© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 036/19 Die Beistandsklausel im Aachener Vertrag über die deutschfranzösische Zusammenarbeit und Integration Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Rechtsverbindlichkeit 8 3.5. Einbeziehung der französischen Atomwaffen 9 3.6. Praktische Relevanz der Beistandsklausel 12 3.7. Verhältnis zwischen den beiden Beistandsklauseln 12 3.8. Ergebnis 12 4. Verhältnis zwischen Beistandsklausel und Solidaritätsklausel 13 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 4 1. Regelung im Aachener Vertrag Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration („Aachener Vertrag“) vom 22. Januar 20191 sieht – im Unterschied zu seinem „Vorbild“, dem Élysée-Vertrag von 1963 – in Art. 4 eine Beistandsklausel (clause de défense mutuelle / d’assistance mutuelle; im Folgenden: „Aachener Beistandsklausel“) vor, die auf die Beistandsklauseln im NATO-Vertrag2 und im EU-Vertrag3 Bezug nimmt. Art. 4 Abs. 1 des Aachener Vertrages lautet: „In Anbetracht ihrer Verpflichtungen nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 und nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union (…) nähern die beiden Staaten, überzeugt davon, dass ihre Sicherheitsinteressen untrennbar miteinander verbunden sind, ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Zielsetzungen und Strategien einander zunehmend an und stärken so auch die Systeme kollektiver Sicherheit, denen sie angehören. Sie leisten einander im Falle eines bewaffneten Angriffs auf ihre Hoheitsgebiete jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung ; dies schließt militärische Mittel ein. 1 Text des Aachener Vertrages verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/997532/1570126/fe6f6dd0ab3f06740e9c693849b72077/2019- 01-19-vertrag-von-aachen-data.pdf?download=1. Vgl. bereits die Analyse des IFSH, „Der Aachener Vertrag: Symbol oder Aufbruch?“, Stellungnahme vom 22.1.2019, verfügbar unter: https://ifsh.de/news/details/news/der-aachener-vertrag-symbol-oderauf - bruch/?tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=9a58f0f710bd980b9 271bea1ea60074b. 2 Die Beistandsklausel in Art. 5 des Nordatlantikvertrages lautet: „Die vertragschließenden Staaten sind darüber einig, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden wird, und (…) kommen sie überein, dass (…) jeder von ihnen (…) den Vertragsstaat (…), der angegriffen wird, unterstützen wird, indem jeder von ihnen für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Vertragsstaaten diejenigen Maßnahmen unter Einschluss der Verwendung bewaffneter Kräfte ergreift, die er für notwendig erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebietes wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten.“ 3 Die Beistandsklausel in Art. 42 Abs. 7 EUV lautet: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt. (…).“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 5 Die territoriale Reichweite nach Satz 2 entspricht derjenigen nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union.“4 Im Folgenden sollen die territoriale Reichweite (dazu 2.) und der materielle Inhalt sowie die Rechtsverbindlichkeit (dazu 3.) der „Aachener Beistandsklausel“ juristisch ermittelt werden – dabei geht es auch um die Einbeziehung des französischen Atomwaffenpotentials. Abschließend wird die Aachener Beistandsklausel gegenüber der EU-Beistandsklausel sowie der EU-Solidaritätsklausel abgegrenzt (dazu 4.). Einschlägige Kommentierungen der „Aachener Beistandsklausel“ in der Fachliteratur existieren bis dato nicht. 2. Territorialer Geltungsbereich Die territoriale Geltung der „Aachener Beistandsklausel“ ist gem. Art. 4 S. 3 des Vertrages an den territorialen Anwendungsbereich der EU-Beistandsklausel nach Art. 42 Abs. 7 EUV gekoppelt. Voraussetzung für die Anwendung der EU-Beistandsklausel ist ein Angriff auf das Territorium eines EU-Mitgliedstaates (i.S.v. Art. 52 Abs. 1 EUV). Gem. Art. 52 Abs. 2 EUV richtet sich der räumliche Geltungsbereich der EU-Verträge jedoch im Einzelnen nach Art. 355 AEUV, der wiederum den Geltungsbereich enger definiert als die Summe der Territorien der EU- Mitgliedstaaten.5 Im Falle Frankreichs geht es vor allem um die französischen Übersee-Départements (Départements d´outre-mer) und die französischen Überseegebiete (Collectivités d'outre-mer). Für die französischen Übersee-Départements (Guadeloupe, Französisch-Guayana, Martinique, Mayotte, Réunion, Saint Martin) gelten die EU-Verträge gem. Art. 355 Abs. 1 AEUV vollumfänglich. Anders sieht es dagegen für die Überseegebiete Frankreichs aus (Neukaledonien, Französisch- Polynesien, St. Pierre und Miquelon, Wallis und Futuna, Saint-Barthélemy): Obwohl diese zum Hoheitsgebiet des Mutterlandes gehören, fallen sie nach Art. 355 Abs. 2 AEUV i.V.m. Anhang II 4 Die französische Fassung von Art. 4 lautet: „Du fait des engagements qui les lient en vertu de l’article 5 du Traité de l’Atlantique Nord du 4 avril 1949 et de l’article 42, paragraphe 7, du Traité sur l’Union européenne du 7 février 1992, (…), les deux États, convaincus du caractère indissociable de leurs intérêts de sécurité, font converger de plus en plus leurs objectifs et politiques de sécurité et de défense, renforçant par là-même les systèmes de sécurité collective dont ils font partie. Ils se prêtent aide et assistance par tous les moyens dont ils disposent, y compris la force armée, en cas d’agression armée contre leurs territoires. Le champ d’application territorial de la deuxième phrase du présent paragraphe correspond à celui de l’article 42, paragraphe 7, du Traité sur l’Union européenne.“ (https://www.legrandsoir.info/urgent-texte-integral-et-analyse-du-traite-franco-allemand-d-aix-la-chapelle-quisera -signe-le-22-janvier.html) 5 Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 42 EUV Rdnr. 16 und 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 6 aus dem territorialen Anwendungsbereich der EU-Verträge heraus; sie sind mit der EU lediglich assoziiert und damit im Verhältnis zur Union in der Situation von Drittländern.6 Hinsichtlich des territorialen Anwendungsbereichs der EU-Beistandsklausel bzw. der „Aachener Beistandsklausel“ bedeutet dies konkret: Ein bewaffneter Angriff auf die französischen Überseegebiete würde die Beistandsklausel nicht auslösen; ein Angriff auf die französischen Übersee- Departements dagegen schon. Der räumliche Geltungsbereich der EU-Beistandsklausel bzw. der „Aachener Beistandsklausel“ ist geographisch wiederum weiter als der Anwendungsbereich der NATO-Beistandsklausel: Diese ist gem. Art. 6 NATO-Vertrag auf die Gebiete nördlich des Wendekreises des Krebses beschränkt und umfasst daher nicht die südlich gelegeneren französischen Übersee-Départements. 3. Inhalt und Rechtsverbindlichkeit Aufschlussreich für die Ermittlung von Inhalt und Verbindlichkeit der „Aachener Beistandsklausel “ erscheint als Ausgangspunkt ein Vergleich mit der EU-Beistandsklausel, auf die Art. 4 des Aachener Vertrags Bezug nimmt. 3.1. Zum Vergleich: Die EU-Beistandsklausel Die EU-Beistandsklausel in Art. 42 Abs. 7 EUV enthält eine als rechtlich verbindlich formulierte Hilfeleistungspflicht (Beistandspflicht) und geht damit nach überwiegender Auffassung in der Literatur über die Beistandsklausel in Art. 5 NATO-Vertrag hinaus.7 Ob Art. 42 Abs. 7 EUV auch eine genuin militärische Hilfeleistung fordert, also eine militärische Beistandsverpflichtung enthält, ist dagegen umstritten, wird aber in der Literaturmeinung überwiegend abgelehnt.8 6 Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 355 AEUV Rdnr. 6; Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Beck´scher Kurzkommentar, München, 3. Aufl. 2018, Art. 355 AEUV Rdnr. 6; Becker, in: Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden: Nomos 4. Aufl. 2019, Art. 355 AEUV Rdnr. 6 f. Eine Sonderstellung nehmen die französischen Antarktisgebiete ein. 7 Schmidt-Radefeldt, Roman, „Die Aktivierung der EU-Beistandsklausel im Nachgang zu den Terroranschlägen von Paris im November 2015: Rechtlicher Rahmen und politische Praxis“, in: Stefan Kadelbach, (Hrsg.), Die Welt und Wir. Die Außenbeziehungen der EU, Baden-Baden: Nomos 2017, S. 234-266; Kielmansegg, Sebastian Graf von, Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union, 2005, S. 213; Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 42 EUV Rdnr. 16; Kockel, Armin, Die Beistandsklausel im Vertrag von Lissabon, Frankfurt 2012, S. 78. Anders dagegen offenbar BVerfGE 123, 267 (424) – Lissabon. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 7 Im Lichte einer historischen Auslegung des Art. 42 Abs. 7 EUV ergibt sich nämlich, dass der Lissabon-Vertrag bewusst eine offene und mehrdeutige Formulierung der EU-Beistandspflicht gewählt hat, um einen tragfähigen Kompromiss zwischen den neutralen EU-Staaten und den europäischen NATO-Mitgliedern zu erreichen.9 Gegen eine Rechtspflicht zur militärischen Hilfeleistung spricht darüber hinaus nicht nur die Einbeziehung der militärisch „neutralen“ bzw. bündnisfreien EU-Mitgliedstaaten (Irland, Schweden, Finnland, Zypern, Österreich und Malta) in die EU-Beistandsklausel, sondern auch die Staatenpraxis angesichts der bislang einmaligen Aktivierung der EU-Beistandsklausel im Zuge der Terrorattentate von Paris im November 2015: Als Antwort auf das französische Beistandsersuchen haben die meisten Partnerstaaten ihre Unterstützungsleistung darauf beschränkt, ihre finanzielle, logistische oder militärische Beteiligung an anderen internationalen Militäreinsätzen zu erhöhen, um dadurch die französischen Truppen zu entlasten.10 3.2. Rechtscharakter des Aachener Vertrags Der Aachener Vertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten, der trotz starker Kontextualisierungen mit der europäischen Einigung und der GASP/GSVP außerhalb des Unionsrechts geschlossen wurde und hinsichtlich seiner Interpretation nicht dem Europarecht , sondern allein dem Völkerrecht (Art. 31 Wiener Vertragsrechtskonvention) unterliegt. 3.3. Voraussetzung der Aktivierung der Beistandsklausel Rechtliche Voraussetzung für die Anwendung der „Aachener Beistandsklausel“ ist – ebenso wie beim NATO-Bündnisfall und der EU-Beistandsklausel“ – ein „bewaffneter Angriff“ auf einen Vertragspartner, wobei in allen Fällen auf das Konzept der kollektiven Selbstverteidigung i.S.v. Art. 51 VN-Charta zurückgegriffen wird. ___________________ 8 Vgl. z.B. Terhechte, in: Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden: Nomos 4. Aufl. 2019, Art. 42 Rdnr. 19 m.w.N. Ausfühlich zum Streitstand auch Cremer, Hans-Joachim, Die Beistandsklausel des EUV, in: Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2016, S. 97-119 (109 ff.); Kockel, Armin, Die Beistandsklausel im Vertrag von Lissabon, Frankfurt 2012, S. 73 ff. 9 So wurde die Formulierung aus dem früheren (nicht in Kraft getretenen) EU-Verfassungsvertrag, wonach die Vertragsstaaten dem angegriffenen Staat alle Mittel zur Verfügung stellen „müssen“, in ein bloßes „Schulden“ von Hilfe abgemildert. Zum anderen entfiel die im WEU-Vertrag explizit genannte „militärische Hilfeleistung“ zugunsten einer allgemeinen Formulierung („alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“). Vgl. dazu näher Thym, Daniel, Integrationsziel europäische Armee?, EuR-Beiheft 1, 2010, S. 171-191 (178) sowie Regelsberger/Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Beck´scher Kurzkommentar, München 3. Aufl. 2018, Art. 42 EUV Rdnr. 11. 10 Näher Regelsberger/Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Beck´scher Kurzkommentar, München 3. Aufl. 2018, Art. 42 EUV Rdnr. 11. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 8 3.4. Rechtsverbindlichkeit Vom Wortlaut her erscheint die „Aachener Beistandsklausel“ hinsichtlich der Verpflichtungen der Vertragsparteien deutlich schärfer formuliert als die EU-Beistandsklausel. Aus einem: „schulden Hilfe und Unterstützung“ (Art. 42 Abs. 7 EUV) wurde sprachlich ein: „leisten jede in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung; dies schließt militärische Mittel ein“ (Art. 4 Aachener Vertrag). Die „Aachener Beistandsklausel“ knüpft damit sprachlich an die Formulierung in Art. V des modifizierten Brüsseler Vertrages von 1954 über die (ehemalige) Westeuropäische Union11 (WEU-Vertrag) an und formuliert im Ergebnis eine echte militärische Beistandsverpflichtung. Diese Verpflichtung entspricht vom Sinn und Zweck her der in Art. 4 des Aachener Vertrages artikulierten Überzeugung beider Vertragsparteien, „dass ihre Sicherheitsinteressen untrennbar miteinander verbunden sind“ sowie dem erklärten Willen, „ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Zielsetzungen und Strategien einander zunehmend anzunähern“. Allein die Kontextualisierung der „Aachener Beistandsklausel“ mit den Beistandsklauseln von NATO und EU schwächt ihren Rechtsgehalt nicht ab, sondern macht lediglich deutlich, dass sich Frankreich und Deutschland in ihren jeweiligen NATO- und EU-Mitgliedschaften eingebettet sehen, hinsichtlich ihrer militärischen Verbundenheit aber – außerhalb der Unionsstrukturen – eine neue Stufe bilateraler rechtlicher Verpflichtungen beschreiten wollen. Die Regeln über die sog. Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Art. 46 EUV) finden insoweit keine Anwendung. Die Existenz einer rechtsverbindlichen militärischen Beistandspflicht bedeutet freilich nicht, dass überhaupt keine Gestaltungsspielräume beim „Wie“ der zu leistenden Unterstützung bestünden. Art. 4 des Aachener Vertrages beschränkt die zu leistende Hilfe auf die „in der Macht des jeweiligen Vertragspartners stehenden Möglichkeiten“ – eigentlich eine Selbstverständlichkeit , da niemand zur Hilfeleistung über seine Möglichkeiten hinaus verpflichtet werden kann. Je nach Verständnis des Begriffes „in seiner Macht stehende Hilfe“ lassen sich aber in der Praxis durchaus rechtliche, finanzielle oder politische Faktoren anführen, welche diese „Macht“ begrenzen . 11 Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung (sog. Brüsseler Vertrag bzw. Vertrag über die Westeuropäische Union) vom 17. März 1948, Vertragstext unter: http://www.politische-union.de/weuv48/weuv48-01.htm. Die WEU wurde zum 30.6.2011 aufgelöst. Art. V Brüsseler Vertrag über die WEU lautet: „Sollte einer der Hohen Vertragschließenden Teile das Ziel eines Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschließenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“ Vgl. zur WEU-Beistandsklausel näher Brandstetter, Gerfried (Hrsg.), Die Westeuropäische Union, Zürich: Schulthess 1999, S. 50 m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 9 3.5. Einbeziehung der französischen Atomwaffen Dies führt zu der politisch heiklen Frage nach der Rolle der französischen Nuklearwaffen (Force de Frappe). Diese Frage ist in Frankreich offenbar politisch und verfassungsrechtlich vehement diskutiert worden.12 Ob und inwieweit diese im Falle eines Angriffs auf Deutschland an der „Aachener Beistandsklausel “ überhaupt teilnehmen (sollen), lässt sich dem Vertragstext nicht eindeutig entnehmen; auch in der Präambel des Vertrages finden sich keinerlei Hinweise zur „Nuklearfrage“. Art. 4 des Aachener Vertrages verlangt von Frankreich „jede in seiner Macht stehende Unterstützung “; dies könnte bei unbefangener Lesart auch die eigenen Atomwaffen mit einschließen. Ob sich eine Verpflichtung Frankreichs zum nuklearen Beistand – und damit nicht weniger als ein nuklearer Schutzschild zugunsten Deutschlands – so einfach lapidar in die Aachener Beistandsklausel „hineininterpretieren“ lässt, lässt sich indes mit guten Argumenten bezweifeln. Das Schweigen des Aachener Vertragstextes zur Nuklearfrage könnte nämlich gerade darauf hindeuten, dass es in Sachen „nuklearer Beistand“ einer expliziten und eigenständigen Regelung bedurft hätte.13 Diese Rechtsauffassung wird auf der Homepage der französischen Regierung diskutiert und offenbar geteilt: 12 „Traité d’Aix-la-Chapelle: La France ne vend pas l’Alsace à l’Allemagne mais les deux pays scellent la coupure entre les dirigeants et leurs peuples“, 22.1.2019, https://www.atlantico.fr/decryptage/3563993/traite-d-aix-lachapelle --la-france-ne-vend-pas-l-alsace-a-l-allemagne-mais-les-deux-pays-scellent-la-coupure-entre-lesdirigeants -et-leurs-peuples-edouard-husson „Les cinq beautés cachées du traité franco-allemand d’Aix-La-Chapelle“, 22.1.2019, https://www.bruxelles2.eu/2019/01/les-cinq-beautes-cachees-du-traite-daix-la-chapelle/: Cette clause est donc surtout «symbolique et politique» (…) In einer Leser-Mail an den Abgeordneten Jean-Marc Zulesi der französischen Nationalversammlung (abrufbar unter: https://www.upr.fr/wp-content/uploads/2019/01/D%C3%A9put%C3%A9-Jean-Marc-ZULESI-3.pdf) heißt es dagegen: „Ce traité prévoie ni plus ni moins que le possible partage de notre force de frappe nucléaire avec l'Allemagne (…) Il s'agit là encore d'une nouvelle grave violation de notre constitution, et même d'une haute trahison qui doit vous faire lancer immédiatement au parlement la procédure de destitution d’Emmanuel Macron en application de l’Article 68 de la Constitution.” Vgl. zur Diskussion in Deutschland: „Frankreich will Deutschland keinen nuklearen Schutz garantieren“, TaggedPress News vom 14.2.2019, https://taggedpress.news/frankreich-will-deutschland-keinen-nuklearenschutz -garantieren/. 13 Verhandlungsbegleitende Dokumente bzw. vorbereitende Arbeiten zum Aachener Vertrag sind als ergänzende Auslegungsmittel für Verträge gem. Art. 32 WVRK – soweit sie denn überhaupt existieren – öffentlich nicht zugänglich. Auch die französische Nationalversammlung verfügt offenbar kaum über Informationen zum Gang der Verhandlungen und den diskutierten Inhalten. In Anbetracht der offenbar noch kurz vor Vertragsschluss getroffenen „Geheimvereinbarung“ zwischen beiden Vertragsparteien erscheint es nicht ausgeschlossen, dass auch zur Nuklearfrage etwas vereinbart wurde. In der politischen Diskussion ist der Aachener Vertrag in der Tat als „Geheimvertrag“ kritisiert worden, http://www.spiegel.de/politik/ausland/vertrag-von-aachen-vaclav-klauskritisiert -geheimvertrag-zwischen-deutschland-und-frankreich-a-1249354.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 10 “Non, la France ne va pas partager sa puissance nucléaire avec L´Allemagne. Il n’est à aucun moment fait mention du nucléaire dans le texte.“14 Dagegen ließe sich zwar einwenden, dass auch die NATO-Bündnisklausel in Art. 5 NATO- Vertrag keinen Hinweis auf den potentiellen Einsatz von Atomwaffen enthält. Doch erweist sich der Vergleich mit dem NATO-Vertrag letztlich als rechtlich nicht tragfähig: Die NATO-Beistandsklausel enthält im Kern nicht mehr als ein politisches Versprechen auf nuklearen Beistand, aber keine rechtlich abgesicherte Garantie eines nuklearen Schutzschildes.15 Für die Notwendigkeit einer eigenständigen Regelung über die Rolle der französischen Atomwaffen sprechen letztlich auch politische Überlegungen: Denn mit der Annahme einer nuklearen Sicherheitsgarantie zugunsten Deutschlands durch entsprechende Interpretation der Aachener Beistandsklausel wäre es allein nicht getan. Zu klären wäre zunächst, ob und inwieweit ein Vertragspartner, der vom nuklearen Schutzschild profitieren soll, auch in die nukleare Einsatzplanung bzw. die logistischen Fragen einbezogen ist – so wie dies Deutschland im Rahmen der sog. nuklearen Teilhabe16 praktiziert.17 14 Internetauftritt der französischen Regierung vom 22.1.2019, „Traité d’Aix-la-Chapelle : qu’en est-il vraiment ? Le vrai du faux“, https://www.gouvernement.fr/traite-d-aix-la-chapelle-qu-en-est-il-vraiment-le-vrai-du-faux. 15 Art. 5 NATO-Vertrag enthält eine Beistandspflicht, deren Erfüllung in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Die Erfüllungshandlung muss zwar nach Treu und Glauben im Sinne eines commitment of best endeavour auch die Sicherheitsinteressen der anderen Bündnispartner berücksichtigen. Eine explizit militärische Beistandsverpflichtung existiert indes nicht. In der Tat hatte der Deutsche Bundestag im Jahre 1955 die Auffassung vertreten, dass Art. 5 NATO-Vertrag faktisch eine automatische Beistandspflicht nach sich ziehe, da im Bündnisfall die Sicherheit der Allianz nur durch einen umfassenden militärischen Gegenschlag gewährleistet werden könnte (vgl. die amtliche Begründung zum Beitrittsgesetz zum NATO-Vertrag, BT-Drs. II/1061, S. 55). Rechtlich gesehen garantieren jedoch Art. 5 NATO-Vertrag in Verbindung mit dem Verfassungsvorbehalt des Art. 11 NATO-Vertrag (protective clause) eine Letztentscheidungskompetenz jedes einzelnen Mitgliedstaates über den Einsatz seiner Streitkräfte. Vgl. zur Rechtsverbindlichkeit der NATO-Beistandsklausel eingehend Ipsen, Knut, Rechtsgrundlagen und Institutionalisierung der Atlantisch-westeuropäischen Verteidigung, Hamburg, 1967, S. 47; ders., Die rechtliche Institutionalisierung der Verteidigung im atlantisch-europäischen Raum, in: JöR Bd. 21 (1972), S. 1-53; Schmidt-Radefeldt, Roman, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration, Berlin: Duncker 2005, S. 161 m.w.N. 16 Die nukleare Teilhabe von Nicht-Kernwaffenstaaten der NATO gründet sich auf vertragliche Vereinbarungen, die u.a. auf folgende Kernregelungsinhalte abstellen: Verwendung von Militärstützpunkten der Territorialstaaten , Zusammenarbeit bei Einsatz und Verwendung von Kernenergie für Zwecke gegenseitiger Verteidigung, technische Absprachen zur Dislozierung von Kernwaffen der USA auf militärischen Anlagen der in die nukleare Teilhabe involvierten NATO-Nichtkernwaffenstaaten. Im Rahmen der nuklearen Teilhabe sind in fünf europäischen NATO-Staaten (Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande, Türkei) taktische Atomwaffen stationiert. 17 Vgl. dazu zuletzt „Warum die NATO Atomwaffen in Deutschland lassen will“, Berliner Morgenpost vom 9.2.2019, https://www.morgenpost.de/politik/article216402159/Gibt-es-bald-wieder-viele-Atombomben-in- Deutschland.html; „US-Nuklearwaffen in Deutschland. Die Bomben von Büchel“, in: Spiegel-online v. 6.2.2019, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/us-atomwaffen-in-deutschland-die-atom-eier-von-buechel-a- 1251697.html. Dem Bericht zufolge lagern auf einem Fliegerhorst der deutschen Luftwaffe im rheinlandpfälzischen Büchel in unterirdischen Bunkern etwa 20 Atombomben vom Typ B-6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 11 Frankreich ist bis heute nicht einmal Mitglied der nuklearen Planungsgruppe der NATO und macht traditionell ein Geheimnis um seine Nuklearrüstung. Zu klären wären weiter die finanziellen Lasten des französischen Nuklearpotentials. Experten schätzen, dass Erhalt und Modernisierung der Force de Frappe jedes Jahr rund drei Milliarden Euro kosten könnte.18 Über eine (finanzielle) Beteiligung Deutschlands am französischen Nuklearprogramm ist in der Vergangenheit immer wieder kontrovers diskutiert worden19 – nicht zuletzt mit Blick auf Deutschlands Pflichten aus dem Atomwaffensperrvertrag (Nuklearer Nichtverbreitungsvertrag ) von 1968. Darauf weist auch eine Analyse des Aachener Vertrages in der französischen Presse hin: „Lorsqu’il est dit que les deux États peuvent avoir recours « à la force armée » pour se prêter assistance mutuellement, cela inclut-il, dans la cas français, la force nucléaire ? On sait que des réflexions intenses ont été menées à haut niveau sur ce sujet entre Paris et Berlin dans les derniers mois. Certains experts ont même poussé à la mise à disposition de l’Allemagne de la force de frappe française. Il ne s’agit pas d’une question anodine. Elle peut conduire rapidement à la détérioration des relations de la France avec les États-Unis, la Grande-Bretagne et la Russie, vu qu’il s’agirait d’une remise en cause des traités internationaux par lesquels l’Allemagne s’est engagée à ne pas posséder l’arme nucléaire.”20 Nicht zuletzt lässt sich an dem politischen Willen Frankreichs zweifeln, eine nukleare Sicherheitsgarantie zugunsten Deutschlands abzugeben. Laut Medienberichten habe der Generalstabschef der französischen Armee, François Lecointre, in einer Rede am Institut d’Études Politiques de Paris („Sciences Po“) diese Frage verneint. Vor dem Forum „Verteidigung und Strategie “ habe Lecointre gesagt, die nukleare Abschreckung Frankreichs sei nicht teilbar. Es gebe auch 18 „Französische Atomraketen für Europa?“, in: DW vom 16.2.2019, https://www.dw.com/de/franz%C3%B6sische-atomraketen-f%C3%BCr-europa/a-47547729. 19 Vgl. dazu Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste, „Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen. Deutsche und europäische Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale“, WD 2 - 3000 - 013/17 vom 23.5.2017, online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/513080/c9a903735d5ea334181c2f946d2cf8a2/wd-2-013-17-pdfdata .pdf. Vgl. zur Debatte: „Deutschland als Nuklearmacht? Noch immer wird Deutschland misstrauisch beäugt“, in: Welt online vom 29.7.2018, https://www.welt.de/politik/article180142080/Atomdebatte-Muss-Deutschland-Nuklearmachtwerden .html; Peter Dausend/Michael Thumann, „Braucht die EU die Bombe?“, ZEIT online vom 16.2.2017, https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/trump-nato-atomwaffen-europa/komplettansicht. 20 Edouard Husson, „Le Traité d´Aix-la-Chapelle est-il dans la continuité du Traité de l Èlysée?, http://www.charles-de-gaulle.org/blog/2019/01/23/du-traite-de-lelysee-a-celui-daix-la-chapelle-jalons-pour-undebat /. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 12 keine Perspektive, dies in Zukunft zu ändern.21 3.6. Praktische Relevanz der Beistandsklausel Über die mögliche praktische Relevanz der „Aachener Beistandsklausel“ lässt sich derzeit nur spekulieren. Nach dem Erfahrungen mit der Aktivierung des NATO-Bündnisfalls 2001 (nach den Terrorattentaten von 9/11 in den USA) und der EU-Beistandsklausel 2015 (nach den Terrorattentaten von Paris) liegt es nahe, terroristische Angriffe (einschließlich Cyberattacken) als das derzeit realistischste Bedrohungsszenario anzusehen. 3.7. Verhältnis zwischen den beiden Beistandsklauseln Rechtlich denkbar erscheint eine kumulative Aktivierung der „Aachener Beistandsklausel“ und der EU-Beistandsklausel, wobei sich militärische Unterstützungsleistungen (auf Grundlage der „Aachener Beistandsklausel“) und nicht-militärische Hilfeleistungen (auf Grundlage der EU-Beistandsklausel) ergänzen könnten. Das im Verhältnis zwischen EU-Beistandsklausel und NATO-Beistandsklausel immer wieder diskutierte „NATO first“-Prinzip22 spielt im Verhältnis zwischen „Aachener Beistandsklausel“ und NATO-Bündnisklausel keine Rolle.23 Rechtlich denkbar ist auch hier eine kumulative Anwendung mehrerer Beistandsklauseln. 3.8. Ergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass es sich bei der „Aachener Beistandsklausel“ rechtlich mehr als um bloße „Symbolpolitik“ handelt, da die im Vergleich zur EU-Beistandsklausel schärfer formulierte Verpflichtung zum gegenseitigen militärischen Beistand neue Impulse für die deutsch-französische Kooperation im Verteidigungsbereich zu setzen vermag. 21 TaggedPress News vom 14.2.2019, https://taggedpress.news/frankreich-will-deutschland-keinen-nuklearenschutz -garantieren/. 22 Vgl. dazu Cremer, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 42 EUV Rdnr. 18. 23 Art. 4 des Aachener Vertrages verzichtet auf den in Art. 42 Abs. 7 UAbs. 2 EUV formulierten Zusatz, wonach allen EU-Mitgliedstaaten, die gleichzeitig auch Mitglied der NATO sind, zugestanden wird, dass die NATO weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung bleibt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 13 4. Verhältnis zwischen Beistandsklausel und Solidaritätsklausel Die sog. Solidaritätsklausel nach Art. 222 AEUV24 ist ein gleichermaßen unionsrechtliches wie intergouvernementales Instrument der Hilfeleistung zugunsten eines von Attentaten oder Naturkatastrophen betroffenen EU-Mitgliedstaats. Während die EU-Beistandsklausel ausschließlich horizontal ausgestaltet ist, nimmt die Solidaritätsklausel sowohl die EU im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten als auch die EU-Mitgliedstaaten untereinander in die Pflicht. Die Solidaritätsklausel bildet damit eine Schnittstelle zwischen innerer und äußerer Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Über Art und Umfang ihres Handlungsbeitrags entscheiden die EU- Mitgliedstaaten selbständig; die Solidaritätsklausel umfasst auch – aber nicht nur – militärische Mittel.25 Anders als bei der EU-Beistandsklausel findet sich in der Solidaritätsklausel ein expliziter Verweis auf die terroristische Bedrohung. Überschneidungen zwischen beiden Klauseln können sich anlässlich von terroristischen Angriffen durch nicht-staatliche Akteure (Terrornetzwerke wie Al Quaida oder der sog. „IS“) ergeben.26 Insoweit ergibt sich die Frage nach einer Abgrenzung zwischen Beistands- und Solidaritätsklausel. EU-Beistandsklausel und Solidaritätsklausel schließen sich prinzipiell nicht gegenseitig aus, auch wenn Art. 222 AEUV als die speziellere der beiden Regelungen anzusehen ist.27 In der deutschen Fassung der EU-Beistandsklausel wird zwar deutlich von einem bewaffneten Angriff „auf das“ Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates gesprochen und damit nahegelegt, dass der Angriff von außerhalb des Territoriums des EU- Mitgliedstaates „geführt“ worden sein muss. Damit grenzt sich der (militärische) Beistand nach Art. 42 Abs. 7 EUV von den unionsrechtlich gesehen nach „innen“ gerichteten Maßnahmen der 24 Art. 222 AEUV lautet: „(1) Die Union mobilisiert alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um (…) im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen. (2) Ist ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen, so leisten die anderen Mitgliedstaaten ihm auf Ersuchen seiner politischen Organe Unterstützung. Zu diesem Zweck sprechen die Mitgliedstaaten sich im Rat ab (…).“ 25 Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Losebl., 65. Erg.-Lfg. Stand: August 2018, Art. 222 AEUV Rdnr. 11. 26 Vgl. Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Losebl., 65. Erg.-Lfg. Stand: August 2018, Art. 222 AEUV Rdnr. 12. 27 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Kommentar, 5. Auflage 2016, Art. 222 AEUV Rdnr. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 14 Solidaritätsklausel ab.28 Das bedeutet konkret: Die EU-Beistandsklausel erlaubt kollektive Verteidigungshandlungen zugunsten eines angegriffenen EU-Mitgliedstaates auch im fernen Syrien (Bekämpfung des sog. „IS“ durch eine Anti-Terrorkoalition);29 die Solidaritätsklausel zielt demgegenüber auf Unterstützungsleistungen „innerhalb des Hoheitsgebiets“ eines EU- Mitgliedstaates ab. Der Idee nach sollte Art. 222 EUV als „kleine Schwester“ der militärischen Beistandspflicht eine „kleine Beistandsklausel“ begründen, die bei Terrorattentaten unterhalb der Schwelle eines „bewaffneten Angriffs“ (i.S.v. Art. 51 VN-Charta) eingreift.30 Die Möglichkeit einer parallelen Anwendung beider Klauseln ergibt sich indes bei schweren Terroranschlägen durch nichtstaatliche Akteure „à la 9/11“, soweit man diese als „bewaffneten Angriff“ einstuft, der ein Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta bzw. Art. 42 Abs. 7 EUV auslöst. Obwohl die Solidaritätsklausel auf das Szenario der Pariser Terrorattentate vom November 2015 gepasst hätte, wurde sie von Frankreich aus rechtlichen und politischen Gründen nicht aktiviert.31 Insoweit gibt es trotz zahlloser größerer Terrorattentate in Europa32 zu Art. 222 AEUV bis heute keine Staatenpraxis. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die nach Art. 222 AEUV vorgesehene – und ggf. zeitraubende – Pflicht zur zwischenstaatlichen Koordinierung bzw. EU-Koordinierung der entsprechenden Hilfsmaßnahmen.33 28 Vgl. zur normativen Abgrenzung zwischen EU-Beistandsklausel und Solidaritätsklausel: Schmidt-Radefeldt, Roman, „Die Aktivierung der EU-Beistandsklausel im Nachgang zu den Terroranschlägen von Paris im November 2015: Rechtlicher Rahmen und politische Praxis“, in: Kadelbach, Stefan (Hrsg.), Die Welt und Wir. Die Außenbeziehungen der EU, Baden-Baden: Nomos 2017, S. 234-266 (247 ff.); Gillich, Ines, EU-Beistandsklausel und Solidaritätsklausel im Lichte der Terroranschläge von Paris, in: Archiv des Völkerrechts 2017, S. 43-51 (49 f.); Cremer, Hans-Joachim, Die Beistandsklausel des EUV, in: Zeitschrift für Gesetzgebung (ZG) 2016, S. 97-119; Kockel, Armin, Die Beistandsklausel im Vertrag von Lissabon, Frankfurt 2012, S. 202 ff.; Gutachten der Unterabteilung Europa, PE 6 – 3000 – 155/15, Die Beistandsklausel des Art. 42 Abs. 7 EUV, S. 5. 29 Als kollektive Verteidigung (i.S.v. Art. 51 VN-Charta i.V.m. Art. 5 NATO-Vertrag) galt auch die Bekämpfung von Al Quaida in Afghanistan durch die USA und ihre coalition of the willing im Zuge von 9/11 (Operation Enduring Freedom). 30 Vgl. die Begründung des Formulierungsvorschlags in Konvents-Dok. CONV 685/03 v. 23.4.2003, S. 22; ähnl. Konvents-Dok. CONV 461/02 v. 16.12.2002, Rdnr. 57 - beide zitiert bei Thym, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II, Losebl., 65. Erg.-Lfg. Stand: August 2018, Art. 222 AEUV Rdnr. 11, Anm. 5. 31 Näher dazu Schmidt-Radefeldt, Roman, „Die Aktivierung der EU-Beistandsklausel im Nachgang zu den Terroranschlägen von Paris im November 2015: Rechtlicher Rahmen und politische Praxis“, in: Stefan Kadelbach, (Hrsg.), Die Welt und Wir. Die Außenbeziehungen der EU, Baden-Baden: Nomos 2017, S. 234-266 (249). 32 „Chronologie: Terror in Europa“, DW vom 17.8.2017, https://www.dw.com/de/chronologie-terror-in-europa/a- 38945278. 33 Der Beschluss des Rates vom 24. Juni 2014 über die Vorkehrung für die Anwendung der Solidaritätsklausel (ABl. EU L 192/53 v. 1.7.2014) setzt zudem eine Art „Offenbarungseid“ des angegriffenen Staates hinsichtlich der eigenen Bewältigungskapazitäten voraus. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 036/19 Seite 15 Im Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments sieht man EU-Beistands- und Solidaritätsklausel als zwei Seiten einer Medaille.34 Nachgedacht wird dort über eine Debatte über die mögliche Komplementarität und kumulative Anwendung beider Klauseln sowie über die Frage, ob und wie man sie künftig verfahrensmäßig und institutionell verkoppeln könnte. Im Verhältnis zwischen der „Aachener Beistandsklausel“ (Völkerrecht) und der Solidaritätsklausel (Europarecht) stellt sich weder die Frage der spezielleren Regelung noch bestehen rechtliche Gründe, die einer kumulativen Anwendung beider Klauseln entgegenstehen könnten.35 *** 34 Legrand, „Ergibt sich aus Frankreichs Geltendmachung der „Klausel über die gegenseitige Verteidigung“ ein „Kollateralnutzen“ für die GSVP?“, Analyse der Generaldirektion Externe Politikbereiche des Europäischen Parlaments vom 14.12.2015, http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/IDAN/2015/570452/EXPO_IDA(2015)570452_DE.pdf. 35 Die französischen Medien („Les cinq beautés cachées du traité franco-allemand d’Aix-La-Chapelle“, 22.1.2019, https://www.bruxelles2.eu/2019/01/les-cinq-beautes-cachees-du-traite-daix-la-chapelle/) sprechen von einer ‘double’ assurance, qui n’aurait à s’actionner que si, pour une raison ou une autre, l’OTAN était paralysée. En matière militaire, le superflu est parfois nécessaire.