© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 035/17 Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsvertreter in Deutschland und in den Niederlanden im Lichte des Völkerrechts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Auftritte türkischer Regierungspolitiker in den Niederlanden im Lichte des Konsularrechts 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 4 1. Auftritte türkischer Regierungspolitiker in Deutschland: Völker- und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen Das internationale Recht erlaubt die Beschränkung der politischen Tätigkeit von Vertretern fremder Staaten.1 Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 8. März 20172 die Rahmenbedingungen präzisiert: „Staatsoberhäupter und Mitglieder ausländischer Regierungen haben weder von Verfassungs wegen noch nach einer allgemeinen Regel des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG einen Anspruch auf Einreise in das Bundesgebiet und die Ausübung amtlicher Funktionen in Deutschland. Hierzu bedarf es der - ausdrücklichen oder konkludenten - Zustimmung der Bundesregierung, in deren Zuständigkeit für auswärtige Angelegenheiten eine solche Entscheidung gemäß Art. 32 Abs. 1 GG fällt (vgl. BVerfGE 104, 151 <207>; 131, 152 <195>; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Juli 2016 - 15 B 876/16 -, juris, Rn. 15 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 32 Rn. 11). Soweit ausländische Staatsoberhäupter oder Mitglieder ausländischer Regierungen in amtlicher Eigenschaft und unter Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität in Deutschland auftreten , können sie sich nicht auf Grundrechte berufen.3 Denn bei einer Versagung der Zustimmung würde es sich nicht um eine Entscheidung eines deutschen Hoheitsträgers gegenüber einem ausländischen Bürger handeln, sondern um eine Entscheidung im Bereich der Außenpolitik, bei der sich die deutsche und die türkische Regierung auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen) begegnen.“ In völkerrechtlicher Hinsicht ist die Bundesregierung frei, ausländischen Regierungsmitgliedern die Einreise zwecks Durchführung von Wahlkampfauftritten – oder im konkreten Fall: zwecks Werbung für die Zustimmung der Auslandstürken zu einem Referendum des türkischen Volkes über die Verfassungsänderung in der Türkei – auf deutschen Boden zu erlauben oder zu verweigern . Verfassungsrechtlich kann sich die Regierung bei ihrer Ermessensentscheidung auf die Bundeskompetenz zur Pflege auswärtiger Beziehungen (Art. 32 GG) berufen. 1 Reinhard Müller, in: FAZ v. 8.3.2017, „Erdogan muss sich an die Regeln halten“, unter Berufung auf den Vizepräsidenten des BVerfG F. Kirchhof, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ferdinand-kirchhof-erdogan-sollregeln -beachten-14915589.html. Nach den in Art. 25 GG anerkannten allgemeinen Regeln des Völkerrechts ist im Prinzip jede hoheitliche Tätigkeit auf fremdem Staatsgebiet als unzulässige Beeinträchtigung der Gebietshoheit zu beurteilen. 2 BVerfG, 2 BvR 483/17 - Rn. (1-8), http://www.bverfg.de/e/rk20170308_2bvr048317.html. 3 Vgl. dazu OVG Münster, Beschl. v. 29.7.2016, Az. 15 B 876/16, wonach die Versammlungsfreiheit nicht dazu diene, ausländischen Staatschefs in Deutschland eine Bühne zu geben (bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 30.7.2016, Az. 1 BvQ 29/16). Damit läuft der Schutzbereich des Versammlungsrechts aus Art. 8 GG auch für jene leer, die einen ausländischen Redner einladen wollen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 5 Die Kompetenz eines Staates, über politische Auftritte ausländischer Politiker auf dem eigenen Territorium zu entscheiden, entspricht sowohl dem Völkerrecht,4 als auch den internationalen politischen Gepflogenheiten.5 Ironischerweise verstoßen Wahlkampfauftritte türkischer Politiker im Ausland und in diplomatischen Vertretungen außerhalb der Türkei gegen das türkische Wahlgesetz. Dort heißt es in Artikel 94/A: «Im Ausland und in Vertretungen im Ausland kann kein Wahlkampf betrieben werden.»6 Die Bundesregierung hat sich in einer der Türkei zugestellten Verbalnote dafür entschieden, Auftritte türkischer Regierungspolitiker in Deutschland zwecks Werbung für das Referendum in der Türkei unter dem Vorbehalt zu tolerieren, dass diese „auf der Grundlage der Prinzipien des Grundgesetzes“ erfolgen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der u.a. in Art. 18 GG zum Ausdruck kommende Gedanke der „wehrhaften Demokratie“, wonach sich auf die Meinungsäußerungsfreiheit nicht berufen kann, wer die Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht“. Mit dem Verweis auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekennt sich Deutschland zu den Werten von Demokratie, Rechtstaatlichkeit, zur Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteiensystem und den Schutz der unveräußerlichen Grundrechte. Das Werben für eine autoritäre Staatsform, auch wenn diese im Ausland verwirklicht werden soll, steht den Werten des Grundgesetzes entgegen. So stellte Tomuschat zutreffend fest: «Einen Anspruch auf Zulassung solcher Werbung für seine Ziele hat ein fremder Amtsträger nicht.»7 4 Die Kompetenz eines Staates, über den Zugang von Ausländern auf das eigene Territorium frei zu entscheiden, wurzelt im Grundsatz der souveränen Staatengleichheit (Art. 2 Nr. 1 VN-Charta). 5 Ländervergleichend insoweit Spiegel-online vom 12.3.2017, „Türkische Politiker in der EU. So gehen die Länder mit türkischen Wahlkampfauftritten um“, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkischer-politiker-sogehen -die-laender-mit-tuerkischen-wahlkampfauftritten-um-a-1138407.html. SZ online vom 13.3.2017, „Wie europäische Staaten zu Auftritten türkischer Politiker stehen“, http://www.sueddeutsche.de/politik/umgangmit -ankara-wie-europaeische-staaten-zu-auftritten-tuerkischer-politiker-stehen-1.3418046. 6 Vgl. Madde 94/A: "Yurt dışında ve yurt dışı temsilciliklerde seçim propagandası yapılamaz." Der Vertreter der Oppositionspartei CHP in der Wahlkommission, Mehmet Hadimi Yakupoglu, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Regierungspartei AKP selbst habe das Gesetz 2008 eingeführt. In dem Gesetz sei aber nicht geregelt, wer dessen Einhaltung kontrolliere und welche Strafen bei Verstößen angewendet würden. Überdies sei juristisch umstritten, ob das Gesetz nur für Wahlkämpfe oder auch in Zusammenhang mit der Abhaltung von Referenden gelte. «Deshalb besteht es nur als moralische Regel.» Die Vorgabe werde von «allen Parteien» missachtet. Quelle: http://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/tuerkisches-wahlgesetz-gestattetkeinen -wahlkampf-im-ausland-14916666.html. Nach türkischem Recht mag die (rabulistische) Unterscheidung zwischen Wahlkampfauftritten türkischer Politiker im Ausland und dem Werben im Ausland für die Zustimmung der Auslandstürken zu einem türkischen Verfassungsreferendum bedeutsam sein. Aus Sicht des deutschen Rechts und des Völkerrechts geht es in beiden Fällen um die politische Betätigung ausländischer Regierungsvertreter auf deutschem Territorium. 7 Tomuschat, Christian, FAZ v. 7.3.2017, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 6 Der Zustimmungsvorbehalt der Bundesregierung zu Wahlkampfauftritten ausländischer Politiker in Deutschland spiegelt insoweit die Rechtslage in § 47 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) wider, welcher lautet: Ausländer dürfen sich im Rahmen der allgemeinen Rechtsvorschriften politisch betätigen. Die politische Betätigung eines Ausländers kann beschränkt oder untersagt werden, soweit sie … 2. … den außenpolitischen Interessen (…) der Bundesrepublik Deutschland zuwiderlaufen kann (…) 4. … bestimmt ist, Parteien, andere Vereinigungen, Einrichtungen oder Bestrebungen außerhalb des Bundesgebiets zu fördern, deren Ziele oder Mittel mit den Grundwerten einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung unvereinbar sind. Eine unmittelbare Anwendung des Aufenthaltsgesetzes auf Wahlkampfauftritte ausländischer Regierungsmitglieder in Deutschland steht indes der Umstand entgegen, dass ausländische Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister aufgrund ihrer völkerrechtlichen Immunität von der deutschen Gerichtsbarkeit ausgenommen sind (vgl. § 20 Gerichtsverfassungsgesetz ).8 Ausländische Regierungspolitiker treten in Deutschland nämlich nicht als beliebige Angehörige des fremden Staates auf, sondern als Amtsträger mit Hoheitsfunktion. Ausländerrechtliche sowie aufenthaltsrechtliche bzw. verwaltungsgerichtliche Maßnahmen und Verbote gegen ausländische Regierungsmitglieder verbieten sich insoweit. Die gegenüber ausländischen Regierungsvertretern auf diplomatischem Wege (Verbalnote) kommunizierte Weigerung – bzw. die Erlaubnis zu Wahlkampfauftritten – betrifft diese gerade in ihrer Eigenschaft als staatliche Organe . Diese Unterscheidung ist auch visumsrechtlich und damit einreisetechnisch von Bedeutung. Im Fall der Türkei sind türkische Diplomaten und Regierungsmitglieder mit Diplomatenpass vom Erfordernis eines (durch Visum vermittelten) Aufenthaltstitels generell ausgenommen, während „normale“ türkische Bürger den jeweiligen Visa-Bestimmungen unterliegen. Indes würde auch der Wahlkampfauftritt eines ausländischen Regierungspolitikers in seiner Eigenschaft als „Privatmann“ die völkerrechtliche Kompetenz der Bundesregierung, über seine Einreise nach freiem Ermessen zu entscheiden, nicht in Frage stellen.9 8 § 20 GVG lautet: Die deutsche Gerichtsbarkeit erstreckt sich auch nicht auf Repräsentanten anderer Staaten und deren Begleitung, die sich auf amtliche Einladung der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten. Im Übrigen erstreckt sich die deutsche Gerichtsbarkeit auch nicht auf andere als die in Absatz 1 und in den §§ 18 und 19 genannten Personen, soweit sie nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften von ihr befreit sind. 9 Schwierig wären dann die Abgrenzungsprobleme, in welcher Funktion ein Regierungsmitglied gerade spricht (vgl. dazu BVerfGE 138, 102). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 7 Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2012 in einem Vertragsverletzungsverfahren Ungarns gegen die Slowakei klargestellt. Das Gericht billigte dabei eine Einreiseverweigerung der Slowakei gegen den ungarischen Präsidenten, der „privat“ zur Einweihung eines Denkmals des ungarischen Nationalheiligen St. Stephan nach Bratislava reisen wollte.10 Nach Auffassung des EuGH rechtfertige der besondere völkerrechtliche Status eines Staatsoberhaupts auch Beschränkungen der Personenfreizügigkeit.11 2. Politische Betätigung von türkischen Regierungsvertretern im europäischen Ausland und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Präsident Erdoǧan kündigte an, der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya würden vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ziehen, weil die niederländischen Behörden sie an politischen Auftritten in den Niederlanden gehindert hatten.12 EMRK-rechtlich relevant ist das Recht auf Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK. Dieses steht nicht nur Bürgern, sondern auch Politikern zu. Meinungsäußerungen von Politikern im Wahlkampf genießen im Rahmen der Meinungsfreiheit nach Auffassung des EGMR sogar eine privilegierte Sonderstellung.13 Im Raum steht aber zunächst nicht die Einschränkung der Meinungsfreiheit türkischer Regierungsvertreter durch die Niederlande, sondern die Verweigerung ihrer Einreise nach Holland. Fraglich ist damit, ob die Ausübung der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK auch das Recht umfasst, in das Staatsgebiet eines EMRK-Vertragsstaates einzureisen, um sie dort in Anspruch zu nehmen. 10 EuGH, Urt. v. 16.10.2012, Rechtssache C-364/10 - Sólyom, Urteil verfügbar unter: http://www.migrationsrecht.net/eugh-rs.-c-364-10-solyom-urteil-vom-16.10.2012.html. Vgl. Medienbericht unter: http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vertragsverletzungsklage-gegen-slowakeieinreiseverbot -des-ungarischen-staatspraesidenten-kein-rechtsmissbrauch/. 11 Im Unterschied dazu geht es jedoch bei Wahlkampfauftritten um die Wahrnehmung von Grundrechten (Meinungs -, Versammlungsfreiheit). Kritisch zu der EuGH-Entscheidung insoweit den blog von Matthias Goldmann, Le gouvernement de soi et des autres: Zu Auftrittsverboten für türkische Regierungsmitglieder, online unter: http://verfassungsblog.de/le-gouvernement-de-soi-et-des-autres-zu-auftrittsverboten-fuer-tuerkischeregierungsmitglieder /, mit dem Hinweis, dass sich völkerrechtliche Immunität und Grundrechtsträgerschaft nicht ausschlössen. 12 http://www.heute.de/erdogan-tuerkei-will-niederlande-vor-europaeischem-gerichtshof-fuer-menschenrechteverklagen -46752108.html. 13 Näher dazu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München, 6. Aufl. 2016, § 23, Rdnr. 29. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 8 Ausgangspunkt der Überlegung ist die Feststellung, dass die EMRK Vertragsstaaten die Konventionsrechte nur den „ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen“ zusichern (Art. 1 EMRK). Der EGMR hat in st. Rechtspr. festgestellt, dass es das prinzipielle Recht der Vertragsstaaten nach herrschendem Völkerrecht und ungehindert ihrer Verpflichtungen aus internationalen Abkommen einschließlich der EMRK ist, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Ausländern auf ihrem Staatsgebiet zu kontrollieren.14 Menschenrechtlich garantiert wird nur das Recht, ein Land auch wieder zu verlassen, nicht dagegen, in ein Land einzureisen.15 Konventionsrechtlich unbedenklich ist im Falle der Niederlande daher Verweigerung der Landeerlaubnis gegenüber dem türkischen Außenminister. Gleiches gilt für die „Rückführung“ der an der deutsch-niederländischen Grenze gestoppten türkischen Familienministerin nach Deutschland.16 In Zusammenhang mit Wahlkampfauftritten ausländischer Politiker ist eine weitgehend unbeachtet gebliebene, weil bislang noch nie angewandte17 EMRK-Vorschrift erwähnenswert, welche die Möglichkeit zur Beschränkung der politischen Betätigung von Ausländern bietet. Art. 16 EMRK lautet: Die Artikel 10, 11 und 14 [EMRK] sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken. Ob des Zusammenwachsens der europäischen Staaten18 mutet Art. 16 EMRK heute schon fast „anachronistisch“ an,19 zumal die Vorschrift gesetzessystematisch in einem (unauflösbaren?) Widerspruch zum konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) von 14 Zuletzt wieder im Fall J.K. and Others ./. SWE [GK], Nr. 59166/12, Urteil vom 23. August 2016, § 79 m.w.N., http://hudoc.echr.coe.int/eng#{"itemid":["001-165442"]}; F.G. ./. SWE, Nr. 43611/11, Urteil vom 23. März 2016, § 111; Saadi ./. ITA [GK], Nr. 37201/06, Urteil vom 28. Februar 2008, §§ 124-133. 15 Vgl. Art. 2 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK; Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Zivilpakts (IPBPR). 16 Da seitens der niederländischen Regierung gegenüber der türkischen Ministerin ein Verbot der Einreise ausgesprochen wurde, könnte man eine Rückführungsmaßnahme, die einige Kilometer hinter der Grenze auf niederländischem Gebiet beginnt, noch als Durchsetzung des Einreiseverbots gegenüber der türkischen Ministerin betrachten ; die Rechtslage ist insoweit aber nicht unproblematisch. Wo genau die Ministerin „aufgegriffen“ wurde , ist nach der Faktenlage offenbar unklar. Hätte sich die Betreffende bereits in den Niederlanden befunden, würde sie der „Hoheitsgewalt der Niederlande unterstehen“ (Art. 1 EMRK) – vergleichbar mit den afrikanischen Flüchtlingen, die es im marokkanisch-spanischen Ceuta über den Grenzzaun geschafft haben. 17 So Mensching, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, München, 2. Aufl. 2012, Art. 16, Rdnr. 1. Vgl. insoweit die Kommissionentscheidung in Piermont ./. FRA, 314 (1995). 18 Wegen Art. 20 AEUV („Citizenship of the European Union“) verbietet sich die Anwendung des Art. 16 EMRK zumindest im Kontext der EU (so Mensching, in: Karpenstein / Mayer (Hrsg.), EMRK, Kommentar, München, 2. Aufl. 2012, Art. 16, Rdnr. 5). 19 Frowein/Peukert, EMRK, Kommentar, Kehl, 3. Aufl. 2009, Art. 16, Rdnr. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 9 Ausländern sowie zur Schrankensystematik der Art. 10 und 11 EMRK (Meinungs- und Versammlungsfreiheit ) steht. Die Parlamentarische Versammlung des Europarts hatte bereits 1977 die Abschaffung des auch in der Rechtswissenschaft umstrittenen Art. 16 EMRK gefordert.20 Der Ansatz des EuGH bereits angesprochenen Fall Sólyom (Staatenbeschwerde Ungarn ./. Slowakei, s.o. 1.) die grundrechtliche und die immunitätsrechtliche Ebene getrennt zu betrachten, könnte dafür sprechen, Art. 16 EMRK auf ausländische Regierungspolitiker nicht anzuwenden. 3. Auftritte türkischer Regierungspolitiker in den Niederlanden im Lichte des Konsularrechts Über die Vorgänge um die „Rückführung“ der türkischen Familienministerin aus den Niederlanden am 11. März 2017 gibt es unterschiedliche Berichterstattungen. Der niederländische Rundfunk NOS spricht von einem „nie da gewesenen diplomatischen Zwischenfall“.21 Türkischen Berichten zufolge sei die türkische Familien- und Sozialministerin Fatma Betül Sayan Kaya daran gehindert worden, das türkische Generalkonsulat in Rotterdam zu erreichen. Ihr Auto sei von der Polizei gestoppt worden, berichtete die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu am Samstagabend unter Berufung auf den Generalkonsul. „Wo genau sie gestoppt worden ist, weiß ich nicht, aber wie Sie sehen, erlaubt man ihr nicht, zu mir zu kommen“, zitierte die Agentur den Generalkonsul Sadin Ayyildiz. Nach der Weigerung der niederländischen Regierung, dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu eine Landeerlaubnis zu erteilen, hätte die Familienministerin angekündigt, mit dem Auto von Deutschland aus nach Rotterdam zu fahren. Gegen 1 Uhr am Sonntagmorgen sei die Ministerin schließlich laut schimpfend in ein anderes Auto umgestiegen und von Spezial-Einsatzkräften der holländischen Polizei zur deutschen Grenze eskortiert worden. 22 Der niederländische TV-Sender RTL meldet unter Berufung auf Regierungskreise , dass die türkische Ministerin für Familien und Soziales zur "Persona non grata" erklärt wurde. Sie könne dadurch außer Landes verwiesen werden. Ob mit Polizeigewalt, ist bislang nicht ersichtlich.23 20 Vgl. Recommendation 799 (1977) v. 15.1.1977 on the political rights and position of aliens. 21 https://www.welt.de/politik/ausland/article162770604/Ein-nie-da-gewesener-diplomatischer- Zwischenfall.html. 22 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/streit-um-wahlkampf-auftritt-tuerkische-ministerin-soll-in-denniederlanden -gestoppt-worden-sein-14919833.html. 23 https://turkishpress.de/news/politik/12-03-2017/tuerkische-familienministerin-zu-persona-non-grata-erklaert. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 035/17 Seite 10 Eine konsularrechtliche Bewertung der Vorfälle in den Niederlanden kann angesichts der zum Teil unklaren Faktenlage an dieser Stelle nur „kursorisch“ erfolgen. Bei der türkischen Ministerin handelt es sich um keine in den Niederlanden akkreditierte Diplomatin oder eine Konsularbeamtin. Auch gehört sie nicht zum diplomatischen / konsularischen Personal. Vorrechte und Immunitäten nach dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 (WÜD) oder dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) vom 24. April 1963 stehen ihr nicht zu. Einer „Persona-non-grata“-Erklärung bedurfte es insoweit nicht.24 Das Konsularrecht bleibt insoweit unanwendbar. Zu überlegen wäre jedoch, inwieweit die Hinderung der türkischen Familienministerin, an der Wahlkampfveranstaltung im türkischen Generalkonsulat in Rotterdam teilzunehmen , auch eine Behinderung der konsularischen Tätigkeit und damit eine Verletzung der Konsularrechtskonvention seitens der Niederlande darstellt. Eine Wahlkampfveranstaltung im türkischen Konsulat in Rotterdam gehört indes nicht zur enumerativen Auflistung konsularischer Aufgaben in Art. 5 WÜK.25 Jede darüber hinausgehende konsularische Tätigkeit bedarf gem. Art. 5 m) WÜK grundsätzlich einer Autorisierung durch den Empfangsstaat oder einer bilateralen Abmachung.26 Wahlkampfkundgebungen in einem Generalkonsulat müssen nach den internationalen konsularischen Gepflogenheiten angemeldet und können dann vom niederländischen Außenministerium stillschweigend genehmigt oder explizit untersagt werden. Eine solche Anmeldung wurde – laut Auskunft des Auswärtigen Amtes – offenbar gar nicht vorgenommen . Der Vorwurf der Türkei, es sei „Konsularrecht“ verletzt worden, bleibt damit prima facie unsubstantiiert . *** 24 Artikel 23 Abs. 1 WÜK regelt eine solche Erklärung zur persona non grata: „Der Empfangsstaat kann dem Entsendestaat jederzeit notifizieren, dass ein Konsularbeamter persona non grata oder dass ein anderes Mitglied des konsularischen Personals ihm nicht genehm ist. In diesen Fällen hat der Entsendestaat die betreffende Person entweder abzuberufen oder ihre dienstliche Tätigkeit bei der konsularischen Vertretung zu beenden.“ 25 Davon zu unterscheiden sind organisatorische und verwaltungstechnische Vorkehrungen zur Durchführung von Wahlen des Entsendestaates für die in Deutschland lebenden Staatsangehörigen des Entsendestaates (dazu Wagner / Raasch / Pröpstl, Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen: Kommentar für die Praxis , Berliner Wiss-Verl. 2007, Art. 5 WÜK, S. 110). 26 Art. 5 m) WÜK geht dabei von einer stillschweigenden Ermächtigung aus, wenn der Empfangsstaat keinen Einspruch erhebt. Vgl. näher Richtsteig, Michael, Wiener Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen, Kommentierung, Baden-Baden, 2. Auf. 2010, Art. 5 WÜK, 1.a. Wagner / Raasch / Pröpstl, Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen: Kommentar für die Praxis, Berliner Wiss-Verl. 2007, Art. 5 WÜK, S. 85.