© 2020 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 028/20 „Push-Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze im Lichte des Völkerrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Relevanz der EGMR-Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien für die Situation an der griechisch-türkischen Grenze 9 4. Anwendung des Refoulementverbots 11 4.1. Zurückweisung „über“ die Grenze 11 4.2. Zurückweisung „an“ der Grenze 12 4.3. Abschottung und positive Verpflichtungen 13 5. Einschränkungen des Refoulementverbots 15 5.1. Zurückweisungen in einen sicheren Drittstaat 15 5.2. Massenfluchtbewegungen 17 5.3. Öffentlicher Notstand 19 5.4. Corona-Pandemie 20 6. Fazit 21 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 4 1. Zur Situation an der türkisch-griechischen Grenze Als Folge der Ankündigung der türkischen Regierung, die türkische Grenze in Richtung Griechenland zu öffnen, hielten sich im März 2020 tausende von Menschen an der griechischtürkischen Grenze nahe des geschlossenen Grenzübergangs Pazarkule/Edirne auf. Die aus der Türkei bzw. aus türkischen Flüchtlingslagern kommenden Personen stammten unbestätigten Medienberichten zufolge offenbar zur Hälfte aus den Ursprungsländern Afghanistan und zu 20 Prozent aus Syrien.1 Ob es sich dabei rechtlich gesehen um Migranten, Asylsuchende oder Flüchtlinge i.S.d. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) handelte, lässt sich allenfalls vermuten; bis zu einer individuellen Klärung verbieten sich indes pauschale Urteile über deren Status. Mittlerweile hat die Türkei die Landgrenze zu Griechenland von türkischer Seite aus wieder geschlossen .2 Auch das Camp an der türkisch-griechischen Grenze wurde von den türkischen Behörden wegen der Corona-Pandemie wieder aufgelöst und die Menschen ins Landesinnere verbracht .3 Entlang der türkisch-griechischen Grenze kam es vermehrt zu Zusammenstößen einreisewilliger Personen mit der griechischen Grenzpolizei. Medienberichten zufolge verhindern griechische Sicherheitskräfte unter Einsatz von Wasserwerfern, Tränengas und Ventilatoren, dass Menschen die EU-Außengrenze in Richtung Griechenland überqueren. Von der türkischen Seite aus seien im Gegenzug Rauchgasgranaten in Richtung der griechischen Polizei abgefeuert worden.4 Der VN-Sonderbeauftragte für die Rechte von Migranten, González Morales, bezog sich in seinem Statement auf Berichte, wonach griechische Grenzbeamte Personen, die es über die türkischgriechische Grenze geschafft haben, festgehalten und entkleidet hätten, ihnen ihre Habseligkeiten abgenommen und sie dann zurück auf die türkische Seite gedrängt hätten.5 1 Vgl. die Übersichtskarte „An der Außengrenze Europas“ in: SZ vom 14./15. März 2020, S. 9. Unter den Menschen an der türkisch-griechischen Grenze befinden sich zudem Somalier, Palästinenser und Kongolesen. 2 Tagesspiegel vom 18. März 2020, „Die Türkei schließt die Grenze zu Griechenland wieder“, https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingsstreit-mit-der-eu-die-tuerkei-schliesst-die-grenze-zugriechenland -wieder/25658918.html. 3 Tagesschau vom 27. März 2020, „Türkei räumt Flüchtlingscamp“, https://www.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-griechenland-tuerkei-103.html. 4 ZEIT online vom 7. März 2020, „Rauchbomben und Tränengas an griechisch-türkischer Grenze“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/eu-aussengrenze-traenengas-griechenland-tuerkei-migranten. ZEIT online vom 13. März 2020, „Griechenland setzt Ventilatoren gegen Flüchtende ein“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/eu-aussengrenze-griechenland-fluechtende-ventilatorentraenengas -rauch. ZEIT online vom 18. März 2020, „Flüchtlinge scheitern mit Einreißen des Grenzzauns“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/grenze-griechenland-tuerkei-fluechtlinge-konflikt-migration. 5 Statement des United Nations High Commissioner of Human Rights, 23. März 2020. „Greece: Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stop” https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25736&LangID=E. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 5 Die griechische Regierung, die bereits im November 2019 ein neues Asylgesetz beschlossen hatte, um die gesamte Asylinfrastruktur in Griechenland zu entlasten,6 hat mit Wirkung vom 1. März 2020 für 30 Tage die Schließung der Grenze zur Türkei und die Aussetzung der Möglichkeit zur Stellung von Asylanträgen für illegal über die türkisch-griechische Grenze kommende Menschen beschlossen: „The upgrading, at the highest degree, of the security measures at the eastern, land and sea borders of the country by the public security and the armed forces to prevent illegal entries into the country. The temporary suspension, for one month from the date of receipt of this Decision, of the lodging of asylum by those entering the country illegally. The immediate return, where possible, to the country of origin without registration, of those who enter illegally the Greek territory […].7 Die vorliegende Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste bietet eine völkerrechtliche Einschätzung der Maßnahmen Griechenlands an der türkisch-griechischen Grenze. Dabei geht es konkret um das Spannungsfeld zwischen dem Recht eines Staates, seine Grenzen zu schützen und die Einreise in das Staatsgebiet zu regulieren sowie dem Recht eines Flüchtlings bzw. eines Asylsuchenden, dessen flüchtlingsrechtlicher Status noch nicht abschließend geklärt ist, auf Nichtzurückweisung (Refoulementverbot). Erörtert wird zunächst die rechtliche Zulässigkeit eines Einsatzes von Gewalt zur Grenzsicherung durch die griechischen Sicherheitsorgane (dazu 2.). Die Ausarbeitung geht anschließend der Frage nach, ob die von der griechischen Regierung verfügte Grenzschließung einschließlich der Zurückweisungen von Asylsuchenden an der EU-Außengrenze (sog. push-backs),8 deren flüchtlingsrechtlicher Status noch ungeklärt ist, mit dem Völkerrecht vereinbar sind. Untersucht werden u.a. das Verbot der Kollektivausweisung (dazu 3.) und – im Schwerpunkt – das Refoulementverbot der EMRK bzw. der Genfer Flüchtlingskonvention (dazu 4.). Dabei geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Refoulementverbot zugunsten von Asylsuchenden überhaupt Anwendung findet (dazu 4.1. bis 4.3.) und ob es infolge besonderer Umstände (Rückweisung in einen sicheren Drittstaat, Massenzustrom, Notstand, Pandemie) beschränkt bzw. ausgesetzt werden darf (dazu 5.1. bis 5.4.). 6 Vgl. Sachstand WD 3 – 3000 – 035/20 vom 5. März 2020, „Änderungen im griechischen Asylgesetz“. ZEIT online vom 1. November 2019, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-11/kyriakoks-mitsotakisgriechenland -asylgesetz-verschaerfung. 7 Hellas Journal vom 1. März 2020, Statement of the Government Spokesman, Stelios Petsas regarding decisions of the Government Council of National Security, https://hellasjournal.com/2020/03/statement-of-thegovernment -spokesman-stelios-petsas-regarding-decisions-of-the-government-council-of-national-security/. 8 Zur Problematik sog. „heißer Abschiebungen“ (hot returns) vgl. Bernsdorff, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos, 5. Aufl. 2019, Art. 19 Rdnr. 29 und 30. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 6 Die spezifisch europarechtlichen Aspekte von Zurückweisungen an der Grenze9 – einschließlich der Rolle der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX10 – werden in dieser Ausarbeitung nicht näher behandelt.11 Ebenso wenig untersucht wird die politische Mitverantwortung der türkischen Regierung für die derzeitige Situation an der türkisch-griechischen Grenze,12 einschließlich der rechtlichen Fragen zum EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei von 2016, dessen Verletzung sich derzeit beide Vertragsparteien gegenseitig vorwerfen.13 2. Einsatz von Gewalt zur Sicherung der Grenze Die territoriale Souveränität der Staaten (Gebietshoheit) beinhaltet das Recht jedes Staates, den Zugang zum Staatsgebiet zu kontrollieren, seine Grenzen zu sichern und gegen illegale Grenzübertritte zu verteidigen (Grenzhoheit). Der EGMR führt im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien aus:14 “It should be stressed at the outset that as a matter of well-established international law, and subject to their treaty obligations, including those arising from the Convention, Contracting States have the right to control the entry, residence and removal of aliens.” Staatliche Maßnahmen der Grenzsicherung richten sich zunächst nach nationalem Recht. Für das Vorgehen der griechischen Sicherheitskräfte an der griechisch-türkischen Grenze maßgeblich ist das griechische Grenzregime, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Grenzsicherungsmaßnahmen wie Tränengas, Wasserwerfer u.a.m., die geeignet sind, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu beeinträchtigen, sind aber auch am Maßstab des internationalen Menschenrechtsregimes zu messen. 9 Der Gedanke des Refoulementverbots findet z.B. Niederschlag in der EU-Asylverfahrensrichtlinie, der Rückführungsrichtlinie sowie der Dublin-III-Verordnung. Überdies ergeben sich Fragen im Hinblick auf die europäische Asylpolitik (Art. 78 AEUV) und der Ausnahmeklausel des Art. 72 AEUV. Vgl. zum Ganzen u.a. Dana Schmalz, Weshalb man Asylsuchende nicht an der Grenze abweisen kann, VerfBlog vom 13. Juni 2018, https://verfassungsblog.de/weshalb-man-asylsuchende-nicht-an-der-grenze-abweisen-kann/. 10 Vgl. dazu nur FAZ vom 12. März 2020, „Frontex verstärkt Einheiten an griechisch-türkischer Grenze“, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frontex-einheiten-an-griechisch-tuerkischer-grenze-verstaerkt- 16675994.html. 11 Der Fachbereich Europa der Bundestagsverwaltung erarbeitet dazu ein Gutachten. 12 Das Handeln der türkischen Regierung ist für die völkerrechtliche Bewertung der griechischen Grenzsicherungsmaßnahmen rechtlich nur insoweit relevant, als dass die Türkei einen Massenzustrom von Asylsuchenden ausgelöst hat. Selbst ein rechtswidriges Verhalten der Türkei wäre kein Rechtfertigungsrund für Griechenland. 13 Vgl. dazu Tagesschau vom 5. März 2020, „EU-Türkei-Abkommen. Wer hat den Flüchtlingsdeal gebrochen?“, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/eu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-109.html. 14 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 167, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-201353. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 7 Die griechischen Regelungen müssen dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren, der dem Rechtsstaatsprinzip innewohnt und nicht nur Teil der europäischen Unionsrechtsordnung (vgl. Art. 2 und 6 EUV), des EMRK-Regimes15 und des VN-Zivilpaktes16 ist, sondern sich mittlerweile zu einem globalen Rechtsprinzip im Völkerrecht herausgebildet hat.17 Grenzsicherungsmaßnahmen, die internationale Menschenrechte beeinträchtigen, müssen danach erforderlich und angemessen sein. Ein wahlloser Einsatz von Wasserwerfern, Ventilatoren und Tränengas auch gegen unbewaffnete Frauen und Kinder, über den Menschenrechtsorganisationen berichtet haben,18 dürfte dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widersprechen.19 Anders stellt sich der Einsatz von Wasserwerfern gegen bewaffnete junge Männer dar, die griechische Grenzpolizisten mit Rauchgasgranaten attackieren und versuchen, Grenzabsperrungen gewaltsam zu überwinden oder zu beschädigen. Ein letaler Gebrauch von Schusswaffen20 zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen würde in den allermeisten Fällen gegen Art. 2 EMRK verstoßen (Ausnahme z.B. Selbstverteidigung eines Grenzbeamten). Letztlich kommt es aber immer auf die Umstände des Einzelfalls an, so dass sich eine pauschale rechtliche Bewertung des gewaltsamen Vorgehens griechischer Grenzsicherungskräfte verbietet. 15 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 18 Rdnr. 14 ff. 16 VN-Menschenrechtsausschuss, General Comment No. 31: The Nature of the General Legal Obligation imposed on State Parties to the Covenant, 29. März 2004, CCPR/C/21/Rev.1/Add.13, Rdnr. 6, https://www.refworld.org/docid/478b26ae2.html: “(…) States must demonstrate their necessity and only take such measures as are proportionate to the pursuance of legitimate aims in order to ensure continuous and effective protection of Covenant rights.” 17 Vgl. Peters, Anne, „Verhältnismäßigkeit als globales Verfassungsprinzip“, in: Baade / Ehricht u.a. (Hrsg.), Verhältnismäßigkeit im Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2016, S. 1-18. 18 Vgl. Amnesty International, „Dramatische Lage an der griechisch-türkischen Grenze“, 2. März 2020, https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/griechenland-dramatische-lage-der-griechischtuerkischen -grenze. 19 So auch das Fazit des Deutschen Instituts für Menschenrechte, „Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze – Eine menschen- und flüchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situation “, März 2020, S. 2, https://www.institut-fuermenschenrech - te.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Fact_Sheet/Factsheet_Das_Vorgehen_Griechenlands_und_der_EU_a n_der_Grenze.pdf. 20 Spekulationen über tödliche Schüsse an der Grenze werden von Griechenland allerdings zurückgewiesen, vgl. Tagesschau vom 4. März 2020, Gab es tödliche Schüsse an der Grenze?, https://www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-119.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 8 3. Verbot von Kollektivausweisungen 3.1. Fehlende rechtliche Bindung Griechenlands Das Verbot der Kollektivausweisung – also die pauschale Aufenthaltsbeendigung von Ausländern ohne Ansehung des Einzelfalls21 – ist in Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls zur EMRK („Kollektivausweisungen ausländischer Personen sind nicht zulässig“) sowie in Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union („Kollektivausweisungen sind nicht zulässig“) niedergelegt. Griechenland hat das IV. Zusatzprotokoll zur EMRK – und damit das Verbot von Kollektivausweisungen – als eines von ganz wenigen EMRK-Mitgliedstaaten nicht ratifiziert.22 Eine völkerrechtliche Bindung Griechenlands an das Verbot der Kollektivausweisung lässt sich auch nicht ohne weiteres über Art. 19 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) herstellen.23 Die GrCh bindet gem. Art. 51 Abs. 1 nur die Organe der EU und findet auf die EU- Mitgliedstaaten nur insoweit Anwendung, als diese EU-Recht durchführen.24 Spezifische Fragen der Anwendung des EU-Rechts auf die Situation an der EU-Außengrenze sind indes nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung. Zum Verhältnis zwischen GrCh und EMRK bleibt aber anzumerken, dass bei einer Auslegung des Art. 19 Abs. 1 GrCh auch die Rechtsauffassung des EGMR betreffend Art. 4 ZP IV/EMRK zu berücksichtigen ist.25 3.2. Entscheidung des EGMR im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien Die Rechtmäßigkeit sog. push-backs durch die spanischen Behörden an der Grenze zwischen der spanischen Exklave Melilla und dem Königreich Marokko war Gegenstand einer vieldiskutierten 21 Hoppe, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Art. 4 ZP IV Rdnr. 4. Thiele, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, München: Beck, 2. Aufl. 2020, § 21 Rdnr. 26. Nußberger, Angelika, „Flüchtlingsschicksale zwischen Völkerrecht und Politik“, NVwZ 2016, S. 815-822 (821). Selbst ein Individuum kann sich nach Auffassung des EGMR auf das Verbot der Kollektivausweisung berufen. 22 Europarat, Unterschriften und Ratifikationsstand des Vertrags 046, https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/046/signatures?p_auth=agv2qwcM. 23 Text unter https://europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf. 24 Vgl. dazu näher Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos, 5. Aufl. 2019, Art. 51 Rdnr. 36 ff. 25 Art. 52 Abs. 3 GrCh bindet im Sinne größtmöglicher Kohärenz die Bedeutung und Tragweite der Grundrechte aus der Charta an die Menschenrechte der EMRK, macht aber auch deutlich, dass die EMRK insoweit nur einen Mindestschutz gewährleistet. Vgl. zum Verhältnis zwischen GrCh und EMRK Schwerdtfeger, in: Meyer/ Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden: Nomos, 5. Aufl. 2019, Art. 52 Rdnr. 16 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 9 Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).26 Die Große Kammer prüfte die prompte Rückführung zweier Beschwerdeführer aus Mali und aus der Elfenbeinküste, die zusammen mit anderen versucht hatten, die Sperranlagen in Richtung Melilla zu überwinden und ohne individuelle Prüfung nach Marokko zurückgeführt wurden. Der Gerichtshof sah darin im Ergebnis keine Verletzung des Kollektivausweisungsverbots, da die Antragsteller die Grenze zu Spanien unter Anwendung von Gewalt und auf irreguläre Weise überquert hätten, obwohl legale Zugangswege (wie z.B. der offene Grenzübergang Beni Enzar), die unstrittig vorhanden waren, auch hätten genutzt werden können und müssen: “In the Court’s view, (…) the conduct of persons who cross a land border in an unauthorized manner, deliberately take advantage of their large numbers and use force, is such as to create a clearly disruptive situation which is difficult to control and endangers public safety. In this context, however, in assessing a complaint under Article 4 of Protocol No. 4, the Court will importantly take account of whether, in the circumstances of the particular case, the respondent State provided genuine and effective access to means of legal entry, in particular border procedures. Where the respondent State provided such access but an applicant did not make use of it, the Court will consider, (…) whether there were cogent reasons not to do so which were based on objective facts for which the respondent State was responsible.”27 3.3. Relevanz der EGMR-Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien für die Situation an der griechisch-türkischen Grenze Die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR hat weder zu einer Erosion des konventionsrechtlichen Flüchtlingsschutzes geführt – wie von einigen NGOs befürchtet – noch hat sie die Möglichkeit zur Abschottung von EU-Außengrenzen richterlich legitimiert. Das ergibt sich schon 26 EGMR (GK), N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Beschwerden Nr. 8675/15 und 8679/15, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-201353. Besprechungen des Urteils von Uerpmann-Wittzack, Robert, „EGMR billigt Festung Europa mit Toren“, Völkerrechtsblog vom 14. Februar 2020, https://voelkerrechtsblog.org/egmr-billigt-festung-europa-mit-toren/. Pichl, Maximilian / Schmalz, Dana: “´Unlawful` may not mean rightless: The shocking ECtHR Grand Chamber judgment in case N.D. and N.T.”, VerfBlog vom 14. Februar 2020, https://verfassungsblog.de/unlawful-may-notmean -rightless. Hruschka, Constantin, „Hot Returns bleiben in der Praxis EMRK-widrig“, VerfBlog vom 21. Februar 2020, https://verfassungsblog.de/hot-returns-bleiben-in-der-praxis-emrk-widrig/. Lübbe, Anna, „Der Elefant im Raum: Effektive Gewährleistung des non-refoulements nach EGMR N.D. und N.T.?“, VerfBlog vom 18. Februar 2020, https://verfassungsblog.de/der-elefant-im-raum. Schmalz, Dana, „Die Identifikation Einzelner – Gedanken zum EGMR-Urteil im Fall N.D. und N.T.“, VerfBlog vom 4. Oktober 2017, https://verfassungsblog.de/die-identifikation-einzelner-gedanken-zum-egmrurteil -im-fall-n-d-und-n-t. Pro Asyl vom 14. Februar 2020, „Paukenschlag aus Straßburg: EGMR macht Rückzieher beim Schutz von Menschenrechten an der Grenze“, https://www.proasyl.de/news/paukenschlag-aus-strassburg-egmr-machtrueckzieher -beim-schutz-von-menschenrechten-an-der-grenze/. 27 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 201 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 10 daraus, dass für den Gerichtshof ein entscheidungserheblicher Umstand darin bestand, dass die Beschwerdeführer legale und tatsächlich bestehende Zugangswege nach Spanien hätten nutzen können, dies aber unterlassen haben (s.u. Punkt 4.3.). Dies unterscheidet die Situation an der spanisch-marokkanischen Grenze von der Situation an der griechisch-türkischen Grenze, wo der Grenzübergang Pazarkule/Edirne offenbar nachweislich verschlossen gewesen war. Ein weiterer Grund für die nur eingeschränkte rechtliche Übertragbarkeit des EGMR-Urteils N.D. und N.T. gegen Spanien auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze besteht darin, dass der EGMR die Situation im spanischen Melilla nur am Maßstab des Kollektivausweisungsverbots , nicht jedoch am Maßstab des Refoulementverbots nach Art. 3 EMRK prüfen konnte. Die Beschwerde war nämlich unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 EMRK bereits erstinstanzlich für unzulässig erklärt worden, da sich der Status der Beschwerdeführer im Ergebnis als nicht schutzwürdig im Sinne des Refoulementverbots erwiesen hatte. Die Beschwerdeführer waren also keine asylberechtigten „Flüchtlinge“ i.S.d. GFK, deren Zurückweisung (nach Marokko oder in ihre Herkunftsländer) am Maßstab des Refoulementverbots zu überprüfen gewesen wäre. Vielmehr handelte es sich offenbar um (illegal eingereiste) Migranten, die ihre Beschwerde nur auf das Verbot der Kollektivausweisung stützen konnten – d.h. auf ein im Vergleich zum Refoulementverbot weniger „fundamentales“, weil nicht notstandsfestes und auch nicht gewohnheitsrechtlich geltendes Menschenrecht. Das Kollektivausweisungsverbot knüpft im Gegensatz zum Refoulementverbot nicht an politische Verfolgung (sog. „Flüchtlingsstatus“) oder an eine prekäre Situation im Herkunftsland an (sog. „subsidiärer Schutz“, z.B. angesichts von Bürgerkriegssituationen ). Bei Lichte betrachtet weist das EGMR-Urteil gegen Spanien also eher migrations- als flüchtlingsrechtliche Implikationen auf. Während der flüchtlingsrechtliche Status der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien geklärt war, sah sich Griechenland an seiner Grenze zur Türkei einer (anonymen) Masse einreisewilliger Migranten oder Asylsuchender gegenüber, deren Status eben noch ungeklärt ist. Die griechischen push-backs erfolgten ohne Ansehen der Person. Ob es wegen der griechischen Abschottungspolitik an der griechisch-türkischen zu einem Verfahren gegen Griechenland vor dem EGMR kommen wird, ist zwar eher unwahrscheinlich. Doch bleibt aus juristischer Sicht eine Prüfung der griechischen push-backs am Maßstab des Refoulementverbots nicht nur möglich, sondern aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit auch notwendig, zumal der Rekurs auf das Verbot der Kollektivausweisung mangels Ratifikation des IV. Zusatzprotokolls/EMRK durch Griechenland ausscheidet. Der EGMR hat in seiner Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien eine Reihe von allgemeingültigen Feststellungen und obiter dicta zur Geltung des Refoulementverbots in push-back- Situationen getroffen, die sich für die rechtliche Bewertung der Situation an der griechischtürkischen Grenze durchaus heranziehen lassen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 11 4. Anwendung des Refoulementverbots Der Refoulementgrundsatz – verankert in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951,28 in Art. 3 Abs. 1 der VN-Antifolterkonvention von 1984,29 in Art. 19 Abs. 1 GrCh sowie in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK – begründet das Verbot aufenthaltsbeendender Maßnahmen bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung in dem Land, in das eine Zurückweisung erfolgen soll.30 4.1. Zurückweisung „über“ die Grenze Um dem Postulat des Refoulementverbots zu genügen, muss die Schutzwürdigkeit der betreffenden Person in einem individuellen Verfahren überprüft werden, bis zu dessen Abschluss keine Abschiebung oder Zurückweisung erfolgen darf. Im Fall Sharifi u.a. gegen Italien und Griechenland ,31 in dem die afghanischen Beschwerdeführer sofort nach ihrer Ankunft im italienischen Hafen wieder nach Griechenland zurückgeschickt und von dort weiter nach Afghanistan expediert werden sollten, bejahte der EGMR eine Verletzung des Refoulementgrundsatzes am Maßstab von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde) in Verbindung mit Art. 3 EMRK, weil in Griechenland kein effektiver Zugang zu einem individuellen Asylverfahren gewährleistet war. Führt Griechenland also – wie angekündigt – „heiße“ Abschiebungen (push-backs) von bereits auf griechischem Territorium befindlichen Asylsuchenden durch, ohne eine Möglichkeit zu gewährleisten , Asylanträge stellen zu können bzw. eine individuelle Prüfung ihrer Schutzwürdigkeit vorzunehmen, liegt darin eine Verletzung des Refoulementverbots.32 28 Text abrufbar unter https://www.unhcr.org/dach/wpcontent /uploads/sites/27/2017/03/GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf. 29 BGBl. 1990 II S. 246, abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF- Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/cat_de.pdf. 30 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 791. Gilbert Gornig, Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, Wien: Braumüller, 1987. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 75 ff. 31 EGMR, Sharifi u.a. gegen Italien und Griechenland, Urteil vom 21. Oktober 2014, Beschwerde-Nr. 16643/09, http://hudoc.echr.coe.int/eng-press?i=003-4910702-6007035. 32 Vgl. insoweit auch die rechtliche Einschätzung des UN-Sonderberichterstatters für die Menschenrechte von Migranten, Gónzales Morales – vgl. Pressemeldung des United Nations High Commissioner of Human Rights, 23. März 2020. „Greece: Rights violations against asylum seekers at Turkey-Greece border must stop” https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=25736&LangID=E. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 12 4.2. Zurückweisung „an“ der Grenze Völkerrechtlich etwas schwieriger zu beurteilen ist die Situation von Asylsuchenden, die sich jenseits des griechischen Grenzzaunes auf türkischer Seite befinden und durch Zäune, Wasserwerfer oder Tränengas daran gehindert werden, das griechische Territorium überhaupt zu erreichen , um einen Asylantrag zu stellen. Ob das Refoulementverbot an das physische Erreichen des Territoriums des Aufnahmestaates gekoppelt ist – weil erst dann, wie Art. 33 Abs. 1 GFK formuliert, eine Zurückweisung „über die Grenzen“ möglich ist – oder auch schon „an“ der Grenze, d.h. in gewisser Weise extraterritorial Anwendung findet, war rechtlich lange umstritten,33 scheint sich aber mittlerweile weitgehend geklärt zu haben: Nach Auffassung der völkerrechtlichen Literatur und des UNHCR steht das Refoulement-Verbot auch einer Rückschiebung von Flüchtlingen entgegen, die das Staatsgebiet noch nicht betreten haben, sondern an der Grenze um Schutz ersuchen.34 Mit Blick auf den Sinn und Zweck der GFK, möglichst umfassenden Schutz zu bieten, soll Art. 33 GFK überall dort Anwendung finde, wo ein Staat Hoheitsgewalt (i.S.v. effektiver Kontrolle) über einen Asylsuchenden ausübe (z.B. auch in der Transitzone eines Flughafens oder auf Hoher See). Dies könne – bildlich gesprochen – auch ein Grenzbeamter des potentiellen Aufnahmestaates sein, der direkt auf der Grenzlinie steht und den ankommenden Asylsuchenden, der sich noch auf dem Territorium des anderen Staates befindet, abweist, bzw. gar nicht erst einreisen lässt (sog. push-back-Situation). Der Grenzbeamte übt in diesem Moment staatliche Hoheitsgewalt aus, die über die Grenze hinweg fortwirkt und völkerrechtlich an das Refoulementverbot gebunden ist. Dieser Rechtauffassung folgend bejahte der EGMR im Fall M.A. u.a. gegen Litauen einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, weil den Beschwerdeführern, obwohl sie den litauischen Beamten an der Grenze ihre Absicht, Asyl zu beantragen, erkennbar gemacht hatten, die Einreise ohne weitere Prüfung verwehrt wurde.35 33 Vgl. zur Diskussion Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 106. 34 Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford Univ. Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rn. 87 f. (m.w.N. in Fn. 230) und Rdnr. 106. Alleweldt, Ralf, Schutz vor Abschiebung und drohender Folter, Berlin, Heidelberg: Springer 1996, S. 98. UNHCR, Advisory Opinion on the Extraterritorial Application of Non-Refoulement Obligations under the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, https://www.unhcr.org/4d9486929.pdf, Rdnr. 24 ff. 35 EGMR, M.A. u.a. gegen Litauen, Urteil vom 11. Dezember 2018, Rdnr. 105-115, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-188267. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 13 4.3. Abschottung und positive Verpflichtungen Die europäische Asylverfahrensrichtlinie garantiert explizit, dass man einen Antrag auch „an der Grenze“ stellen kann, ohne dabei allerdings die konkreten Modalitäten dafür festzulegen.36 So stellt sich die Frage, wie mit Fallkonstellationen umzugehen ist, bei denen ein Staat den Zugang zu seinem Territorium faktisch verweigert, weil er die Grenze komplett geschlossen hat und es – anders als in dem oben erwähnten Fall M.A. u.a. gegen Litauen – zu einem persönlichen Kontakt zwischen dem Grenzbeamten und dem Asylsuchenden gar nicht erst kommt. Wie Daniel Thym zu Recht darauf hinweist, ist eine solche Situation rechtlich bislang nicht eindeutig geklärt.37 Für die Geltung des Refoulementverbots spricht prima facie wiederum das „Sinn-und-Zweck-Argument“: Das Menschenrecht würde ansonsten tendenziell leerlaufen und seinen humanitären Schutzzweck verfehlen, wenn sich einzelne EMRK-Staaten ihren Verpflichtungen durch Abschottung entziehen könnten. An mehreren Stellen deutet die Rechtsprechung des EGMR eine solche Sichtweise an. So erinnert der EGMR in der Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien zunächst an die Verpflichtung der EMRK-Staaten zur konventionskonformen Ausgestaltung des nationalen Grenzregimes: „[…] the domestic rules governing border controls may not render inoperative or ineffective the rights guaranteed by the Convention and the Protocols thereto, and in particular by Article 3 of the Convention […].” “[…] the effectiveness of Convention rights requires that these States make available genuine and effective access to means of legal entry, in particular border procedures for those who have arrived at the border. Those means should allow all persons who face persecution to submit an application for protection, based in particular on Article 3 of the Convention, under conditions which ensure that the application is processed in a manner consistent with the international norms, including the Convention.”38 Dabei hebt der EGMR u.a. die entsprechenden Anstrengungen seitens der spanischen Regierung hervor: 36 Vgl. Art. 3 Abs. 1 und Art. 43 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2013:180:0060:0095:DE:PDF. 37 FAZ vom 3. März 2020, „Mit Humanität und Härte“, Interview mit dem Europarechtler Daniel Thym, https://www.faz.net/einspruch/interview-mit-migrationsrechtler-zur-lage-in-griechenland-16662015.html. ZEIT online vom 3. März 2020, „Deutschland macht eigentlich das Gleiche wie die Griechen“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/griechisch-tuerkische-grenze-fluechtlinge-tuerkei-griechenlanddaniel -thym.: „Doch was heißt an der Grenze? Gilt das Recht auf Antragstellung schon für alle, die auf der anderen Seite des Grenzzauns stehen, oder nur für jene, die es bis zu einem Beamten am Schlagbaum schaffen? Das ist ungeklärt.“ Thym, Daniel, „Das Ende einer Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6, https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 38 EGMR, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 171 und 209, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-201353. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 14 “However, it should be specified that this finding does not call into question the broad consensus within the international community regarding the obligation and necessity for the Contracting States to protect their borders – either their own borders or the external borders of the Schengen area, as the case may be – in a manner which complies with the Convention guarantees, and in particular with the obligation of non-refoulement. In this regard the Court notes the efforts undertaken by Spain, in response to recent migratory flows at its borders, to increase the number of official border crossing points and enhance effective respect for the right to access them, and thus to render more effective, for the benefit of those in need of protection against refoulement, the possibility of gaining access to the procedures laid down for that purpose.” 39 Der EGMR erinnert weiter daran, “that the Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective.”40 Legt man das Refoulementverbot im Lichte des effet-utile-Grundsatzes (Grundsatz der praktischen Wirksamkeit der EMRK- Rechte)41 sowie im Kontext des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) aus, so liegt es nahe, eine positive Verpflichtung42 Griechenlands dahingehend anzunehmen, reguläre Einreisemöglichkeiten zu schaffen. Dabei muss die Grenzpolizei sicherlich „kein Loch in den Zaun schneiden, um die Person hereinlassen, die nur das Wort ´Asyl` über den Zaun gerufen hat“.43 Es reicht völlig aus, bestehende Grenzübergangsstellen zu öffnen, um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermöglichen.44 Die explizite Bestätigung einer solchen Auslegung durch den EGMR steht freilich noch aus, doch handelt es sich letztlich (nur) um eine konsequente Fortführung seiner ständigen Rechtsprechung zu den positiven Schutzpflichten. 39 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 232. 40 Ebda., Rdnr. 171. 41 Vgl. zu den Auslegungsmethoden des EGMR Schabas, William A., „The European Convention on Human Rights. A Commentary“, Oxford 2015, S. 33 ff. (49 f.). Mayer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Kommentar, München: Beck, 2. Aufl. 2015, Einl. Rdnr. 48. 42 Vgl. zum Konzept der Gewährleistungspflichten (engl. positive obligations) in der EMRK vgl. Grabenwarter /Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 19 Rdnr. 1 ff. 43 So etwa zugespitzt Thym, Daniel, „Das Ende der Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6. https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 44 Dafür plädieren u.a. das Deutsche Institut für Menschenrechte, „Das Vorgehen Griechenlands und der EU an der türkisch-griechischen Grenze – Eine menschen- und flüchtlingsrechtliche Bewertung der aktuellen Situation “, März 2020, S. 3 sowie Amnesty International, ZEIT online vom 2. März 2020, „Amnesty fordert sichere Grenzübergänge für Flüchtlinge“, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/eu-aussengrenze-amnestyinternational -ngo-fluechtlinge-tuerkei. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 15 5. Einschränkungen des Refoulementverbots Im Folgenden soll – auch über die konkrete Situation an der türkisch-griechischen Grenze hinausgehend – untersucht werden, aus welchen Gründen bzw. angesichts welcher Szenarien die Anwendung Refoulementverbot eingeschränkt werden dürfte. 5.1. Zurückweisungen in einen sicheren Drittstaat Fraglich ist zunächst, ob und inwieweit der Anwendung des Refoulementverbots entgegengehalten werden kann, dass – jedenfalls aus griechischer Sicht – die Menschen an der türkischgriechischen Grenze aus einem sog. sicheren Drittstaat (weil EMRK-Mitgliedstaat) wie der Türkei kommen bzw. in einen solchen Staat zurückgeschoben werden sollen. Der Begriff des ´sicheren Drittstaates` ist kein völkerrechtlicher Begriff, sondern (nur) ein – wenngleich zentraler – Begriff des deutschen Asylrechts (verankert in Art. 16a Abs. 2 GG und § 26a Asylgesetz45), der die Inanspruchnahme des Asylgrundrechts durch Personen regelt, die insb. über EU- bzw. EMRK-Mitgliedstaaten eingereist sind. Auch bei Zurückführungen in sichere Drittstaaten kann sich ein Staat einer individuellen Prüfung nicht entziehen, etwa um sicherzustellen, dass der Drittstaat den Betroffenen nicht willkürlich weiterschiebt und damit eine „Kettenabschiebung“ auslöst.46 So hat das BVerfG klargestellt , dass die Einstufung eines Staates als „sicherer Drittstaat“ im Einzelfall widerlegbar sein könne.47 So dürfe der Drittstaat „nach seiner Rechtsordnung nicht befugt sein, Ausländer in einen solchen Staat abzuschieben , in dem ihnen die Weiterschiebung in den angeblichen Verfolgerstaat droht, ohne dass dort (d.h. im "Viertstaat") in einem förmlichen Verfahren geprüft worden ist, ob die Voraussetzungen der Art. 33 GFK, Art. 3 EMRK vorliegen, oder ein dementsprechender Schutz tatsächlich gewährleistet ist. Hält sich ein Staat (Drittstaat) zur Weiterschiebung von Flüchtlingen in einen anderen Staat für befugt, obwohl dort diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, ist die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention im Drittstaat nicht sichergestellt. 45 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), https://www.gesetzeim -internet.de/asylvfg_1992/__26a.html. 46 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 86. Classen, Claus Dieter, „Sichere Drittstaaten – ein Beitrag zur Bewältigung des Asylproblems?“, in: DVBl. 1993, S. 700-705 (701). Kälin, Walter, Das Prinzip des Non-Refoulement, Bern 1982, S. 110. EGMR, M.A. und andere gegen Litauen, Urteil vom 11. Dezember 2018, Beschwerde-Nr. 59793/17, http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-188267, Rn. 104: „It is a matter for the State carrying out the return to ensure that the intermediary country offers sufficient guarantees to prevent the person concerned being removed to his or her country of origin without an assessment of the risks faced.” 47 BVerfGE 94, 49, Urteil vom 14. Mai 1996, Rdnr. 170, http://www.bverfg.de/e/rs19960514_2bvr193893.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 16 Denn gemäß Art. 33 Abs. 1 GFK darf ein Flüchtling nicht auf irgendeine Weise ("in any manner whatsoever") über die Grenzen von Gebieten ausgewiesen oder zurückgewiesen werden, in denen ihm Verfolgung droht. Das Refoulement-Verbot verbietet daher neben der unmittelbaren Verbringung in den Verfolgerstaat auch die Abschiebung oder Zurückweisung in solche Staaten, in denen eine Weiterschiebung in den Verfolgerstaat droht.“ Der EGMR misst der Tatsache, dass eine Ausweisung in einen Mitgliedstaat der EU bzw. der EMRK erfolgen soll, zwar eine gewisse Bedeutung zu, doch lässt er keinen Zweifel daran, dass auch die Abschiebung in einen EMRK-Vertragsstaat unter bestimmten Umständen eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten kann.48 Selbst die Überstellung eines Asylsuchenden in einen anderen EU-Mitgliedstaat könne konventionswidrig sein. So stellte der EGMR im Fall M.S.S. gegen Belgien und Griechenland49 eine Verletzung des Refoulementverbots gem. Art. 3 EMRK fest, weil die belgischen Behörden nach Griechenland überstellt hatten, obwohl sie Kenntnis von den dort herrschenden erniedrigenden Lebensbedingungen in den griechischen Aufnahmelagern hatten. Nach Auffassung des EGMR dürfe also nicht von den formalen Rechtsbindungen, denen ein EMRK-Mitgliedstaat unterliegt, auf die 50tatsächlichen Zustände im Land geschlossen werden. Eine Überprüfung des Einzelfalles bleibt somit unerlässlich.51 Im Fall Ilias u. Ahmed gegen Ungarn hat der EGMR unlängst die ungarische Praxis, die Serbien generell als sicher eingestuft, und die keine Einzelfallgarantie des Zugangs zu einem Asylverfahren (in Serbien) umfasst, als Verletzung von Art. 3 EMRK angesehen. Die Asylsuchenden müssen nach Auffassung des Gerichts an der Grenze Zugang zu einem individuellen Verfahren haben, in dem geprüft wird, ob sie schutzbedürftig sind und ob eine Rückweisung im Einzelfall gegen die Konvention verstößt. „The Court would add that in all cases of removal of an asylum seeker from a Contracting State to a third intermediary country without examination of the asylum requests on the merits, regardless of whether the receiving third country is an EU Member State or not or whether it is a State Party to the Convention or not, it is the duty of the removing State to examine thoroughly the question whether or not there is a real risk of the asylum seeker 48 Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, München: Beck, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 85 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung. Alleweldt, Ralf, Schutz vor Abschiebung und drohender Folter, Berlin, Heidelberg: Springer 1996, S. 61 ff. Walter, Christian, „Abschiebungsschutz für den Kalifen von Köln“, in: JZ 2005, S. 788-791. 49 EGMR (GK), Urteil vom 21. Januar 2011, Beschwerde-Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{%22itemid%22:[%22001-103293%22]}. 50 So auch Thym, Daniel, „Das Ende der Illusion“, in: FAZ vom 26. März 2020, S. 6. https://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/europaeisches-asylrecht-das-ende-einer-illusion- 16696503.html. 51 So auch Arnauld, Andreas v., „Konventionsrechtliche Grenzen der EU-Asylpolitik – Neujustierungen durch das Urteil des EGMR im Fall M.S.S. ./. Belgien und Griechenland“, in: EuGRZ 2011, S. 238-242 (239). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 17 being denied access, in the receiving third country, to an adequate asylum procedure, protecting him or her against Refoulement.”52 Nur unter der Voraussetzung, dass es stimmt, dass den betroffenen Personen in der Türkei keine Verfolgung und keine unmenschliche Behandlung drohen, lässt sich eine Verletzung des Refoulementverbots aus der EMRK und der GFK verneinen. Um dies herauszufinden, bedarf es einer Einzelfallprüfung. 5.2. Massenfluchtbewegungen Im Falle eines drohenden Massenzustroms (mass influx) kann es sich für die Behörden als schwierig bis nahezu unmöglich erweisen, jeden einzelnen Asylantrag nach den menschenrechtlich bzw. europarechtlich vorgegebenen Verfahren zu prüfen.53 Bei Massenfluchtbewegungen hat sich flüchtlingsrechtlich die Praxis herausgebildet,54 bis zur Prüfung des Einzelfalls vorläufigen Schutz zu gewähren und die sogenannte prima-facie- oder Gruppenstatusfeststellung durchzuführen .55 Regierungen sehen den massenhaften Zustrom von Asylsuchenden regelmäßig als Gefahr für den sozialen Frieden56 und damit für die öffentliche Sicherheit ihres Landes an und begründen damit die Aussetzung des Asylrechts und des Refoulementverbots. 52 EGMR, Ilias u. Ahmed gegen Ungarn, Urteil vom 21. November 2019, Beschwerde Nr. 47287/15, Rdnr. 134, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22itemid%22:[%22001-198760%22]}. 53 Vgl. zur Frage des Massenzustroms Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 132 ff. 54 Vgl. zur europarechtlichen Praxis die Regelungen über vorübergehenden Schutz im Rahmen der Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten. 55 UNHCR Guidelines on International Protection No. 11: Prima Facie Recognition of Refugee Status, HCR/GIP/15/11 vom 24. Juni 2015, https://www.refworld.org/docid/555c335a4.html. UNHCR, Protection of Refugees in mass influx situations: Overall protection framework, EC/GC/01/4 vom 19. Februar 2001, https://www.unhcr.org/3ae68f3c24.html. 56 Vgl. Berichte in SPIEGEL online vom 1. März 2020, „Gespannte Lage am Mittelmeer. Bewohner von Lesbos lassen Migranten nicht an Land“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-bewohner-auf-lesboslassen -migranten-nicht-an-land-a-d4a289cd-0d1b-40b6-99ce-74cc2ac89404. Angeblich sollen sich maskierte Bürgerwehren auf den griechischen Inseln an der Migrationsabwehr beteiligt haben. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 18 Während der Vorarbeiten zur GFK sprachen sich einige Staaten explizit für die Möglichkeit aus, Art. 33 GFK anlässlich eines Massenzustroms auszusetzen, wenn anderenfalls die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit und Ordnung ernsthaft gefährdet wäre.57 Dass die Staaten dem Wort „refouler“ eine besondere Bedeutung (i.S.d. Art. 31 Abs. 4 der Wiener Vertragsrechtskonvention ) beizulegen beabsichtigten, wonach das Refoulementverbot bei Massenzuströmen von Asylsuchenden ausgesetzt werden darf, belegen die Dokumente zu den travaux préparatoires allerdings nicht.58 Ein genereller Ausschluss des Refoulementverbots hat insoweit in der GFK keinen Niederschlag gefunden. Als ausdrückliche (und eng auszulegende) Ausnahmeregelung zum Refoulementverbot bestimmt Art. 33 Abs. 2 GFK lediglich: Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwer wiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet (…). Aufgrund der humanitären Zielsetzung der GFK und der fundamentalen Bedeutung des Refoulementverbots für die Verwirklichung dieses Zieles muss diese geschriebene Ausnahme als erschöpfend angesehen werden. Die in Art. 33 Abs. 2 GFK getroffene Regelung setzt eine Gefahr voraus, die von zu erwartenden Straftaten oder einem gefährlichen Verhalten des jeweiligen Asylsuchenden (Terrorismus, Spionage etc.) ausgeht. Die bloße Inanspruchnahme eines Rechts kann dagegen auch dann nicht als „Gefahr“ i.S.d. Art. 33 Abs. 2 GFK betrachtet werden, wenn sie von sehr vielen Personen gleichzeitig geltend gemacht wird.59 Die Ausnahmeregelung in Art. 33 Abs. 2 GFK erstreckt sich somit nicht auf den Tatbestand der Massenfluchtbewegung. Dies hat das EXCOM (Exekutivkomitee des UNHCR), deren Schlussfolgerungen für die Auslegung der GFK rechtserheblich (wenn auch formal nicht bindend) sind, deutlich gemacht: 1. In situations of large scale-influx, asylum seekers should be admitted to the State in which they first seek refuge and if that State is unable to admit them on a durable basis, it should always admit them at least on a temporary basis and provide with protection to the principles set out below (...). 2. In all cases the fundamental principle of non-refoulement – including non-rejection at the frontier – must be scrupulously observed.60 57 Nachweise bei Kälin/Caroni/Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, Oxford University Press 2011, Art. 33 Abs. 1 Rdnr. 133 mit Fn. 363. Hathaway, James C., The Rights of Refugees under International Law, Cambridge 2005, S. 357 ff. 58 Feil, Leonard Amaru, „Der ´Massenzustrom` von Flüchtlingen aus völkerrechtlicher Perspektive“, in: ZAR 2018, S. 155-160 (157). 59 Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Berlin, Heidelberg: Springer 2009, S. 205. 60 EXCOM, Protection of Asylum-Seekers in Situations of Large-Scale Influx, No. 22 (XXXII) 1981, https://www.unhcr.org/3ae68c6e10.html/. Vgl. auch UNHCR Exekutivkomitee Nr. 100 (LV) Beschluss über internationale Zusammenarbeit, Lastenteilung und geteilte Verantwortung in Massenfluchtsituationen, https://www.refworld.org/pdfid/5db843f00.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 19 In der Literatur wird der Massenzustrom zum Teil als ungeschriebene Ausnahme vom Refoulementverbot diskutiert; ein pauschaler Ausschluss des Refoulementverbots in Massenfluchtsituationen wird indes als unzulässig angesehen.61 Dieser Rechtauffassung schließt sich auch der EGMR an, wenn er in der Entscheidung N.D. und N.T. gegen Spanien feststellt:62 “Nevertheless, the Court has also stressed that the problems which States may encounter in managing migratory flows or in the reception of asylum-seekers cannot justify recourse to practices which are not compatible with the Convention or the Protocols thereto.” Allenfalls in extremen Ausnahmesituationen ließe sich an eine Aussetzung des Refoulementverbots denken – etwa wenn bei einem drohenden Massenzustrom aus dem Nachbarland konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich Kriegsverbrecher und Terroristen unter den Flüchtenden befinden, ohne dass eine Prüfung im Einzelfall möglich wäre.63 Auch eine invasionsartige Massenfluchtbewegung, die das wirtschaftliche Überleben eines Staates gefährdet, könnte eine solche extreme Ausnahmesituation begründen. Ob wir mit Blick auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze in rechtlicher Hinsicht überhaupt von einer Massenflucht sprechen können, muss an dieser Stelle offen bleiben: Denn zum einen existieren kaum belastbare Angaben über die tatsächliche Zahl jener, die in dem Camp an der Grenze ausgeharrt haben. Zum anderen lässt sich eine Massenfluchtbewegung zumindest rechtlich gesehen auch nicht exakt beziffern – letztlich handelt es sich um eine politische Einschätzung des betroffenen Staates, bei der die Gesamtumstände sowie die Größe und Leistungsfähigkeit des Staates zu berücksichtigen sind. Griechenland hat das Argument der „Massenflucht“ jedenfalls zu keinem Zeitpunkt als Rechtfertigung seiner Grenzschließung ins Spiel gebracht. 5.3. Öffentlicher Notstand Soweit ersichtlich hat Griechenland wegen der Situation an der griechisch-türkischen Grenze dem Generalsekretär des Europarats gegenüber den öffentlichen Notstand i.S.v. Art. 15 EMRK erklärt.64 Der Notstand würde es einem EMRK-Mitgliedstaat ermöglichen, bestimmte EMRK- Rechte auszusetzen (derogieren). Das Refoulementverbot aus Art. 3 EMRK gehört jedoch gem. 61 Wennholz, Philipp, Ausnahmen vom Schutz vor Refoulement im Völkerrecht, Berlin: BWV 2013, S. 282 ff. Rah, Sicco, Asylsuchende und Migranten auf See, Berlin, Heidelberg: Springer 2009, S. 205 m.w.N. Feil, Leonard Amaru, „Der ´Massenzustrom` von Flüchtlingen aus völkerrechtlicher Perspektive“, in: ZAR 2018, S. 155-160 (157). 62 EGMR, N.D. und N.T. gegen Spanien, Urteil vom 13. Februar 2020, Rdnr. 170. 63 Hathaway, James C., The Rights of Refugees under International Law, Cambridge 2005, S. 362. 64 In einem Interview vom 8. März hat sich indes Griechenlands Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos offenbar auf die Notstandsklausel berufen (vgl. DW vom 20. März 2020, „Asylrecht in Griechenland außer Kraft gesetzt“, https://www.dw.com/de/asylrecht-in-griechenland-au%C3%9Fer-kraft-gesetzt/a-52862008). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 20 Art. 15 Abs. 2 EMRK zu den notstandsfesten Menschenrechten, die auch angesichts eines Massenzustroms rechtlich nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Über die Notstandsfestigkeit des Refoulementverbots und damit seinen absoluten Schutz gibt es in Literatur und Rechtsprechung keinen Dissens.65 Die Staatenpraxis zeigt, dass Staaten Flüchtlingsbewegungen ganz anderer Größenordnungen bewältigt66 und Grenzschließungen in der Regel nur als Präventionsmaßnahme gegen den wirtschaftlichen Kollaps im eigenen Land durchgeführt haben.67 Andererseits lässt sich – soweit ersichtlich – keine konsistente Staatenpraxis ausmachen, wonach Staaten gegen Grenzschließungen anderer Staaten angesichts einer Situation des drohenden Massenzustroms völkerrechtlich protestieren. Doch wird der ausbleibende Protest vielfach politisch motiviert sein.68 5.4. Corona-Pandemie Die Corona-Pandemie überlagert derzeit die Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten zur Linderung der humanitären Notlage an der türkisch-griechischen Grenze.69 Aus nachvollziehbaren Gründen kaum erörtert ist die Frage, ob und inwieweit ein pandemisches Geschehen (wie die aktuelle Corona-Pandemie) Staaten berechtigt, ihre Grenzen zu schließen und das Asylrecht auszusetzen. Mit Blick auf die Situation an der griechisch-türkischen Grenze bleibt festzuhalten, dass die Maßnahmen der griechischen Regierung gegen Asylsuchende bereits zu einem Zeitpunkt vollzogen wurden (nämlich Ende Februar 2020), bevor der „Covid-19“-Ausbruch am 12. März 2020 von 65 Vgl. insoweit EGMR (GK), Urteil vom 15. November 1996, Beschwerde Nr. 22414/93 – Chahal gegen Großbritannien . Progin-Theuerkauf, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, München: Beck, 2. Aufl. 2020, § 20 Rdnr. 14. Lehnert, Matthias, „Die Herrschaft des Rechts an der EU-Außengrenze?“, VerfBlog vom 4. März 2020, https://verfassungsblog.de/die-herrschaft-des-rechts-an-der-eu-aussengrenze/. 66 UNHCR, Zahlen & Fakten zu Menschen auf der Flucht, https://www.unofluechtlingshilfe .de/informieren/fluechtlingszahlen/. 67 FR vom 20. August 2018, „Venezuelas Nachbarn machen die Grenzen dicht“, https://www.fr.de/politik/venezuelas-nachbarn-machen-grenzen-dicht-10958388.html. 68 Auch das Vorgehen Griechenlands an der türkisch-griechischen Grenze im März 2020 wurde hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen kritisiert, während sich die EU-Staaten mit Kritik an Griechenland zurückhielten . 69 DW vom 19. März 2020, „Corona setzt Flüchtlingskinder fest“, https://www.dw.com/de/corona-setztfl %C3%BCchtlingskinder-fest/a-52845534. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 21 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärt wurde70 und in der Folge die EU- Staaten ihre „Schengen“-Grenzen geschlossen haben. Auch hat sich Griechenland zu keinem Zeitpunkt auf die Corona-Pandemie als Grund für die Grenzschließungen berufen, noch dies implizit durch Proklamation des Notstandes nach Art. 15 EMRK zum Ausdruck gebracht.71 Unabhängig davon stellt sich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen dem Refoulementverbot als notstandsfestem Recht und pandemisch begründeten – grundrechtsbeeinträchtigenden – staatlichen Maßnahmen.72 Rechtlich lässt sich dieses Spannungsfeld zwischen Asylrecht und Pandemie bislang nur ansatzweise vermessen: Grundsätzlich gilt, dass auch eine Pandemie keine willkürliche Aussetzung bzw. Außerkraftsetzung von (notstandsfesten) Menschenrechten rechtfertigt.73 So sieht etwa das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) keine Ausnahme vom Asylrecht vor – § 28 IfSG regelt abschließend und enumerativ die infektionsschutzbedingt einschränkbaren Grundrechte des Grundgesetzes. Andererseits ist klar, dass die Corona-Krise und die drastischen Maßnahmen zur Verhinderung einer Weiterverbreitung des SARS-CoV2-Virus auf das Asylsystem nicht ohne Auswirkungen bleiben. So darf und muss die Einreise von Asylsuchenden aus epidemiologischen Gründen so lange verweigert werden (Quarantäne), bis der Infektionsstatus ermittelt ist. Insoweit stellen sich aus behördlicher Sicht rein organisatorisch ähnliche Herausforderungen wie bei der Ermittlung des flüchtlingsrechtlichen Status im Rahmen eines individuellen Asylverfahrens . 6. Fazit Das unbestrittene Recht eines Staates, seine Grenzen gegen illegale Migration und Zustrom von Asylsuchenden zu schützen, findet seine völkerrechtliche Grenze im sog. Refoulementverbot, das – verkürzt formuliert – die Zurückweisung von Personen in Situationen verbietet, in denen ihnen Folter und unmenschliche Behandlung drohen. Der Refoulementgrundsatz findet nicht erst bei Überschreiten der Grenze in den (erhofften) Aufnahmestaat, sondern bereits „an“ der Grenze Anwendung, sobald ein Staat Hoheitsgewalt über die betreffenden Personen ausübt. 70 „WHO erklärt COVID-19-Ausbruch zur Pandemie“, http://www.euro.who.int/de/health-topics/healthemergencies /coronavirus-covid-19/news/news/2020/3/who-announces-covid-19-outbreak-a-pandemic. 71 Art. 15 Abs. 1 EMRK spricht von „Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand“, der „das Leben der Nation bedroht“, worunter sich unschwer auch ein pandemisch begründeter Ausnahmezustand, wie er derzeit in den EU-Staaten herrscht, subsumieren ließe. 72 Vgl. zu aktuellen Diskussion in Deutschland Tagesspiegel vom 18. März 2020, „Viele Geflüchtete dürfen keinen Asylantrag mehr stellen“, https://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland-macht-wegen-coronavirus-dichtviele -gefluechtete-duerfen-keinen-asylantrag-mehr-stellen/25655860.html. 73 So ausdrücklich Maximilian Pichl im Tagesspiegel vom 18. März 2020, a.a.O. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 028/20 Seite 22 Ein völliges „Abschotten“ der Grenze zwecks Verhinderung der Einreise lässt das Refoulementverbot im Kern leerlaufen und ist mit Sinn und Zweck dieses fundamentalen Menschenrechts nicht vereinbar. Die ständige Rechtsprechung des EGMR zu den positive obligations (Gewährleistungsverpflichtungen ) sowie die Auslegungsmaxime der „praktischen Wirksamkeit“ (effet utile) der EMRK-Rechte legen es nahe, eine Verpflichtung Griechenlands dahingehend anzunehmen, reguläre Grenzübergänge zu öffnen, um einen effektiven Zugang zu einem individuellen Asylverfahren faktisch zu ermöglichen. Dreh- und Angelpunkt bildet das Recht auf individuelle Überprüfung des flüchtlings- bzw. migrationsrechtlichen Status des Betroffenen. Der Gedanke der Einzelfallbetrachtung, dem nicht nur das Verbot von Kollektivausweisungen zugrunde liegt, sondern der auch das Konzept des „sicheren Drittstaates“ zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit durchbricht bzw. „korrigiert“, gehört zu den fundamentalen Postulaten der Rechtsstaatlichkeit.74 Das Refoulementverbot soll nicht-revidierbare aufenthaltsbeendende Maßnahmen ohne Ansehen der Person verhindern. Erst nach einer Einzelfallprüfung kann der Staat die Zurückweisung eines Asylsuchenden, dessen Status sich ex post als nicht schutzwürdig erweist, in rechtstaatlich einwandfreier Weise vornehmen. Weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die EMRK enthalten eine rechtlich tragfähige Grundlage für die Außerkraftsetzung des Refoulementverbots für Asylsuchende an der griechisch -türkischen Grenze. Auch die drohende Gefahr eines Massenzustroms, ein öffentlicher Notstand oder eine Pandemie berechtigen nicht zur pauschalen Aussetzung des Refoulementgrundsatzes . Dieser gilt vielmehr absolut, d.h. auch bei Zurückweisung in einen – vermeintlich – sicheren Drittstaat. Nach der wohl nahezu einhelligen Auffassung in der deutsch- und englischsprachigen Völkerrechtsliteratur 75 und auch nach Einschätzung des Verfassers dieser Arbeit dürfte sich die Abschottungspolitik an der griechisch-türkischen Grenze - d.h. die Zurückweisungsmaßnahmen griechischer Behörden ohne Ansehen der Person - mit dem völkerrechtlich verankerten Refoulementverbot kaum vereinbaren lassen. Die im Februar dieses Jahres ergangene und völkerrechtlich durchaus kontrovers diskutierte EGMR-Entscheidung gegen Spanien, die vor allem im politischen Raum zur Legitimierung der Grenzsicherungsnahmen Griechenlands an der griechischtürkischen Grenze herangezogen wurde, wird sicherlich auch Folgen für die europäische Migrationspolitik an den EU-Außengrenzen zeitigen. Indes tastet die EGMR-Entscheidung nach Auffassung des Verfassers jedoch den Kern des Refoulementverbots, dem prozedural vor allem das Postulat der individuellen Einzelfallprüfung zugrunde liegt, nicht an. *** 74 Vgl. zum Begriff der Einzelfallgerechtigkeit Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, München: Beck, 2. Aufl 1989, § 24. 75 Die völkerrechtliche Diskussion in Griechenland selbst konnte dabei allerdings nicht mit berücksichtigt werden.