© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 – 029/15 Die Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidungen zum Luftsicherheitsgesetz Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 2 Die Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidungen zum Luftsicherheitsgesetz Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 2 - 3000 – 029/15 Abschluss der Arbeit: 9. Februar 2015 Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Telefon: Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern 5 2.1. Überblick 5 2.2. Wortlaut und Systematik der Normen im Einzelnen 6 2.2.1. Wortlaut 6 2.2.2. Systematik und Voraussetzungen 7 3. Grundsätze der Rechtsprechung des BVerfG zum Bundeswehreinsatz in Heiligendamm und zum Luftsicherheitsgesetz 12 3.1. Urteil des 1. Senats vom 15. Februar 2006: Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz (Individualverfassungsbeschwerde) – Anlage 3 12 3.1.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 13 3.1.2. Begriff des „besonders schweren Unglücksfalles“ (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) 13 3.1.3. Einsatz „spezifisch militärischer Waffen“ 13 3.1.4. Eilentscheidungskompetenz des Bundesministeriums für Verteidigung 13 3.1.5. Grundrechtswidrigkeit der Abschussermächtigung 14 3.2. Beschluss des 2. Senats vom 04. Mai 2010: Bundeswehreinsatz in Heiligendamm (Organstreitverfahren) – Anlage 1 15 3.3. Plenarentscheidung vom 03. Juli 2012: Einsatz spezifisch militärischer Mittel und Eilkompetenz im Rahmen des Art. 35 Abs.2 und 3 GG – Anlage 4 15 3.3.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes 16 3.3.2. Einsatz „spezifisch militärischer Mittel“ 16 3.3.3. Begriff des „besonders schweren Unglücksfalles“ (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) 17 3.3.4. Eilentscheidungskompetenz eines einzelnen Ressorts 17 3.3.5. Auslegung des Verteidigungsbegriffs in Art. 87 a Abs. 2 GG: Abgrenzung der Begriffe Einsatz und Verwendung 18 3.4. Beschluss des 2. Senats vom 20. März 2013: Einsatz spezifisch militärischer Mittel und Eilkompetenz im Rahmen des Art. 35 Abs.2 und 3 GG (abstrakte Normenkontrolle) – Anlage 5 18 4. Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG und Ruf nach Verfassungsänderungen 19 Anlagen 21 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 4 1. Einführung Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte in den letzten zehn Jahren mehrfach Gelegenheit, sich mit den derzeitigen verfassungsrechtlichen Grenzen des Einsatzes der Bundeswehr im Inland zu befassen. Neben drei viel diskutierten Entscheidungen zum Luftsicherheitsgesetz (2006, 2012 und 2013) setzte es sich auch im Rahmen seines Beschlusses zum Bundeswehreinsatz beim G8-Gipfel in Heiligendamm 20071 damit auseinander. So erklärte der 1. Senat im Jahr 2006 § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) wegen Verstoßes gegen Artikel (Art.) 2 Absatz (Abs.) 2 Satz (S.) 1 (Recht auf Leben) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sowie Art. 87 a Abs. 2, Art. 35 Abs. 2 und 3 GG für verfassungswidrig.2 Im Jahr 2012 erweiterte das BVerfG in einem Plenarbeschluss die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr und billigte ihr auch im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG in engen Ausnahmefällen zu, spezifisch militärische Mittel zu verwenden . Damit revidierte es teilweise die im Jahr 2006 aufgestellten Grundsätze, hielt aber daran fest, dass auch in Eilfällen nur die Bundesregierung einen Einsatz der Streitkräfte im Innern beschließen könne.3 Diese Grundsätze bestätigte der 2. Senat in einem Beschluss im Jahr 2013.4 Folgende Fragen standen im Mittelpunkt der Entscheidungen des BVerfG: - die Verwendung spezifisch militärischer Mittel im Rahmen des Art. 35 GG - die Bedeutung des Begriffes „besonders schwerer Unglücksfall“ im Rahmen des Art. 35 GG - die Möglichkeit einer Eilkompetenz eines einzelnen Ressorts bei Anordnungen nach Art. 35 GG - die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Luftsicherheitsgesetz - die Beteiligungsrechte des Bundestages im Rahmen des Inlandseinsatzes der Bundeswehr. Diese Kurzdokumentation bietet zunächst einen Überblick über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern in der Auslegung durch das BVerfG (dazu 2.). Sodann befasst sie sich mit einzelnen Gesichtspunkten in der Rechtsprechung des 1 BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2010 – 2 BvE 5/07 – zum Bundeswehreinsatz beim G8-Gipfel in Heiligendamm, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2010/05/es20100504_2bve000507.html und Pressemitteilung Nr. 35/2010 vom 01.06.2010 (Anlage 1) (letzter Zugriff: 04.02.2015). In diesem Beschluss stellte das BVerfG fest, dass die Bundesregierung die Zustimmung des Bundestages nicht einholen musste und somit keine Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 87a Abs. 2 GG verletzt hat. Offen blieb, ob der Bundeswehreinsatz in Heiligendamm an sich mit dem Grundgesetz vereinbar war. Siehe hierzu auch Schmidt-Radefeldt (Anlage 2), S. 224. 2 BVerfG, Urteil vom 15.02.2006 (1. Senat) – 1 BvR 357/05, https://www.bundesverfassungsgericht.de/Shared- Docs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html (letzter Zugriff: 02.02.2015), Rn. 84 ff., und Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15.02.2006 (Anlage 3). 3 BVerfG, Beschluss vom 03. Juli 2012 (Plenum) - 2 PBvU 1/11 -, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss), https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/up20120703_2pbvu000111 (letzter Zugriff: 02.02.2015), insbesondere Rn. 24–51, 52 ff., und Pressemitteilung Nr. 63/2012 vom 17.08.2012 (Anlage 4). 4 BVerfG, Beschluss vom 20. März 2013 - 2 BvF 1/05 -, Luftsicherheitsgesetz (2. Senat), https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2013/03/fs20130320_2bvf000105.html (letzter Zugriff: 02.02.2015), Rn. 49, 61 ff., und Pressemitteilung Nr. 27/2013 vom 18.04.2013 (Anlage 5). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 5 BVerfG, geordnet nach den vier Hauptentscheidungen (dazu 3.), und schließt mit einigen Bemerkungen zur Reaktion auf diese Entscheidungen (dazu 4.). In Anbetracht der geringen Zeit, die für die Bearbeitung zur Verfügung stand, beschränkt sich die Dokumentation darauf, wichtige Gesichtspunkte in der Rechtsprechung des BVerfG zu benennen und eine Auswahl von vertiefender Literatur zur Verfügung zu stellen. 2. Rechtsgrundlagen und verfassungsrechtliche Voraussetzungen des Einsatzes der Bundeswehr im Innern5 Nach einem Überblick über die grundgesetzlichen Rechtsgrundlagen für den Einsatz der Bundeswehr im Innern (2.1.) wird in einem zweiten Schritt auf einzelne Voraussetzungen und auf die Systematik der Verfassungsnormen eingegangen (2.2.). 2.1. Überblick Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Streitkräfte im Inland stellen vor allem folgende Grundgesetzartikel dar: - Art. 35 Grundgesetz (GG) o Abs. 1: Grundsatz der Rechts- und Amtshilfe o Abs. 2 S. 2: regionaler Katastrophennotstand o Abs. 3 S. 1: überregionaler Katastrophennotstand - Art. 87 a GG o Abs. 3: äußerer Notstand im Verteidigungs- (Art. 115 a GG) oder Spannungsfall (Art. 80 a GG) o Abs. 4: innerer Notstand Folgende Artikel bezeichnen – neben den Grundrechten – Grenzen des Streitkräfteeinsatzes: - Art. 87 a Abs. 2 GG: Beschränkung grundsätzlich auf verteidigungsfremde Hilfeleistungen, sofern kein Fall der Verteidigung (Art. 87 a Abs. 1 GG) vorliegt (Sperrklausel) - Art. 91 Abs. 2 GG: Einsatz der Streitkräfte nur als äußerstes Mittel (ultima ratio) 5 Dieser Abschnitt beruht auf einer aktuellen Dokumentation des Verfassers/der Verfasserin mit dem Titel „Zum Einsatz der Bundeswehr im Innern: Voraussetzungen, Rechtsgrundlagen, mögliche Verfassungsänderungen“ (WD 3 – 3000 – 023/15), Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2015). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 6 Einen ersten Überblick über die unveränderten Verfassungsnormen ermöglicht der Aktuelle Begriff der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages von Gabriella M. Sierck und Isabell Nitsche (2007; Anlage 6). Es ist jedoch zu beachten, dass sich einige Rahmenbedingungen durch Entscheidungen des BVerfG verändert haben. Das BVerfG hat insbesondere in seiner Plenarentscheidung aus dem Jahr 2012 die Befugnisse der Bundeswehr bei Inlandseinsätzen erweitert (siehe dazu unten, 2.2. und 3.).6 Eine gut verständliche aktuelle Übersicht über die verfassungsrechtlichen Anforderungen bietet Schoch (Anlage 7).7 Schoch unterteilt die verschiedenen Möglichkeiten des Inlandseinsatzes der Streitkräfte in übersichtliche Fallgruppen, die sich an den Grundgesetzartikeln orientieren. Die einzelnen Fallgruppen versieht er mit hilfreichen Beispielen. Zudem beschreibt er übersichtlich Systematik und Voraussetzungen (S. 260–266). 2.2. Wortlaut und Systematik der Normen im Einzelnen 2.2.1. Wortlaut Zentrale Normen sind Art. 35 und 87 a GG8: Artikel 35 GG (1) Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe. (2) Zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann ein Land in Fällen von besonderer Bedeutung Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes zur Unterstützung seiner Polizei anfordern, wenn die Polizei ohne diese Unterstützung eine Aufgabe nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erfüllen könnte. Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern. 6 Siehe hierzu auch weitere Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, insbesondere Der Einsatz der Bundeswehr im Innern: verfassungsrechtliche Grundlagen und neuere Entwicklungen in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (WD 3 – 3000 – 033/14), Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2014); , Der Einsatz der Bundeswehr im Innern: verfassungsrechtliche Voraussetzungen und aktuelle Debatte (WD 3 – 3000 – 307/11), Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2011). 7 Viele andere – auch bundestagsnahe – Autorinnen und Autoren bieten gute Übersichten, siehe etwa Hölscheidt, Sven/Limpert, Martin, Einsatz der Bundeswehr innen und außen, in: JA 2009, S. 86 ff., sowie Schmidt-Radefeldt (Anlage 2). Allerdings sind Aufsätze und Kommentare aus der Zeit vor 2012/2013 wegen der weitreichenden Änderungen durch die Plenarentscheidung des BVerfG (siehe dazu unten, 2.2.2. und 3.) mit Vorsicht zu genießen . 8 Hervorhebungen durch den Verfasser/die Verfasserin. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 7 (3) Gefährdet die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen. Maßnahmen der Bundesregierung nach Satz 1 sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben. Artikel 87a GG (1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben. (2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt. (3) Die Streitkräfte haben im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen . (4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen , Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen. 2.2.2. Systematik und Voraussetzungen Grundsätzlich sind die Streitkräfte (nur) für die (Landes- und Bündnis-)Verteidigung9 zuständig, Art. 87a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GG (Sperrklausel). Für andere Aufgaben darf die Bundeswehr nur eingesetzt werden, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich erlaubt (Art. 87a Abs. 2 GG). Diese 9 Verteidigung mit militärischen Mitteln ist – bei entsprechendem Organisationsgrad der Angreifenden – nach der Auffassung vieler auch gegen terroristische Anschläge militärisch organisierter Gruppen denkbar. Siehe dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen Schoch (Anlage 7), S. 262 und Fn. 92. Es handelt sich um einen sogenannten weiten Verteidigungsbegriff, der sonstige Gewaltanwendung gegen Terrorismus oder Piraterie oder die Rettung deutscher Staatsangehöriger im Ausland nach herrschender Meinung allerdings nicht mehr erfassen soll. Siehe zum Stand der Diskussion Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, München: C.H.Beck, 13. Auflage 2014, Artikel 87 a, Rn. 9a. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 8 ausdrücklichen Erlaubnisse sind in Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie in Art. 87a Abs. 3 und 4 GG zu finden (zu den Voraussetzungen siehe unten). Unter Einsatz versteht das BVerfG die „Verwendung als Mittel der vollziehenden Gewalt in einem Eingriffszusammenhang“. Ein Eingriffszusammenhang liege bereits vor, wenn „personelle oder sachliche Mittel der Streitkräfte in ihrem Droh- oder Einschüchterungspotential genutzt werden“.10 Das BVerfG hat ausdrücklich festgestellt, dass diese Beschränkungen nicht für jeden Fall gelten, in dem nur Personal oder Material der Bundeswehr genutzt werden sollen. Solange nicht von einem Einsatz gesprochen werden kann, ist eine Verwendung der Bundeswehr im Wege der Amtshilfe möglich (Art. 35 Abs. 1 GG), ohne dass das GG eine ausdrückliche Regelung vorschreibt .11 Die Amtshilfe stellt also juristisch keinen „Einsatz der Bundeswehr im Innern“ dar. Die Grenze muss durch „strikte Texttreue bei der Auslegung der grundgesetzlichen Bestimmungen zum Einsatz der Streitkräfte“ gewahrt bleiben.12 Die derzeitige Situation lässt sich also wie folgt zusammenfassen:13 - Das Grundgesetz erlaubt den Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung, ansonsten (im Innern ) nur in vom Grundgesetz vorgesehenen Ausnahmen (derzeit für das Inland Art. 87 a Abs. 3 und 4, 35 Abs. 1 und 2 GG). - Das Grundgesetz erlaubt die Verwendung der Bundeswehr im Innern im Rahmen der Amtshilfe. - Die Grenze liegt da, wo die Bundeswehr an Kriegs- oder Eingriffshandlungen (hoheitlich) tätig wird und ihre militärische Organisationsstruktur bzw. ihre militärischen Kampfmittel genutzt werden (dann: Einsatz). 10 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 50. 11 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 50 und unten 3.3.5. 12 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, bekräftigt durch BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 25. 13 Pieroth, Bodo, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Kommentar, München: C.H.Beck, 13. Auflage 2014, Artikel 87 a, Rn. 6–8. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 9 Fallgruppe (Artikel) Voraussetzungen 14 Anordnungsbefugnis Parlamentsbeteiligung 15 regionaler Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 2 S. 2 GG) Lage: Naturkatastrophe16 oder besonders schwerer Unglücksfall 17 - bei besonders schweren Unglücksfällen nur bei „Ereignissen von katastrophischen Dimensionen“18 - beschränkt auf das Gebiet eines Bundeslandes - Landespolizei kann die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten wiederherstellen Aufgabe der Streitkräfte: Unterstützung der Landespolizei Mittel: - soweit erforderlich, unter engen Voraussetzungen auch Verwendung spezifisch militärischer Waffen nicht grundsätzlich ausgeschlossen19 Anforderung durch das betroffene Land (Ermessensentschei - dung); Zuständigkeit je nach Landesverfassung Beteiligung des Landesparla - ments je nach Landesverfas - sung 14 Grundlage der Übersicht ist der Aufsatz von Schoch (Anlage 7). 15 Ausführlich zu Umfang und Grenzen der Parlamentsbeteiligung bei Inlandseinsätzen im Rahmen der Wehrverfassung siehe Ladiges (Anlage 12); Sachs (Anlage 13). 16 Naturkatastrophe: unmittelbar drohender Gefahrenzustand oder Schädigung von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden. Gubelt, Manfred, in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip, Grundgesetz: Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Artikel 35, Rn. 25, unter Rückgriff auf eine Richtlinie des Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) vom 08.11.1988. 17 Besonders schwerer Unglücksfall: Schadensereignis von großem Ausmaß und von Bedeutung für die Öffentlichkeit , das durch Unfälle, technisches oder menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten absichtlich herbeigeführt wurde. Gubelt, Manfred, in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip, Grundgesetz: Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Artikel 35, Rn. 25, unter Rückgriff auf eine Richtlinie des BMVg vom 08.11.1988. Siehe auch BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 42 ff. 18 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 24, 42 ff. 19 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 24–39. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 10 Ziel: Unterstützung der Polizei bei der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung überregionaler Katastrophennotstand (Art. 35 Abs. 3 S. 1, 2 GG) allgemeine Voraussetzungen: - Naturkatastrophe oder besonders schwerer Unglücksfall - bei besonders schweren Unglücksfällen nur bei „Ereignissen von katastrophischen Dimensionen“20 - Gefahr für mehr als ein Bundesland - Landespolizei kann die öffentliche Sicherheit oder Ordnung nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten wiederherstellen - Erforderlichkeit des Einsatzes der Bundeswehr zur wirksamen Bekämpfung (Grundsatz der Subsidiarität) Aufgabe der Streitkräfte: Unterstützung der Landespolizei Mittel: - soweit erforderlich, unter engen Voraussetzungen auch Verwendung spezifisch militärischer Waffen nicht grundsätzlich ausgeschlossen21 Ziel: Unterstützung der Polizei bei der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung Weisung der Bundesregierung als Kollegialorgan an die Landesregierung (auch in Eilfällen; Ermessensentscheidung )22 Beendigung des Einsatzes auf Verlangen des Bundesrates (sonst Aufhebung nach Ende der Gefahr ) äußerer Notstand (Art. 87a III GG) Lage: - Verteidigungs- (Art. 115 a GG) oder Spannungsfall (Art. 80 a GG) ( Gefahr von außen) Aufgabe der Streitkräfte: Antrag der Bundesregierung auf Feststellung des Verteidigungs- Feststellung des Verteidigungsfalls : Bundestag und Bundesrat (Art. 115 a Abs. 1 GG) 20 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 24, 42 ff. 21 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 24–39. 22 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 52 ff. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 11 - soweit erforderlich, Schutz ziviler Objekte , die für die Verteidigung relevant sind, vor Angriffen ziviler Störer (S. 1) - Verkehrsregelung, soweit zur Verteidigung erforderlich - Schutz (auch anderer) ziviler Objekte vor Angriffen ziviler Störer (S. 2) Mittel: militärische und sonstige Mittel Ziel: Unterstützung der Polizei falls an Bundestag und Bundesrat --- Feststellung des Spannungsfalls : Bundestag (Art. 80 a Abs. 1 GG) innerer Notstand (Art. 87a IV, 91 GG) Lage: - drohende Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes - Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft zur Gefahrenabwehr - Überforderung der Landes- und Bundespolizei Aufgabe der Streitkräfte: - Schutz ziviler Objekte23 - Bekämpfung bürgerkriegsähnlicher Situationen (organisierte und militärisch bewaffnete Aufständige) Mittel: militärische und sonstige Mittel Ziel des Einsatzes: Unterstützung der Bundesund Landespolizei Bundesregierung als Kollegialorgan (Ermessensentscheidung ) Beendigung des Einsatzes auf Verlangen von BT oder BR Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG) Besonderheit: - Verwendung der Bundeswehr, kein Einsatz Lage: - punktuelles, ausnahmsweises Zusammenwirken (BVerfG-K, NVwZ 2011, 1254/1255) Behörde, die die Unterstützung benötigt (§§ 4 ff. Verwaltungsver - fahrensgesetz) grundsätzlich nicht vorgesehen 23 Zivile Objekte: Objekte, die weder Bundeswehr noch fremde Streitkräfte zu Beginn oder im Verlauf des Spannungs - oder Verteidigungsfalles weder nach deutschem noch nach Völkerrecht innehaben, siehe Hernekamp, Karl-Andreas, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz: Kommentar, Band 2, München: C.H.Beck, 6. Auflage 2012, Artikel 87a, Rn. 17. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 12 - Hilfeleistung ist erforderlich für die Erfüllung der Aufgabe - keine Aufgabe, für die die hilfeleistende Behörde gesetzlich zuständig ist - keine Abhängigkeit von der Behörde, die Unterstützung benötigt - umstritten: Ersuchen der Behörde Aufgabe der Streitkräfte: Hilfe- und Unterstützungsleistungen (z.B. Bereitstellen von Personal, Unterkunft, Material…) Mittel: keine spezifisch militärischen Waffen Ziel des Tätigwerdens: Unterstützung einer anderen Behörde bei der Erfüllung ihrer Aufgaben 3. Grundsätze der Rechtsprechung des BVerfG zum Bundeswehreinsatz in Heiligendamm und zum Luftsicherheitsgesetz Aus den in der Einleitung benannten maßgeblichen vier Entscheidungen des BVerfG lassen sich Grundsätze ableiten, die im Einzelnen kurz dargelegt werden.24 Zur Vertiefung bieten sich die vorgeschlagenen Literaturhinweise an. 3.1. Urteil des 1. Senats vom 15. Februar 2006: Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz (Individualverfassungsbeschwerde) – Anlage 3 In seinem Urteil von 2006 befasste sich der 1. Senat des BVerfG mit § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der eine Abschussermächtigung für als Tatwaffen eingesetzte Luftfahrzeuge enthielt . Diese Abschussermächtigung erklärte der Senat für formell und materiell verfassungswidrig . Formell verstieß sie gegen Art. 87 a Abs. 2 und Art. 35 Abs. 2 und 3 GG, da es dem Bund an der notwendigen Gesetzgebungskompetenz fehlte. Materiell hielt er sie für unvereinbar für den Fall mit dem Recht auf Leben i. V. m. der Menschenwürdegarantie (Art. 2 Abs. 2 S. 1, 1 Abs. 1 GG), sofern sich unbeteiligte Insassen im Flugzeug befinden. Das Urteil befasste sich insbesondere mit den folgenden Fragen: 24 Siehe zu diesen vier Entscheidungen bereits , Der Einsatz der Bundeswehr im Innern: verfassungsrechtliche Grundlagen und neuere Entwicklungen in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (WD 3 – 3000 – 033/14), Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste (2014). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 13 3.1.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Das BVerfG leitete die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Regelung des Bundeswehreinsatzes bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen grundsätzlich direkt aus Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 1 GG ab (1. Leitsatz, Rn. 88 ff.). Die Abschussermächtigung mit Waffengewalt sei jedoch mit Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 1 GG nicht vereinbar, da das LuftSiG den Einsatz von spezifisch militärischen Waffen vorsehe, was in Fällen des Katastrophennotstands nicht erlaubt sei. Deshalb habe der Bund § 14 Abs. 3 LuftSiG nicht erlassen dürfen (Rn. 105 ff., siehe dazu 3.1.3.). 3.1.2. Begriff des „besonders schweren Unglücksfalles“ (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) Der Senat stellt fest, dass unter einem „besonders schweren Unglücksfall“ (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) beim (regionalen wie überregionalen) Katastrophennotstand Ereignisse zu verstehen sind, die unmittelbar bevorstehen, solange der „Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ „in Kürze“ erwartet werden kann (Rn. 101 f., 103, 111). Es genügt also eine Flugzeugentführung (schwerer Luftzwischenfall), ohne dass es bereits zum – angekündigten – Absturz gekommen sein muss (Rn. 101). Zudem erfasse der Begriff „Unglücksfall“ – schon wegen des Gesetzeszwecks des wirksamen Katastrophenschutzes – auch absichtlich von Menschen herbeigeführte Ereignisse (Rn. 100, 111). 3.1.3. Einsatz „spezifisch militärischer Waffen“ Der 1. Senat hält den Einsatz spezifisch militärischer Waffen im Rahmen des (regionalen und überregionalen) Katastrophennotstandes für unzulässig (2. Leitsatz, Rz. 105 ff., 115 ff.), da die Bundeswehr hier der Landespolizei bei deren Aufgaben „Hilfe“ bzw. „Unterstützung“ leiste. Die Auslegung dieses Begriffes (Rn. 107 ff., 117) führe zu dem Ergebnis, dass die Streitkräfte nur Mittel verwenden dürften, über die auch die Landespolizei verfüge, also etwa keine Bordwaffen von Kampffliegern (Rz. 106, 116). 3.1.4. Eilentscheidungskompetenz des Bundesministeriums für Verteidigung Zudem verstoße die im LuftSiG vorgesehene Eilentscheidungskompetenz des Bundesministeriums für Verteidigung über den Abschuss gegen Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG, da im Rahmen des überregionalen Katastrophennotstandes nur die Bundesregierung als Kollegialorgan entscheiden dürfe (Rn. 112 ff.). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 14 3.1.5. Grundrechtswidrigkeit der Abschussermächtigung Das BVerfG stellt zudem einen Verstoß gegen das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) i. V. m. der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) fest (3. Leitsatz, Rn. 110 ff., 118–154). Hierbei differenziert es zwischen dem Leben der Tatbeteiligten und dem Leben von Unbeteiligten an Bord des Flugzeugs. Hinsichtlich der ersten Gruppe liege kein Verstoß vor, da den Tatbeteiligten ihr Handeln zugerechnet werden könne; ihr Subjektcharakter werde also nicht in Frage gestellt (Rn. 141). Wegen der Vorfeldmaßnahmen (Warnschuss etc.) könnten sie den Abschuss zudem selbst verhindern (Rz. 142 f). § 14 Abs. 3 LuftSiG sei auch verhältnismäßig (Rn. 144–151). Zwar stelle der Abschuss einen schwerwiegenden Eingriff dar (Rz. 145, 150), dieser sei jedoch – gemessen an dem Ziel, Menschen zu retten (Rz. 145) –, erforderlich (Rz. 147 f.) und angemessen (Rz. 149). Insbesondere hält der Senat die Einschätzung des Gesetzgebers, dass die milderen Befugnisse der §§ 5–11 LuftSiG keinen sicheren Schutz vor Missbrauch von Luftfahrzeugen böten, für nicht widerlegbar (Rz. 148). Auch der Abschuss unbemannter Flugzeuge sei unproblematisch (Rn. 141). Die Gefährdung des Lebens von am Boden befindlichen Unbeteiligten sei eine Frage der Anwendung der Regelung und in diesem Rahmen zu berücksichtigen (Rn. 152 ff.). Hinsichtlich der zweiten Gruppe stellt der 1. Senat jedoch einen Grundrechtsverstoß fest (Rn. 122–139). Der Staat dürfe unbeteiligte Flugzeuginsassen nicht zu „bloßen Objekten seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer“ machen (Rn. 124, 134), zumal die Sachlage häufig unübersichtlich sei (Rn. 125 ff.). Letztlich liege eine mit der Menschenwürdegarantie unvereinbare vorsätzliche Tötung unschuldiger Menschen vor, die der Gesetzgeber nicht erlauben dürfe (Rn. 130). Insbesondere könne nicht davon ausgegangen werden, dass Unbeteiligte „Teil der Waffe“ geworden seien (Rn. 134) oder sich im Sinne der Gesellschaft aufopfern müssten (Rn. 135). Der Staat dürfe auch seine Schutzpflichten nur mit verfassungskonformen Mitteln erfüllen (Rn. 138 f.). Zur Vertiefung liegen der Dokumentation folgende Entscheidungsbesprechungen mit weiterführenden Überlegungen bei: - Baldus, Manfred, Gefahrenabwehr in Ausnahmelagen: das Luftsicherheitsgesetz auf dem Prüfstand, in: NvwZ 2006, 532 (kritisch; Anlage 8) - Schenke, Wolf-Rüdiger, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, in: NJW 2006, S. 736–739 (teilweise befürwortend, teilweise abwiegend; Anlage 9) - Gramm, Christof, Der wehrlose Verfassungsstaat?, in: DVBl. 2006, S. 653–661 (teilweise befürwortend, teilweise abwiegend; Anlage 10) - Wiefelspütz, Dieter, Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG, in: ZRP 2007, S. 17–20 (befürwortend ; Anlage 11). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 15 3.2. Beschluss des 2. Senats vom 04. Mai 2010: Bundeswehreinsatz in Heiligendamm (Organstreitverfahren ) – Anlage 1 In seinem Beschluss zum Bundeswehreinsatz anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm stellte das BVerfG fest, dass es kein generelles Recht des Bundestages auf Zustimmung zu Inlandseinsätzen der Bundeswehr gäbe (Rn. 49 ff., 54). Insbesondere ergebe sich auch nach ausführlicher Auslegung kein eigenes Recht aus Art. 87 a Abs. 2 GG, auf dessen Einhaltung der Bundestag pochen könnte (Rn. 60 ff.). Damit wies es die Anträge als offensichtlich unbegründet ab (Rn. 44). Zur Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit des Bundeswehreinsatzes nahm der Senat dagegen nicht Stellung. Die Tornado-Aufklärungsflüge im Rahmen des G8-Gipfels von Heiligendamm hatte die Bundesregierung wegen der Gefahr von Anschlägen auf Amtshilfe gestützt. Dies ist in der Literatur kritisiert worden; zumindest liege das Vorgehen der Bundeswehr im Grenzbereich zum Einsatz. Ein solcher Einsatz wäre nach dieser Auffassung verfassungswidrig gewesen, da keine der Ausnahmen greife.25 Zur Vertiefung sind zwei kurze Entscheidungsbesprechungen beigefügt: - Ladiges, Manuel, Grenzen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts, in: NVwZ 2010, S. 1075–1078 (befürwortend; Anlage 12) - Sachs, Michael, Staatsorganisationsrecht: Zustimmungsrechte des Bundestages zu Bundeswehreinsätzen , in: JuS 2010, S. 1036–1038 (Anlage 13) 3.3. Plenarentscheidung vom 03. Juli 2012: Einsatz spezifisch militärischer Mittel und Eilkompetenz im Rahmen des Art. 35 Abs.2 und 3 GG – Anlage 4 Im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens der Bayerischen und der Hessischen Staatsregierung rief der 2. Senat das Plenum des BVerfG an, weil er von der Rechtsprechung des 1. Senats aus dem Jahr 2006 (siehe dazu 3.1.) abweichen wollte. In seinem Plenarbeschluss wich das BVerfG in zwei maßgeblichen Punkten von seiner bisherigen Rechtsprechung ab: - Es erklärte den Einsatz spezifisch militärischer Waffen durch die Bundeswehr im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG unter engen Voraussetzungen ausdrücklich für zulässig , beschränkte aber das Tatbestandsmerkmal des besonders schweren Unglücksfalls auf „Ereignisse von katastrophischen Dimension“. Damit soll sichergestellt werden, dass die strikten Begrenzungen des Art. 87a Abs. 4 GG nicht umgangen werden. - Es leitete die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das LuftSiG aus einer Annexkompetenz zum Luftverkehr nach Art. 73 Nr. 6 a.F. (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG n.F.) ab. In zwei Punkten bestätigte es seine Rechtsprechung: - Im Falle des überregionalen Katastrophennotstandes ist weiterhin ein Beschluss der Bundesregierung als Kollegialorgan erforderlich. 25 Schoch (Anlage 7), S. 261; Schmidt-Radefeldt (Anlage 2), S. 224. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 16 - Ein „Unglücksfall“ besteht auch dann, wenn ein Schaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze eintreten werde. 3.3.1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das LuftSiG soll nach Auffassung des Plenums nicht mehr aus Art. 35 GG selbst, sondern aus einer Annexkompetenz zum Luftverkehr nach Art. 73 Nr. 6 a. F. (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG n. F.) hergeleitet werden (Vorlagefrage 1, Rn. 14–22, 17). Dies begründet das Plenum damit, dass es dem Föderalprinzip widerspreche, ungeschriebene Zuständigkeiten außerhalb des Abschnitts über die Gesetzgebungskompetenzen abzuleiten (Rn. 16). Dagegen ermögliche die Kompetenzzuweisung für den Luftverkehr an den Bund auch, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, jedenfalls bei Gefahren aus der Luft (Rn. 18 ff.). 3.3.2. Einsatz „spezifisch militärischer Mittel“ Zentraler Aspekt des Plenarbeschlusses ist die Rechtsprechungsänderung des BVerfG im Bereich der Einsatzmittel. Das Plenum hält nunmehr auch im Rahmen des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG den Einsatz spezifisch militärischer Mitteln durch die Bundeswehr für möglich (Vorlagefrage 2, Rn. 23–51; insbesondere Rn. 24, 28 ff.). Das Plenum vertritt nach ausführlicher textlicher und systematischer (Rz. 29 ff.), historischer (Rz. 32–39) und teleologischer Auslegung (Rz. 31) die Auffassung , dass Art. 35 GG aufgrund der heutigen Bedrohungslage auch auf Fälle ausgedehnt werden könne, die der verfassungsändernde Gesetzgeber seinerzeit nicht habe bedenken können – etwa Terroranschläge aus der Luft. Dann aber müsse die Bundeswehr auch die nötigen Mittel verwenden dürfen, um die Gefahr abzuwenden. Mit dieser Interpretation begibt sich das BVerfG – auch nach Auffassung der Befürworter – an den Rand der zulässigen Auslegung und in den Graubereich einer „Verfassungsänderung durch die Rechtsprechung“.26 Allerdings legt das BVerfG enge Voraussetzungen fest: So seien Art. 35 Abs. 2 und 3 wegen der Vorgaben des Art. 87 a Abs. 2 und Abs. 4 GG nur bei „Ereignissen von katastrophischen Dimensionen “ anwendbar, was beim Begriff des „besonders schweren Unglücksfalles“ zu berücksichtigen sei (Rn. 24, 40 ff., 43–46, siehe dazu unten 3.3.3.). Lesenswert ist auch die Abweichende Meinung des Richters Gaier (Rn. 60–89), der in diesem Punkt der Auffassung der übrigen Richterinnen und Richter entgegentritt. 26 Anerkennend etwa Walter (Anlage 17), S. 233 („Randbereich der Verfassungsänderung“); sehr kritisch van Ooyen, Robert Chr., „‘Kalte‘ Verfassungsänderung – die Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Luftsicherheit“, Recht und Politik 2013, S. 26–29; S. 26, 28. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 17 3.3.3. Begriff des „besonders schweren Unglücksfalles“ (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG) Mittels des Begriffs des „besonders schweren Unglücksfalles“ beschränkt das BVerfG zum Ausgleich den Anwendungsbereich des Katastrophennotstandes auf „ungewöhnliche Ausnahmefälle von katastrophischen Dimensionen“ (Rn. 42, 43, 46). Damit zieht es die Parallele zur Variante der Naturkatastrophen (Rz. 43). Das BVerfG hält fest, dass die „Abwehr innerer Unruhen“ durch „nichtstaatliche Angreifer“ systematisch durch Art. 87 a IV GG geregelt werde. Diese Regelung entfalte insoweit aufgrund des Gebots strikter Texttreue bei Inlandseinsätzen der Bundeswehr eine Sperrwirkung und dürfe nicht über Art. 35 GG oder andere Vorschriften umgangen werden (Rn. 41, 45). Das BVerfG stellt darüber hinaus klar, dass Art. 35 Abs. 2 und 3 auch bei Gefahren aus der Luft nicht umfassend herangezogen werden können und nur für besonders gravierende Luftzwischenfälle anwendbar bleiben (Rn. 51). Insbesondere ermögliche nicht jede Überforderung der Landespolizei einen Bundeswehreinsatz (Rn. 43). Zudem sei der Einsatz der Bundeswehr auch in außergewöhnlichen Unglücksfällen ultima ratio und deshalb strikt auf das Erforderliche zu begrenzen (Subsidiarität der Bundesintervention kraft gesetzgeberischer Entscheidung, Rz. 48). Dies gelte gleichermaßen für Ob und Wie des Einsatzes sowie für die Wahl der Einsatzmittel (Rz. 48). Gleichzeitig bestätigt das BVerfG, dass der Begriff „besonders schwerer Unglücksfall“ nach wie vor Ereignisse erfassen soll, in denen ein Schaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Kürze eintreten würde (Rn. 48). Dazu müsse der Unglücksverlauf bereits begonnen haben; ein Einsatz im Vorfeld einer Katastrophe sei unzulässig (Rn. 47). Das Plenum betont, dass Gefahren in Zusammenhang mit Massendemonstrationen keinen besonders schweren Unglücksfall darstellen könnten (Rn. 46). Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Be- oder Einschränkung von Grundrechten schlechthin ausgeschlossen wäre.27 3.3.4. Eilentscheidungskompetenz eines einzelnen Ressorts Der 2. Senat konnte sich mit seinem Anliegen nicht durchsetzen, auch eine Rechtsprechungsänderung im Bereich der Anordnungskompetenz im Rahmen von Art. 35 Abs. 3 GG durchzusetzen (3. Vorlagefrage, Rz. 52–59). Vielmehr bestätigte das Plenum die Auffassung des 1. Senats, dass Art. 35 Abs. 3 GG auch in Eilfällen eine Entscheidung der Bundesregierung als Kollegialorgan erfordere (Rn. 55 f.). Dies begründete es damit, dass Art. 35 Abs. 3 GG als speziellere Regelung den Art. 65 S. 2 (Ressortprinzip) und Art. 65 a GG vorgehe (Rn. 57). Ferner stehe das Gebot strikter Texttreue, das im Bereich von Bundeswehrinlandseinsätzen gelte, einer erweiternden Auslegung des Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG nach Sinn und Zweck gegen Wortlaut und Systematik entgegen (Rn. 59). 27 Ausführlich, auch zum Verhältnis der Wehrverfassung zu anderen Vorschriften des GG, Hernekamp, Karl-Andreas , in: von Münch/Kunig, Grundgesetz: Kommentar, Band 2, München: C.H.Beck, 6. Auflage 2012, Artikel 87a, Rn. 49 ff. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 18 3.3.5. Auslegung des Verteidigungsbegriffs in Art. 87 a Abs. 2 GG: Abgrenzung der Begriffe Einsatz und Verwendung Darüber hinaus konkretisierte das Plenum im Rahmen seiner Auslegung des Verteidigungsbegriffs in Art. 87 a Abs. 1, 2 GG die Begriffe des Einsatzes und der Verwendung und grenzte beide gegeneinander ab (siehe dazu bereits oben, 2.2.2., sowie Rn. 50 des Urteils). Dabei entschied das BVerfG ohne längere Ausführungen lange währende Definitionsstreitigkeiten, indem es sich auf die Seite der Mehrheitsmeinung stellte. Zur weiteren Vertiefung bieten sich folgende Entscheidungsbesprechungen und Aufsätze an, die teilweise bereits auf den Beschluss des 2. Senats aus dem Jahr 2013 (siehe dazu 3.4.) eingehen: - Münkler, Laura, Militarisierung der erweiterten Amtshilfe? Zur Verfassungsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht, in: ZG 2013, S. 376–393 (Anlage 14; insgesamt kritisch, s. insbesondere S. 379 f., S. 380–387) - Ladiges, Manuel, Der Einsatz der Streitkräfte im Katastrophennotstand nach dem Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts, in: NVwZ 2012, S. 1225–1228 (Anlage 15; kritisch zur Ablehnung der Eilkompetenz, s. besonders S. 1227) - Wiefelspütz, Dieter, Die Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Innern („Luftsicherheitsgesetz“): zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012, in: NZWehrr 2013, S. 1–18 (Anlage 16; S. 2-17) - Walter, Bernd, Annäherung an die Realitäten – neue Einsichten des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Innern, in: NZWehrr 2013, S. 221–236 (Anlage 17). 3.4. Beschluss des 2. Senats vom 20. März 2013: Einsatz spezifisch militärischer Mittel und Eilkompetenz im Rahmen des Art. 35 Abs.2 und 3 GG (abstrakte Normenkontrolle) – Anlage 5 In der Folge erklärte das BVerfG unter Verweis auf den Plenarbeschluss § 13 Abs. 3 S. 2 u. 3 Luft- SiG für mit Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG unvereinbar und damit den Normenkontrollantrag für teilweise begründet (Rn. 46–52). Insbesondere stellt es fest, dass auch in Eilfällen allein ein Beschluss der Bundesregierung als Kollegialorgan Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG genüge (Rn. 49) und erklärte die Eilzuständigkeit des Verteidigungsministerium für nichtig (Rn. 50 f.). Das Normenkontrollverfahren hatte jedoch nur teilweise Erfolg, da das BVerfG bereits in einem weiteren Verfahren entschieden hatte, dass eine Zustimmung des Bundesrates zum LuftSiG nicht erforderlich war (Rz. 57 mit Verweis auf BVerfGE 126,77). Zudem waren einige der gerügten Vorschriften verfassungsgemäß (Rn. 59–89). Dies galt insbesondere für § 15 LuftSiG, der das Umleiten und Warnen von Flugzeugen betrifft (Rn. 78–81). Dies stellte nach Auffassung des BVerfG im Wege der verfassungskonformen Auslegung einen Fall der technischen Unterstützung und somit der Amtshilfe (Art. 35 Abs. 1 GG) dar Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 19 (Rn. 80). Sofern von dem Flugzeug allerdings ein Angriff ausgehe, liege keine Amtshilfe, sondern ein Einsatz vor, da die militärischen Mittel in diesem Fall ihr Drohpotential entfalteten (Rn. 81). Auch §§ 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG mit ihren Regeln zum Abdrängen von Flugzeugen mit militärischen Mitteln auch vor Schadenseintritt seien verfassungsgemäß, da der Einsatz hinsichtlich Ob und Wie auf das strikt erforderliche Maß beschränkt werde (Rn. 60–77, insbesondere Rn. 73–76). 4. Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG und Ruf nach Verfassungsänderungen Im Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen ist seit dem 11. September 2001 vielfach über eine Ausweitung des Bundeswehreinsatzes im Innern diskutiert worden.28 Einige Autoren sehen Schutzlücken und Handlungsbedarf in den Bereichen ABC-Waffen, Terroranschläge aus der Luft und Objektschutz,29 aber auch bei Eilkompetenz und Bewaffnung, beim Weisungsrecht des Bundes , beim Verteidigungsbegriff sowie bei der Tötung Unbeteiligter.30 Einen Teil dieser Schutzlücken hat das BVerfG dadurch geschlossen, dass es nunmehr auch ein Einschreiten mit spezifisch militärischen Mitteln erlaubt.31 Allerdings erklärt das BVerfG Art. 35 Abs. 2 und 3 nur bei „Ereignissen von katastrophischen Dimensionen“ für anwendbar.32 Dagegen sieht ein Teil der Literatur generellen Handlungsbedarf in Situationen, in denen die Polizei mit der Gefahrenabwehr überfordert ist.33 Als Beispiele werden Terroranschläge aus der 28 Dagegen etwa die Abweichende Meinung des Richters Gaier zum Plenumsbeschluss vom 3. Juli 2012, (Anlage 4); Hirsch, Burkhard, Bundeswehreinsatz im Inland? In: Wissenschaft & Frieden 2009-1: 60 Jahre Nato, S. 7 ff., http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=1516 (letzter Zugriff: 02.02.2015). 29 Walter (Anlage 17), S. 235; Fischer, Matthias, Terrorismusbekämpfung durch die Bundeswehr im Inneren Deutschlands?, in: JZ 2004, S. 376–384 (S. 377 f. [Beschreibung], S. 378-83 [detaillierte Untersuchung], S. 384 [Ergebnis]). 30 Ladiges, Manuel/Glawe, Robert, Eine dramatische Vorstellung: Zum bewaffneten innerdeutschen Einsatz der Streitkräfte bei Terrorgefahr, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2011, S. 621–627, S. 626 f. 31 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 24, 28 ff.; Schoch (Anlage 7), S. 265. 32 BVerfG, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss; Anlage 4), Rn. 43–46; krit. Schoch (Anlage 7), S. 264, 267. 33 Siehe etwa Schoch (Anlage 7), S. 266 f.; Ladiges (Anlage 15), S. 1227. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 20 Luft oder von der See aus, aber auch lokal wirkende Terroranschläge zu Land, genannt.34 Diskutiert wird der Einsatz der Bundeswehr insbesondere dann, wenn kein Verteidigungsfall (Art. 115 a Abs. 1 S. 1 GG) vorliegt, die Polizei aber dennoch mit der Gefahrenabwehr überfordert erscheint und die Bundeswehr die einzige sachliche qualifizierte Alternative darstellt.35 Deshalb wird vielfach eine Verfassungsänderung vorgeschlagen, die einen Einsatz der Bundeswehr im Innern mit militärischen Mitteln bei akuter Gefahr für hochrangige Rechtsgüter ermöglicht, sofern die Ressourcen von Bundes- und Landespolizeien nicht ausreichen.36 Weiter wird in der Literatur nach dem Plenarbeschluss des BVerfG für möglich gehalten, die Rechtsgedanken des Luftsicherheitsgesetzes auf andere verwandte Materien zu übertragen und auch dort – also einfachgesetzlich – den Einsatz „spezifisch militärischer Mittel“ zu erlauben, soweit der Bund dafür eine Gesetzgebungskompetenz besitzt.37 Eine Verfassungsänderung wäre hierfür nicht notwendig. Allerdings bedeutete dies eine nur punktuelle Regelung, die auf die Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG beschränkt bliebe. 34 Schoch (Anlage 7), S. 266 f.; Gubelt, Manfred, in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip, Grundgesetz: Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Artikel 35, Rn. 34; ; Ladiges, Manuel/Glawe, Robert, Eine dramatische Vorstellung: Zum bewaffneten innerdeutschen Einsatz der Streitkräfte bei Terrorgefahr, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2011, S. 621–627, S. 626 f.; Schenke (Anlage 9), S. 738 f.; Gramm (Anlage 10), S. 656. Siehe auch Walter (Anlage 17), S. 222, mit ausgedehnter und recht zynischer Beschreibung der jetzigen Ressourcen und Möglichkeiten der Polizei zur Lagebewältigung, S. 223 ff. Als Alleinstellungsmerkmale der Bundeswehr sieht Walter den hohen Organisationsgrad, die Spezialexpertise in den Bereichen ABC-Waffen und Luft- und Seegefahren sowie die einheitliche Führung und die schnelle Einsatzbereitschaft an, S. 226. 35 Schoch (Anlage 7), S. 266 f.; Gubelt, Manfred, in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip, Grundgesetz: Kommentar, Band 1, 6. Auflage 2012, Artikel 35, Rn. 34; Ladiges, Manuel/Glawe, Robert, Eine dramatische Vorstellung: Zum bewaffneten innerdeutschen Einsatz der Streitkräfte bei Terrorgefahr, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2011, S. 621–627, S. 626 f. 36 Baldus (Anlage 7), S. 533. 37 In diese Richtung Walter (Anlage 17), S. 232 f. Ausführlich zu den in der Literatur erwogenen Änderungsvorschlägen sowie zu gescheiterten Verfassungsänderungsbestrebungen Senger, Jens, Streitkräfte und materielles Polizeirecht: die Wahrnehmung materiell-polizeilicher Aufgaben durch die Streitkräfte innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2011, S. 249–271. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 21 Anlagen Anlage 1: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 4. Mai 2010 – 2 BvE 5/07 (Bundeswehreinsatz beim G8-Gipfel in Heiligendamm), https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2010/05/es20100504_2bve000507.html und Pressemitteilung Nr. 35/2010 vom 01.06.2010 (letzter Zugriff: 04.02.2015). Anlage 2: Schmidt-Radefeldt, Roman, Die Wehrverfassung in schlechter Verfassung? Inlandseinsätze der Bundeswehr auf dem Prüfstein der Wehrverfassung, in: NZWehrr 2008, S. 221–235. Anlage 3: Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15.02.2006 (1. Senat) – 1 BvR 357/05, https://www.bundesverfassungsgericht .de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html (letzter Zugriff: 02.02.2015), Rn. 84 ff., und Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15.02.2006. Anlage 4: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 03. Juli 2012 (Plenum) - 2 PBvU 1/11 -, Luftsicherheitsgesetz (Plenarbeschluss), https://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen /up20120703_2pbvu000111 (letzter Zugriff: 02.02.2015), insbesondere Rn. 24–51, 52 ff., und Pressemitteilung Nr. 63/2012 vom 17.08.2012. Anlage 5: Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. März 2013 - 2 BvF 1/05 -, Luftsicherheitsgesetz (2. Senat), https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen /DE/2013/03/fs20130320_2bvf000105.html (letzter Zugriff: 02.02.2015), Rn. 49, 61 ff, und Pressemitteilung Nr. 27/2013 vom 18.04.2013. Anlage 6: Sierck, Gabriela M./Nitsche, Isabell, Der Einsatz der Bundeswehr im Innern, Deutscher Bundestag , Wissenschaftliche Dienste (2007), Aktueller Begriff Nr. 07/07. Anlage 7: Schoch, Friedrich, Verfassungsrechtliche Anforderungen an den Einsatz der Streitkräfte im Inland, in: Jura: juristische Ausbildung, Band 35 (2013), Heft 3, S. 255–267; http://dx.doi.org/10.1515/jura- 2013-0035 (letzter Zugriff: 28.01.2015). Anlage 8: Baldus, Manfred, Gefahrenabwehr in Ausnahmelagen: das Luftsicherheitsgesetz auf dem Prüfstand , in: NVwZ 2006, 532–535. Anlage 9: Schenke, Wolf-Rüdiger, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, in: NJW 2006, S. 736– 739. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 2 - 3000 – 029/15 Seite 22 Anlage 10: Gramm, Christof, Der wehrlose Verfassungsstaat?, in: DVBl. 2006, S. 653–661. Anlage 11: Wiefelspütz, Dieter, Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG, in: ZRP 2007, S. 17–20. Anlage 12: Ladiges, Manuel, Grenzen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts, in: NVwZ 2010, S. 1075–1078. Anlage 13: Sachs, Michael, Staatsorganisationsrecht: Zustimmungsrechte des Bundestages zu Bundeswehreinsätzen , in: JuS 2010, S. 1036–1038. Anlage 14: Münkler, Laura, Militarisierung der erweiterten Amtshilfe? Zur Verfassungsfortbildung durch das Bundesverfassungsgericht, in: ZG 2013, S. 376–393. Anlage 15: Ladiges, Manuel, Der Einsatz der Streitkräfte im Katastrophennotstand nach dem Plenarbeschluss des Bundesverfassungsgerichts, in: NVwZ 2012, S. 1225–1228. Anlage 16: Wiefelspütz, Dieter, Die Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Innern („Luftsicherheitsgesetz“): zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Juli 2012, in: NZWehrr 2013, S. 1–18. Anlage 17: Walter, Bernd, Annäherung an die Realitäten – neue Einsichten des Bundesverfassungsgerichts zum Einsatz der Streitkräfte im Innern, in: NZWehrr 2013, S. 221–236.