© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 033/20 Die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien im Lichte des Völkerrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 2 Die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien im Lichte des Völkerrechts Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 033/20 Abschluss der Arbeit: 24. April 2020 (zugleich letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Wasserversorgungskrise in Nordsyrien 4 2. Zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Türkei 4 3. Gang der Erörterung 6 4. Humanitär-völkerrechtliche Verpflichtungen einer Besatzungsmacht 7 4.1. Verpflichtungen der Besatzungsmacht zur Versorgung der Zivilbevölkerung und zur Gesundheitsvorsorge 7 4.2. Schutzverpflichtung einer Besatzungsmacht zugunsten der Zivilbevölkerung im Falle von Beeinträchtigungen durch Dritte (nicht-staatliche Akteure) 10 4.3. Durchsetzung humanitär-völkerrechtlicher Verpflichtungen 11 4.4. Völkerstrafrechtliche Ahndung 12 5. Menschenrechtliche Verpflichtungen: Zum „Menschenrecht auf Wasser“ 12 5.1. Anwendbarkeit der Menschenrechte in besetzten Gebieten 13 5.2. Extraterritoriale Anwendung der Menschenrechte 14 5.3. Entwicklung eines „Menschenrechts auf Wasser“ auf der VN- Ebene 15 5.4. Rechtscharakter und Rechtsverbindlichkeit des „Menschenrechts auf Wasser“ 17 5.5. Justitiabilität 18 6. Fazit 19 6.1. Besatzungsrecht 19 6.2. Menschenrecht auf Wasser 20 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 4 1. Wasserversorgungskrise in Nordsyrien Im Zuge der türkischen Militäroperation „Friedensquelle“ Ende 2019 haben türkische Soldaten und verbündete islamistische Milizen1 die Kontrolle über das Wasserwerk „Elok“ übernommen, das sich in der Nähe der nordostsyrischen Grenzstadt Ras al-Ain befindet.2 Das Wasserwerk versorgt Berichten zufolge fast eine halbe Millionen Menschen im Gouvernement al-Hasakeh, darunter die Stadt al-Hasakeh, das dortige Hauptkrankenhaus sowie Vertriebenencamps. Syrische Hilfsorganisationen hätten bestätigt, dass die türkischen Behörden die Wasserpumpen seit Jahresbeginn mehrmals unterbrochen haben, zuletzt am 29. März 2020. Nicht zuletzt mit Blick auf die aktuelle Corona-Pandemie drohe der Zivilbevölkerung aufgrund der fehlenden Trinkwasserversorgung eine humanitäre Katastrophe. Das Vorgehen der Türkei und ihrer Verbündeten ist bei Menschenrechtsorganisationen auf massive Kritik gestoßen.3 2. Zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Türkei Dreh- und Angelpunkt einer völkerrechtlichen Bewertung des geschilderten Sachverhalts ist zunächst die Frage nach der Zurechenbarkeit bzw. Verantwortlichkeit für die Wasserversorgungskrise in der Region. Geht man davon aus, dass die Übernahme des Wasserwerks „Elok“ durch das türkische Militär – oder jedenfalls mit dessen Wissen und Wollen – erfolgt ist, und konstatiert man ferner, dass die Pumpstation ebenso wie die gesamte Region derzeit unter der effektiven militärischen Kontrolle der Türkei steht, so deutet vieles auf eine Besatzungssituation hin,4 auf die das humanitäre Völkerrecht (d.h. vor allem das Besatzungsrecht in Gestalt der IV. Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung) anwendbar ist (dazu 4.). 1 Laut Tagesschau vom 1. November 2019 („Kampf gegen Kurden in Syrien. Islamisten an der Seite der Türkei“, https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/tuerkei-kurden-islamisten-101.html) sind fünf Milizen an der Offensive beteiligt gewesen, darunter Furqat Sultan Murad, Ahrar al Sharqiya und Failaq al Sham. Der Nahostexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Guido Steinberg, bezeichnet diese Gruppen gegenüber dem Sender als „überwiegend salafistisch-islamistisch“. 2 DW vom 25. März 2020, „Wasser als Waffe in Nordsyrien?“, https://www.dw.com/de/wasser-als-waffe-innordsyrien /a-52914740. Tagesspiegel vom 14. April 2020, „In Nordsyrien wird Wasserzugang als Kriegswaffe eingesetzt“, https://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-mit-verstoessen-gegen-das-voelkerrecht-in-nordsyrien-wirdwasserzugang -als-kriegswaffe-eingesetzt/25736514.html. ANF news vom 20. April 2020, „HRW: Wasser als Waffe der Türkei in einer Pandemie“, https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/hrw-wasser-als-waffe-der-tuerkei-in-einer-pandemie-18238. Unicef vom 23. März 2020, https://www.unicef.org/mena/press-releases/interruption-key-water-stationnortheast -syria-puts-460000-people-risk-coronavirus. 3 Human Rights Watch, 31. März 2020, „Turkey/Syria: Weaponizing Water in Global Pandemic?“, https://www.hrw.org/news/2020/03/31/turkey/syria-weaponizing-water-global-pandemic. 4 Gem. Art. 42 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 gilt ein Gebiet als besetzt, „wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet“. Entscheidend ist, dass die Besatzungsmacht effektive (in der Regel militärische) Kontrolle und Hoheitsgewalt ausübt. Vgl. in diese Richtung ZDF vom 12. Oktober 2019, „Grenzstadt Ras al-Ain – Türkei meldet Einnahme wichtiger Stadt in Syrien“, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/tuerkei-vermeldet-einnahme-wichtiger-stadt-in-nordsyrien-100.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 5 Die rechtliche Bewertung der türkischen Präsenz in Nordostsyrien als „Besatzung“ wird insbesondere von der Bundesregierung – mangels Vorliegen eines „umfassenden Lagebilds“ – nicht geteilt.5 Bezweifelt man also das Vorliegen einer „Besatzungssituation“, so lässt sich das türkische Vorgehen zwar nicht (mehr) am Maßstab des Besatzungsrechts, wohl aber am Maßstab der Menschenrechte überprüfen (dazu 5.). Voraussetzung dafür ist die menschenrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei für die Wasserversorgungskrise in der Region Ras al-Ain. Dies setzt jedenfalls ein Mindestmaß an militärischer Präsenz und Kontrolle in der Region voraus, welche zweifellos gegeben ist. Was die „Urheberschaft“ der Wasserversorgungskrise in der nordostsyrischen Region Ras al-Ain angeht, so berichten die Nachrichtensender zum Teil über ein Vorgehen von nicht-staatlichen islamistischen Milizen,6 mehrheitlich aber über ein gemeinsames Vorgehen der Milizen zusammen mit türkischen Soldaten. Vergleichsweise detailliert fällt in diesem Zusammenhang die Schilderung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) aus. Sie beruft sich dabei auf übereinstimmende Berichte des unabhängigen lokalen Radiosenders arta.fm und der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in Großbritannien sowie auf lokale Gewährsleute der GfbV. Den Berichten zufolge sind türkische Soldaten und die mit ihnen verbündeten syrisch-islamistischen Milizen in die Wasserstation in der Region Ras Al Ain (kurdisch: Sare Kaniye) eingedrungen und hätten das dortige Personal vertrieben. Daraufhin sei die Versorgung der syrischen Bevölkerung mit Trinkwasser in der betroffenen Region unterbrochen worden.7 In der Pressemeldung der kurdischen ANF-News wird eine alleinige türkische Verantwortung für die Übernahme der Trinkwasseranlage "Elok" insinuiert.8 Auch die syrische Nachrichtenagentur Sana macht die Türkei für die Unterbrechung der Wasserversorgung in Nordostsyrien verantwortlich, weil sie von „türkischen Söldnern“ herbeigeführt worden sei.9 5 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 19/17001 vom 3. Februar 2020: Die Militäroperationen des NATO-Bündnispartners Türkei in Syrien (Fragen 3-4), https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/170/1917001.pdf. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 19/7699 vom 12. Februar 2019: Die Türkei als Besatzungsmacht in Syrien (Fragen 2-5), https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/076/1907699.pdf. 6 Telepolis vom 26. Februar 2020 „Dschihadisten unterbinden Wasserversorgung in Nordostsyrien“, https://www.heise.de/tp/features/Dschihadisten-unterbinden-Wasserversorgung-in-Nordostsyrien- 4668894.html. Fokus online vom 25. März 2020, „Wasserknappheit zu fatalem Zeitpunkt“, https://www.focus.de/politik/ausland/wasserknappheit-zu-fatalem-zeitpunkt-wasser-als-waffe-innordsyrien _id_11813660.html. 7 https://www.gfbv.de/de/news/tuerkei-kappt-wasserversorgung-fuer-orte-in-nordsyrien-9940/. 8 ANF news vom 22. April 2020, “Turkey cuts off water to Hesekê”, https://anfenglishmobile.com/rojavasyria /turkey-cuts-off-water-to-heseke-41873. 9 Sana news vom 26. Februar 2020, “For the 3rd day, Turkish occupation mercenaries cut off drinking water from Hasaka city”, https://sana.sy/en/?p=186705. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 6 Bestreitet man gleichwohl eine direkte Beteiligung des türkischen Militärs an den Vorfällen rund um das Wasserwerk „Elok“ und sieht stattdessen ausschließlich die mit der Türkei verbündeten Milizen am Werk, so lässt sich eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei gleichwohl über das Konzept der menschen- bzw. besatzungsrechtlichen Schutzverpflichtung begründen (s.u. 4.2.). Für die Annahme einer menschenrechtlichen Schutzpflicht10 reicht es aus, dass die Türkei vor Ort die militärische Kontrolle (i.S.e. staatlichen „Gewaltmonopols“) ausübt und faktisch in der Lage erscheint, nicht-staatliche Gewaltakteure vor Ort in ihre Schranken zu weisen. Die öffentlich zugänglichen Medienberichte deuten mehrheitlich darauf hin, dass die Türkei für die Wasserversorgungskrise zumindest mit verantwortlich zeichnet. Es erscheint realitätsfern, anzunehmen, dass die mit der Türkei verbündeten Milizen, die ja in Syrien – anders als der sog. „Islamische Staat“ – kein eigenes „Besatzungsregime“ errichtet haben, an der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien vorbei „auf eigene Kappe“ handeln konnten und durften. Vielmehr ist realistischer Weise davon auszugehen, dass die Einnahme der Wasserstation jedenfalls „mit Wissen und Wollen“ der Türkei erfolgt ist. Ob die verbündeten Milizen womöglich unter der Kontrolle und Kommandogewalt des türkischen Militärs stehen, lässt sich mangels belastbarer Hintergrundinformationen über die „Machtverhältnisse“ vor Ort nicht sagen. Für die rechtliche Bewertung erscheint dies jedoch unerheblich. 3. Gang der Erörterung Mit Blick auf die Fragestellung der parlamentarischen Auftraggeber konzentriert sich die vorliegende Ausarbeitung allein auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei. Dabei befasst sich der erste Teil (dazu 4.) weitgehend abstrakt mit den humanitär-völkerrechtlichen Verpflichtungen einer Besatzungsmacht gegenüber der Zivilbevölkerung, wobei zunächst offen bleiben kann, ob in Nordostsyrien eine Besatzungssituation vorliegt oder nicht.11 Der zweite Teil der Ausarbeitung (dazu 5.) befasst sich mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Türkei in Nordostsyrien und untersucht in diesem Zusammenhang Aspekte des sog. „Menschenrechts auf Wasser“. Der menschenrechtliche „Blickwinkel“ ist vor allem dann unerlässlich , wenn man die militärische Präsenz der Türkei in Nordostsyrien rechtlich nicht als „Besatzung“ bewerten will. Unabhängig davon können menschenrechtliche Verpflichtungen aber auch in Besatzungssituationen relevant werden, so dass aus wissenschaftlicher Sicht stets beide Rechtsregime – das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte – zu berücksichtigen sind. 10 Vgl. zu den menschenrechtlichen Schutzpflichten vgl. Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 838 ff. 11 Vgl. in diese Richtung aber das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste vom 21. Dezember 2018, WD 2 - 3000 - 183/18, „Zur völkerrechtlichen Einordnung der türkischen Militärpräsenz in Nordsyrien“, https://www.bundestag.de/resource/blob/585604/b77977d691aea7746510ae7b9ab6ffcc/WD-2-183-18-pdfdata .pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 7 Nicht näher untersucht werden dagegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht-staatlicher Gewaltakteure (wie z.B. islamistische Milizen, Warlords, Terrororganisationen etc.). Anders als eine staatliche Besatzungsmacht sind nicht-staatliche Akteure völkerrechtlich grundsätzlich weder an das humanitäre Völkerrecht noch an die Menschenrechtspakte gebunden, sondern können letztlich nur nach Maßgabe des Völkerstrafrechts belangt werden,12 sofern die entsprechenden Voraussetzungen dafür vorliegen. Angesichts der zunehmenden Beteiligung nicht-staatlicher Gewaltakteure an den bewaffneten Konflikten im 21. Jahrhundert befasst die wissenschaftliche Diskussion seit Jahren mit der Frage, ob und auf welche Weise sich das Handeln nicht-staatlicher Akteure jenseits des Strafrechts völkerrechtlich einhegen lässt.13 4. Humanitär-völkerrechtliche Verpflichtungen einer Besatzungsmacht 4.1. Verpflichtungen der Besatzungsmacht zur Versorgung der Zivilbevölkerung und zur Gesundheitsvorsorge Die Pflichten einer Besatzungsmacht sind u.a.14 in den Artikeln 47 bis 78 der IV. Genfer Konvention (GK IV) als Kernstück des humanitären Völkerrechts geregelt.15 Diese umfassen auch Verpflichtungen in Zusammenhang mit der Versorgung der Zivilbevölkerung sowie der Gesundheitsvorsorge und der Epidemie-Bekämpfung. Die Besatzungsmacht ist verpflichtet, die Zivilbevölkerung im Rahmen aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel mit allen für das Überleben wesentlichen Gütern zu versorgen. 12 Dies hat das „Besatzungsregime“ des sog. „Islamischen Staates“ (IS) in Teilen Syriens und des Iraks in den 2010er Jahren deutlich gezeigt. Vgl. dazu zuletzt Tekkal/Schwarz, „Wir brauchen ein IS-Straftribunal“, in: FAZ vom 21. April 2020, https://www.faz.net/einspruch/justiz/voelkermord-an-den-jesiden-das-weltweit-erstestrafverfahren -beginnt-16733469.html. 13 Vgl. aus der kaum mehr überschaubaren Literatur: Andrew Clapham, „Human Rights Obligations of Non-State Actors“, Oxford 2006. Stefanie Herr, „Nichtstaatliche Gewaltakteure und das Humanitäre Völkerrecht“, Baden-Baden: Nomos 2015. Marco Sassòli, „Völkerrecht von und für nicht-staatliche Handelnde“, Völkerrechtsblog vom 1. Dezember 2014, https://voelkerrechtsblog.org/volkerrecht-von-und-fur-nicht-staatliche-handelnde/. Zur „Entstaatlichung“ bewaffneter Konflikte im besatzungsrechtlichen Kontext vgl. Parameswaran, Katharina, „Besatzungsrecht im Wandel“, Baden-Baden: Nomos 2008, S. 23 ff. 14 Einschlägig sind auch die Regelungen zum Besatzungsrecht der Art. 42 ff. der Haager Landkriegsordnung (HLKO) vom 18. Oktober 1907, die hinsichtlich des Schutzes der Bevölkerung jedoch deutlich hinter den Verpflichtungen aus der GK IV zurückbleiben. 15 Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1944, BGBl. 1954 II, S. 917. Text auf Deutsch abrufbar z.B. unter https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation /19490188/index.html. Die GK IV ist von der ganz überwiegenden Mehrzahl der Staaten – darunter auch der Türkei – ratifiziert worden und gilt nach der Völkergewohnheitsrechtsstudie des IKRK auch weitgehend gewohnheitsrechtlich (https://www.drk.de/fileadmin/user_upload/PDFs/Das_DRK/Materialien/Vertragstexte_Voelkergewohnheitsrec ht/Zusammenfassung_Gewohnheitsrechtsstudie.PDF). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 8 Art. 55 Abs. 1 und 2 GK IV lauten: „Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen. Die Besetzungsmacht darf keine im besetzten Gebiete befindlichen Lebensmittel, Waren oder medizinischen Ausrüstungen requirieren, ausgenommen für die Besetzungskräfte und -verwaltung und auch dann nur unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Zivilbevölkerung.“ Art. 56 Abs. 1 GK IV lautet: „Die Besetzungsmacht ist verpflichtet, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (…) das öffentliche Gesundheitswesen im besetzten Gebiet zu sichern und aufrechtzuerhalten, insbesondere durch Einführung und Anwendung der notwendigen Vorbeugungs- und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Epidemien.“ Sinn- und Zweck der genannten Vorschriften ist es, die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern (basic needs) sicherzustellen sowie die Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit und Hygiene in den besetzten Gebieten zu gewährleisten. In der wissenschaftlich immer noch maßgeblichen Kommentierung der Genfer Konventionen von Pictet heißt es zu Art. 55 GK IV:16 “Article 55 extends very considerably the responsibility of an Occupying Power in regard to the help to be given to the occupied territory. (…) The rule that the Occupying Power is responsible for the provision of supplies for the population places that Power under a definite obligation to maintain at a reasonable level the material conditions under which the population of the occupied territory lives. (…) Supplies for the population are not limited to food, but include medical supplies and any article necessary to support life.” Die Liste der lebensnotwendigen und gesundheits- bzw. hygienerelevanten Güter ist nicht abschließend.17 Sauberes (Trink)wasser gehört, ähnlich wie Nahrungsmittel, zu den elementaren überlebenswichtigen Gütern und ist zur Aufrechterhaltung der Hygiene und Gesundheitsvorsorge unerlässlich. Unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der genannten Vorschriften erschließt sich daher ohne weiteres, dass auch die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser – wenngleich in den Art. 55 und 56 GK IV nicht explizit erwähnt – zu den vornehmlichen Pflichten einer Besatzungsmacht zählt. 16 Jean S. Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary, Genf 1958, Art. 55 GK IV, S. 309 f., abrufbar unter: https://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/GC_1949-IV.pdf. 17 So auch explizit Giacca, in: Clapham/Gaeta/Sassòli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, Oxford Univ. Press 2015, Chapter 70 Rdnr. 23 f. (S. 1493). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 9 Vor dem Hintergrund der aktuellen Covid 19-Pandemie wird in dem Völkerrechtsblog des IKRK explizit auf die Bedeutung der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung als Bestandteil des humanitären Völkerrechts hingewiesen.18 “Water supply facilities are of critical importance during the current crisis. In armed conflict situations, many of these installations have been destroyed by fighting over the years. Any disruption to their functioning means thousands of civilians would no longer be able to implement the basic prevention measures, such as frequent hand-washing, which can lead to further spread of the virus. International humanitarian law expressly prohibits attacking, destroying, removing, or rendering useless objects indispensable to the survival of the civilian population, including drinking water installations and supplies. Moreover, in the conduct of military operations, constant care must be taken to spare civilian objects, including water supply network and installations .” Die Versorgungspflicht aus Art. 55 GK IV steht in engem Zusammenhang mit der Gesundheitsund Hygienevorsorge gem. Art. 56 Abs. 1 GK IV, welche die Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden zu gewärtigen hat. Diese Bestimmung entfaltet gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie besondere Relevanz. In der Pictet-Kommentierung von 1958 heißt es dazu:19 “The Occupying Power must then, with the co-operation of the authorities and to the fullest extent of the means available to it, ensure that hospital and medical services can work properly and continue to do so. The Article refers in particular to the prophylactic measures necessary to combat the spread of contagious diseases and epidemics. Such measures include, for example, supervision of public health, education of the general public, the distribution of medicines, the organization of medical examinations and disinfection, the establishment of stocks of medical supplies, the despatch of medical teams to areas where epidemics are raging, the isolation and accommodation in hospital of people suffering from communicable diseases, and the opening of new hospitals and medical centres.” GK IV verpflichtet die Besatzungsmacht nicht nur zu konkreten Anstrengungen20 im Hinblick auf die Versorgung der Zivilbevölkerung, sondern stellt die lebensnotwendigen Güter nachgerade unter Requirierungsverbot (Beschlagnahmeverbot). 18 Cordula Droege, “COVID-19 response in conflict zones hinges on respect for international humanitarian law”, in: Humanitarian Law & Policy vom 16. April 2020, https://blogs.icrc.org/law-and-policy/2020/04/16/covid-19- response-respect-international-humanitarian-law/. 19 Jean S. Pictet, The Geneva Conventions of 12 August 1949. Commentary, Genf 1958, Art. 56 GK IV, S. 314. 20 Diese umfassen vor allem organisatorische, finanzielle und administrative Maßnahmen sowie nachhaltiges Ressourcenmanagement seitens der Besetzungsmacht (vgl. insoweit Giacca, in: Clapham/Gaeta/Sassòli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, Oxford Univ. Press 2015, Chapter 70 Rdnr. 29). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 10 Daraus ergibt sich, dass die besatzungsrechtlich normierte Versorgungspflicht aus Art. 55 GK IV mehr umfasst als ein bloßes Vorenthaltungsverbot. Die Besatzungsmacht ist – ähnlich wie der durch wirtschaftliche und soziale Menschenrechte verpflichtete Staat – vor allem in einem leistungsrechtlichen Kontext gefordert. Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass die Kappung der Wasserversorgung der Bevölkerung durch eine Besatzungsmacht – und damit das bewusste Vorenthalten eines lebensnotwendigen Gutes – einen Verstoß der Besatzungsmacht gegen die humanitär-völkerrechtlich verankerte Pflicht zur Versorgung (Art. 55 Abs. 1 GK IV) sowie zur Gesundheits- und Hygienevorsorge (Art. 56 Abs. 1 GK IV) begründet. 4.2. Schutzverpflichtung einer Besatzungsmacht zugunsten der Zivilbevölkerung im Falle von Beeinträchtigungen durch Dritte (nicht-staatliche Akteure) Die Pflicht zur Versorgung der „Bevölkerung“ – der engl. Begriff population ist weit zu verstehen – schließt nicht aus, dass neben der „Zivilbevölkerung“ in den besetzten Gebieten auch die Besatzungsstreitkräfte einschließlich ihrer Verbündeten an der Wasserversorgung teilhaben.21 Eine Besatzungsmacht darf die Versorgung der Zivilbevölkerung jedoch nicht zugunsten anderer Akteure (z.B. verbündeter Kräfte) „vernachlässigen“, sondern muss durch administrative Maßnahmen sicherstellen, dass alle Bevölkerungsteile gleichermaßen diskriminierungsfrei an der Wasserversorgung partizipieren.22 Bemächtigen sich Dritte – also bewaffnete Gruppierungen in den besetzten Gebieten oder andere nicht-staatliche Akteure, Milizen o.ä., die selber nicht an die Genfer Konventionen gebunden sind – gewaltsam den verfügbaren Wasserressourcen, indem diese etwa ein Wasserwerk, einen Stausee oder eine Pumpstation besetzen und dadurch die Zivilbevölkerung von der Wasserversorgung regelrecht abschneiden, so erweitert sich die (primäre) Versorgungspflicht der Besatzungsmacht zu einer (sekundärem) Schutzpflicht der Besatzungsmacht zugunsten der betroffenen Zivilbevölkerung. Die Schutzpflicht ergibt sich aus der ordnungspolitischen Funktion einer Besatzungsmacht, die – anstelle des besetzten Staates – für Sicherheit und Ordnung sowie für die Einhaltung der Gesetze in den besetzten Gebieten zu sorgen hat. 21 In der Pictet-Kommentierung von 1958, Art. 55 GK IV, S. 309 heißt es: "The term ´population` is general; it is not confined to civilians but will on occasion include members of the armed forces detained in the occupied territory.” 22 Entsprechende Kriterien (insb.: Verfügbarkeit, Zugang, Qualität, Erschwinglichkeit und Nicht-Diskriminierung) hat der zur Überwachung des VN-Sozialpaktes eingesetzte VN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinem General Comment No. 15 (vom 20.1.2003) zur inhaltlichen Konturierung eines „Menschenrechts auf Wasser“ entwickelt (https://www.refworld.org/pdfid/4538838d11.pdf, s.u. 5.3.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 11 4.3. Durchsetzung humanitär-völkerrechtlicher Verpflichtungen Die Durchsetzung der besatzungsrechtlichen Verpflichtungen aus der GK IV gestaltet sich aus Sicht der betroffenen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten als ausgesprochen schwierig. Besatzungsrechtliche Verpflichtungen korrespondieren – anders als die menschenrechtlichen Verpflichtungen – nicht mit einem individuellen (Unterlassens- oder Leistungs-)Anspruch des einzelnen gegen den Staat, sondern bilden im Wesentlichen humanitäre Verpflichtungen einer Besatzungsmacht ab, die vorübergehend staatliche Kernfunktionen, die zur Aufrechterhaltung einer geordneten Nachkriegsstruktur unerlässlich sind, anstelle des besetzten Staates ausübt. Die Genfer Abkommen richten sich in erster Linie an die Vertragsstaaten, die verantwortlich dafür sind, die entsprechenden Verpflichtungen einzuhalten und auch durchzusetzen. Sind primär die Vertragsstaaten zur Durchsetzung der Genfer Konventionen verpflichtet, so bedeutet das im Umkehrschluss, dass sich auch die Staatengemeinschaft für die Respektierung des humanitären Völkerrechts eines jeden Staates einzusetzen hat. Dies kann verschiedene Formen annehmen – von bilateralem Druck (etwa durch Partnerstaaten des Besatzungsstaates) bis hin zu politischen Initiativen auf VN-Ebene. Der Fall „Syrien“ hat hier in der Vergangenheit zweifellos immer wieder für Ernüchterung gesorgt. Wichtig erscheint umso mehr das Engagement der globalen Zivilgesellschaft: Mit Blick auf die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien haben sich Medienberichten zufolge 49 zivilgesellschaftliche Organisationen Nordostsyriens mit einem auch von UNICEF und anderen NGOs unterstützten Appell an die internationale Staatengemeinschaft gewandt.23 Zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts stützt sich die GK IV überdies auf Institutionen wie die sog. „Schutzmacht“ (Art. 9 GK IV) sowie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (Art. 10 GK IV). Art. 55 Abs. 3 GK IV regelt die Rolle und die Kompetenzen der Schutzmacht in Zusammenhang mit der Versorgung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten.24 Von der Möglichkeit der Ernennung eines neutralen Staates als „Schutzmacht“ wurde jedoch seit dem Zweiten Weltkrieg so gut wie kein Gebrauch mehr gemacht.25 Bedeutsamer ist dagegen die Rolle des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) bei der Überwachung und Umsetzung des humanitären Völkerrechts. Dies gilt u.a. für die Rolle des IKRK bei Hilfsmaßnahmen: Ist die Bevölkerung eines besetzten Gebietes nur ungenügend mit 23 23. März 2020 https://www.unicef.org/mena/press-releases/interruption-key-water-station-northeast-syria-puts- 460000-people-risk-coronavirus. 31. März 2020 https://adoptrevolution.org/turkei-unterbricht-wasserversorgung/. 24 Art. 55 Abs. 3 GK IV lautet: „Die Schutzmächte können jederzeit ohne weiteres den Stand der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten in den besetzten Gebieten untersuchen, unter Vorbehalt von zeitweiligen Beschränkungen, die aus zwingenden militärischen Erfordernissen auferlegt werden könnten.“ 25 Vgl. Gasser/Melzer, Humanitäres Völkerrecht, Baden-Baden, Zürich 2. Aufl. 2012, S. 224 f. Marco Sassòli, International Humanitarian Law, 2019, Rdnr. 5.159 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 12 dem Lebensnotwendigen versorgt, so muss die Besatzungsmacht gem. Art. 59 GK IV Hilfsaktionen anderer Staaten oder humanitärer Organisationen zugunsten der Bevölkerung – vorbehaltlich erforderlicher Genehmigungen und Kontrollen – gestatten. Zu den rechtlichen Durchsetzungsmechanismen der GK IV gehört schließlich das sog. Untersuchungsverfahren nach Art. 149 GK IV für behauptete Verletzungen der Konvention. Dieses Verfahren hat jedoch in der Praxis – insbesondere seit Etablierung des internationalen Strafrechts – keine Relevanz entfaltet. 4.4. Völkerstrafrechtliche Ahndung Aus Sicht des Völkerstrafrechts überschreitet die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien nicht die Schwelle zu Kriegsverbrechen. Das systematische Vorenthalten eines Zugangs zu Nahrungsmitteln , Trinkwasser, Medikamenten u.ä. entfaltet tatbestandlich zwar im Kontext der sog. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gem. Art. 7 Abs. 1 lit b) des Römischen Statuts26 (IStGH- Statut) Relevanz, wenn es um das in Art. 7 Abs. 2 lit b) IStGH-Statut definierte Tatbestandsmerkmal der „Ausrottung“ geht. Das Vorenthalten von Nahrung muss allerdings tatbestandlich – und dafür bestehen keinerlei Anhaltspunkte – zum einen in Zusammenhang mit einem systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung begangen worden sein und zum anderen subjektiv („mens rea“) mit dem Ziel erfolgt sein, „die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung herbeizuführen “. 5. Menschenrechtliche Verpflichtungen: Zum „Menschenrecht auf Wasser“ Wie eingangs dargelegt, ist die Untersuchung der menschenrechtlichen Verpflichtungen insbesondere dann erforderlich, wenn besatzungsrechtliche Verpflichtungen aufgrund des ungeklärten Besatzungsstatus einer Situation vor Ort nicht zweifelsfrei anwendbar erscheinen. Vorab sei dabei kurz auf einige Unterschiede zwischen den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht hingewiesen. Auf den ersten Blick scheint die besatzungsrechtliche Pflicht zur Versorgung der Zivilbevölkerung (Art. 55 Abs. 1 GK IV) dem menschenrechtlichen Kerngehalt des Rechts auf Zugang zu Nahrung zu entsprechen,27 das in Art. 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte (kurz: IPWSKR oder VN-Sozialpakt) niedergelegt ist.28 26 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, amtliche Übersetzung abrufbar unter: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 27 So Giacca, in: Clapham/Gaeta/Sassòli (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, Oxford Univ. Press 2015, Chapter 70 Rdnr. 29. 28 Art. 11 Abs. 1 IPWSKR lautet: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung (…).“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 13 Gleichwohl korrespondieren die humanitären Verpflichtungen aus dem Besatzungsrecht nicht mit dem individual-gerichteten Anspruch gegen den Staat, wie er sich aus dem Menschenrechtskonzept ergibt. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Durchsetzung der jeweiligen Verpflichtungen bedeutsam. Die Besatzungsmacht übt vorübergehend staatliche Kernfunktionen anstelle des besetzten Staates aus, die durch die „Versorgungs“-Verpflichtungen aus der GK IV humanitär flankiert, abgestützt und letztlich auch legitimiert werden. Eine menschenrechtliche Bindung des Besatzungsstaates gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Gebieten kann dagegen nur im Wege der extraterritorialen Anwendung eigener menschenrechtlicher Verpflichtungen erfolgen. Der „menschenrechtliche Blickwinkel“ auf die Wasserversorgungskrise in Nordostsyrien erweist sich insoweit rechtlich in mancher Hinsicht als problematisch: Zur Diskussion stehen dabei Fragen betreffend die Anwendbarkeit der Menschenrechte, die an dieser Stelle aber nicht abschließend erörtert werden können. Akzeptiert man die Türkei als Besatzungsmacht in Nordostsyrien, so stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Menschenrechte auch in Besatzungsgebieten neben dem humanitären Völkerrecht parallele Anwendung finden (dazu 5.1.). Verneint man dagegen eine türkische Besatzungssituation in Nordostsyrien, so stellt sich aus Sicht der Türkei die Frage nach der extraterritorialen Anwendbarkeit der Menschenrechtsverpflichtungen (dazu 5.2.). Im Hinblick auf ein „Menschenrecht auf Wasser“, welches zumindest im VN-Sozialpakt nirgends Erwähnung findet, ergeben sich schließlich Fragen betreffend dessen Existenz, Inhalt und Rechtsverbindlichkeit (dazu 5.3. und 5.4.) sowie der Justiziabilität (dazu 5.5.). 5.1. Anwendbarkeit der Menschenrechte in besetzten Gebieten Die Problematik einer Anwendung von Menschenrechten (insbesondere des VN-Sozialpakts) in bewaffneten Konflikten und Besatzungssituationen ist in den letzten Jahrzehnten Gegenstand extensiver völkerrechtlicher Diskussionen gewesen.29 Einige dogmatische sowie rechtspraktische Fragen zum Verhältnis zwischen humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten erscheinen bis heute nicht abschließend geklärt. Im Grundsatz besteht in Literatur und Rechtsprechung mittlerweile Einigkeit darüber, dass menschenrechtliche Verpflichtungen fortbestehen und beide Normbereiche – also das humanitäre Völkerrecht und das Menschenrechtsregime – in Besatzungssituationen kumulative Anwendung finden.30 Sofern aber – wie etwa im Fall der Verpflichtung zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln – gleiche Regelungsbereiche 29 Vgl. für viele Marco Sassòli, International Humanitarian Law, 2019, Rdnr. 9.04 ff. 30 Vgl. für viele m.w.N. Parameswaran, Katharina, „Besatzungsrecht im Wandel“, Baden-Baden: Nomos 2008, S. 71 mit Anm. 335 (Nachweise aus Literatur und Rechtsprechung). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 14 betroffen sind, soll den Bestimmungen der Genfer Konventionen aufgrund ihrer Notstandsfestigkeit ein Anwendungsvorrang (lex specialis) zukommen. Teilweise wird aber auch gefordert, die Bestimmungen der Genfer Konventionen im Lichte der Menschenrechte auszulegen, wenn und soweit im humanitären Völkerrecht Regelungs- und Anwendungslücken bestehen.31 5.2. Extraterritoriale Anwendung der Menschenrechte Die Vertragsstaaten der Menschenrechtspakte tendieren teilweise dazu, die Anwendbarkeit der Menschenrechte auf ihr Staatsterritorium zu beschränken. So hat etwa die Türkei im Jahre 2003 den VN-Sozialpakt nur mit folgenden – einschränkenden – Erklärungen bzw. Vorbehalten (vgl. Art. 19 WVRK) ratifiziert:32 “The Republic of Turkey declares that it will implement the provisions of this Covenant only to the States with which it has diplomatic relations. The Republic of Turkey declares that this Convention is ratified exclusively with regard to the national territory where the Constitution and the legal and administrative order of the Republic of Turkey are applied.” Die Frage der extraterritorialen Anwendbarkeit des VN-Sozialpaktes ist – im Gegensatz zu den EMRK-Garantien33 – nicht abschließend geklärt, zumal im VN-Sozialpakt – anders als etwa in Art. 2 des VN-Zivilpakts – keine paktinterne Regelung über dessen räumliche Anwendbarkeit existiert.34 In der Literatur wird eine territoriale Beschränkung der Staatenpflichten aus dem VN- Sozialpakt zum Teil abgelehnt.35 Insbesondere im Falle von Besetzungen, wo eine Besatzungsmacht ihre Hoheitsgewalt auf das Gebiet eines anderen Staates ausdehnt, erscheint es naheliegend , die Bindung der Menschenrechte auch auf fremdes Gebiet zu erstrecken. So hat etwa der Internationale Gerichtshof (IGH) im Mauergutachten die Geltung des VN-Sozialpakts für die besetzten Gebiete im Westjordanland angenommen. 31 Vgl. zum Verhältnis zwischen Menschenrechten und humanitärem Völkerrechte insb. in Besatzungssituationen Sassòli, Marco, “Legislation and Maintenance of Public Order and Civil Life by Occupying Powers”, in: EJIL 2005, S. 661-694 (676), http://www.ejil.org/pdfs/16/4/313.pdf. Oeter, Stefan, „Terrorismus und Menschenrechte“, in: AVR 2002, S. 422-453 (448 f.). 32 Ratifikationsstand des VN-Sozialpakts, UN-Treaty Collection, abrufbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3&chapter=4&clang=_en. 33 Grabenwarter/Pabel, EMRK, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 17 Rdnr. 12 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR. Jankowska-Gilberg, Extraterritorialität der Menschenrechte, Baden-Baden: Nomos 2008. Bleier, Annika, Die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK, Berlin u.a.: Lang 2019. 34 Vgl. näher Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Zürich, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 364 ff. 35 Vgl. zum aktuellen Diskussionsstand Sofia Massoud, Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Aktivitäten von transnationalen Unternehmen, Heidelberg: Springer 2018, S. 173 ff. mit Anm. 88, abrufbar unter: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-662-56780-7.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 15 Auch der zur Überwachung des VN-Sozialpaktes geschaffene VN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Committee on Economic, Social and Cultural Rights) hat – ähnlich wie der Menschenrechtsausschuss des VN-Zivilpaktes – die Staatenpflichten des VN- Sozialpaktes in seinen General Comments (Allgemeine Bemerkungen) tendenziell weit ausgelegt und eine extraterritoriale Anwendung im Grundsatz bejaht. 36 Dies legt eine Anwendbarkeit des VN-Sozialpaktes auch in besetzten Gebieten nahe. Allerdings sind die General Comments des VN-Ausschusses – auch wenn sie maßgeblich zur (autoritativen) Interpretation des Paktes beitragen und ggf. gewohnheitsrechtsbildend wirken können – völkerrechtlich nicht bindend, sondern weisen eher den Charakter von völkerrechtlichem soft law auf. Zumindest dürfte der türkische Ratifikations-Vorbehalt, wonach die Türkei den Pakt nur im Verhältnis zu jenen Staaten anwenden will, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhält, dem Sinn- und Zweck von Menschenrechtsverträgen widersprechen und daher gem. Art. 19 lit. c) der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) völkerrechtswidrig sein. 5.3. Entwicklung eines „Menschenrechts auf Wasser“ auf der VN-Ebene Die schon seit Jahren währende wissenschaftliche Diskussion über ein „Menschenrecht auf Wasser “, die aufgrund der kaum mehr überschaubaren Fülle an völker-, verfassungsrechtlicher und politikwissenschaftlicher Literatur an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise inhaltlich nachgezeichnet und kommentiert werden kann,37 hat in den 2010er Jahren durch zahlreiche Resolutio- 36 United Nations Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR): General Comment No. 12: The Right to Adequate Food (Art. 11 of the Covenant), 12. Mai 1999, Rdnr. 14: “Every State is obliged to ensure for everyone under its jurisdiction access to the minimum essential food which is sufficient, nutritionally adequate and safe, to ensure their freedom from hunger.” https://www.refworld.org/pdfid/4538838c11.pdf. 37 Herausgegriffen werden hier nur einige online verfügbare Beiträge, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung die Breite der Diskussion erahnen lassen; überdies enthalten sie zum vertieften Einstieg in die Thematik z.T. umfangreiche Literaturhinweise, weiterführende Links zu Rechtsquellen und Nachweise aus der Rechtsprechung: Ute Mager, „Recht auf Wasser“, Beitrag vom 22. Februar 2018, in: Óscar Loureda (Hrsg.) „Wasser“, Zeitschrift Studium Generale an der Universität Heidelberg Bd. 2015/16 (2018), https://heiup.uniheidelberg .de/journals/index.php/generale/article/view/23665. Duttwiler, Michael, „Das Recht auf Wasser nach dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“, https://www.humanrights.ch/cms/upload/pdf/070907_duttwiler_wasser.pdf. Gawel/Bretschneider, „Gehalt und Grenzen eines Rechts auf Wasser – ein Zwischenruf“, in: AöR (2012) S. 321- 359, https://www.mohrsiebeck.com/artikel/gehalt-und-grenzen-eines-rechts-auf-wasser-ein-zwischenruf- 101628000389112804177919. Gerd Morgenschweis, „Wasser. Ein Menschenrecht ? Aktueller Stand eines langwierigen Entwicklungsprozesses ,“ Blog vom 14. Juli 2017, https://www.blog-der-republik.de/aktueller-stand-eines-langwierigenentwicklungsprozesses / Zusammenfassungen / Handouts mit weiterführenden Quellen und Links: Österreichische Entwicklungszusammenarbeit (Hrsg.), „Fokus: Recht auf Wasser und Sanitärversorgung“, 2013, https://www.entwicklung.at/fileadmin/user_upload/Dokumente/Publikationen/Fokuspapiere/Fokus_Recht_auf _Wasser.pdf. Informationsplattform humanrights.ch, 2014, https://www.humanrights.ch/de/service/menschenrechte/wasser/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 16 nen der VN-Generalversammlung noch einmal deutlichen Auftrieb erhalten.38 Die mit großer Mehrheit der Staaten verabschiedeten VN-Resolutionen39 anerkennen und bekräftigen im Ergebnis – wenn auch in völkerrechtlich nicht bindender Weise – die Existenz eines Menschenrechts auf sauberes Trinkwasser und auf Sanitärversorgung als Teil des im VN-Sozialpakt festgeschriebenen Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Hervorzuheben sind ferner die zahlreichen (begleitenden) Berichte, Resolutionen und Entschließungen anderer VN-Institutionen wie z.B. die Resolutionen des VN-Menschenrechtsrats (Human Rights Council)40 oder die Berichte des UN Special Rapporteur on the human rights to safe drinking water and sanitation, Léo Heller.41 Einen „Meilenstein“ aus völkerrechtlicher Sicht bildet der General Comment No. 15 vom 20. Januar 2003 („The Right to Water“) des zur Überwachung des VN-Zivilpaktes eingesetzten VN- Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.42 Darin leitet der VN-Ausschuss eine auf Zugang zu sauberem Trinkwasser gerichtete menschenrechtlich verbürgte Garantie sowohl aus dem Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 VN-Sozialpakt) als auch aus dem Recht auf Gesundheit (Art. 12 VN-Sozialpakt) ab. Überdies hat der VN-Ausschuss den Normgehalt des durch Rechtsfortbildung kreierten „Menschenrechts auf Wasser“ im Hinblick auf die daraus erwachsenen Staatenverpflichtungen sowohl inhaltlich als auch prozedural konturiert . Materiell gewährt das „Menschenrecht auf Wasser“ allen Personen Anspruch auf eine hinreichende, sichere, qualitativ einwandfreie, zugängliche und nicht-diskriminierende Versorgung mit Wasser zum persönlichen Gebrauch. Dabei unterscheidet der VN-Ausschuss zwischen den rechtlichen Komponenten einer Unterlassenspflicht, einer Schutzpflicht und einer Leistungspflicht des menschenrechtlich gebundenen Staates. 38 Vgl. z.B. Resolution der VN-Generalversammlung vom 28. Juli 2010, A/Res/64/292, The human right to water and sanitation, https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/64/292, deutsche Fassung abrufbar unter: https://www.un.org/Depts/german/gv-64/band3/ar64292.pdf. Resolution der VN-Generalversammlung vom 17. Dezember 2015, A/RES/70/169, The human right to safe drinking water and sanitation, https://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/70/169. Resolution der VN-Generalversammlung vom 19. Dezember 2017, A/RES/72/178, Das Menschenrecht auf einwandfreies Trinkwasser und auf Sanitärversorgung, abrufbar auf Deutsch: https://www.un.org/depts/german/gv-72/band1/ar72178.pdf. 39 Die Verabschiedung der Resolution 64/292 (2010) erfolgte mit 122 Ja-Stimmen ohne Gegenstimme bei 41 Enthaltungen (darunter die Türkei). 40 Abrufbar unter https://www.ohchr.org/EN/Issues/WaterAndSanitation/SRWater/Pages/Resolutions.aspx. Vgl. zuletzt Resolution des Menschenrechtsrats vom 26. September 2019, A/HRC/RES/42/5, https://undocs.org/A/HRC/RES/42/5 sowie Resolution vom 27. September 2018, A/HRC/RES/39/8, https://undocs.org/A/HRC/RES/39/8. 41 Abrufbar unter: https://www.ohchr.org/EN/Issues/WaterAndSanitation/SRWater/Pages/AnnualReports.aspx. 42 General Comment No. 15: The Right to Water (Arts. 11 and 12 of the Covenant) vom 20. Januar 2003, https://www.refworld.org/pdfid/4538838d11.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 17 5.4. Rechtscharakter und Rechtsverbindlichkeit des „Menschenrechts auf Wasser“ Auch wenn die einzelnen Facetten eines „Menschenrechts auf Wasser“ an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden können, so lässt sich doch resümierend festhalten, dass es sich beim „Recht auf Wasser“ – ähnlich wie beim „Recht auf gesunde Umwelt“ – um ein ökologisches Menschenrecht handelt, das auf Schutz und Qualität, auf Zugang, diskriminierungsfreie Teilhabe und gerechte Verteilung eines lebenswichtigen Kollektivgutes abzielt und dabei Aspekte des Umweltschutzes mit menschenrechtlichen Positionen in sich vereint.43 Was die rechtliche Verbindlichkeit des „Menschenrechts auf Wasser“ angeht, so finden sich spezifische Ansätze einer Kodifizierung z.B. in Art. 14 Abs. 2 lit. h) des Übereinkommens über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Frauenrechtskonvention vom 18. Dezember 1979)44 sowie in Art. 24 Abs. 2 lit. c) des Übereinkommens über die Rechte des Kindes (Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989).45 Ferner existieren Regelungen in regionalen Menschenrechtserklärungen wie etwa in Art. 39 Abs. 2 lit. e) der Arabischen Menschenrechtscharta von 2004.46 Doch bleiben diese Kodifikationen in ihrem Anwendungsbereich entweder regional oder – mit Blick auf den geschützten Personenkreis – funktional auf Aspekte der Teilhabe bzw. Nicht- Diskriminierung beschränkt und entfalten daher nicht die gleiche rechtliche und politische Wirkung wie die universellen Menschenrechtspakte. Demgegenüber zielen die Ansätze der VN-Generalversammlung und der anderen VN-Organe darauf ab, dem „Menschenrecht auf Wasser“ nicht nur universelle Geltung zu verleihen. Vielmehr werden querschnittsartig die ökologischen, sozialpolitischen, entwicklungs- und gesundheitspolitischen sowie die ökonomischen Implikationen des „Rechts auf Wasser“ aufgegriffen und daraus entsprechende Staatenverpflichtungen formuliert. Indes erscheinen die Vorstöße auf VN-Ebene (bislang) völkerrechtlich unverbindlich; sie lassen sich allenfalls dem völkerrechtlichen soft law zuordnen, dessen weitere Entwicklung im Fluss ist. Am anschaulichsten lässt sich das „Menschenrecht auf Wasser“ insoweit als ein im Entstehen 43 Vgl. grundlegend Schmidt-Radefeldt, Roman, „Ökologische Menschenrechte“, Baden-Baden 2000, S. 40 ff. 44 Text abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19983322/index.html. 45 Text abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19983207/index.html. 46 Text abrufbar unter: https://www.humanrights.ch/cms/upload/pdf/091029_Arab_Charter_on_Human_Rights_2004.pdf. Als Vertragsstaat der Arabischen Menschenrechtscharta wäre eigentlich Syrien völkerrechtlich verpflichtet, das Menschenrecht „to ensure clean water for everybody“ aus Art. 39 Abs. 2 lit. e) der Charta gegenüber der Bevölkerung in Ras al-Ain zu gewährleisten, ist aber aufgrund der türkischen Militärpräsenz in Nordostsyrien derzeit daran gehindert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 18 begriffenes Menschenrecht (sog. emerging human right) beschreiben.47 Die (rechtlichen) „Karrierewege“ solcher emerging rights beginnen üblicherweise als internationale politische Forderung, ehe sie über das völkerrechtliche soft law (Resolutionen auf VN-Ebene) allmählich zu einem „vollwertigen“ und rechtsverbindlichen Menschenrecht erstarken – indem sie etwa durch internationale Spruchkörper und Gerichte anerkannt und weiter ausdifferenziert werden. Juristisch lässt sich durchaus darüber streiten, ob man dem „Menschenrecht auf Wasser“ bereits heute eine rechtsverbindliche Wirkung zuschreiben kann. Auch wenn der General Comment des VN-Ausschusses völkerrechtlich nicht bindend ist, werden sich die Vertragsstaaten des VN- Sozialpaktes, zumal wenn sie die einschlägigen Resolutionen der VN-Generalversammlung mitgetragen haben, der interpretativen Sogwirkung dieser Entwicklung nur schwer verschließen können. Speziell die Türkei gehört allerdings zu jenen (wenigen) Staaten, die sich der bei Verabschiedung der grundlegenden Resolution der VN-Generalversammlung vom 28. Juli 2010, (A/Res/64/292) zum „Menschenrecht auf Wasser“ ihrer Stimme enthalten haben und einer völkerrechtlichen Weiterentwicklung des nicht zuletzt (innen- und außen)politisch brisanten und konfliktträchtigen „Menschenrechts auf Wasser“ offenbar skeptisch gegenüberstehen. 5.5. Justitiabilität Die Staatenpflichten aus dem VN-Sozialpakt korrespondieren nicht automatisch mit individuellen Rechtsansprüchen. Gerade gegenüber wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten erweist sich die Frage nach deren Einklagbarkeit als ausgesprochen diffizil. Aus dem „Menschenrecht auf Wasser“ lassen sich zwar der Sache nach individuelle Rechtspositionen ableiten – eine andere Frage ist jedoch, ob dem Betroffenen entsprechende Verfahren zur Verfügung stehen, um gegen Verletzungen eines solchen Menschenrechts Klage zu erheben. Im Idealfall deckt das nationale Recht den Schutzbereich eines „Menschenrechts auf Wasser“ ab und ermöglicht entsprechende Klagen vor nationalen Gerichten auf Grundlage der nationalen Gesetze. Einige südamerikanische Staaten haben das Recht auf Wasser sogar verfassungsrechtlich verankert.48 Die türkische Verfassung vom 7. November 198249 formuliert in Art. 56 lediglich das „Recht auf Leben in einer gesunden und ausgeglichenen Umwelt“ und ergänzt dieses „Umweltgrundrecht “ um die Gewährleistung einer „Lebensführung von jedermann in körperlicher und geistiger Gesundheit“. Ob diese Verfassungsnorm einfachgesetzlich durch ein explizites „Recht auf Zugang zu Wasser und Sanitärversorgung“ konkretisiert wird, kann an dieser Stelle nicht 47 Vgl. Stephen P. Marks, “Emerging Human Rights: A New Generation for the 1980s?” in: Rutgers Law Review 1980-1981, S. 435-452, https://www.researchgate.net/publication/246054079_Emerging_Human_Rights_A_New_Generation_for_the_19 80s. Eine Zusammenstellung zu den “New and emerging human rights issues” findet sich online unter: https://www.universal-rights.org/programmes/contemporary-and-emerging-human-rights-issues/. 48 Vgl. etwa Art. 373 Verfassung Bolivien; Art. 47 Verfassung Uruguay; Art. 12 Verfassung Ecuador. 49 Text auf Deutsch abrufbar unter: http://www.verfassungen.eu/tr/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 19 weiter untersucht werden. Prozessual erscheint es jedoch (angesichts der geschlossenen Grenzen zwischen Syrien und der Türkei) nahezu ausgeschlossen, dass syrische Staatsbürger vor türkischen Gerichten in der Türkei wegen einer Verletzung des Zugangs zu Trinkwasser in Nordostsyrien klagen können. Auf internationaler Ebene besteht mit dem 2013 in Kraft getretenen Zusatzprotokoll zum VN- Sozialpakt50 ferner die Möglichkeit, mit Blick auf eine mögliche Verletzung der Rechte aus dem Pakt eine Individualbeschwerde beim VN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu erheben. Das Zusatzprotokoll wurde allerdings bislang nur von 24 Staaten – darunter weder von der Türkei noch von Syrien – ratifiziert.51 6. Fazit Versucht man im Rahmen eines Fazits, die zum Teil etwas überzogen anmutende mediale Berichterstattung über die Kappung der Trinkwasserversorgung in Nordostsyrien durch die Türkei („Wasserzugang als Kriegswaffe“52) mit rechtlich tragfähigen Argumenten zu untermauern , so ergibt sich bei Lichte betrachtet doch ein eher ernüchterndes Bild. 6.1. Besatzungsrecht Was das Besatzungsrecht, also das humanitäre Völkerrecht angeht, so lassen sich vergleichsweise klare Verstöße der Türkei gegen die IV. Genfer Konvention (Pflicht zur Versorgung und Gesundheitsvorsorge gem. Art. 55 und 56 GK IV) ausmachen. Doch hapert es am Ende nicht nur an deren Justitiabilität, sondern bereits am Anfang an der Frage, ob man das Besatzungsrecht überhaupt für anwendbar hält. Vieles spricht aus Sicht des Verfassers dafür, die militärische Präsenz der Türkei in Nordostsyrien (in Folge der Operation „Friedensquelle“) als Besatzungssituation anzusehen. Doch eine „faktische “ Besetzung wird eben erst dann zu einer Besetzung „im Rechtssinne“, wenn sie rechtlich auch von maßgeblicher Seite als solche bezeichnet wird. „Konstitutiv“ erforderlich ist dafür die politische und rechtliche Bewertung eines bestimmten „Lagebildes“. 50 Resolution der VN-Generalversammlung vom 10. Dezember 2008 (A/RES/63/117), Optional Protocol to the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, Text abrufbar unter: https://treaties.un.org/doc/source/docs/A_RES_63_117-Eng.pdf. 51 Ratifikationsstand UN-Treaty Collection, abrufbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-3-a&chapter=4&lang=en. Auch Deutschland hat das Zusatzprotokoll zum VN-Sozialpakt bis heute nicht ratifiziert. 52 Vgl. Tagesspiegel vom 14. April 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 20 Eine Regierung, die sich aus bündnispolitischen oder welchen Gründen auch immer, unter Hinweis auf ein „unzureichendes Lagebild“ einer entsprechenden Sichtweise verschließt, kann indes rechtlich nicht gezwungen werden, eine bestimmte Situation als „Besatzung“ zu bezeichnen. Dass ein Staat, der bereits bei der Bewertung einer bestimmten Situation Bedenken äußert, in der Konsequenz auch nicht gewillt sein wird, selbst offenkundige Verletzungen des Besatzungsrechts durch einen anderen Staates auch als solche zu kritisieren oder zu verurteilen, gehört freilich zu den zahlreichen systemimmanenten Schwächen, die der Völkerrechtsordnung innewohnen. Denn das wirksamste Durchsetzungsmittel des humanitären Völkerrechts unterhalb der völkerstrafrechtlichen Ebene bleibt immer noch der politische Druck auf einen rechtsverletzenden Staat durch die Staatengemeinschaft. 6.2. Menschenrecht auf Wasser Zwischen dem „Menschenrecht auf Wasser“ und der besatzungsrechtlichen Versorgungspflicht aus Art. 55 GK IV bestehen sowohl inhaltliche (Gewährung des Zugangs zu Trinkwasser), als auch dogmatische (Schutzpflicht) und interpretative (Gleichsetzung von Wasser und Nahrung als überlebensnotwendige Güter) Parallelen. Der Vorwurf einer Verletzung des „Menschenrechts auf Wasser“ durch die Türkei begegnet gleichwohl gewissen argumentativen Bedenken. Diese bestehen weniger auf der tatbestandlichen Ebene,53 wohl aber im Hinblick auf die Rechtsverbindlichkeit und extraterritoriale Anwendbarkeit der menschenrechtlichen Verpflichtungen. Während die besatzungsrechtlichen Pflichten in einer zudem weitgehend gewohnheitsrechtlich geltenden Konvention verankert sind, steht das „Menschenrecht auf Wasser“ auf vergleichsweise tönernen rechtlichen Füßen. Zwar ist dieses Menschenrecht seit einigen Jahren zunehmend im Begriff, seinen „Siegeszug“ vom völkerrechtlichen soft law hin zu einem wahrhaft rechtsverbindlichen Menschenrecht anzutreten. Doch im Gegensatz zu den „klassischen“ etablierten Menschenrechten ist das im Wesentlichen durch Rechtsfortbildung eines VN-Ausschusses konturierte „Recht auf Wasser“ ein emerging human right – also quasi ein „Emporkömmling“ in der menschenrechtlichen Arena. Ein Staat, der dem Vorwurf einer Menschenrechtsverletzung ausgesetzt ist, könnte sich daher leicht auf die Position zurückziehen, dass das „Menschenrecht auf Wasser“ zwar einen politischen Anspruch begründet, aber letztlich völkerrechtlich ebenso wenig verbindlich erscheint, wie die General Comments des VN-Ausschusses oder die Resolutionen der VN-Generalversammlung . 53 Die absichtliche Vorenthaltung der Wasserversorgung stellt zweifellos eine Verletzung des „Menschenrechts auf Wasser“ dar, wenn dieses denn zweifelsfrei rechtsverbindlich und extraterritorial anwendbar wäre. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 033/20 Seite 21 Überdies lässt sich die ungeklärte Frage der Extraterritorialität der Verpflichtungen aus dem VN-Sozialpakt ins Feld führen. Insbesondere die Türkei könnte sich hier auf ihren Ratifikationsvorbehalt berufen, der sich – anders als bei der EMRK – jedenfalls nicht durch eine klare Rechtsprechung eines internationalen Gerichts entkräften ließe. Alle Verletzungen des Besatzungsrechts oder eines „Menschenrechts auf Wasser“ – selbst wenn sie sich zweifelsfrei begründen ließen – erscheinen jedoch für die betroffene Bevölkerung in Nordostsyrien am Ende nicht justitiabel. Somit bleibt die internationaler Staatengemeinschaft und die Zivilgesellschaft gefordert, die Not der Menschen in Nordostsyrien durch politischen Druck zu ihrem Recht auf sauberes Trinkwasser zu verhelfen. ***