WD 2 – 3000 - Nr. 032/16 (16. Februar 2016) © 2016 Deutscher Bundestag Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Die Ausrufung des NATO-Bündnisfalls gem. Art. 5 NATO-Vertrag durch den NATO-Rat setzt einen bewaffneten Angriff (armed attack), d.h. eine rechtswidrige völkerrechtliche Gewaltanwendung gegen einen NATO-Partner, voraus.1 Ein militärisches Vorgehen der Türkei gegen Syrien – zur Diskussion steht der Einsatz türkischer Bodentruppen (gemeinsam mit Saudi-Arabien) gegen den sog. „Islamischen Staat“ („IS“) auf syrischem Territorium2 – würde daher zunächst einmal keinen Bündnisfall – und damit auch keine deutsche Beistandspflicht – auslösen. Ein türkischer Militäreinsatz in Syrien könnte sich – wie die Militäreinsätze Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, der USA und anderer Mitglieder der sog. „Anti-IS-Koalition“ – völkerrechtlich auf das Selbstverteidigungsrecht in Gestalt des Rechts zur Nothilfe nach Art. 51 VN-Charta (zugunsten Frankreichs oder des Iraks) berufen. Die Staatenpraxis und die völkerrechtliche Literatur haben in diesem Zusammenhang die (sich gewohnheitsrechtlich verfestigende ) Argumentationsfigur des „unable and unwilling“ herangezogen; zum anderen wurde auf die Resolution 2249 (2015) des VN-Sicherheitsrats abgestellt.3 Türkische Bodentruppen gegen den „IS“ in Syrien wären – solange sie sich innerhalb dieses völkerrechtlichen Rahmens bewegten – keine völkerrechtswidrige Gewaltanwendung gegen Syrien. Ein militärisches Vorgehen der Türkei gegen das Assad-Regime selbst oder gegen die syrischen Kurden in Nordsyrien (YPG), die zum Teil zusammen mit syrischen Rebellentruppen das Assad- Regime, zum Teil aber auch zusammen mit Assad-Anhängern den „IS“ bekämpfen, steht derzeit nicht zur Diskussion. 1 Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, München 6. Aufl. 2014, § 52, Rdnr. 7. 2 http://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-syrien-109.html; http://www.welt.de/politik/ausland/article152199315/Tuerkei-erwaegt-Bodentruppen-Einsatz-in-Syrien.html. 3 Vgl. zur Diskussion das Gutachten WD 2 – 3000 – 203/15 v. 30.11.2015, „Staatliche Selbstverteidigung gegen Terroristen – völkerrechtliche Implikationen des VN-Resolution 2249 (2015)“. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Zur Anwendung des NATO-Bündnisfalls im Konflikt zwischen der Türkei und dem „Islamischen Staat“ in Syrien Kurzinformation Zur Anwendung des NATO-Bündnisfalls im Konflikt zwischen der Türkei und dem „Islamischen Staat“ in Syrien Fachbereich WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Seite 2 Rechtlich bedeutsam für die Frage nach einem möglichen NATO-Bündnisfall wären die Reaktionen aus Syrien. Dabei sind Angriffs- und Verteidigungshandlung sauber zu unterscheiden. Denkbar, aber nicht wahrscheinlich, erscheint eine Reaktion aus Damaskus.4 Würde das Assad-Regime – als Reaktion auf die in Syrien rechtmäßig gegen den „IS“ vorgehenden türkischen Bodentruppen – seinerseits militärisch gegen die Türkei zurückschlagen, so ließe sich diese Reaktion als völkerrechtswidrigen „Angriff“ im Sinne von Art. 5 NATO-Vertrag werten.5 Der NATO-Rat müsste auf einen solchen – hypothetischen – Angriff reagieren und könnte ggf. den NATO-Bündnisfall ausrufen. Als Reaktion auf (potentielle) türkische Bodentruppen wäre dagegen eine militärische Antwort des „IS“ sehr wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang wäre fraglich, ob der „IS“ militärisch zu einer grenzüberschreitenden „Gegenoffensive“, d.h. zu einem Militärschlag gegen die Türkei, der die Schwelle zum „armed attack“ überschreitet,6 überhaupt in der Lage ist. In der Vergangenheit hatte es bereits grenzüberschreitende Attentate des „IS“ im türkischen Suruç (Juli 2015) gegeben,7 die aber (nach Ausmaß und Intensität) diese Schwelle nicht erreicht haben. Würde die Türkei vom „IS“ attackiert, so wäre es dem NATO-Rat unbenommen, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen. Die durch Frankreich im Nachgang zu den Attentaten von Paris vom 13. November 2015 (= Angriff seitens des „IS“) aktivierte EU-Bündnisklausel sperrt die Anwendung des NATO-Bündnisfalles nicht. Doch anders als bei „9/11“, welcher 2001 erstmalig einen NATO-Bündnisfall auslöste, besteht bereits heute schon ein bewaffneter Konflikt zwischen dem „IS“ und den Staaten der „Anti-IS-Koalition“. Einer „Hilfeleistung“ im Kampf gegen den „IS“ bedarf die Türkei insoweit nicht, wenn sie Bodentruppen gegen den „IS“ in Syrien einsetzt. Überdies hat sich der VN-Sicherheitsrat bereits mit der Frage der Bekämpfung des „IS“ in Syrien befasst. Im Ergebnis ist es daher eher unwahrscheinlich, dass ein möglicher Einsatz türkischer Bodentruppen gegen den „IS“ in Syrien in ihrer Konsequenz einen NATO-Bündnisfall auslöst. Ende der Bearbeitung 4 Immerhin hat das Regime in Damaskus an der Bekämpfung des „IS“ ein vitales Interesse. 5 Die militärische Reaktion auf ein rechtmäßiges Verhalten des Gegners ist keine „Verteidigung“, sondern stellt selbst einen „Angriff“ dar. In dem (hypothetischen) Fall müsste also festgestellt werden, dass der – mögliche – Militärschlag Assads gegen die Türkei eine völkerrechtswidrige Angriffshandlung darstellt; nicht hingegen das – mögliche – Vorgehen der türkischen Bodentruppen in Syrien. 6 Bloße Grenzscharmützel reichen dabei nicht aus (vgl. IGH-Entsch. im Nicaragua-Fall, ICJ Rep. 1986, S. 103 f.) 7 http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-07/tuerkei-explosion-suruc-grenze-syrien.