Deutscher Bundestag Zur Zulässigkeit von Vorbehalten zum Europäischen Fürsorgeabkommen Sachstand Wissenschaftliche Dienste WD 2 – 3000 – 035/12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 2 Zur Zulässigkeit von Vorbehalten zum Europäischen Fürsorgeabkommen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 2 – 3000 – 035/12 Abschluss der Arbeit: 19. März 2012 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: + Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Vorbehalte im Völkerrecht 5 2.1. Vorbehalt im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention 5 2.2. Vorbehalt im Sinne des Art. 16 lit. b S. 2 EFA 5 3. Voraussetzungen eines Vorbehalts zum EFA 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 4 1. Einleitung Deutschland hat am 19. Dezember 2011 einen Vorbehalt zum Europäischen Fürsorgeabkommen1 (EFA) des Europarats notifiziert, um Staatsangehörige der EFA-Mitgliedsstaaten in Zukunft vom sofortigen Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende auszuschließen.2 Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundessozialgerichts aus dem Jahr 2010.3 Danach darf ein Staatsangehöriger eines EFA-Mitgliedsstaates, der sein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein zum Zweck der Arbeitssuche erhält, nicht aufgrund von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 des zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II) von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgeschlossen werden . Als Begründung für diese Auslegung hat das Gericht angeführt, dass der im deutschen Recht vorgesehene Leistungsausschluss aufgrund des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 1 EFA vor dem Hintergrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes angewendet bleiben müsse.4 Nach dem Gleichbehandlungsgebot des EFA ist jeder Vertragsstaat verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in seinem Gebiet erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Das Urteil weist explizit darauf hin, dass die Bundesrepublik bisher keinen Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung des SGB II auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten gem. Art. 16 lit. b S. 2 EFA notifiziert hatte.5 Von dieser Möglichkeit hat Deutschland nun Ende 2011 Gebrauch gemacht. Die Bundesregierung begründet diesen Schritt damit, dass andernfalls eine europarechtswidrige Ungleichbehandlung innerhalb der EU-Mitgliedstaaten eintreten würde, da nicht alle EU-Staaten auch Mitglied des Europaratsabkommens sind.6 Außerdem gehe es beim Thema Zuwanderung um qualifizierte Fachkräfte und nicht um Zuwanderung in die Sozialsysteme, so dass ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II erst nach Aufnahme einer ersten Tätigkeit in Deutschland bestehen solle. 7 Im Folgenden wird zunächst dargestellt, welche Formen von zulässigen Vorbehalten das Völkerrecht kennt. Darauf aufbauend befasst sich dieser Sachstand mit den Voraussetzungen der Zulässigkeit eines Vorbehalts nach dem EFA. 1 Siehe das deutsche Zustimmungsgesetz zum Europäischen Fürsorgeabkommen vom 15.5.1956, BGBl II, S. 563. 2 Vgl. Europarat, Liste der Erklärungen zum Vertrag Nr. 014, Europäisches Fürsorgeabkommen, abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ListeDeclarations.asp?NT=014&CM=8&DF=9/17/2006&CL=GER&VL =1; siehe auch Bundesagentur für Arbeit, Geschäftsanweisung SGB II vom 23.02.2012 – Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), abrufbar unter http://www.arbeitsagentur.de/nn_166486/zentraler- Content/HEGA-Internet/A07-Geldleistung/Dokument/GA-SGB-2-NR-08-2012-02-23.html. 3 Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2010, B14 AS 23/10 R. 4 Bundessozialgericht (Anm. 3), Rn. 23 ff. 5 Bundessozialgericht (Anm. 3), Rn. 35. 6 Vgl. dazu Flosdorff (Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Regierungspressekonferenz vom 9. März 2012, abrufbar unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2012/03/2012-03-09- regpk.html?nn=430000. 7 Flosdorff (Anm. 6). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 5 2. Vorbehalte im Völkerrecht Um multilateralen völkerrechtlichen Verträgen auch dann zur Geltung zu verhelfen, wenn die Willensübereinstimmung zwischen den potentiellen Vertragsstaaten nicht vollständig ist, hat sich im Völkerrecht das Instrument des sogenannten Vorbehalts institutionalisiert.8 Es eröffnet den Vertragsstaaten unter gewissen Voraussetzungen die Möglichkeit, einzelne materielle Bestimmungen eines Vertrages für unanwendbar zu erklären oder eine zeitliche oder geographische Einschränkung bezüglich aller Verpflichtungen vorzunehmen. Während die Voraussetzungen für völkerrechtliche Vorbehalte in der Wiener Vertragsrechtskonvention allgemein geregelt sind, trifft das EFA in diesem Punkt eine leicht abweichende Regelung . 2.1. Vorbehalt im Sinne der Wiener Vertragsrechtskonvention Der Begriff des Vorbehalts ist in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) folgendermaßen definiert: „Eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung , Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern“ (Art. 2 Nr. 1 lit. d WVK). Daraus ergibt sich, dass die für Vorbehalte geltenden Regelungen der Art. 19 ff. WVK nur dann gelten, wenn es sich um eine Erklärung handelt, die spätestens dann abgegeben wird, wenn der Staat Mitglied des Vertrages wird. Für nachträgliche, d.h. nach Inkrafttreten des Vertrages abgegebene, Erklärungen, die die Anwendbarkeit einzelner Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrages einschränken, finden sich in der WVK keine besonderen Regeln. Die WVK schließt aber eine vertragliche Regelung zu einer solchen nachträglichen Erklärung nicht aus.9 Die Regel der WVK, wonach eine Kündigung bzw. ein Rücktritt vom Vertrag grundsätzlich nur hinsichtlich des gesamten Vertrages möglich ist, gilt nur, soweit der Vertrag selbst nichts anderes vorsieht (Art. 44 WVK). Insoweit kommt es für die Beurteilung der Zulässigkeit eines nachträglichen Vorbehalts allein auf die vertraglichen Regelungen des EFA an. 2.2. Vorbehalt im Sinne des Art. 16 lit. b S. 2 EFA Art. 16 lit. b S. 2 EFA sieht vor, dass die Mitgliedstaaten „Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung […] neuer Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen“ können. Diese vertragliche Regelung versteht somit unter dem Begriff „Vorbehalt“ eine Erklärung, durch die ein Vertragsstaat die Anwendbarkeit des EFA für neue Gesetze einschränkt. Im Explanatory Report zum Europäischen Fürsorgeabkommen wird dazu erläutert, dass die Vertragsstaaten Vorbehalte nicht nur bei der Ratifikation, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt anbringen können.10 Dieser Report stellt zwar keine verbindliche Auslegung dar, kann aber auf- 8 Vgl. Torsten Stein / Christian von Buttlar, Völkerrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 74. 9 Thomas Giegerich, Treaties, Multilateral, Reservations to, in: Wolfrum (Hrsg.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law, online-Ausgabe, abrufbar unter http://www.mpepil.com/subscriber_article?script=yes&id=/epil/entries/law-9780199231690- e1680&recno=1&searchType=Quick&query=Reservations, Rn. 8. 10 Abrufbar unter http://conventions.coe.int/Treaty/en/reports/html/014.htm, Ziff. 27. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 6 grund seiner Autorisierung durch eine qualifizierte Mehrheit des Ministerkomitees des Europarats als ergänzendes Auslegungsmittel herangezogen werden (Art. 32 WVK).11 Eine vergleichbare explizite Regelung findet sich in einem anderen Europarats-Abkommen12, so dass die fortlaufende Aktualisierungoption als ein mögliches Modell von Vorbehaltsklauseln in Europarats- Verträgen gesehen werden kann.13 Grundsätzlich ist somit ein solcher Vorbehalt in Form einer nachträglichen Erklärung in Art. 16 lit. b S. 2 EFA vorgesehen. 3. Voraussetzungen eines Vorbehalts zum EFA Art. 16 lit. b EFA regelt, dass die Vertragsstaaten dem Generalsekretär des Europarats gleichzeitig mit der Mitteilung neuer Rechtsvorschriften ihre Vorbehalte in Bezug auf die Anwendung dieser Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedsstaaten notifizieren. Das Anbringen eines Vorbehalts setzt nach dem Wortlaut des Art. 16 lit. b EFA voraus, dass es sich um „neue Rechtsvorschriften“ handelt. Es ließe sich daher fragen, welche Anforderungen an eine solche neue Rechtsvorschrift im Sinne des EFA zu stellen sind. Unzweifelhaft erfüllt ist dieses Kriterium, wenn ein neues Gesetz erlassen wird, das unmittelbar nach seinem Inkrafttreten notifiziert wird. Zu diskutieren ist jedoch, ob eine Gesetzesnovelle oder eine die Anwendbarkeit des Gesetzes einschränkende Rechtsprechung zu einem „neuen“ Gesetz im Sinne des EFA werden kann.14 Der Wortlaut „any new law or regulation“15 der verbindlichen englischsprachigen Fassung des Abkommens könnte Ausgangspunkt für einen eher weiten Begriff der zu notifizierenden Regelungen sein. Zunächst ließe sich vertreten, dass ein deutsches Gesetz auch dann als neu zu bezeichnen ist, wenn es novelliert und neu verkündet ist.16 Mit Blick auf die verschiedenen Rechtssysteme der Europaratsstaaten, darunter auch das angelsächsische Case Law, ließe sich zudem argumentieren, dass der Begriff des „new law“ nicht zwingend ein deutsches Gesetz im formellen Sinne sein muss, sondern auch neue Rechtsprechung umfassen kann. Mit einer solchen weiten Auslegung könnte Recht auch dann als neu gelten, wenn zuvor ein Gesetz in seiner Anwendbarkeit durch die Rechtsprechung eingeschränkt worden war, so dass mit der Notifizierung faktisch eine neue Rechtslage geschaffen wird. Unter diesem Gesichtspunkt würde sich das wieder zur 11 Jörg Polakiewicz, Treaty-making in the Council of Europe, 1999, S. 26 f. 12 Art. 9 des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11.12.1953, BGBl II 1956, S. 507. 13 Sia Spiliopoulou Akermark, Reservation clauses in treaties concluded within the Council of Europe, International and Comparative Law Quarterly (48) 1999, 479, 487. 14 Da in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit keine wissenschaftlichen Quellen zum konkreten Sachverhalt ersichtlich waren, erfolgt die nachfolgende Diskussion ausschließlich anhand rechtswissenschaftlicher Auslegungsmethoden . 15 Vergleiche auch die französische Version: „toute nouvelle loi ou tout nouveau règlement“. 16 Das SGB II wurde am 18.5.2011 neu verkündet, BGBl I, S. 850. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 – 3000 – 035/12 Seite 7 Anwendung kommende Gesetz als „neu“ darstellen. Folgt man dieser Auslegung, so stellt sich der nachträgliche Vorbehalt als zulässig dar. Andererseits ließe sich auch im Sinne der Rechtssicherheit für die anderen Vertragsstaaten argumentieren , dass ein Gesetz nur zum Zeitpunkt seiner erstmaligen Verkündung „neu“ im Sinne des Art. 16 lit. b EFA ist. Jedenfalls könnte man bei einer engeren Auslegung für eine Gesetzesnovelle fordern, dass gerade die einschränkende Regelung durch die Novelle eine Änderung erfahren haben muss.17 Gegen die Annahme eines neuen Gesetzes auf Grundlage der Rechtsprechung im vorliegenden Fall könnte sprechen, dass das Urteil des Bundessozialgerichts die bestehende Rechtslage nicht verändert, sondern nur auf die bisher nicht erfolgte Notifikation des Vorbehalts aufmerksam gemacht hat.18 Der nun notifizierte Vorbehalt entspricht also nicht der gerichtlich festgestellten Rechtslage, sondern soll im Gegenteil die gesetzlichen Ausschlussgründe wieder zur Anwendung bringen. Daher läge nach dieser Auffassung kein neues Gesetz im Sinne des Art. 16 lit. b EFA vor. Für eine solche enge Auslegung könnte zudem angeführt werden, dass dieser Vorbehalt nicht die einzige rechtliche Lösung darstellt, die den Anforderungen des Diskriminierungsverbots der Europäischen Union gerecht würde. Eine etwaige Ungleichbehandlung von EU-Staatsangehörigen ließe sich alternativ durch eine Heraufsetzung des Standards für alle EU-Mitgliedsstaaten verhindern.19 Eine entsprechende Regelung, nach der alle EU- Staatsangehörigen gleichermaßen einen Anspruch geltend machen könnten, dürfte mit dem Recht der EU und dem EFA vereinbar sein. 17 Dies ist für den Ausschlussgrund des §7 SGB II nicht der Fall, vgl. die Novelle vom 18.5.2011, BGBl I, S. 850. 18 Fn. 5. 19 Eine solche Rechtslage könnte sich im Übrigen auch aus der EU-Verordnung 883/2004 ergeben, siehe dazu das Interview mit Prof. Dr. Dorothee Frings, „Gleichbehandlung bei Sozialleistungen ist Pflicht“, taz vom 14.3.2012.