WD 2 - 3000 - 036/21 (3. Mai 2021) © 2021 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. 1. Rechtsprechung des EGMR zu lebenslanger Freiheitsstrafe Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verbietet es die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht grundsätzlich, einen erwachsenen Straftäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen, vorausgesetzt, sie ist nicht eindeutig unverhältnismäßig. Eine lebenslange Freiheitsstrafe kann aber dann gegen das im Art. 3 EMRK statuierte Folterverbot verstoßen, wenn sie nicht reduzierbar ist. Der EGMR hat die Anforderungen an diese Reduzierbarkeit bereits in mehreren Entscheidungen entwickelt.1 In der Entscheidung Kafkaris vs. Zypern2 stellte der EGMR im Jahr 2008 fest, dass eine lebenslange Haftstrafe dann als nicht reduzierbar anzusehen sei, wenn eine Entlassung de jure oder de facto ausgeschlossen ist. 2012 entschied der EGMR im Fall Harkins und Edwards vs. das Vereinigte Königreich,3 dass eine lebenslange Freiheitsstrafe erst dann gegen Art. 3 EMRK verstoße, wenn die Verbüßung der Haft nicht länger aus legitimen strafrechtspolitischen Gründen gerechtfertigt ist. Eine Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe würde danach nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen, da die Verurteilung des Beschuldigten und die Nichtaussetzung der verhängten Strafe im Zielland noch weit in der Zukunft lägen und zum Zeitpunkt der Auslieferung zu ungewiss seien. 1 Überblick bei: Hans Kromrey, Christine Morgenstern: Auslieferung bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Aussetzungsmöglichkeit, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, http://www.zis-online .com/dat/artikel/2014_13_882.pdf (letzter Zugriff: 3. Mai 2021). 2 EGMR, Urteil vom 12. Februar 2008, 21906/04 (Kafkaris vs. Zypern). 3 EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012, Nr. 9.146/07, 32.650/07 (Harkins und Edwards vs. das Vereinigte Königreich ). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Rechtsprechung des EGMR zum Verstoß gegen Art. 3 EMRK bei lebenslanger Freiheitsstrafe und „Special Administrative Measures“ Kurzinformation Rechtsprechung des EGMR zum Verstoß gegen Art. 3 EMRK bei lebenslanger Freiheitsstrafe und „Special Administrative Measures“ Fachbereich WD 2: (Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Im Fall Vinter vs. Vereinigtes Königreich4 konkretisierte die Große Kammer des EGMR im Jahr 2013 die Voraussetzungen für die Herabsetzbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe dahingehend, dass sowohl die Aussicht auf Entlassung als auch die für den Gefangenen bei Strafantritt vorhersehbare Möglichkeit zur Überprüfung der Vollstreckungsfortsetzung gegeben sein müssten. Der Gerichtshof begründete dies im Wesentlichen mit dem Gedanken der Resozialisierung. Mit seiner Entscheidung Trabelsi vs. Belgien5 aus dem Jahr 2014 übertrug der EGMR diese Grundsätze auf Auslieferungsfälle und änderte damit seine bisherige Linie. Hatte der Gerichtshof bislang in Fällen, in denen in die USA ausgelieferten Gefangenen dort lebenslange Haft drohte, wegen der – wenn auch unwahrscheinlichen – Möglichkeit einer Begnadigung eine Verletzung von Art. 3 EMRK durch den ausliefernden Konventionsstaat verneint,6 legte er nunmehr den in der Vinter-Entscheidung konkretisierten Maßstab an. Der EGMR stellte bei Auslieferung eines Beschuldigten durch Belgien in die USA einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK fest. Begründet wurde dies damit, dass das Begnadigungssystem der USA keine Überprüfung vorsehe, ob sich der Gefangene aufgrund objektiver und vorher bestimmbarer Kriterien während des Vollzugs so geändert und solche Fortschritte bei seiner Resozialisierung gemacht habe, dass ein fortdauernder Freiheitsentzug nicht mehr gerechtfertigt sei. 2. Mehrfach lebenslange Freiheitsstrafen Die Strafhöhe für sich bedeutet keine Verletzung von Art. 3 EMRK, wenn die oben unter 1. dargelegten Grundsätze eingehalten werden. Die Freiheitsstrafe darf also nicht eindeutig unverhältnismäßig und muss reduzierbar sein. Unter diesen Voraussetzungen ist auch eine lebenslange Freiheitsstrafe , die tatsächlich bis zum Lebensende des Gefangenen andauern kann, mit der EMRK vereinbar.7 Nichts anderes gilt für de-facto-lebenslange Haftstrafen (so bspw. die Verurteilung eines 60-jährigen zu 40 Jahren Haft) und mehrfach lebenslange Haftstrafen, da auch diese mit dem Tod des Gefangenen enden und somit nicht tatsächlich über eine „einfache“ lebenslange Haftstrafe hinausgehen . 4 EGMR, Urteil vom 9. Juli 2013, 66069/09, 130/10, 3896/10 (Vinter u.a. vs. Vereinigtes Königreich), später bestätigt z.B. in EGMR, Urteil vom 26. April 2016, 10511/10 (Murray vs. die Niederlande). 5 EGMR, Urteil vom 4. September 2014, 140/10 (Trabelsi vs. Belgien). 6 EGMR, Urteil vom 16. Oktober 2001, 71555/01 (Einhorn vs. Frankreich), Urteil vom 17. Januar 2012, 9146/07, 32650/07 (Harkins u. Edwards vs. Vereinigtes Königreich), Urteil vom 10. April 2012, 24027/07 11949/08, 36742/08, 66.911/09, 67354/09 (Babar Ahmad u.a. vs. Vereinigtes Königreich). 7 EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012, 9146/07, 32650/07 (Harkins u. Edwards vs. Vereinigtes Königreich). Kurzinformation Rechtsprechung des EGMR zum Verstoß gegen Art. 3 EMRK bei lebenslanger Freiheitsstrafe und „Special Administrative Measures“ Fachbereich WD 2: (Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 3. „Special Administrative Measures“ Special Administrative Measures (SAMS)8 sind Maßnahmen im Strafsystem der USA, die insbesondere die Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten von Gefangenen beschränken. Sie sollen dann verhängt werden, wenn durch die Kommunikation des Häftlings die Gefahr terroristischer oder sonstiger Gewaltakte droht. Im Mai 2009 unterlagen 44 von insgesamt über 205.000 Inhaftierten in den USA solchen Maßnahmen. 29 davon standen im Zusammenhang mit Terrorismus .9 Der EGMR hat 2012 im Fall Babar Ahmad u.a. vs. Vereinigtes Königreich10 entschieden, dass eine Inhaftierung im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence und die Anwendung von SAMS keinen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellten. Zwar könne jede Form der Einzelhaft eine unmenschliche Behandlung bedeuten, ein Kontaktverbot zu anderen Häftlingen aus Sicherheits-, Disziplinar oder Schutzgründen stelle jedoch nicht per se eine solche dar. Es komme unter anderem auf die Strenge, die Dauer, das verfolgte Ziel der Maßnahme und die Auswirkungen auf die betroffene Person an. Gegen eine Verletzung von Art. 3 EMRK sprach in diesem Fall nach der Argumentation des Gerichts, dass die Sicherheitsklassifizierung der Insassen einer regelmäßigen Überprüfung unterlag und diese eine tatsächliche Möglichkeit hatten, in ein Herabstufungsprogramm aufgenommen zu werden. *** 8 https://ecfr.federalregister.gov/current/title-28/chapter-V/subchapter-A/part-501/section-501.3 (letzter Zugriff: 3. Mai 2021). 9 The United States Department of Justice, Fact Sheet: Prosecuting and Detaining Terror Suspects in the U.S. Criminal Justice System, 9. Juni 2009, https://www.justice.gov/opa/pr/fact-sheet-prosecuting-and-detaining-terrorsuspects -us-criminal-justice-system (letzter Zugriff: 3. Mai 2021). 10 EGMR, Urteil vom 10. April 20212, 24027/07 11949/08, 36742/08, 66.911/09, 67354/09 (Babar Ahmad u.a. vs. Vereinigtes Königreich).