© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 – 033/21 Völkerrechtliche Aspekte der Niederschlagung der Proteste nach dem Militärputsch in Myanmar Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 2 Völkerrechtliche Aspekte der Niederschlagung der Proteste nach dem Militärputsch in Myanmar Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 033/21 Abschluss der Arbeit: 30. April 2021 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Myanmar seit der Unabhängigkeit und dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 4 2. Befassung des Internationalen Strafgerichtshofs mit der Situation in Myanmar 6 2.1. Grundsätzliche Anknüpfung an den Begehungsort und Staatsangehörigkeit der Täter 6 2.2. Selbstanzeige durch einen Staat 7 2.3. Überweisung durch VN-Sicherheitsrat 7 3. Befassung des Internationalen Gerichtshofs mit der Situation in Myanmar 8 4. Zur Anerkennung der Regierung in Myanmar 9 5. Gegenmaßnahmen nach ILC-Artikelentwürfen zur Staatenverantwortlichkeit 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 4 1. Myanmar seit der Unabhängigkeit und dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 1948 erlangte Burma die Unabhängigkeit von Großbritannien. Es schloss sich eine demokratische Phase an, die 1962 durch Putsch endete. Hierbei ergriff das in der Landessprache als Tatmadaw bezeichnete Militär die Macht. Es folgten Jahrzehnte einer sozialistisch geprägten Militärherrschaft , die zu einer weitgehenden Abschottung des Landes führten. Bereits seit der Unabhängigkeit kam es in dem multiethnischen Staat zu bewaffneten Konflikten zwischen dem Militär und den Minderheiten.1 Im Jahr 1988 wurde ein friedlicher, pro-demokratischer Volksaufstand (der sog. „8888 Uprising“) gewaltsam niedergeschlagen und eine neue Militärherrschaft etabliert .2 1989 wurde Burma in Myanmar unbenannt. Im Jahr 1990 erfolgten Parlamentswahlen, welche die von Aung San Suu Kyi gegründete oppositionelle Partei National League for Democracy (NLD) deutlich gewann. Die Militärregierung erkannte dieses Ergebnis jedoch nicht an und blieb an der Macht. Aung San Suu Kyi wurde für insgesamt 15 Jahre unter Hausarrest gestellt und dadurch zur Symbolfigur der Opposition. Nach einer 2008 abgeschlossenen Verfassungsreform fanden 2010 erneut Wahlen statt. Diese wurden von der NLD boykottiert, die vom Militär gegründete Union Solidarity and Development Party (USPD) gewann die meisten Sitze.3 Bei Nachwahlen im Jahr 2012 trat die NLD erfolgreich an und erlangte in einem symbolisch wichtigen Sieg 43 der 45 nachträglich freigewordenen Mandate .4 2015 wurden erstmalig Wahlen abgehalten, die international als weitgehend demokratisch angesehen wurden.5 Die NLD gewann die absolute Mehrheit.6 Aung San Suu Kyi erhielt einen Posten der Staatsrätin, verbunden mit faktischen Machtbefugnissen. Dennoch behielt das Militär bereits dadurch großen Einfluss, dass ihm die Verfassung von 2008 ein Viertel der Parlamentssitze sowie wichtige Ministerposten garantiert.7 1 René Hingst, Zum Verständnis ethnischer und politischer Konflikte in Burma/Myanmar, Studie vom 6. November 2018, https://www.boell.de/de/navigation/asien-5375.html. 2 Rodion Ebbighausen, Der Aufstand von '88, DW vom 8. August 2013, https://www.dw.com/de/der-aufstandvon -88/a-16984965. 3 Trevor Wilson, The significance of Myanmar’s 2010 election, New Mandala, 15. Dezember 2010, https://www.newmandala.org/the-significance-of-myanmar%E2%80%99s-2010-election/. 4 Kocha Olarn, Myanmar confirms sweeping election victory for Suu Kyi's party, CNN, 4. April 2012, https://edition .cnn.com/2012/04/04/world/asia/myanmar-elections/index.html. 5 Moe Thuzar, Myanmar’s 2015 Elections: New Hope on the Horizon?, ISEAS Perspective, 17. Dezember 2015, https://www.iseas.edu.sg/images/pdf/ISEAS_Perspective_2015_70.pdf. 6 DW, Partei von Suu Kyi gewinnt absolute Mehrheit in Myanmar, Aktuell vom 13. November 2015, https://www.dw.com/de/partei-von-suu-kyi-gewinnt-absolute-mehrheit-in-myanmar/a-18846966. 7 Vgl. Art. 109 und 141 der Verfassung Myanmars, die für die beiden Kammern des Parlaments eine Quote von jeweils 25 Prozent für Angehörige des Militärs vorschreiben. Art. 232 (b) bestimmt zudem, dass mindestens die Minister für Verteidigung, Inneres sowie Grenzangelegenheiten ebenfalls aus den Reihen des Militärs stammen müssen, englischsprachiger Text der Verfassung: https://www.burmalibrary.org/docs5/Myanmar_Constitution- 2008-en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 5 2017 eskalierte der Konflikt mit der verfolgten Minderheit der Rohingya, Hunderttausende von ihnen flohen vor den Gewaltausbrüchen in das benachbarte Bangladesch.8 Bei den Wahlen im November 2020 erlangte die NLD erneut einen Erdrutschsieg mit weit mehr als 50 Prozent der zu vergebenen Sitze. Die weit abgeschlagene USPD zweifelte in der Folge die Wahlergebnisse an.9 Am 1. Februar 2021, dem Beginn der neuen Legislaturperiode, nahmen die Tatmadaw den Präsidenten Min Wyint, die Staatsrätin Aung San Suu Kyi sowie zahlreiche weitere Mitglieder der Regierungspartei wegen eines angeblichen, jedoch nicht belegten, Wahlbetrugs fest.10 Nach Einschätzung vieler Kommentatoren in der Literatur hat das Militär einen Staatsstreich verübt.11 Entsprechend äußerten sich auch die außenpolitischen Vertreter Deutschlands, der G7 und der EU.12 Durch das Berufen auf die Verfassung sowie die Ankündigung, in einem Jahr Neuwahlen abzuhalten , sollte diesem Staatsstreich ein Anschein von Legitimität gegeben werden, wohl in der Hoffnung auf nationale und internationale Akzeptanz.13 Die Tatmadaw erklärten den Vizepräsidenten Myint Swe zum geschäftsführenden Präsidenten und beriefen sich hierzu auf Art. 73 (a) der Verfassung Myanmas. Myint Swe rief in seiner Funktion als geschäftsführender Präsident umgehend einen einjährigen Notstand nach Art. 417 der myanmarischen Verfassung aus“ “If there arises or if there is sufficient reason for a state of emergency to arise that may disintegrate the Union or disintegrate national solidarity or that may cause the loss of sovereignty, due to acts or attempts to take over the sovereignty of the Union by insurgency , violence and wrongful forcible means, the President may, after coordinating 8 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, Rohingya Refugee Crisis, https://www.unocha .org/rohingya-refugee-crisis/. 9 DW, Erdrutschsieg für Suu Kyis Regierungspartei bei Wahlen in Myanmar, Meldung vom 13. November 2020, https://www.dw.com/de/erdrutschsieg-f%C3%BCr-suu-kyis-regierungspartei-bei-wahlen-in-myanmar/a- 55588199. 10 Deutschlandfunk, Myanmar – was der Putsch des Militärs bedeutet, Artikel vom 3. März 2021, https://www.deutschlandfunk.de/staatsstreich-myanmar-was-der-putsch-des-militaers-bedeutet .2897.de.html?dram:article_id=491827. 11 Fiza Lee-Winter, The Right to Live under Threat, On the Armed Forces (The Tatmadaw) Taking Power in Myanmar , Völkerrechtsblog vom 8. April 2021, https://voelkerrechtsblog.org/de/the-right-to-live-under-threat/; Sujit Choudhry/ Asanga Welikala, Myanmar’s Military Coup d’État Is Unconstitutional, Verfassungsblog vom 15. Februar 2021, https://verfassungsblog.de/myanmars-military-coup-detat-is-unconstitutional/. 12 Auswärtiges Amt, Erklärung der G7-Außenminister zu Myanmar vom 23. Februar 2021, https://www.auswaertiges -amt.de/de/newsroom/g7-myanmar/2443452; EEAS, Myanmar: Speech by High Representative/Vice-President Josep Borrell at the EP debate, https://eeas.europa .eu/headquarters/headquarters-homepage/92883/myanmar-speech-high-representativevice-president-josepborrell -ep-debate_en. 13 Jonathan Liljeblad, The Uncertainty after the Coup: Clarifying the German Foreign Policy Considerations towards Myanmar, Verfassungsblog vom 10. Februar 2021, https://verfassungsblog.de/the-uncertainty-after-thecoup . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 6 with the National Defence and Security Council, promulgate an ordinance and declare a state of emergency. […]” Myint Swe übertrug gemäß Art. 418 (a) der Verfassung Legislative, Exekutive und Judikative dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte General Min Aung Hlaing. Dieser verfügt nun über uneingeschränkte Macht. Gegen die Machtübernahme durch das Militär formierte sich eine landesweite Protestbewegung, die bis heute anhält. Die gewaltsame Niederschlagung der Proteste führte bislang zu über 700 Toten und mehr als 3.300 Verhaftungen.14 Das Militär setzt Schusswaffen gegen die Zivilbevölkerung ein. Unter den Opfern sind auch zahlreiche Kinder.15 Diese Arbeit behandelt die Möglichkeiten der Anrufung von internationalen Gerichten (unter 2. und 3.) sowie Fragen zur Anerkennung der Regierung (unter 4.) wie auch zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen (unter 5). 2. Befassung des Internationalen Strafgerichtshofs mit der Situation in Myanmar Der Internationale Strafgerichthof (IStGH) ist ein seit 2002 bestehendes ständiges internationales Strafgericht mit Sitz in Den Haag. Rechtsgrundlage des IStGH ist das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.16 Diesem völkerrechtlichen Vertrag sind nach heutigem Stand 123 Staaten beigetreten, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Myanmar ist dagegen nicht Vertragsstaat .17 Der IStGH verfolgt die völkerrechtlichen Kernverbrechen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie das Verbrechen der Aggression. Vor dem IStGH können nur Individuen angeklagt werden, nicht dagegen Staaten, Art. 25 Abs. 1 Römisches Statut. Art. 28 des Römischen Statuts sieht eine weitreichende Verantwortlichkeit von militärischen Befehlshabern für die ihnen unterstehenden Truppen vor. Die Anrufung des IStGH ist aber nur dann möglich, wenn es einen Anknüpfungspunkt für dessen Gerichtsbarkeit gibt. Die entsprechenden Fälle sind abschließend im Römischen Statut normiert. 2.1. Grundsätzliche Anknüpfung an den Begehungsort und Staatsangehörigkeit der Täter Voraussetzung für die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch den IStGH ist, dass das fragliche Verhalten auf dem Staatsgebiet eines Vertragsstaates stattgefunden hat oder dass der Beschuldigte Staatsangehöriger eines Vertragsstaates ist, Art. 12 Abs. 2 Römisches Statut. Da Myanmar kein 14 Assistance Association for Political Prisoners, Daily Briefing in Relation to the Military Coup, Update vom 21. – April 2021, https://aappb.org/?p=14487. 15 Sueddeutsche.de, Dutzende Menschen in Myanmar erschossen, Meldung vom 27. März 2021, https://www.sueddeutsche .de/politik/myanmar-militaerputsch-proteste-kopfschuesse-1.5248730. 16 Deutsche Übersetzung des Römischen Statuts: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 17 Übersicht über die Vertragsstaaten des Römischen Statuts: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails .aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XVIII-10&chapter=18&clang=_en. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 7 Vertragsstaat des Römischen Statuts ist, kann nach dieser Vorschrift keine Gerichtsbarkeit begründet werden. Der IStGH führt zwar wegen der Verfolgung der Rohingya seit 2019 Vorermittlungen gegen Myanmars Militärregierung durch.18 Für dieses Verfahren konnte die Gerichtsbarkeit dadurch begründet werden, dass hunderttausende Rohingya nach Bangladesch und somit in das Staatsgebiet eines Vertragsstaats des Römischen Statuts flohen. Diese Begründung der Zuständigkeit lässt sich nach jetzigem Stand nicht auf die Niederschlagung der Proteste anwenden, da diese sich ausschließlich auf myanmarischem Staatsgebiet abspielt und es derzeit noch zu keinen vergleichbaren grenzüberschreitenden Flüchtlingsströmen gekommen ist. Zwar kommt es zu Fluchtbewegungen aus den Städten, die neben dem ländlichen Myanmar auch die Nachbarstaaten Thailand19 und Indien20 zum Ziel haben. Abgesehen davon, dass sich diese Länder gegen die Flüchtlinge nach Möglichkeit abzuschotten scheinen21, hat Indien das Römische Statut nicht unterzeichnet , während Thailand es zwar unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert hat.22 Insgesamt erscheint es fernliegend, dass auf diese Weise eine Gerichtsbarkeit des IStGH wegen der Niederschlagung der Proteste in Myanmar begründet werden kann. 2.2. Selbstanzeige durch einen Staat Alternativ können sich gemäß Art. 12 Abs. 3 Römisches Statut auch Nicht-Vertragsstaaten der Gerichtsbarkeit des IStGH ad hoc in Bezug auf ein bestimmtes fragliches Verbrechen unterwerfen , womit im Falle Myanmars jedoch zurzeit nicht zu rechnen ist. Meistens kommt es zu solchen Unterwerfungserklärungen nach einem Machtwechsel, der sich – soweit ersichtlich – gegenwärtig nicht abzeichnet. 2.3. Überweisung durch VN-Sicherheitsrat Die Ermittlungen können schließlich durch den Chefankläger des IStGH dann aufgenommen werden , wenn der VN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII der VN-Charta23 als Maßnahme bei Bedrohung 18 International Criminal Court, ICC judges authorise opening of an investigation into the situation in Bangladesh /Myanmar, Press Release, 14. November 2019, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1495. 19 Julian Küng, Konflikt in Myanmar treibt Tausende an Thailands Grenze, DW vom 25. März 2021, https://www.dw.com/de/konflikt-in-myanmar-treibt-tausende-an-thailands-grenze/a-56986299. 20 DW, Indien: Die Angst der Flüchtlinge aus Myanmar, Meldung vom 17. April 2021, https://www.dw.com/de/indien -die-angst-der-fl%C3%BCchtlinge-aus-myanmar/av-57172181. 21 Irwin Loy, Myanmar’s coup fallout tumbles into a regional emergency, The New Humanitarian, 2. April 2021, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2021/4/2/myanmars-coup-fallout-tumbles-into-a-regionalemergency . 22 Übersicht über die Vertragsstaaten des Römischen Statuts: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails .aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XVIII-10&chapter=18&clang=_en. 23 Deutsche Übersetzung der VN-Charta: https://unric.org/de/charta/#kapitel7. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 8 oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen dem Ankläger des IStGH eine Situation unterbreitet , Art. 13 Buchst. b) Römisches Statut. Der VN-Sicherheitsrat hat sich bislang jedoch darauf beschränkt, dass im Wege eines Presidential-Statements seine Besorgnis auszudrücken und die Gewalt zu verurteilen.24 Ein solches Statement stellt gerade keine Resolution des Sicherheitsrats dar und ist daher nicht völkerrechtlich bindend.25 Insbesondere auf Grund der Zurückhaltung der Vetomacht China ist nicht damit zu rechnen, dass der VN-Sicherheitsrat in dieser Sache den IStGH anrufen wird.26 Der IStGH hat somit keine Gerichtsbarkeit über Myanmar im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Proteste nach dem Militärputsch. 3. Befassung des Internationalen Gerichtshofs mit der Situation in Myanmar Fraglich erscheint, ob Myanmar als Staat vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verklagt werden kann. Der IGH ist zuständig für Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten. Voraussetzung für ein Verfahren vor dem IGH ist jedoch, dass der beklagte Staat sich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen hat. Viele der VN-Mitgliedstaaten haben eine sog. allgemeine Unterwerfungserklärung nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut für die dort angegebenen Streifragen abgegeben .27 Gegenwärtig sind das 74 Staaten, jedoch gehört Myanmar nicht dazu.28 Die Gerichtsbarkeit des IGH kann ferner dann gegeben sein, wenn ein Staat sich in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag der Gerichtsbarkeit des IGH für die in dem Vertrag geregelten Fälle unterworfen hat. 24 Stellungnahme des VN-Sicherheitsrats vom 10. März 2021: http://undocs.org/S/PRST/2021/5. 25 Vgl. Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 17. November 2020, WD 2 - 3000 - 097/20, Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit von VN-Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung , https://www.bundestag.de/resource/blob/814850/01532964412de94aa450b981a7c4fdea/WD-2- 097-20-pdf-data.pdf. 26 BBC, Myanmar coup: China blocks UN condemnation as protest grows, 3. Februar 2021, https://www.bbc.com/news/world-asia-55913947. 27 Siehe hierzu Deutsche Gesellschaft für die Vereinte Nationen e.V., Der Internationale Gerichtshof (IGH), Stand: Juli 2007, S. 6, https://dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Basis_Informationen/BI38_IGH.pdf. 28 Siehe die Liste der VN-Staaten unter International Court of Justice, Declarations recognizing the jurisdiction of the Court as compulsory, https://www.icj-cij.org/en/declarations. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 9 So ist Myanmar etwa Vertragsstaat der Völkermordkonvention29 und diese enthält in Art. IX eine Erklärung zur Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH, die dadurch auch für Myanmar gilt.30 Auf dieser Grundlage hat Gambia im Jahr 2019 ein Verfahren vor dem IGH gegen Myanmar wegen Völkermordes angestrengt.31 Die Klage wurde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes an der Rohingya-Minderheit erhoben.32 Der IGH hat bereits das Eilverfahren durchgeführt und im Januar 2020 Myanmar zur bestimmten Schutzmaßnahmen gegenüber Rohingya für die Zeit bis zum Abschluss des Hauptverfahrens verpflichtet.33 Ein solches Vorgehen nach der Völkermordkonvention ist jedoch für die Aufarbeitung der Gewalt nach dem Militärputsch nicht möglich, da insoweit keine Anhaltspunkte für Völkermord vorliegen . Dieser setzt gem. Art. II der Völkermordkonvention eine Absicht voraus, eine nationale, ethnische , rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Soweit ersichtlich , handelt es sich bei den verletzten und getöteten Demonstranten in Myanmar jedoch nicht um Angehörige einer solchen Gruppe, sondern um Bürger, die mit der Militärherrschaft unzufrieden sind und gegen die Ergreifung der Macht durch die Militärs protestieren.34 Ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag, dem Myanmar angehört und der eine Unterwerfungserklärung unter Gerichtsbarkeit des IGH enthält, ist nicht ersichtlich. Insbesondere hat Myanmar weder die VN-Antifolterkonvention, noch die VN-Rassendiskriminierungskonvention noch die VN- Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen ratifiziert.35 4. Zur Anerkennung der Regierung in Myanmar Wie oben unter 1. bereits dargelegt, werden durch viele Beobachter und außenpolitische Sprecher Zweifel an der Legalität der Machtübernahme durch die Militärs und die Einsetzung des 29 Übersicht über die Vertragsstaaten der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4&clang=_en. 30 Übereinkommen vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, https://fedlex .data.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/2002/358/20140611/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-elicc -2002-358-20140611-de-pdf-a.pdf. 31 ICJ – The Gambia v. Myanmar, https://iimm.un.org/icj-the-gambia-v-myanmar/. 32 Englischsprachiger Text Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes: http://www.undocuments .net/a3r260.htm. 33 Siehe lto.de, Meldung vom 23. Januar 2020, Myanmar muss Rohingyas schützen, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/igh-voelkermord-rohingya-schutz-myanmar/. 34 Amnesty International, Myanmar: Militär geht mit Kriegswaffen gegen Demonstrierende vor, Artikel vom 11. März 2021, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/myanmar-militaer-kriegswaffen-gegen-demonstrierende . 35 Siehe Übersicht der Mitgliedsstaaten der genannten VN-Konventionen unter: https://indicators.ohchr.org/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 10 Myint Swe zum geschäftsführenden Präsidenten geäußert. Mangels konkreter Belege für Wahlbetrug durch die NLD-Partei von Aung San Suu Kyi, wird die Berufung des Militärs auf Art. 417 der Verfassung („…if there is sufficient reason for a state of emergency to arise that may disintegrate the Union or disintegrate national solidarity or that may cause the loss of sovereignty, due to acts or attempts to take over the sovereignty of the Union by insurgency, violence and wrongful forcible means…”) als konstruiert und vorgeschoben bezeichnet.36 Die Machtübernahme durch Militärs wird daher als illegaler Putsch eingeordnet.37 Eine abschließende Bewertung des Verfassungsrechts Myanmars kann durch den Wissenschaftlichen Dienst nicht vorgenommen werden. Für die Frage einer völkerrechtlichen Anerkennung einer Regierung kommt es jedoch nicht vorrangig auf die Legitimität, sondern vielmehr auf die effektive Ausübung der Herrschaftsgewalt an.38 Die effektive Kontrolle über den staatlichen Gewaltapparat Myanmars dürfte – jedenfalls zu der jetzigen Zeit – in den Händen der Militärregierung liegen. Denn die Anführerin der NLD Aung San Suu Kyi und der Präsident Win Myint sitzen gegenwärtig unter Hausarrest und haben keine Möglichkeit, die Entscheidungen in der Regierung mitzubestimmen. Zwar wurde am 15. April 2021 Regierung der Nationalen Einheit (National Unity Government) ausgerufen, der neben Win Myint und Aung San Suu Kyi zudem weitere im November neu gewählte Mitglieder des Parlaments sowie Vertreter ethnischer Minderheiten angehören.39 Offen bleibt, inwieweit diese Regierung tatsächlich einen Einfluss auf den Staatsapparat besitzt. Denn der Militärgeneral Min Aung Hlaing, dem die Macht für die Zeit des einjährigen Notstandes nach Art. 417, 418 (a) der Verfassung Myanmars übertragen wurde, bestimmt zur Zeit – soweit ersichtlich – die tatsächliche Regierungspolitik in Myanmar. Angesichts der weiter anhaltenden Massenproteste kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Militärregierung kurz- oder langfristig die effektive Kontrolle im Land verliert. Dafür sprechen auch die Erfolge der NLD-Partei bei den letzten Wahlen im November 2020, die deren sehr starken Rückhalt in der Bevölkerung nahe legen. Allerdings spricht wiederum die lange Zeit der vorangegangenen Militärherrschaft in Myanmar (siehe oben unter 1.) dafür, dass die Militärs es schaffen könnten, ihre Macht erneut langfristig zu stabilisieren. 36 Sujit Choudhry/ Asanga Welikala, Myanmar’s Military Coup d’État Is Unconstitutional, Verfassungsblog vom 5. Februar 2021, https://verfassungsblog.de/myanmars-military-coup-detat-is-unconstitutional/. 37 Siehe Erklärung der G7-Außenminister zu Myanmar vom 23. Februar 2021, https://www.auswaertigesamt .de/de/newsroom/g7-myanmar/2443452. 38 Epping, in: Ipsen, Knut (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, § 5 Rn. 183. 39 Deutsche Welle, Südostasien, Myanmars Putsch-Gegner rufen Regierung der Nationalen Einheit aus, Artikel vom 16. April 2021, https://www.dw.com/de/myanmars-putsch-gegner-rufen-regierung-der-nationalen-einheitaus /a-57228269; Zeit online, Artikel vom 16. April 2021, Myanmar, Gegner der Militärjunta rufen Untergrundregierung aus, https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/myanmar-militaer-junta-putsch-proteste-schattenregierung-birma. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 11 In der allgemeinen Staatenpraxis werden im Regelfall Staaten und nicht Regierungen anerkannt .40 Die Anerkennung der amtierenden Regierung geht mit der Anerkennung eines Staates einher und wird nicht gesondert förmlich erklärt. Kommt eine Regierung eines (anerkannten) Staates in verfassungswidriger Weise, zum Beispiel durch Putsch, an die Macht, so führen die anderen Staaten ihre diplomatischen Beziehungen in der Regel mit der neuen Regierung fort. Dies ist insbesondere in den Fällen sinnvoll, in denen sich die Machtverhältnisse – wie heute in Myanmar – noch nicht hinreichend stabilisiert haben.41 Eine solche Vorgehensweise wurde offenbar auch bei dem kürzlich abgehalten Gipfel der ASEAN42 gewählt, an dem der Militärgeneral Min Aung Hlaing – trotz der Proteste internationaler Menschenrechtsorganisationen43 – als Vertreter Myanmars von anderen Teilnehmer-Staaten stillschweigend akzeptiert wurde.44 Etwas anderes kann sich ergeben, wenn der VN-Sicherheitsrat die neuen Machthaber explizit verurteilt und auf die Wiedereinsetzung der alten Regierung drängt. 5. Gegenmaßnahmen nach ILC-Artikelentwürfen zur Staatenverantwortlichkeit Die Staatengemeinschaft kann jedoch angesichts der Situation in Myanmar völkerrechtlich reagieren . Das gewaltsame Vorgehen gegen Protestierende und deren gezielte Tötungen verletzen das Menschenrecht auf Leben, welches in Art. 4 Abs. 2 des Internationalen Paktes über Bürgerliche und Politische Rechte (ICCPR)45 statuiert ist. Zwar ist Myanmar nicht Mitgliedstaat dieses völkerrechtlichen Vertrages, jedoch ist das Recht auf Leben ein Teil des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) und damit bindend für alle Staaten, auch für Myanmar.46 40 So erkennt z.B. die Schweiz grundsätzlich nur Staaten und nicht Regierungen an, siehe Schweizerische Eidgenossenschaft , Department für Auswärtige Angelegenheiten, Völkerrechtliche Anerkennung von Staaten und Regierungen , https://www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/aussenpolitik/voelkerrecht/PDF_Anerkennung __de_05.pdf; Deutschland verfährt grundsätzlich genauso und rückte lediglich bei der Anerkennung des Interimspräsidenten Guaidó in Veenzuela davon ab, siehe Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 15. Februar 2019, WD 2 - 3000 - 017/19, Rechtsfragen zur Anerkennung des Interimspräsidenten in Venezuela, https://www.bundestag.de/resource /blob/595056/c8bf53d8fb2a3f163e104a725c732b15/wd-2-017-19-pdf-data.pdf. 41 Epping, in: Ipsen, Knut (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, § 5 Rn. 184. 42 The Association of Southeast Asian Nations, der neben Myanmar auch Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam angehören, siehe https://asean.org/asean/about-asean/. 43 Siehe Human Right Watch, ASEAN: Withdraw Invite to Myanmar Junta Leader, Statement vom 21. April 2021, https://www.hrw.org/news/2021/04/21/asean-withdraw-invite-myanmar-junta-leader. 44 Chairman’s Statement on the ASEAN Leaders’ Meeting, 24. April 2021, https://asean.org/storage/Chairmans- Statement-on-ALM-Five-Point-Consensus-24-April-2021-FINAL-a-1.pdf. 45 International Covenant on Civil and Political Right, englischer Originaltext unter: https://www.ohchr .org/en/professionalinterest/pages/ccpr.aspx. 46 Fiza Lee-Winter, The Right to Live under Threat, On the Armed Forces (The Tatmadaw) Taking Power in Myanmar , Völkerrechtsblog vom 8. April 2021, https://voelkerrechtsblog.org/de/the-right-to-live-under-threat/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 033/21 Seite 12 Die Nichteinhaltung des Rechts auf Leben als ius cogens stellt eine schwere Pflichtverletzung gegenüber der gesamten Weltgemeinschaft (erga omnes) dar und ermächtigt alle Staaten zur Ergreifung von Gegenmaßnahmen gem. Art. 49 ff. der ILC-Artikelentwürfen.47 Die ILC-Artikelentwürfe sind kein völkerrechtlicher Vertrag, wurden aber von der VN-Generalversammlung durch Resolution verabschiedet und spiegeln in weiten Teilen Völkergewohnheitsrecht wider. Damit sind sie völkerrechtlich bindend.48 Als solche Gegenmaßnahmen kommen insbesondere Wirtschafts- und Handelssanktionen in Betracht . So hat die EU im Dezember 2020 das sog. EU Global Human Rights Sanctions Regime vorgestellt , im Rahmen dessen auf die Menschenrechtsverletzungen in der ganzen Welt reagiert werden kann.49 Auf dieser Grundlage hat die EU bereits ein weiteres Sanktionspaket gegen die für die Menschenrechtsverletzungen in Myanmar verantwortlichen Personen sowie die daran beteiligten Unternehmen am 19. April 2021 beschlossen.50 *** 47 Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts with Commentaries, Resolution der VN-Generalversammlung, 85. Plenarsitzung, 12.Dezember 2001, A/56/589 Corr. 1, deutsche Übersetzung: http://eydner.org/dokumente/darsiwaev.PDF. 48 Siehe im Einzelnen James Crawford, State Responsibility, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), MPEPIL, Stand: September 2006, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e1093?rskey=DIV58c&result=1&prd=OPIL. 49 EEAS, Questions and Answers: EU Global Human Rights Sanctions Regime, Meldung vom 7. Dezember 2020, https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage_en/90013/Questions%20and%20Answers :%20EU%20Global%20Human%20Rights%20Sanctions%20Regime#:~:text=The%20EU%20Global %20Human%20Rights%20Sanctions%20Regime%20%28EUGHRSR%29,EU%20and%20freezing %20their%20assets%20in%20the%20EU. 50 DW, EU verhängt weitere Sanktionen gegen Myanmar, Meldung vom 19. April 2021, https://www.dw.com/de/eu-verh%C3%A4ngt-weitere-sanktionen-gegen-myanmar/a-57256086.