© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 031/16 Zur öffentlichen Diskussion über Anfang der 1990er Jahre möglicherweise getroffene Zusagen westlicher Spitzenpolitiker zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 2 Zur öffentlichen Diskussion über Anfang der 1990er Jahre möglicherweise getroffene Zusagen westlicher Spitzenpolitiker zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 031/16 Abschluss der Arbeit: 18. Februar 2016 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Kernaussagen westlicher Politiker zur NATO-Osterweiterung 4 2.1. Chronologische Entwicklung von 1990 bis 1994 4 2.2. Völkerrechtliche Bewertung 8 3. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 4 1. Einleitung Dieser Sachstand1 befasst sich mit Aussagen hochrangiger westlicher Politiker zur NATO-Osterweiterung in der Phase vor und nach dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten sogenannten „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, der die außenpolitischen Bedingungen für die Wiedervereinigung beider deutschen Staaten und die Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands zum Nordatlantikpakt regelte und damit den ersten Schritt einer Expansion der NATO nach Osten darstellte. In den zahlreichen der deutschen Wiedervereinigung vorangegangenen Gesprächen und Verhandlungsrunden wie auch aus vielen politischen Äußerungen zu den Erweiterungsrunden der NATO wird zum einen deutlich, dass innerhalb der westlichen Welt nicht von Beginn an Übereinstimmung zum künftigen Status Deutschlands sowie zu der Frage herrschte, welche Länder zu welchem Zeitpunkt der NATO beitreten sollten. Zum anderen wird erkennbar, dass die Sowjetunion bzw. Russland trotz Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages und einer stärkeren Kooperation mit der NATO (bspw. im Rahmen des Programms „Partnership for Peace“) einer Erweiterung der nordatlantischen Allianz stets ablehnend gegenüber stand. 2. Kernaussagen westlicher Politiker zur NATO-Osterweiterung 2.1. Chronologische Entwicklung von 1990 bis 1994 Seit den Verhandlungen zur Wiedervereinigung Deutschlands herrscht zwischen der westlichen Staatengemeinschaft und der Russischen Föderation ein andauernder Streit, ob damals der Führung der Sowjetunion versichert worden sei, die NATO durch Integration neuer Mitglieder nicht weiter nach Osten auszudehnen, und in wieweit etwaige Zusagen dieser Art völkerrechtliche Bindungswirkung entfalten konnten. In einem 2009 im „Spiegel“ veröffentlichten Artikel führen Uwe Klußmann, Matthias Schepp und Klaus Wiegrefe 2 aus, dass es sehr verschiedene Versionen von den Äußerungen gibt, die westliche und östliche Spitzenpolitiker bei ihren Treffen getätigt haben sollen: So hätten der damalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und der damalige US-Botschafter in Moskau, John Matlock, später behauptet, dass es 1990 natürlich Zusagen gegeben habe, die NATO „keinen Daumenbreit Richtung Osten auszuweiten“ (Zitat Gorbatschow), während die damaligen Außenminister James Baker (USA) und Eduard Schewardnadse (UdSSR) dies dementierten – Schewarnadse mit dem Hinweis, dass schon eine Auflösung des Warschauer Paktes „außerhalb unserer Vorstellungswelt“ gelegen habe. Auch die Äußerungen Hans-Dietrich Genschers, des damaligen Bundesaußenministers, werden unterschiedlich bewertet und von einigen Beobachtern als Versprechen interpretiert, von einer NATO-Osterweiterung abzusehen. 1 Als Grundlage für die Erarbeitung dieses Sachstands diente die am 7. Juli 2014 im Fachbereich WD 2 erstellte Dokumentation zum Thema „Die Positionen politischer Akteure zur NATO-Osterweiterung“ (WD 2 - 3000 - 113/14). 2 Klußmann, Uwe; Schepp, Matthias; Wiegrefe, Klaus (2009): Absurde Vorstellung. Der Spiegel 48/2009, Spiegel- Online vom 23. November 2009. Abrufbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-67871653.html (letzter Zugriff : 16. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 5 Die wesentlichen Standpunkte und Aussagen westlicher und sowjetischer Politiker zur Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschlands, unter ihnen die soeben genannten Staatsmänner, greift Werner Weidenfeld in seinem Werk „Außenpolitik für die deutsche Einheit – Die Entscheidungsjahre 1989/90“ 3 auf. Er stellt deren Äußerungen nicht nur umfassend dar, sondern liefert darüber hinaus Informationen zum Bemühen der Harmonisierung („Synchronisation“) unterschiedlicher Positionen sowie eine historische Einordnung der jeweiligen Auffassungen. Weidenfeld beginnt in diesem Zusammenhang mit einer Äußerung Genschers zur NATO-Osterweiterung , die dieser am 31. Januar 1990 in einer nicht mit dem damaligen Bundeskanzler, Helmut Kohl, abgesprochenen Rede an der Evangelischen Akademie in Tutzing machte. In dieser Rede forderte Genscher von der NATO eine eindeutige Erklärung, dass es, „was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, […] nicht geben“ werde. Diese Sicherheitsgarantie sei für die Sowjetunion bedeutsam, denn der Wandel in Osteuropa und der deutsche Vereinigungsprozess dürften „nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen“. Genscher führte zudem aus, das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) solle nicht in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden – da dies wegen zu erwartender Widerstände der Sowjetunion die Einigung blockieren würde. Genschers sogenannte „Tutzinger Formel“ sei von Kohl und auch von Baker, entgegen seinem späteren Dementi etwaiger Zusagen, später aufgegriffen worden. Nachdem laut dem Historiker Gerhard A. Ritter, wie Marie Katharina Wagner in einem jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Artikel ausführt, zunächst Baker am 9. Januar 1990 bei einem Treffen mit Gorbatschow im Kreml gesagt haben soll, dass die „militärische Präsenz der NATO in östlicher Richtung um keinen einzigen Zoll ausgedehnt“ 4 werde, hätten Genscher und Kohl am folgenden Tag in Moskau im Gespräch mit Schewardnadse die „Tutzinger Formel“ wiederholt. In gleicher Weise soll sich Genscher nochmals am 10. Februar 1990 geäußert haben, als er im Gespräch mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse gesagt haben soll, der Bundesregierung sei „bewusst, dass die Zugehörigkeit eines vereinten Deutschlands zur NATO komplizierte Fragen aufwerfe. Für uns stehe aber fest: Die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen.“ 5 Diese Aussagen deutscher und amerikanischer Politiker mögen bei sowjetischen Politikern damals zunächst den Eindruck vermittelt haben, dass die NATO dauerhaft auf eine Verschiebung ihrer Grenzen – näher an die Sowjetunion heran – verzichten wolle. Zwar ging es zum damaligen 3 Weidenfeld, Werner; Wagner, Peter M.; Bruck, Elke (1998): Außenpolitik für die deutsche Einheit – Die Entscheidungsjahre 1989/90, S. 256-289 und S. 308 ff. ISBN 3-421-05093-7. Signatur M 564546. 5 Vgl. Wagner, Marie Katharina (2014): Was versprach Genscher? FAZ-Sonntagszeitung vom 20. April 2014, S. 5. Abrufbar im Intranet des Deutschen Bundestages unter: http://prarchiv.bundestag.btg/PressDok/docview.html;sessionid =27002D053C65EB1718BFA1CA?mode=pressarchive&doclist=DBT:PressArchiveResultServlet:result_doclist &n=0&pdf=0 (letzter Zugriff: 16. Februar 2016). 5 Vgl. ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 6 Zeitpunkt, als sowohl die Sowjetunion mit ihren Republiken Lettland, Litauen und Estland als auch der Warschauer Pakt mit Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien als seinen Mitgliedern noch bestanden, ausschließlich um den militärischen Status des Gebietes der ehemaligen DDR. Aber die folgende Äußerung Genschers, die dieser später in seinen Memoiren als „ein Abtasten“ vor den eigentlichen Verhandlungen zur deutschen Einigung (Zwei-plus- Vier-Verhandlungen) bezeichnete, ging explizit darüber hinaus: „Was im Übrigen die Nichtausdehnung der NATO anbetreffe, so gelte dieses ganz generell.“ 6 Unmittelbar danach vertrat der Westen allerdings, auf Intervention des amerikanischen Präsidenten George Bush, gegenüber der Sowjetunion eine andere Position. Bereits Ende Februar 1990 nahmen sowohl Bush als auch Kohl von der „Tutzinger Formel“ Abstand, und insbesondere Bush betonte gegenüber Gorbatschow stattdessen die Notwendigkeit einer „Schutzgarantie der NATO für ganz Deutschland“. Zur Förderung des Friedensprozesses und einer europäischen Sicherheitsarchitektur sprach sich auch der damalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner in einer Rede am 17. Mai 1990 in Brüssel vor dem Bremer Tabak-Collegium für eine Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO aus. Gleichzeitig merkte er aber an, dass zur „Stabilisierung Europas“ die Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten zu achten seien. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass „[d]ie Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Truppen außerhalb des Staatsgebiets der Bundesrepublik zu stationieren, [..] der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien [gibt].“ 7 Explizit allerdings hat er weder in dieser Rede noch zu einem anderen Zeitpunkt erklärt, dass es keine NATO-Osterweiterung geben werde. Auch der am 12. September 1990 unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag selbst enthält keine Regelung , die der NATO eine über die DDR hinausgehende Ausdehnung nach Osten untersagt. Die Artikel 5 und 6 enthalten ausschließlich Aussagen zur Möglichkeit der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in einem Bündnis sowie zur Stationierung deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In Artikel 6 heißt es zur Bündnisfrage: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“ 8 6 Vgl. Klußmann et al. (2009), a.a.O. 7 „The very fact that we are ready not to deploy NATO troops beyond the territory of the Federal Republic gives the Soviet Union firm security guarantees.“ Vgl. Wörner, Manfred (1990): The Atlantic Alliance and European Security in the 1990s. Rede des damaligen NATO-Generalsekretärs Manfred Wörner in Brüssel am 17. Mai 1990 vor dem Bremer Tabak-Collegium. Abrufbar unter: http://www.nato.int/docu/speech/1990/s900517a_e.htm (letzter Zugriff: 16. Februar 2016). 8 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland („Zwei-plus-Vier-Vertrag“) vom 12. September 1990, Artikel 6. Quelle: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts. Abrufbar unter: http://www.auswaertiges -amt.de/cae/servlet/contentblob/373162/publicationFile/3828/ZweiPlusVier%20(Text).pdf (letzter Zugriff : 18. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 7 Damit hatte Russland explizit einer NATO-Osterweiterung um das Gebiet der ehemaligen DDR zugestimmt, auf dem nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte (nur) Deutschland eigene NATO-assignierte Streitkräfte, aber keine Kernwaffen stationieren durfte, wie Absatz 3 des Artikel 5 ausführt: „Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger.“ 9 Eine Thematisierung der NATO-Osterweiterung über die DDR hinaus, deren Nationale Volksarmee mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland aus dem Warschauer Pakt herausgelöst worden war, erfolgte in diesem Vertrag aufgrund der noch bestehenden Bündnisstrukturen in Osteuropa nicht. Da mit Ausnahme der DDR das östliche Bündnis noch weiter fortbestand, war der Beitritt weiterer Staaten der östlichen Hemisphäre zur NATO zu diesem Zeitpunkt jenseits jeglicher Imagination und daher Regelungen zur Rechtmäßigkeit einer dauerhaften Truppenstationierung auf dem Gebiet solcher Länder nicht Bestandteil des Zwei-plus- Vier-Vertrages. Erst mit der Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 und der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 und den sich daraufhin anschließenden Diskussionen über eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur gelangte das Thema einer über Gesamtdeutschland hinausgehenden Expansion der NATO nach Osten wieder verstärkt auf die Tagesordnung. Zwar war das Bündnis auf der einen Seite an einem Ausbau der Kooperation mit Russland interessiert. Auf der anderen Seite verstand man allerdings auch die Interessen der osteuropäischen Staaten, die mit dem Wunsch nach langfristiger territorialer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität auf eine Integration in westliche Strukturen (NATO, EU) drängten 10 Die Notwendigkeit einer Einbindung der ost- und mitteleuropäischen Staaten zur Stabilisierung Europas sah vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkrieges und der labilen Situation in Russland insbesondere auch die amerikanische Regierung unter Bill Clinton. Dennoch zeigte sie sich „mit Rücksicht auf die Isolations- und Einkreisungsängste Moskaus“ mit konkreten Erweiterungsplänen anfänglich zurückhaltend.11 Daher entschied sie sich zunächst dafür, die Verbindung mit den osteuropäischen Staaten durch das „Partnership for Peace“-Programm (PfP-Programm ) zu stärken, zu dem während des NATO-Gipfels in Brüssel vom 10 – 11. Januar 1994 der Startschuss gegeben wurde und dem u.a. zahlreiche Staaten aus dem Vertragsgebiet des ehemaligen Warschauer Paktes und auch Russland selbst (am 22. Juni 1994) beitraten. In seiner Rede zur Auflegung des PfP-Programms versicherte Clinton am 10. Januar 1994, dass es nicht der Wille der USA sei „[…] jetzt eine neue Trennlinie durch Europa [zu] ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich“, 9 Ebenda, Artikel 5, Absatz 3. 10 Roy, Ludovic (2008): Die Außenpolitik von Präsident William Jefferson Clinton. S. 389. LIT Verlag Münster. 11 Ebenda, S. 390. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 8 und damit den europäischen Friedensprozess zu gefährden.12 So wurde den osteuropäischen Beitrittskandidaten ohne Festlegung eines genauen Zeitplans lediglich eine zukünftige Aufnahme in die NATO in Aussicht gestellt. Eine engere Kooperation mit Russland wurde dennoch weiterhin nicht ausgeschlossen. Im Laufe des Jahres 1994 wuchs dann allerdings in den USA der politische Druck auf Präsident Clinton, die NATO-Osterweiterung zügig voranzutreiben. So drängte der republikanisch dominierte Kongress mit dem „NATO Expansion Act“ am 14. April 1994 und dem „NATO Revitalization Act“ am 11. Mai 1994 auf einen Zeitplan zur raschen Aufnahme neuer NATO-Mitgliedstaaten . Clintons Ankündigung am 1. Juli 1994, im Jahre 1995 Standards und einen Zeitplan für die Osterweiterung auszuarbeiten, zeigte ebenso wie seine Aussage, dass die NATO seiner Meinung nach aus sicherheitspolitischen Gründen „erweitert werden wird, und erweitert werden sollte“, dass er dem innenpolitischen Druck nachgegeben hatte. Gleichzeitig versicherte er allerdings in einem Gespräch mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin am 27. September 1994, die amerikanische Politik lasse sich von den „three no’s“ leiten: „no surprises, no rush and no exclusion.“ 13 Diese Aussage gegen eine schnelle Aufnahme neuer NATO-Mitglieder und für die Möglichkeit eines Einschlusses Russlands in eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur ist möglicherweise von russischer Seite missverstanden worden. 2.2. Völkerrechtliche Bewertung Mündliche Äußerungen, mit denen einzelne Politiker vor dem Abschluss des Zwei-plus-Vier- Vertrages eine Bereitschaft der NATO zum Verzicht auf eine Ostausdehnung des Bündnisses angedeutet haben sollen, zählen nach Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages zu den vorvertraglichen Verhandlungen. Die Frage ihrer völkerrechtlichen Bindungswirkung ist im Lichte folgender Leitlinien zu sehen: (1) Grundsätzlich können mündliche vertragliche Absprachen im Völkerrecht Bindungswirkung entfalten.14 12 „Why should we, now, draw a new line through Europe just a little further east? Why should we, now, do something which could foreclose the best possible future for Europe?“ Vgl. Luppes, Amanda M. (2012): Bill Clinton`s 1994 European Tour: Expanding the Democratic Order in the Post- Cold War World. Baylor University, S. 140. Abrufbar unter: https://baylor-ir.tdl.org/baylor-ir/bitstream/handle/ 2104/8443/Amanda_Luppes_masters.pdf?sequence=1 (letzter Zugriff: 17. Februar 2016). 13 Ludovic, a.a.O., S. 396. 14 Vgl. Aust, Anthony (2006): Vienna Convention on the Law of Treaties (1969). In: Wolfrum, R (Hrsg.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition). Abrufbar im Intranet des Deutschen Bundestages unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1498#law-9780199231690- e1498-div2-6 (letzter Zugriff 18. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 9 (2) Ausgangspunkt der Vertragsauslegung bei schriftlichen Verträgen ist gemäß dem Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) 15 dessen Wortlaut. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist somit im Lichte dessen auszulegen, dass er nach seinem Wortlaut keine ausdrückliche Vertragsbestimmung enthält, wonach die Zustimmung der damaligen Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung unter dem Vorbehalt bzw. der (auflösenden) Bedingung stehe, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werden dürfe. (3) Mündliche oder schriftliche Übereinkünfte, die keinen Niederschlag im Vertragstext gefunden haben, sich aber gleichwohl auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag beziehen, zählen nach Art. 31 (2) lit. a. WVK nur dann zu dem auslegungsrelevanten Zusammenhang des Vertrages, wenn sie zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurden . Die oben erwähnten Absprachen wurden bilateral zwischen einzelnen Vertragsparteien getroffen. Hinweise auf eine allseitige mündliche Vereinbarung des Inhalts, dass die Zustimmung der damaligen Sowjetunion zur deutschen Wiedervereinigung unter dem Vorbehalt bzw. der (auflösenden) Bedingung stehe, dass die NATO nicht nach Osten erweitert werden dürfe, gibt es nicht. Angesichts des statusvertraglichen Charakters des Zwei-plus- Vier Vertrages16, der impliziert, dass Regelungen des Vertrages gegenüber allen Staaten den gleichen Inhalt haben, wird besonders deutlich, dass eine bilaterale Zusatzabsprache keine allseitige rechtliche Wirkung entfalten kann. (4) Nach Auffassung von Völkerrechtswissenschaft und -rechtsprechung 17 sind vorvertragliche Verhandlungen nur äußerst restriktiv zur Auslegung von Verträgen heranzuziehen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine im Rahmen einer Verhandlung geäußerte Position einer späteren Vertragspartei keineswegs dem von ihr letztlich gewünschten Vertragsinhalt entsprechen muss, da verhandlungsstrategische Erwägungen in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen können. Die sogenannten „travaux préparatoires“, in denen Äußerungen der späteren Vertragsparteien im Hinblick auf den Vertragsinhalt erfasst sind, lassen mithin nicht auf einen rechtlichen Bindungswillen hinsichtlich spezifischer Vertragsinhalte schließen. Die weitere Verhandlung des Zwei-plus-Vier-Vertrages führte zu einem von allen Vertragsparteien angenommenen Vertragstext, dessen einzelne Bestimmungen, u.a. auch militärische Rechte und Pflichten der Vertragsparteien, benennen. Wenn die damalige Sowjetunion darüber hinaus den während der Verhandlungen mündlich bilateral geäußerten Vorbehalt zum Vertragsinhalt hätte machen wollen, so hätte sie dies bei Vertragsabschluss deutlich machen können und müssen. 15 Siehe Art. 31 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK). In deutscher Übersetzung auf www.admin .ch/opc/de/classified-compilation/19690099/201206150000/0.111.pdf (letzter Zugriff 16. Februar 2016). 16 Zu Begriff und Rechtsfolgen von Statusverträgen siehe im einzelnen Klein, Eckart et al. (2012): Statusverträge im Völkerrecht. Berlin 2012 (Nachdruck). 17 Rz 92: „The VCLT gives very specific conditions under which travaux préparatoires may be used: either to confirm the meaning of the treaty or as an aid to interpretation where, following the application of Art. 31 VCLT, the meaning is obscure or leads to a result which is manifestly absurd or unreasonable. The ICJ has always made very restrictive use of travaux préparatoires.“ Vgl. Fitzmaurice, Malgosia (2010): Treaties. In: Wolfrum R. (Hrsg.): Max Planck Encyclopedia of Public International Law (online edition). Abrufbar im Intranet des Deutschen Bundestages unter: http://opil.ouplaw.com/ view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1481#law-9780199231690-e1481-div2-25 (letzter Zugriff : 18. Februar 2016). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 031/16 Seite 10 Die Aussagen von Präsident Clinton Anfang 1994 in Brüssel hätten selbst dann, wenn sie sich explizit gegen eine NATO-Osterweiterung gerichtet hätten, keine völkerrechtliche Bindungskraft entfalten können, da sie nicht dem Bereich mündlicher Übereinkünfte zuzuordnen sind. Die Äußerungen Clintons gegenüber Jelzin im selben Jahr hätten als mündliche Übereinkunft nach strenger völkerrechtlicher Auslegung zwar eine Bindungskraft, aber als bilaterale Absprache keine allseitige rechtliche Wirkung entfalten können. Eine konkrete Aussage gegen eine NATO- Osterweiterung enthielten diese ohnehin nicht. 3. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in einem frühen Stadium der Gespräche zur deutschen Einheit im Rahmen der Verhandlungsdiplomatie zwar Äußerungen getätigt worden waren, die auf eine mögliche Bereitschaft der NATO zum Verzicht auf eine Ostausdehnung hätten schließen können. Diese Äußerungen entfalteten aus völkerrechtlicher Sicht nach Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 allerdings keine Bindungswirkung. Der sowjetischen Führung hätte damals – darüber besteht in der Politikwissenschaft weitgehende Übereinstimmung – bereits klar sein müssen, dass mit den betreffenden Äußerungen eine völkerrechtlich verbindliche Zusage zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung nicht vorgelegen hat, zumal diese sowohl im Fortgang der Zwei-plus-Vier-Gespräche nicht aufrechterhalten als auch nach der deutschen Wiedervereinigung von entscheidenden westlichen Politikern explizit nicht wiederholt wurde. 18 Vielmehr unterstrichen verschiedene westliche Spitzenpolitiker mit ihren Aussagen im Wesentlichen nur, dass russische Sicherheitsinteressen bei der Bündnisexpansion berücksichtigt werden müssten. Diese sah die NATO durch die verschiedenen Phasen ihrer Osterweiterung nicht eingeschränkt, u.a. deshalb, weil sie Russland stets zur Zusammenarbeit einlud und hierfür verschiedene Kooperationsformate (z.B. das PfP-Programm oder der Gemeinsame Ständige NATO-Russland-Rat 19) entwickelte und weiterentwickelte. Ende der Bearbeitung 18 Vgl. Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 26. Mai 2014 zum Thema „Zur dauerhaften Stationierung von NATO-Truppen in Ländern der EU-/ NATO-Osterweiterung“ (WD 2 - 3000 - 083/14), S. 5f. 19 Vgl. Abschnitt II der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation (NATO-Russland-Grundakte) vom 27. Mai 1997. Abrufbar unter: http://www.nato.int/cps/de/natohq/official_texts_25468.htm (letzter Zugriff: 17. Februar 2016).