkerrechtliche Lage Tibets“ gegenüber der chinesischen Regierung zur Sprache bringen werde, von der Bundesregierung folgende Antwort: „Für die Bundesregierung wie für die gesamte Staatengemeinschaft ist geklärt, dass Tibet völkerrechtlich Teil des chinesischen Staatsverbandes ist“.32 Auch während seines Staatsbesuches in der Volksrepublik China stellte der damalige Bundeskanzler Kohl heraus, dass Tibet ein Teil des chinesischen Staatsverbandes sei. In einem Presseinterview äußerte er sich zu dieser Frage wie folgt: „Das war nie von unserer Seite bestritten. Es wird von keinem Land der Welt bestritten, übrigens auch nicht von dem benachbarten Land Indien.“33 Im Rahmen der Tibetanhörung des Deutschen Bundestages im Jahre 1995 nahm das Auswärtige Amt für die Bundesregierung erneut zum völkerrechtlichen Status Tibets Stellung: „Die Bundesregierung achtet den Dalai Lama als Oberhaupt des lamaistischen Buddhismus. Seinen Anspruch, eine tibetische Exilregierung zu führen, erkennt die 28 Auswärtiges Amt. Im Internet unter: (Stand: 18.4.2008). 29 Auswärtiges Amt. Im Internet unter: < http://www.auswaertigesamt .de/diplo/de/Laenderinformationen/China/Bilateral.html > (Stand: 18.4.2008). 30 Kleine Anfrage der Fraktion Die Grünen zur menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Situation Tibets, BT-Drs. 10/5666 v. 16.Juni 1986. 31 Vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Grünen (BT-Drs-. 10/5666), BT-Drs. 10/6127 v. 8. Oktober 1986. 32 Vgl. die Antwort der Bundesregierung (vertreten durch Staatsminister Schäfer), BT-Drs. 11/608 v. 6. Juli 1987, Frage 6, S. 3. 33 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Interview mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl v. 14. Juli 1987. - 11 - Bundesregierung in Übereinstimmung mit der gesamten Staatengemeinschaft nicht an. In Übereinstimmung mit der gesamten Staatengemeinschaft betrachtet die Bundesregierung Tibet als Teil des chinesischen Staatsverbandes [...]. Selbst wenn Tibet die Voraussetzungen eines unabhängigen Staates vorübergehend erfüllt haben sollte, was aus völkerrechtlicher Sicht weder eindeutig zu belegen noch zu widerlegen ist, bleibt festzuhalten , dass Tibet, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Mongolei), jedenfalls die völkerrechtliche Anerkennung als Staat durch die Staatengemeinschaft versagt blieb“.34 Der damalige Außenminister Kinkel ergänzte diese Aussage in einem Interview vom 5. Juni 1996, indem er sagte: „Nach dem internationalen Recht ist die Bundesregierung verpflichtet, alles zu unterlassen, was als Unterstützung separatistischer Tätigkeiten, auch solcher der tibetischen Exilregierung auf deutschem Gebiet, ausgelegt werden könnte“.35 Bei der Tibet-Entschließung des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1996 haben sowohl der Bundesminister des Auswärtigen, Klaus Kinkel, als auch die Sprecher der verschiedenen Parteien klargestellt, dass sie ungeachtet ihrer Kritik an der Lage der Menschenrechte in Tibet davon ausgehen, dass Tibet ein Teil des chinesischen Staatsverbandes ist. Die Entschließung unterstützt die Ausgestaltung einer Autonomie, die die Erhaltung der kulturellen und religiösen Identität des tibetischen Volkes sicherstellt.36 Im Sommer 2000 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die VR China eine Vereinbarung, welche die Grundlage für den seitdem geführten sog. „Rechtsstaatsdialog “ zwischen beiden Staaten bildet.37 Zu den in diesem Rahmen erörterten Fragen gehört auch der Schutz der Menschenrechte („Deutsch-Chinesischer Menschenrechtsdialog “). Im Rahmen der Beantwortung einer Großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Ende 2007 führte die Bundesregierung zur Behandlung Tibets in diesem Rahmen Folgendes aus: „Als besonders kritisch muss die Menschenrechtssituation in der Autonomen Uighurischen Region Xinjiang und in der Autonomen Region Tibet angesehen werden. […] Alle genannten Menschenrechtsdefizite werden durch die Bundesregierung in ihren politischen Gesprächen mit der chinesischen Führung und im 34 Vgl. Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law. Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995. Im Internet unter: (Stand: 18.4.2008). 35 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Express-Interview mit dem damaligen Außenminister Klaus Kinkel v. 5. Juni 1996. 36 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bulletin v. 25.6.1996, Dok-Nr.: 96054. 37 „Deutsch-Chinesische Vereinbarung zu dem Austausch und der Zusammenarbeit im Rechtsbereich“, vom 30.6.2000, Bundesanzeiger 52 (2000), Nr. 164, vom 31.8.2000, S. 17581. - 12 - Rahmen des förmlichen bilateralen deutsch-chinesischen Menschenrechtsdialogs regelmäßig offen und kritisch thematisiert.“38 Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion (BT- Drs. 15/3534) zur Tibet-Politik der Regierung im Jahr 2004 ging hervor, dass sie den Anspruch Tibets auf Autonomie, vor allem im kulturellen und religiösen Bereich, als „Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes“, unterstützt. Ein Recht Tibets auf Lösung aus dem chinesischen Staatsverband werde „in Übereinstimmung mit der Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft“ damit jedoch nicht anerkannt. Zudem wurden die früher getätigten Aussagen der Regierung, wie bspw. die Nichtanerkennung der Exilregierung Tibets in Dharamsala (Indien), erneut bekräftigt.39 Im Herbst 2007 empfing Bundeskanzlerin Merkel den Dalai Lama im Bundeskanzleramt . Dies führte nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes zu einer „deutlichen Ernüchterung “ auf chinesischer Seite.40 So wurde ein auf Ministerebene geplantes Treffen im Rahmen des Rechtsstaatsdialoges in der Folgezeit von chinesischer Seite abgesagt. Die Arbeitsbeziehungen auf der Fachebene waren davon aber nicht betroffen. Die Bundesregierung hat zwischenzeitlich mehrfach deutlich gemacht, dass sie auch künftig an ihrer „Ein-China-Politik“ festhalten werde. Ein Treffen der zuständigen Minister im Rahmen des Rechtsstaatsdialoges ist für den 20.–23. April 2008 geplant. Im März 2008 kam es in Tibet zu gewalttätigen Ausschreitungen, denen die chinesische Führung mit einem über mehrere Wochen anhaltenden Polizei- und Militäreinsatz begegnete . Die Bundeskanzlerin erklärte hierzu, Gewalt, von welcher Seite auch immer, führe zu keiner Lösung der offenen Fragen. Daneben hielt sie fest: „Die Bundesregierung unterstützt seit jeher den Anspruch der Tibeter auf religiöse und kulturelle Autonomie . Zugleich verfolgt sie eine ‚Ein-China-Politik’ und wendet sich gegen alle separatistischen Bestrebungen.“41 38 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Drs. 16/6175) v. 23. November 2007 (Drs. 16/7273), S. 3. 39 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion (Drs. 15/3534) v. 27. Juli 2004 (Drs. 15/3630), S. 2. 40 Vgl. (Stand 16. 4. 2008). 41 Vgl. (Stand: 16. 4. 2008). - 13 - 4. Literaturangaben Alexandrowicz-Alexander, Charles Henry (1954): The Legal Position of Tibet, in: American Journal of International Law 48, S. 265-274. Heberer, Thomas (1995): Die Tibet-Frage als Problem der internationalen Politik, in: Außenpolitik III/95, S. 299-309. Heintschel von Heinegg, Wolf (2004): Casebook Völkerrecht, München. Herdegen, Matthias (2006): Völkerrecht, 5. Aufl., München. Hobe/Kimminich (2004): Einführung in das Völkerrecht, 8. Aufl., Tübingen. Hughes, A. D. (1990): Stichwort: „Tibet“, in: Encyclopedia of Public International Law, Band 2, Amsterdam u.a. 1995, S. 858-860. Ipsen, Knut (2004): Völkerrecht, 5. Aufl., München. Köngeter, Matthias (2008), Menschenrechte und die Frage der „Einmischung in innere Angelegenheiten“, Aktueller Begriff Nr. 16/08, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Berlin. (2006): Völkerrechtliche Aspekte sog. „frozen conflicts" (wie Kosovo, Kaukasus, Transnistrien, Taiwan), Ausarbeitung WF II – 056/06, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Berlin. Kunz, Josef (1929): Die Staatenverbindung, Stuttgart. Li, Tieh-Tseng (1956): The Legal Position of Tibet, in: American Journal of International Law 50, S. 394-404. McCabe, David (1966): Tibet’s Declarations of Independence, in: American Journal of International Law 60, S. 369-371. (1997): Die Situation Tibets aus staats- und völkerrechtlicher Sicht, Ausarbeitung WF III-64/96 v. 23. Juli 1997, Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Berlin. Rubin, Alfred (1966): Tibet’s Declarations of Independence?, in: American Journal of International Law 60, S. 812-814. Weißbuch (1993): „Das Ein China Prinzip und die Taiwanfrage“, Amt des Staatrates für die Angelegenheiten Taiwans und Presseamt der Volksrepublik China. van Walt van Praag, Michael (1987), The Status of Tibet. History, Rights, and Prospects in International Law, London.