© 2021 Deutscher Bundestag WD 2 – 3000 - 027/21 Die Uiguren in Xinjiang im Lichte der Völkermordkonvention Zum Tatbestand des Völkermordes, zu den rechtlichen Implikationen für deutsche Unternehmen und den Reaktionsmöglichkeiten der Staatengemeinschaft Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Zum Tatbestand des Völkermordes nach Art. 2 der Völkermordkonvention 5 1.1. Einführung 5 1.2. Gegenstand und Gang der Untersuchung 8 1.3. Die Völkermordkonvention und der Tatbestand des Genozids 10 1.4. Die geschützten Gruppen nach der Völkermordkonvention 13 1.4.1. Die Uiguren als ethnische Gruppe 16 1.4.2. Die Uiguren als religiöse Gruppe 21 1.4.3. Zwischenfazit 24 1.5. Die objektiven Tathandlungen des Völkermords 25 1.5.1. Artikel 2 (a) : Die Tötung von Gruppenmitgliedern 26 1.5.2. Artikel 2 (b) : Die Verursachung schweren körperlichen oder seelischen Schadens 27 1.5.3. Artikel 2 (c): Die Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen 33 1.5.4. Artikel 2 (d): Die Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung 37 1.5.5. Artikel 2 (e): Die zwangsweise Überführung von Kindern 42 1.5.6. Zwischenfazit 45 1.6. Die subjektiven Voraussetzungen des Völkermords 45 1.6.1. Die Zerstörungsabsicht 46 1.6.1.1. Relevante Indizien und ihre Analyse 48 1.6.1.2. Zur restriktiven und extensiven Auslegung des Zerstörungsbegriffs 62 1.6.1.3. Zwischenfazit 67 1.6.2. Das (Teil-)Gruppenelement 67 1.6.3. Das Motivelement 69 1.7. Kontextualisierung der Rechtsprechung zum subjektiven Völkermordtatbestand (Zerstörungsabsicht) 71 1.8. Fazit 72 2. Rechtliche Implikationen der Situation der Uiguren für deutsche Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang 73 2.1. Medienberichterstattung zur Rolle deutscher Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang 73 2.2. Menschenrechtliche und unternehmerische Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang für ihre Lieferkette 75 2.2.1. VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 75 2.2.2. Entwurf der Bundesregierung für ein Lieferkettengesetz 79 2.3. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von deutschen Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang 81 2.3.1. Strafbarkeit der Beihilfe 81 2.3.2. Beihilfehandlungen 82 2.4. Fazit 84 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 4 3. Rechtliche Reaktionsmöglichkeiten und völkerrechtliche Verpflichtungen der Staatengemeinschaft 85 3.1. Einführung und Gang der Erörterung 85 3.2. Rechtlicher Rahmen für die Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen und die Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen 88 3.2.1. Zwingendes Völkerrecht und das Konzept der erga omnes- Verpflichtungen 88 3.2.2. Regelungen zur Staatenverantwortlichkeit 90 3.3. Rechtliche Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen 91 3.3.1. Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof 91 3.3.2. Staatenbeschwerdeverfahren vor menschenrechtlichen Spruchkörpern 94 3.3.3. Unabhängige Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen 95 3.4. Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen 97 3.4.1. Gegenmaßnahmen 97 3.4.2. Humanitäre Intervention 99 3.5. Verpflichtung zur Verhinderung eines Genozids 99 3.5.1. Geographischer Anwendungsbereich der Völkermordkonvention 100 3.5.2. Zeitliche Dimension 100 3.5.3. Inhalt der Verhinderungspflicht 101 3.6. Bestrafungspflicht und strafrechtliche Verfolgung 103 3.6.1. Regelungen über die Strafbarkeit 103 3.6.2. Universelle Strafverfolgung 105 3.6.3. Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof 105 3.6.4. Verfahren vor nationalen Strafgerichten 107 3.6.5. Exkurs: Zum Unterschied zwischen Völkermordverfahren vor nationalen Strafgerichten und Völkermordverfahren vor dem IGH 108 3.6.6. Völkerrechtliche Immunität als Verfahrenshindernis 109 3.7. Zur Befassung der Vereinten Nationen mit der Genozidfrage 113 3.7.1. VN-Sicherheitsrat 114 3.7.2. VN-Generalversammlung und Generalsekretariat 115 3.7.3. VN-Menschenrechtsrat 116 3.8. Befassung nationaler Parlamente mit der Frage „Völkermord an den Uiguren“ 118 3.8.1. Parlamentarische Praxis 119 3.8.2. Rechtsfragen zu schlichten Parlamentsbeschlüssen 121 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 5 Teil I 1. Zum Tatbestand des Völkermordes nach Art. 2 der Völkermordkonvention 1.1. Einführung Am 19. Januar 2021 bezeichnete der damalige US-Außenminister Mike Pompeo im Namen der Trump-Administration die Unterdrückung der Bevölkerungsgruppe der Uiguren und anderer mehrheitlich muslimischer Minderheiten durch die chinesische Regierung als Genozid.1 Kurz darauf erklärte der zu diesem Zeitpunkt designierte US-Außenminister Antony Blinken, dass er diese Auffassung teile.2 Im aktuellen Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums, der am 30. März 2021 vorgestellt wurde, ist ebenfalls von einem Genozid an den Uiguren in China die Rede.3 Auch das kanadische, niederländische sowie das britische Parlament verabschiedeten jeweils Resolutionen, in denen das Vorgehen der chinesischen Führung als Völkermord deklariert wird.4 All diese Erklärungen haben allerdings gemein, dass die politischen Akteure sich nicht juristisch mit den Tatbestandsvoraussetzungen des Völkermordes auseinandersetzten. In anderen Staaten, wie etwa in Belgien oder in Australien finden aktuell noch Debatten darüber statt, ob der Vorwurf des Genozids erhoben werden kann.5 Auf die bereits erhobenen Vorwürfe 1 USA, Department of State, Determination of the Secretary of State on Atrocities in Xinjiang, abrufbar unter: Determination of the Secretary of State on Atrocities in Xinjiang - United States Department of State. Für einschlägige Presseberichte s. etwa: „US: China ´committed genocide against Uighurs`“, BBC vom 20. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-us-canada-55723522; sowie Wong/Buckley, „U.S. Says China ´s Repression of Uighurs is ´Genocide`, New York Times vom 22. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.nytimes.com/2021/01/19/us/politics/trump-china-xinjiang.html; und Hudson, „At the 11th hour, Trump administration declares China´s treatment of Muslims in Xinjiang ´genocide`, The Washington Post vom 19. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.washingtonpost.com/national-security/trump-china-genocideuighur -muslims/2021/01/19/272a9df4-5a7f-11eb-aaad-93988621dd28_story.html. 2 Wörtlich: „That would be my judgment as well“, s. Anthony Blinken´s Senate confirmation hearing for Secretary of State, abrufbar unter: https://www.pbs.org/newshour/politics/watch-live-senate-committee-on-foreignrelations -holds-confirmation-hearing-for-antony-blinken, ab 1:57:58. 3 USA, Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor, “2020 Country Reports on Human Rights Practices”, Preface von Secretary of State Antony Blinken, abrufbar unter: https://www.state.gov/reports/2020-country-reports-on-human-rights-practices/; sowie speziell im Länderbericht zu China: China (Includes Hong Kong, Macau, and Tibet) - United States Department of State. Kritisch zur US-Einschätzung Sachs/Schabas, „The Xinjiang Genocide Allegations Are Unjustified“, Project Syndicate vom 20. April 2021, abrufbar unter: https://www.project-syndicate.org/commentary/biden-should-withdrawunjustified -xinjiang-genocide-allegation-by-jeffrey-d-sachs-and-william-schabas-2021-04. 4 Vgl. dazu unten Teil III, 3.8.1. 5 Ernst, „Das Parlament der Niederlande wertet die Behandlung der Uiguren in China als Genozid,“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/niederlandebezichtigt -china-des-genozids-an-uiguren-ld.1603943; Inter-Parliamentary Alliance on China, “Belgian parliamentarians call for government to declare ´genocide` in Xinjiang”, 18. Februar 2021, abrufbar unter: https://ipac.global/belgian-parliamentarians-call-for-government-to-declare-genocide-in-xinjiang-reject-euchina -cai-deal/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 6 reagierte die chinesische Regierung jedenfalls mit vehementem Protest und wies die Anschuldigungen zurück.6 Am 22. März 2021 verurteilte dann auch die Europäische Union (EU) das Vorgehen der chinesischen Führung, sprach hingegen nicht von Genozid, sondern von Menschenrechtsverstößen und verhängte in der Folge Sanktionen gegen vier Personen, die sie für den Umgang mit den Uiguren verantwortlich macht – darunter den Direktor des Büros für öffentliche Sicherheit in Xinjiang, Chen Mingguo.7 Daraufhin konterte die chinesische Regierung mit Gegensanktionen und das chinesische Außenministerium verlautbarte, die EU-Sanktionen beruhten auf Lügen und Desinformation .8 Außerdem haben sich in der Vergangenheit mehrere Nichtregierungsorganisationen und Think Tanks in diversen Studien mit der Situation in Xinjiang auseinandergesetzt und die Thematik auch rechtlich näher beleuchtet. Exemplarisch sind hier die erst kürzlich veröffentlichten Studien des Newlines Institute9 und von Human Rights Watch in Zusammenarbeit mit der Mills Legal Clinic der Stanford Law School10 zu nennen, die sich mit der Frage von Genozid bzw. Verbrechen gegen die Menschlichkeit insbesondere an den Uiguren auseinandersetzen. Aus politischer Sicht scheint die „Causa“ der Uiguren mittlerweile stellvertretend für die menschenrechtspolitische Frontstellung zwischen einem westlich-liberalen und einem autoritären Menschenrechtsverständnis chinesischer Prägung zu stehen. 6 Siehe auch hierzu Teil II dieser Ausarbeitung. 7 „EU verhängt Sanktionen gegen China wegen Uiguren“, Merkur vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.merkur.de/politik/eu-verhaengt-sanktionen-gegen-china-wegen-uiguren-zr-90256003.html; „EU verhängt Sanktionen gegen China“, Süddeutsche Zeitung vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-eu-sanktionen-menschenrechtsverletzungen-1.5242785; „EU verhängt Sanktionen gegen China“, Tagesschau vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-sanktionen-117.html. 8 Heide/Koch/Riedel, „China reagiert auf Strafen der EU mit starken Sanktionen – Streit droht zu eskalieren“, Handelsblatt vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/reaktionauf -eu-strafmassnahmen-china-reagiert-auf-strafen-der-eu-mit-starken-sanktionen-streit-droht-zueskalieren /27027696.html?ticket=ST-744753-C7bYw5e11qob4wYQZL53-ap5; „EU verhängt Sanktionen gegen China“, Süddeutsche Zeitung vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/chinaeu -sanktionen-menschenrechtsverletzungen-1.5242785; „China verhängt Sanktionen gegen Europäer“, Zeit Online vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-03/eu-verhaengt-wegenunterdrueckung -der-uiguren-sanktionen-gegen-china?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com. 9 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, abrufbar unter: https://newlinesinstitute.org/wp-content/uploads/Chinas-Breaches-of-the- GC3.pdf. Kritisch zu den Verfassern dieser Studie Sachs/Schabas, „The Xinjiang Genocide Allegations Are Unjustified “, Project Syndicate vom 20. April 2021, abrufbar unter: https://www.projectsyndicate .org/commentary/biden-should-withdraw-unjustified-xinjiang-genocide-allegation-by-jeffrey-d-sachsand -william-schabas-2021-04. 10 Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 7 Die Vorwürfe, die gegen die Kommunistische Partei Chinas bzw. die chinesische Regierung erhoben werden, wiegen jedenfalls schwer – und das unabhängig von der jeweiligen konkreten juristischen Klassifizierung11. Denn sowohl der Völkermord12 als auch schwere Menschenrechtsverstöße 13 stellen Völkerstraftaten dar und können grundsätzlich mit harten und Höchststrafen14 geahndet werden. Zwar handelt es sich bei der Einstufung bestimmter Handlungen als Genozid um einen besonders gravierenden Vorwurf, gilt der Völkermord gemeinhin doch auch als das „Verbrechen der Verbrechen“15; die Pönalisierung des Genozids erfolgte schließlich unter dem Eindruck des Schreckens des von den Nationalsozialisten verübten Holocaust16. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechtsverstöße, je nach Konstellation, ebenfalls sehr schwer wiegen können und die mediale Fokussierung der Diskussion auf einen möglichen Genozid eher politisch zu begründen ist – eine rechtliche Bagatellisierung von anderen Menschlichkeitsverbrechen darf damit jedenfalls nicht einhergehen.17 In der Tat handelt es sich beim Völkermord um einen höchst komplexen Tatbestand, dessen Voraussetzungen – wie sich auch im Verlauf der Untersuchung mehrfach zeigen wird – sich in aller Regel nur sehr schwer nachweisen lassen. 11 In diesem Sinne wohl auch Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usachina -der-vorwurf-eines-genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. 12 Nach Art. 2 Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948; sowie nach Art. 6 IStGH-Statut; und Art. 4 JStGH- Statut; sowie nach Art. 2 RStGH-Statut; und § 6 VStGB. 13 Zum Beispiel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, etwa gem. Art. 7 IStGH-Statut; sowie nach Art. 5 JStGH- Statut; und nach Art. 3 RStGH-Statut; oder nach § 7 VStGB. 14 Hierunter ist nach hiesigem Verständnis lebenslange Freiheitsstrafe zu verstehen, etwa gem. Art. 77 Abs. 1 b) IStGH-Statut; oder nach § 6 Abs. 1 VStGB bzw. § 7 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 1 Nr. 3 – 7 i.V.m. Abs. 3 VStGB. 15 „The Crime of Crimes“, s. etwa den Untertitel des Werkes von William A. Schabas, ders., Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009. Siehe auch Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-eines-genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500, wo den Autoren zufolge der Genozid im Völkerrecht als das „schlimmste aller Verbrechen“ gelte. Diese Klassifizierung ist insofern missverständlich, als dass auch das Verbrechen der Aggression als das Verbrechen der Verbrechen bezeichnet wird. 16 Siehe etwa Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 30 m.w.N. in Fn. 183. 17 In diesem Sinne auch Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usachina -der-vorwurf-eines-genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500; sowie Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-was-uiguren-durchmachenld .1605079. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 8 1.2. Gegenstand und Gang der Untersuchung Gegenstand dieser Untersuchung ist die Frage, ob die Volksrepublik China mit Blick auf die uigurische Minderheit in der westchinesischen Provinz Xinjiang Völkermord im Sinne der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 (Völkermordkonvention )18 begangen hat bzw. weiterhin begeht. Es geht somit ausschließlich um die Frage, ob die Voraussetzungen des Genozids durch das Handeln des chinesischen Staates erfüllt sind; andere Menschenrechtsverstöße werden nicht juristisch geprüft. Auch eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit – etwa von Mitgliedern der chinesischen Regierung oder vom Wachpersonal der Lageranstalten – ist nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung. Dabei ist es bedeutsam, dass der Völkermordtatbestand als Prototyp eines staatlichen Großverbrechens verstanden wird, das zumeist von einer Staatsführung und/oder staatsnahen „Elite“ geplant und intellektuell „scheinlegitimiert“, von einem technokratischen Beamtenapparat organisiert und gelenkt sowie durch eine Vielzahl von Helfern und Mitläufern durchgeführt wird.19 Der Völkermord tritt damit häufig als Makroverbrechen in Erscheinung. Da die Völkermordkonvention nur Staaten als solche verpflichtet und deshalb die Vorschriften nur von Staaten verletzt werden können, diese jedoch selbst nicht handlungsfähig sind, sondern sich natürlicher Personen bedienen müssen, ist es für eine Verletzung der Völkermordkonvention durch einen Staat notwendig, dass das Handeln dem Staat zugerechnet wird. Maßgeblich hierfür sind die Art. 4 ff. der Draft Articles der International Law Commission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit.20 Demnach ist das Handeln von Staatsorganen21 einem Staat ebenso zurechenbar (Artikel 4) wie das von Privatpersonen, sofern diese bei der Ausführung nach Anweisung des Staates handeln oder unter seiner direkten Kontrolle stehen (Artikel 8). Grundsätzlich kann somit sowohl das Handeln eines Soldaten zugerechnet werden als auch das eines Angestellten eines Unternehmens des Privatrechts. Umstritten ist jedoch, welche konkreten 18 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Approved and proposed for signature and ratification or accession by General Assembly resolution 260 A (III) of 9 December 1948, Entry into force: 12 January 1951, in accordance with article XIII, abrufbar unter: https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/atrocitycrimes /Doc.1_Convention%20on%20the%20Prevention%20and%20Punishment%20of%20the%20Crime%20o f%20Genocide.pdf; die deutschsprachige, nicht authentische, Fassung ist abrufbar unter: https://www.voelkermordkonvention.de/. 19 Siehe etwa Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate – an der Grenze von individueller und kollektiver Verantwortlichkeit, Baden-Baden: Nomos, 2002, S. 107. 20 Siehe hierzu auch Teil II dieser Ausarbeitung. 21 Was als Staatsorgan zu erachten ist, richtet sich nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht, Artikel 4 Abs. 2 der Draft Articles. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 9 Merkmale des jeweiligen Handelns des Einzelnen im Zusammenhang mit dem Völkermordtatbestand zurechenbar sind bzw. welche konkreten Merkmale der Einzelne selbst aufweisen muss.22 Teilweise wird vertreten, dass die jeweils handelnde natürliche Person, also das Individuum, alle Tatbestandsmerkmale selbst erfüllen muss und diese dann insgesamt dem Staat als Völkerrechtssubjekt zugerechnet werden können.23 Demnach muss etwa ein Soldat eine der in Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention niedergelegten Tatbegehungsvarianten selbst begehen und zugleich alle subjektiven Voraussetzungen, wie z.B. die erforderliche Zerstörungsabsicht, selbst aufweisen. Dann werden diese objektiven und subjektiven Merkmale zusammen dem Staat, in dessen Streitkräften der Soldat tätig ist, zugerechnet. Nach anderer Ansicht genügt es für eine Zurechnung hingegen, wenn das Individuum nur die objektiven Tatbestandselemente selbst verwirklicht, also eine Handlung im Sinne des Artikels 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention begeht – vorausgesetzt, auf der Ebene der Staatsführung ist eine sog. „Völkermordpolitik“ oder zumindest ein Verhaltensmuster vorhanden, aus dem eine entsprechende Zerstörungsabsicht ableitbar ist.24 Der Einzelne muss somit selbst keine Zerstörungsabsicht aufweisen. Damit wird die andernfalls eintretende Problematik umgangen, dass dem Staat dann kein Völkermord zugerechnet werden kann – obwohl eine solche Völkermordpolitik vorhanden ist – wenn die Ausführung lediglich durch Mitläufer erfolgt, die selbst keine Zerstörungsabsicht aufweisen. Ob ein solches Ergebnis mit dem Sinn und Zweck des Völkermordtatbestands vereinbar ist, erscheint höchst fraglich. Doch auch unabhängig von diesem teleologischen Argument, bereitet der andere Ansatz für eine Untersuchung fernab vom tatsächlichen Geschehen rein praktisch gesehen erhebliche Schwierigkeiten : Denn wenn – wie hier – keine Informationen über die subjektive Einstellung der konkret handelnden Personen vorliegen, die im Hinblick auf eine Zerstörungsabsicht ausgewertet werden können, lässt sich keine Aussage über die Verwirklichung des Tatbestands treffen. Letzteres könnte nur im Rahmen eines gerichtlichen Strafverfahrens erfolgen. Um dem Staat ein bestimmtes Handeln zuzurechnen, müssen die auszuwertenden Quellen daher auf eine mögliche Völkermordpolitik bzw. ein entsprechendes Verhaltensmuster von Seiten der chinesischen 22 Siehe hierzu die uneindeutige Rechtsprechung des IGH, in: Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf; sowie in: Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/caserelated /91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf. Hierzu auch Behrens, Between Abstract Event and Individualized Crime: Genocidal Intent in the Case of Croatia, Leiden Journal of International Law, Vol. 28, 2015, S. 923ff. 23 Dazu Milanovic, “State Responsibility for Genocide”, in: European Journal of International Law, Vol. 17, No. 3, 2006, S. 553ff.; ders., “State Responsibility for Genocide: A Follow-Up”, in: European Journal of International Law, Vol. 18, No. 4, 2007, S. 669 ff.; Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 70. 24 Dazu Gaeta, “On What Conditions Can a State Be Held Responsible for Genocide?”, in: European Journal of International Law, Vol. 18, No. 4, 2007, S. 631 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 10 Regierung untersucht werden, sodass nur dieser Ansatz der Ausarbeitung zugrunde gelegt werden kann. Im Ergebnis wird jedenfalls davon ausgegangen, dass das nachfolgend zu untersuchende Verhalten dem chinesischen Staat als Völkerrechtssubjekt zuzurechnen ist,25 weshalb keine explizite Auseinandersetzung mit der Frage der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit erfolgt.26 Im ersten Teil werden die Tatbestandsmerkmale eines Genozids im Sinne der Völkermordkonvention erläutert und dabei geprüft, inwieweit die Behandlung der Uiguren in Xinjiang die Merkmale des Völkermordtatbestands erfüllen. Der Fokus der Untersuchung liegt in einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Begriffsmerkmalen des Völkermordes. Eine Aufklärung des Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht ist dagegen nicht Aufgabe der Wissenschaftlichen Dienste . Für die Subsumtion kann daher nur eine – möglichst repräsentative27 – Auswahl öffentlich zugänglicher Quellen und Berichte zugrunde gelegt werden; andere Informationsquellen liegen den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages nicht vor. 1.3. Die Völkermordkonvention und der Tatbestand des Genozids Der Verabschiedung der Völkermordkonvention in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 ging ein intensiver Ausarbeitungsprozess28 voraus. Als geistiger 25 So im Ergebnis etwa Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 46 ff. 26 Für die grundsätzliche Frage der Staatenverantwortlichkeit für Verletzungen der Völkermordkonvention s. Seibert -Fohr, „State Responsibility for Genocide under the Genocide Convention“, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 349 ff. 27 In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass an einem nicht unbeachtlichen Teil der veröffentlichen Studien zu den Uiguren in Xinjiang der Forscher Adrian Zenz beteiligt war, der sich schwerpunktmäßig mit Chinas Minderheitenpolitik beschäftigt und sich dabei insbesondere mit den Regionen Tibet und Xinjiang auseinandersetzt . Anderweitige Berichte zu dem Thema der Behandlung der Uiguren durch die chinesische Regierung beziehen sich dementsprechend häufig auf die Arbeit von Adrian Zenz. Die bereits angesprochenen Gegensanktionen der chinesischen Regierung richten sich unter anderem auch gegen ihn persönlich, s. Heide/Koch/Riedel, China reagiert auf Strafen der EU mit starken Sanktionen – Streit droht zu eskalieren, Handelsblatt vom 22. März 2021, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/international/reaktion-auf-eustrafmassnahmen -china-reagiert-auf-strafen-der-eu-mit-starken-sanktionen-streit-droht-zueskalieren /27027696.html?ticket=ST-4771218-UHytny7l1wrfgHdQ39gY-ap5. Darüber hinaus wird Adrian Zenz mit seiner Arbeit gezielt von chinesischer Seite diskreditiert, indem er u.a. als „eingeschworener Rassist" bezeichnet und der „Lüge“ bezichtigt wird, vgl. Botschaft der Volksrepublik China in Deutschland, Erklärung vom 9. März 2021, http://de.china-embassy.org/det/sgyw/t1859726.htm. 28 Hierzu ausführlich Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 59 ff.; s. auch Jeßberger, “The Definition and the Elements of the Crime of Genocide”, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 90 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 11 Schöpfer dieser Entwicklung gilt der polnisch-jüdische Völkerrechtler Raphael Lemkin,29 der mit seinem Werk „Axis Rules in Occupied Europe“30 die gedankliche Grundlage für eine völkerrechtliche Konvention schuf und den Begriff des „Genozids“ erstmals juristisch definierte.31 Seit ihrer Verabschiedung und dem Inkrafttreten am 12. Januar 1951 sind der Konvention insgesamt 152 Staaten beigetreten;32 von der weit überwiegenden Mehrheit wurde sie bereits ratifiziert.33 China selbst hat die Konvention 1949 unterzeichnet und 1983 ratifiziert. Mit Artikel 1 der Völkermordkonvention verpflichten sich alle Vertragsstaaten zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord, der als Völkerstraftat anerkannt wird. Artikel 2 der Konvention legt sodann die Voraussetzungen fest, bei deren Vorliegen der Tatbestand erfüllt ist: „In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with intent to destroy , in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; 29 Lemkin (1900-1959) promovierte 1926 an der Universität Lemberg (ukr.: Lwiw) zum Doktor der Rechte, arbeitete dann in Warschau als Staatsanwalt, ehe er mit Beginn des 2. Weltkrieges über Schweden in die USA emigrierte, wo er zunächst eine Lehrtätigkeit an der Duke University aufnahm und dann als Berater für internationales Recht an der Foreign Economic Administration in Washington wirkte. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen assistierte Lemkin dem Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten. Vgl. zur Entstehung des Völkermordbegriffs Philippe Sands, „Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Frankfurt a. M.: Fischer, 2018. Gunnar Heinsohn, „Ein Moses gegen den Völkermord“, in: Die Welt vom 2. April 2004, https://www.welt.de/print-welt/article308821/Ein-Moses-gegen-den-Voelkermord.html. 30 Lemkin, Axis Rules in Occupied Europe, Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, 1944, S. 79 ff., abrufbar unter: http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944-1.htm. 31 Siehe auch Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500, wo Raphael Lemkin als „Vater“ der Genozidkonvention bezeichnet wird. 32 United Nations, Treaty Collection, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, abrufbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4. 33 International Committee of the Red Cross, Treaties, States Parties and Commentaries, Convention on the Prevention and the Punishment of the Crime of Genocide, abrufbar unter: Treaties, States parties, and Commentaries - Convention on the Prevention and Punishment of Genocide, 1948 (icrc.org). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 12 (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.“34 Die deutsche (allerdings nicht authentische und damit auch nicht maßgebliche) Sprachfassung lautet wie folgt: “In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schweren körperlichen oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.”35 Demnach lässt sich der Tatbestand in drei verschiedene Teile aufteilen, die sogleich auch für den Gang der Untersuchung maßgeblich sein werden: die geschützte Gruppe als Tatobjekt, die objektive Tathandlung und die subjektive Tatseite. Artikel 3 der Völkermordkonvention bestimmt schließlich, dass – abgesehen von der eigenen Tatbegehung36 – auch weitere Begehungs- und Beteiligungsformen im Zusammenhang mit dem Genozid strafbar sind.37 34 Article II, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, abrufbar unter: Doc.1_Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide.pdf. 35 UN-Völkermordkonvention, Völkermord – eine Begriffsbestimmung, Artikel II, abrufbar unter: https://www.voelkermordkonvention.de/voelkermord-eine-begriffsbestimmung-9308/. 36 Siehe hierzu Zahar, “Perpetrators and Co-Perpetrators of Genocide”, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 139 ff. 37 Darunter sind zu verstehen: Mittäterschaft (s. hierzu Zahar, Perpetrators and Co-Perpetrators of Genocide, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 139 ff); Beihilfe (s. hierzu van Sliedregt, Complicity to Commit Genocide, a.a.O. S. 162 ff.); Versuch, (s. hierzu Ohlin, Attempt to Commit Genocide, a.a.O., S. 193 ff.) und Anstiftung zum Völkermord (s. hierzu ders., Incitement and Conspiracy to Commit Genocide, a.a.O., S. 207 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 13 Der Tatbestand des Artikel 2 der Völkermordkonvention wurde in eben jener Form auch für die Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (JStGH)38 und des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (RStGH)39 übernommen, ebenso für das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)40. Diese Statuten stellen völkerrechtliche Verträge dar, die – hinsichtlich des Genozidtatbestands auf Grund der jeweils übernommenen Definitionen aus der Völkermordkonvention – als spätere Praxis i.S.d. Art. 31 Abs. 3 a) Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) anzusehen sind. Sie können daher zur Auslegung der Völkermordkonvention herangezogen werden. Zudem hat die Bundesrepublik Deutschland mit dem Inkrafttreten des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB) den Völkermordtatbestand in das nationale Recht eingeführt (§ 6 VStGB). Zuerst wird die Frage untersucht, welches Schutzobjekt von Artikel 2 der Völkermordkonvention erfasst wird und ob die Uiguren als solche dazu gezählt werden können. 1.4. Die geschützten Gruppen nach der Völkermordkonvention Im sog. Chapeau, also im vorgezogenen „Kopfteil“ des Artikel 2 der Völkermordkonvention werden insgesamt vier Gruppenarten aufgezählt, die jeweils41 als konkretes Schutzobjekt des Tatbestands festgelegt werden: nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen. Anders als eine laienhafte Betrachtung des Völkermordtatbestands anmuten mag, ist im Hinblick auf das Schutzobjekt somit nicht der Begriff des Volkes maßgeblich, sondern der der Gruppe. Dabei wird der Gruppenbegriff so verstanden, dass er einen bestimmten, auf Dauer zusammengeschlossenen 42 Teil der Bevölkerung erfasst, dessen Mitglieder43 gemeinsame Merkmale aufweisen, welche sie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft unterscheiden.44 Ganze Völker mögen damit zwar auch die Voraussetzungen erfüllen, die der Gruppenbegriff aufstellt – es ist für den Schutz durch 38 Art. 4 JStGH-Statut, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/file/Legal%20Library/Statute/statute_sept09_en.pdf. 39 Art. 2 RStGH-Statut, abrufbar unter: https://legal.un.org/avl/pdf/ha/ictr_EF.pdf. 40 Art. 6 IStGH-Statut, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/resource-library/documents/rs-eng.pdf. 41 Siehe den Wortlaut der Vorschrift „or“ also „oder“. 42 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 34. 43 Im Übrigen muss die von der jeweiligen Tathandlung betroffene Person objektiv der Gruppe angehören, also tatsächlich Gruppenmitglied sein, RStGH, Urteil vom 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu , ICTR 96-4-T, Rdnr. 721; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 46. Diese Voraussetzung stellt jedoch im Rahmen der hiesigen Untersuchung keine Schwierigkeit dar. 44 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 29; s. auch United Nations, Economic and Social Council, Draft Convention on the Crime of Genocide, UN Doc. E/447, S. 21, abrufbar unter: https://undocs.org/E/447; sowie Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 121f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 14 Artikel 2 der Völkermordkonvention hingegen nicht erforderlich, dass sich die Handlung(en) gegen ein (ganzes) Volk richten; die Schwelle ist also weitaus niedriger angelegt. Andere als die im Chapeau von Artikel 2 genannten Gruppen45, werden als solche46 allerdings nicht vom Schutzbereich erfasst,47 da die Aufzählung der Gruppenarten abschließend ist48. Dahinter steht der Gedanke, dass es sich bei diesen vier Charakteristika weitgehend um angeborene Merkmale handele, die nur schwer bzw. lediglich gegen den Willen des Betroffenen änderbar seien und die daher zu einer gewissen Homogenität und inneren Stabilität innerhalb einer Gruppe führen würden.49 Inwiefern dies auch heute noch tatsächlich zutrifft – vor allem etwa im Hinblick auf die religiöse Gruppenzugehörigkeit, bspw. in „westlich“ geprägten Gesellschaften, aber auch bzgl. des heutzutage wohl häufiger vorkommenden Wechsels der Staatsangehörigkeit – kann dahingestellt bleiben: auch später wurde die abschließende Aufzählung als solche nicht bezweifelt,50 sodass zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls nur die im Chapeau des Artikel 2 genannten Merkmale für den Tatbestand relevant sind.51 45 Siehe hierzu ausführlich Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 134 ff. der auf verschiedene weitere Gruppentypen eingeht. 46 Grundsätzlich sind auch Überschneidungen verschiedener Identitätsmerkmale möglich, etwa dann, wenn innerhalb einer ethnischen Gruppe auch eine politische Gruppe besteht. Es liegt jedoch kein Völkermord vor, wenn gegen die Mitglieder der politischen Gruppe wegen dieser Zugehörigkeit vorgegangen wird. Vielmehr kann der Tatbestand nur dann erfüllt sein, wenn sich die Handlung(en) gegen eine der vier aufgezählten Gruppentypen richtet – dass dann darüber hinaus auch eine weitere, nicht explizit genannte Eigenschaft vorhanden ist, deretwegen sich die Opfer zusammengeschlossen haben, hindert die Verwirklichung des Tatbestands nicht. 47 Schabas weist darauf hin, dass die International Law Commission nach der Verabschiedung der Völkermordkonvention über mehrere Jahre hinweg erwog, die abschließende Aufzählung in eine nicht abschließende Nennung zu ändern, bevor sie schließlich von dieser Idee Abstand nahm, Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 151 mit entspr. Nachweisen. Dort wird auch auf das kanadische Umsetzungsgesetz des IStGH-Statuts von 2000 hingewiesen, welches Spielraum für eine zukünftige Erweiterung der geschützten Gruppen de lege ferenda biete. 48 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 31; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 32. Dies geht auf eine bewusste Entscheidung der Staatenvertreter bei den Verhandlungen zur Völkermordkonvention zurück, s. auch Martin, The Notion of „Protected Group“ in the Genocide Convention and its Application, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 116 f.; Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 150 f. 49 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 31 sowie Fn. 184. 50 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 32 m.w.N. 51 Eine Erweiterung des Schutzbereichs der Vorschrift wird in der Regel auch nicht notwendig sein, da eine Ahndung der jeweiligen Handlung(en) auch etwa über die dann wohl einschlägigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Betracht kommt, sodass zumeist keine Schutzlücken bestehen werden, s. Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 119. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 15 Zwar ist die Abgrenzung der vier geschützten Gruppentypen in der Regel schwierig, da es regelmäßig zu Überschneidungen zwischen den Merkmalen52 kommt. Teilweise wird daher zur Vereinfachung ein sog. ganzheitlicher Ansatz vertreten,53 dem zufolge keine präzise Einordnung der betroffenen Gruppierung erfolgt und lediglich festgestellt wird, dass es sich im jeweiligen Fall zumindest um eine der geschützten Gruppen handelt. Dies mag zwar an sich zutreffend sein, widerspricht jedoch in methodischer Hinsicht dem auch völkerrechtlich etablierten54 Grundsatz, nach dem bei der Auslegung einer Vorschrift jedem darin gesetzten Wort eine eigene Bedeutung zukommt55 und lässt sich im Übrigen auch kaum mit dem Bestimmtheitsgrundsatz als einem der elementaren strafrechtlichen Prinzipien56 in Einklang bringen57. Dass es sich bei der uigurischen Bevölkerung Xinjiangs um eine Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention handelt, steht außer Zweifel. Entscheidend ist hier jedoch, welcher bzw. welche der vier Gruppentypen die Spezifika der uigurischen Gruppe erfasst. Auf der Grundlage derzeitig verfügbarer Informationen 52 Grundsätzlich ist umstritten, ob für die Klassifizierung einer Gruppe eine objektive Sicht oder eine andere Perspektive , etwa die des Täters, maßgeblich ist. Zwar sprechen wohl die besseren Argumente für eine objektive Beurteilung, da sich nur auf diese Weise die Entscheidung der Konventionsschöpfer respektieren lässt, bestimmte Gruppen gerade wegen ihres Beitrags zur kulturellen Vielfalt in der Welt zu schützen und außerdem der Genozidtatbestand anderenfalls zu einem Gruppendiskriminierungsdelikt umfunktioniert zu werden droht, Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 33. Auf diese Streitfrage kommt es hier allerdings nicht an, da nach allen Ansichten die uigurische Bevölkerung die nachfolgend erörterten Kriterien erfüllen dürfte. Für eine objektive Beurteilung IStGH, Urteil vom 4.3.2009 – Prosecutor v. Al Bashir, ICC-02/05-01/09, Rdnr. 135; Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 41 ff.; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 33.; a.A. etwa IStGH, Urteil vom 4.3.2009 – Prosecutor v. Al Bashir, ICC-02/05- 01/09, Judge Usacka, Separate and Partly Dissenting Opinion, Rdnr. 25f. 53 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 36. 54 IGH, Urteil vom 22.7.1952 – United Kingdom v. Iran, ICJ Reports 1952, S. 105. 55 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 36; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 36. 56 Dieser Grundsatz ist ebenfalls im Völker(straf)recht etabliert, s. etwa Art. 22 Abs. 2 IStGH-Statut; sowie JStGH, Urteil vom 2. August 2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Rdnr. 580, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/tjug/en/krs-tj010802e.pdf; und JStGH, Urteil vom 16. November 1998 – Prosecutor v. Mucic et al., IT-96-21-T, Rdnr. 402, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/mucic/tjug/en/981116_judg_en.pdf. 57 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 36. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 16 kommen jedenfalls eine Klassifizierung als ethnische58 und religiöse Gruppe ernsthaft in Betracht 59, was im Folgenden näher untersucht wird. 1.4.1. Die Uiguren als ethnische Gruppe Als ethnische Gruppe ist ein Zusammenschluss zu verstehen, der auf einer gemeinsamen Kultur, Geschichte, Lebensweise, Sprache oder Religion beruht.60 Dabei ist es ausreichend, wenn eines dieser Merkmale allein vorliegt, vorausgesetzt, es stellt die Basis für die gemeinsame Identität dar, was im Rahmen einer Gesamtbetrachtung festzustellen ist.61 Darüber hinaus ist sowohl eine repräsentative Gruppenstärke in numerischer Hinsicht erforderlich62 als auch eine gewisse Dauerhaftigkeit der Verbindung der Gruppenmitglieder63 sowie ein Grad an Stabilität des Personenverbands selbst.64 58 Zwar ist insbesondere die Abgrenzung zwischen den Merkmalen „national“ und „ethnisch“ problematisch (s. hierzu bereits Fn. 55). Für eine Identifizierung als „nationale“ Gruppe erscheint es jedoch erforderlich, dass der Zusammenschluss entweder das Staatsvolk selbst darstellt, s. dazu etwa RStGH, Urteil vom 2. September 1998 – Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 512 f. sowie Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 48; oder zumindest eine Gruppierung bildet, die in einem anderen Staat die staatstragende Nation ist, s. dazu Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 40. Beides ist im Hinblick auf die Uiguren nicht gegeben, sodass diesbezüglich lediglich auf das Merkmal „ethnisch“ zu rekurrieren ist, das insofern als Auffangtatbestandsmerkmal dient. 59 Teilweise wird – allerdings ohne nähere Begründung – auch davon ausgegangen, dass es sich um eine eigene rassische Gruppe handelt, etwa bei van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States ´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legal-grounds-for-the-united-statesbipartisan -genocide-determination/. 60 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 49; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 38. 61 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 50; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 38. 62 Berster spricht sich diesbezüglich gegen eine Verallgemeinerung dieses Merkmals aus und plädiert stattdessen für eine Einzelfallbetrachtung, s. ders., in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 52. Hier kommt es nicht darauf an, ob eine allgemein gültige Gruppengröße gefordert wird oder eine Einzelfallbetrachtung erfolgen soll, da angesichts der Größe des Personenverbands der Uiguren (ca. 10 Mio. Menschen) in jedem Falle das Kriterium der repräsentativen Gruppenstärke erfüllt ist. 63 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 39. 64 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 52. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 17 Bei den Uiguren65 handelt es sich um eine Bevölkerungsminderheit in China, zu der in etwa 10 Mio. Menschen zählen;66 über 90 Prozent aller Chinesen sind sog. Han-Chinesen.67 In der autonomen Region Xinjiang68 im Nordwesten Chinas69, wo die meisten Uiguren leben,70 stellten sie zwar lange Zeit die Mehrheit der Bevölkerung, was sich jedoch seit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 zunehmend änderte:71 Machte zu diesem Zeitpunkt der Anteil der Han-Chinesen lediglich etwa 6 Prozent der Bevölkerung Xinjiangs aus, betrug dieser Anteil im Jahr 1982 bereits ca. 40 Prozent.72 Heute sind auch in Xinjiang weniger als die Hälfte der Ein- 65 Zum Ursprung dieser Bevölkerungsbezeichnung s. Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334f., wo davon ausgegangen wird, dass dieses Ethnonym für die heutige Bevölkerungsgruppe 1921 in Taschkent erstmalig verwendet wurde und erst seit den 1930-er Jahren in Xinjiang gebraucht wird, wo es zuvor keine übergeordnete Bezeichnung für die lokale Bevölkerungsgruppe gegeben hat. Außerdem von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 992f.; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; und Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1282; sowie Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401f. 66 Obermaier/Obermayer, Die wichtigsten Fakten zu den China Cables, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-faq-1.4694488; Außerdem Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281. 67 UNC University Libraries, Chinese Ethnic Groups: Overview Statistics, abrufbar unter: https://guides.lib.unc.edu/china_ethnic/statistics; Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-hanuiguren -1.4694373. 68 Übersetzt: „neue Grenze“, Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-han-uiguren-1.4694373. 69 Siehe die Karte Chinas in Brockhaus Enzyklopädie Online, Uiguren, abrufbar unter: https://brockhaus.de/ecs/permalink/86C0873F28FE19540CDE8F1504260194.pdf. 70 Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334; Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340; von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 993; National Geographic, „Uiguren“, Atlas der Völker – Kulturen, Traditionen, Alltag, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2. Auflage 2003; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh : Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401. 71 Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: Ethnien in China: Han, Uiguren und andere Chinesen - Politik - SZ.de (sueddeutsche.de). Außerdem Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334. 72 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 16; s. auch Dorloff, Das Auslöschen einer Kultur, Unterdrückte Uiguren in China, Deutschlandfunk Kultur, abrufbar unter: Unterdrückte Uiguren in China - Das Auslöschen einer Kultur (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de); und Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter , 1995, S. 132. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 18 wohner Uiguren,73 was sich auf eine jahrzehntelange Umsiedlungspraxis von Han-Chinesen zurückführen lässt74. Im Gegensatz zu diesen zählen die Uiguren zu den Turkvölkern;75 früher wurden sie auch als Osttürken bezeichnet, dementsprechend wird die Region Xinjiang teilweise auch Ostturkestan genannt.76 Die Uiguren sprechen uigurisch,77 eine Turksprache,78 die dem Türkischen ähnlich ist, seit 1987 allerdings (wieder) mit arabischen Schriftzeichen geschrieben wird.79 In kultureller Hinsicht 73 Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: Ethnien in China: Han, Uiguren und andere Chinesen - Politik - SZ.de (sueddeutsche.de); Obermaier /Obermayer, Die wichtigsten Fakten zu den China Cables, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-faq-1.4694488; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281. 74 Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: Ethnien in China: Han, Uiguren und andere Chinesen - Politik - SZ.de (sueddeutsche.de); von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 1000; National Geographic, „Uiguren“, Atlas der Völker – Kulturen, Traditionen, Alltag, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2. Auflage 2003; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 16; Obermaier/Obermayer, Die wichtigsten Fakten zu den China Cables, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-faq-1.4694488; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131f.; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281f.; s. auch Dorloff, Das Auslöschen einer Kultur, Unterdrückte Uiguren in China, Deutschlandfunk Kultur, abrufbar unter: Unterdrückte Uiguren in China - Das Auslöschen einer Kultur (Archiv) (deutschlandfunkkultur.de). 75 Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340; von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 993; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401. 76 Brockhaus Enzyklopädie Online, Uigurische Sprache und Literatur, abrufbar unter: https://brockhaus.de/ecs/permalink/1F7F88766BD2B8F7E12A2969570B7CE5.pdf; Elger (Hrsg.), Kleines Islam- Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334; Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-han-uiguren-1.4694373; National Geographic, „Uiguren“, Atlas der Völker – Kulturen, Traditionen, Alltag, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2. Auflage 2003; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131. 77 Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340; Human Rights Watch, „Eradicating Ideological Viruses“, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, September 2018, S. 10, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 402. 78 Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131, wo darauf hingewiesen wird, dass ein uigurisches Schriftstück aus dem Jahr 1069 das älteste Zeugnis für eine Turksprache überhaupt sei, welches in der Handschrift „Kudatku Bilik“ verfasst worden sei. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 19 sowie in Bezug auf die Lebensweise besteht allerdings auch eine größere Nähe zu den Nachbarvölkern Zentralasiens,80 wie etwa denen aus Kasachstan und Usbekistan, als zu den Han- Chinesen. Dies macht sich im Übrigen insofern bemerkbar, als dass sich die Uiguren in Xinjiang inoffiziell regelmäßig nach der in Almaty geltenden Uhrzeit orientieren – und nicht an der offiziellen chinesischen Einheitszeitzone, die davon um zwei Stunden abweicht.81 Außerdem haben die Uiguren eine eigene Flagge82, die jedoch von der chinesischen Regierung als Zeichen des Separatismus gewertet wird und daher in China verboten ist.83 Vor diesem Hintergrund erfüllt die uigurische Minderheit in China also gleich mehrere der Charakteristika ,84 die sie als ethnische Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention auszeichnet :85 _________________________ 79 Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340. Außerdem Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-han-uiguren-1.4694373; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131. 80 Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 132 f.; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 402. 81 Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-han-uiguren-1.4694373. Zu den Zeitzonen s. Weltzeituhr – aktuelle Uhrzeit, abrufbar unter: https://www.timeanddate.de/uhrzeit/. 82 Siehe Flaggenlexikon „Ostturkestan“, https://flaggenlexikon.de/fostturk.htm. 83 Gießen, Han, Uiguren und andere Chinesen, Süddeutsche Zeitung vom 24. November 2019, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-ethnien-han-uiguren-1.4694373. 84 Abgesehen von den hier aufgeführten Charakteristika wird in der Literatur zudem darauf hingewiesen, dass eine ethnische Gruppe sich auch (erst) dadurch konstituieren kann, dass sie Lebensbedingungen ausgesetzt wird, die speziell nur für die Mitglieder dieses Personenverbands vorgesehen sind, s. Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 50. Beispielhaft wird dafür auf die Situationen in Ruanda und Darfur hingewiesen, in denen eine ethnische Abgrenzung der Opfergruppierung von der restlichen Bevölkerung Schwierigkeiten bereitete. Solche auferzwungenen Lebensbedingungen stellten aber auch Teil der gemeinsamen Historie und Lebensweise der Mitglieder dar, sodass sich die Gruppeneigenschaft wohl schon über diese Merkmale begründen ließe. Ebenso ließe sich im Falle der uigurischen Bevölkerung jedenfalls zusätzlich die von der chinesischen Regierung auferlegten Lebensumstände anführen, ohne dass es für die Identifikation als ethnische Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention hier entscheidend darauf ankäme. 85 Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge , 2005, S. 1282, verweist darauf, dass die Zusammenfassung aller Uiguren als eine ethnische Bevölkerungsgruppe jedenfalls zu Zensus-Zwecken erfolge, eigentlich aber eine Einteilung in verschiedene kleine Gruppen möglich ist. In diese Richtung auch von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 993ff.. Eine detailliertere Einteilung ist jedoch nicht schädlich, da nach wie vor alle Uiguren zusammen immer noch als ethnische Gruppe verstanden werden können, auch wenn innerhalb dieser größeren Gruppe weitere Unterscheidungen möglich sein sollten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 20 Die Mitglieder des Personenverbands teilen eine gemeinsame Kultur, Sprache86 und Lebensweise , die sich von der der chinesischen Han-Mehrheit unterscheidet. Außerdem verbindet die Uiguren aber auch eine gemeinsame Geschichte,87 Philosophie, Tradition, Kunst, Musik und Literatur .88 Dementsprechend werden sie von der chinesischen Regierung als eine von 55 „ethnischen Minderheiten“ anerkannt89 (was allerdings für die Beurteilung i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention per se nicht ausschlaggebend ist). Darüber hinaus besteht aber auch in religiöser Hinsicht ein Unterschied90 zur han-chinesischen Mehrheitsbevölkerung,91 86 Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340; Human Rights Watch, „Eradicating Ideological Viruses“, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, September 2018, S. 10, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281. 87 Hierzu Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334f.; von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 992f.; Kollmar-Paulenz, Uighuren, in: Betz, et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart – Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft , Band 8, Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Auflage 2005, S. 697; National Geographic, „Uiguren“, Atlas der Völker – Kulturen, Traditionen, Alltag, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2. Auflage 2003; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281 f.; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh : Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401. 88 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 15. Außerdem Haarmann, Uighuren, Kleines Lexikon der Völker – von Aborigines bis Zapoteken, München: Beck, 2004, S. 340; und von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 992 f.; Kollmar-Paulenz, Uighuren, in: Betz, et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart – Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 8, Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Auflage 2005, S. 697; und National Geographic, „Uiguren“, Atlas der Völker – Kulturen, Traditionen, Alltag, Hamburg: National Geographic Deutschland, 2. Auflage 2003; sowie Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1282; und Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401. 89 UNC University Libraries, Chinese Ethnic Groups: Overview Statistics, abrufbar unter: https://guides.lib.unc.edu/china_ethnic/statistics; s. auch Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 15, Fn. 29 sowie van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legalgrounds -for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/. 90 Human Rights Watch, „Eradicating Ideological Viruses“, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, September 2018, S. 10, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf. 91 Van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination , Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-againstthe -uyghurs-legal-grounds-for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 21 denn die Uiguren sind mehrheitlich muslimisch92 und die Religion scheint auch ein wichtiges Element für den Fortbestand dieser Gruppe als Ethnie darzustellen93. Obwohl religiöse Identität also ebenfalls für die Beurteilung als ethnische Gruppe relevant sein kann, stellt sich zusätzlich die Frage, ob die Uiguren – unabhängig von der Klassifizierung als ethnische Gruppe – auch eine religiöse Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention darstellen. 1.4.2. Die Uiguren als religiöse Gruppe Bei einer religiösen Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention handelt es sich um einen Personenverband, dessen Mitglieder einen tief verankerten Glauben in eine metaphysische Macht teilen und dessen Aktivitäten überwiegend darauf ausgerichtet sind, den für sie geltenden Glaubensmaximen zu dienen.94 Als sunnitische95 Muslime96 erfüllen die Uiguren diese Voraussetzungen97. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob die Uiguren nicht auch innerhalb dieser (sehr großen)98 Gruppe der sunniti- 92 Elger (Hrsg.), Kleines Islam-Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281 und 1283. 93 Heberer, Der Islam in ausgewählten Staaten: Volksrepublik China, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München: Beck 5. Auflage 2005, S. 311. Siehe auch von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 995. 94 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 853; s. auch Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 59; und Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 43. 95 Bei den Sunniten handelt es sich in Abgrenzung zu den Schiiten um die größere der beiden Hauptglaubensrichtungen des Islam, die in etwa 85 Prozent aller Muslime weltweit ausmacht, s. dazu Enzyklopädie Brockhaus Online, Sunniten, https://brockhaus.de/ecs/permalink/3393F7293473559E939969EB7BBAD9F6.pdf. 96 Zur Zuordnung der bosnischen Muslime zur Religion des Islam s. BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80. 97 Brockhaus Enzyklopädie Online, Uiguren, abrufbar unter: https://brockhaus.de/ecs/permalink/86C0873F28FE19540CDE8F1504260194.pdf; Elger (Hrsg.), Kleines Islam- Lexikon – Geschichte, Alltag, Kultur, München: Beck, 4. Auflage 2006, S. 334; Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1281 und 1283; Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 402. 98 2010 gab es weltweit rund 1,55 Milliarden Muslime, Brockhaus Enzyklopädie Online, abrufbar unter: https://brockhaus.de/ecs/permalink/22DB065BA82F16FEDF9EDD52E90D0CCD.pdf. Da die Sunniten hiervon ca. 85 Prozent ausmachen, kann von einer Größenordnung von etwa 1,3 Mrd. Menschen ausgegangen werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 22 schen Muslime eine vom Rest bzw. von anderen, besonderen sunnitischen Gruppen spezifisch abgrenzbare religiöse Gruppe bilden oder ob sie lediglich einen Teil der Gesamtgruppe darstellen .99 Dies ist deshalb von Bedeutung, weil der Völkermordtatbestand in subjektiver Hinsicht eine realistische Zerstörungsabsicht erfordert, die sich zumindest auf einen Teil der zuvor identifizierten Gruppe bezieht, wobei es sich um einen substanziellen Teil der Gesamtgruppe handeln muss.100 Daher können sich, abhängig von der zuvor feststellten Größe der betroffenen Gruppe, auch andere, womöglich ausschlaggebende, Anforderungen an die jeweils maßgebliche Zerstörungsabsicht ergeben.101 Die Voraussetzung für die Identifikation einer solchen religiösen Gruppe innerhalb der Gesamtgruppe sind jedoch umstritten102. Teilweise103 wird dafür gefordert, dass abgrenzbare, wesentliche Glaubensinhalte und –praktiken erkennbar sein müssen, durch die die Gruppe 99 Für die historisch-religiöse Entwicklung der Bevölkerung der Uiguren s. Kollmar-Paulenz, Uighuren, in: Betz, et al. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart – Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Band 8, Tübingen: Mohr Siebeck, 4. Auflage 2005, S. 697, wo verschiedene Phasen und Strömungen geschildert werden, die die uigurische Bevölkerung im Laufe der Zeit geprägt hätten, wie etwa der Manichäismus, Nestorianismus und Buddhismus. Siehe auch von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 993; Scheuch, Uiguren, in: ders. (Hrsg.), Bedrohte Völker, Wien: Christian Brandstätter, 1995, S. 131; sowie Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 401. 100 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 853; s. auch IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, Rdnr. 198, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD- 01-00-EN.pdf; UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact- Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1413, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf; sowie Werle/ Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 930. 101 Siehe hierzu auch Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 853f. 102 Im Hinblick auf die Identifikation von Teilgruppen bei allen Gruppenmerkmalen des Artikel 2 der Völkermordkonvention Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 45. In Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 853f. wird speziell für den Fall der religiösen Gruppe darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage, inwiefern sich verwandte Glaubensformen voneinander unterscheiden müssen, um eigenständige religiöse Gruppen im Sinne der Völkermordkonvention zu bilden, bisher kaum aufgeworfen wurde, bevor die Autoren selbst ein Vorschlag hierzu präsentieren. 103 Jedenfalls allgemein für alle Gruppenmerkmale des Artikel 2 der Völkermordkonvention ein enges Verständnis vom Gruppenbegriff vertretend, etwa Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 285; sowie Greenawalt, Rethinking Genocidal Intent: The Case for a knowledge-based Interpretation , Columbia Law Review 99, 1999, S. 2291. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 23 Alleinstellungsmerkmale erlangt, wie etwa durch besondere Liturgieformen und- sprachen, Gebets - und Liedgut oder eine spezifische Heiligenverehrung.104 Bei den Uiguren soll es sich traditionell um sunnitische Muslime handeln, die der Hanafi-Schule angehören; ihr Glaube sei jedoch auch von sufistischen Einflüssen geprägt,105 außerdem würden schamanische Praktiken bewahrt106. Weitergehende Informationen, die eine dementsprechende Unterscheidung der Uiguren von anderen sunnitischen Muslimen ermöglichen, sind vorliegend allerdings nicht bekannt; es bedürfte dazu wohl auch einer gesonderten religionswissenschaftlichen Untersuchung,107 die hier nicht geleistet werden kann. Im Gegenteil: in der Literatur wird darauf hingewiesen, dass die religiösen Grundlagen und Bezüge aller Muslime in China identisch seien, während zugleich lediglich in Abgrenzung zu Kasachen und Kirgisen bei den Uiguren von pantürkischen und panislamischen Einflüssen die Rede ist.108 Vor diesem Hintergrund kann hier keine konkrete Einordnung erfolgen, sodass davon ausgegangen werden müsste, dass die Uiguren als religiöse Gruppe im Hinblick auf Artikel 2 der Völkermordkonvention lediglich den Schutz genießen, den die Gruppe der sunnitischen Muslime allgemein genießt. Die Hürde für das Vorliegen einer realistischen Zerstörungsabsicht bzgl. eines substanziellen Teils dieser Gruppe läge daher sehr hoch. Ein solch restriktives Gruppenverständnis dürfte jedoch mit dem Schutzzweck der Völkermordkonvention vereinbar sein. Denn wenn insbesondere der Schutz und Erhalt der kulturellen Vielfalt in der Welt als zentrales Anliegen der Konvention zu erachten ist109, dann müsste ein Personenverband auch einen eigenen Beitrag zu dieser Vielfalt leisten, um seinerseits als eigene Gruppe unter den Schutz der Völkermordkonvention fallen zu können. 104 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 854. 105 Heberer, „Der Islam in ausgewählten Staaten: Volksrepublik China“, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München: Beck 5. Auflage 2005, S. 311. Svanberg, in: Skutsch (Hrsg.), Encyclopedia of the World´s Minorities, Volume 3, New York und London: Routledge, 2005, S. 1283. 106 Bertelsmann Lexikon, „Uiguren“, Die Völker der Erde – Kulturen und Nationalitäten von A-Z, Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag, 1992, S. 402. 107 Ebenso im Hinblick auf die Frage, ob die schiitischen Turkmenen im Nordirak eine eigenständige religiöse Gruppe darstellen, Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 854. 108 Heberer, Der Islam in ausgewählten Staaten: Volksrepublik China, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München: Beck 5. Auflage 2005, S. 311. Siehe auch von Hahn, Zwischen Widerstand und Konformität – Zur Diversität uigurischer Identität in Xinjiang drei Jahre nach dem 11. September 2001, China aktuell, September 2004, S. 994 f. 109 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 860; so wohl auch Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 24 In Anbetracht der Genese der Völkermordkonvention wird dieses, soeben aufgezeigte Verständnis vom Gruppenbegriff, jedoch als zu eng kritisiert. Vielmehr sollten bereits Volksgruppen und Minderheiten innerhalb eines Staates, die den Mindestanforderungen an Dauerhaftigkeit und numerischer Repräsentativität entsprechen, als eigenständige Gruppen zu erachten sein, selbst wenn sie gleichzeitig Teil einer über das jeweilige Staatsgebiet hinausreichenden Gruppe sind.110 Dementsprechend habe etwa Griechenland die religiösen Minderheiten nach den Schutzverträgen der Völkerbundzeit als Beispiele religiöser Gruppen genannt.111 Das engere Gruppenverständnis war somit offenbar nicht gewollt. Bei diesem Verständnis des Gruppenbegriffs käme es also nicht auf etwaige Alleinstellungsmerkmale der „uigurischen“ Muslime im Vergleich zu anderen Sunniten an: Die Uiguren wären sowohl eine religiöse Teilgruppe der Muslime innerhalb Chinas112 als auch Teil der weltweiten Gruppe der sunnitischen Muslime. Dementsprechend niedriger wären die Anforderungen an eine realistische Zerstörungsabsicht. 1.4.3. Zwischenfazit Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Uiguren jedenfalls als (eigenständiger) ethnischer Personenverband und damit als ethnische Gruppe i.S.d. Artikel 2 der Völkermordkonvention zu betrachten sind.113 Im Hinblick auf das Merkmal der religiösen Gruppe kommt es darauf an, ob dem engeren oder weiteren Verständnis vom Gruppenbegriff gefolgt wird: Nach dem engeren Gruppenbegriff würde es sich bei den Uiguren in Xinjiang lediglich um eine Teilgruppe des 110 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 45. 111 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 45, Fn. 169. Dort wird als weiteres Beispiel im Hinblick auf das nationale Merkmal die Entscheidung des IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 448, abrufbar unter: https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf genannt, in der die Serben in Kroatien im August 1995 ebenfalls als eigenständige geschützte nationale oder ethnische Gruppe und zugleich als Teilgruppe der Gesamtgruppe der Serben gesehen wurden. 112 Neben den „uigurischen“ Muslimen gibt es auch noch weitere muslimische Gruppierungen in China, wie etwa die Hui, die die zweitgrößte muslimische Minderheit dort darstellen, Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/china-muslime-uiguren-assimilierungrepressionen -protest. Zu den religiösen Besonderheiten der Hui s. Heberer, Der Islam in ausgewählten Staaten: Volksrepublik China, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München: Beck 5. Auflage 2005, S. 310 f. 113 So im Ergebnis jedenfalls auch Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 15; Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, Januar 2021, S. 26, abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf.; van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legalgrounds -for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/; Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 61. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 25 religiösen Gesamtverbands der sunnitischen Muslime handeln. Dem weiteren Gruppenbegriff zufolge stellten die Uiguren in Xinjiang sowohl eine Teilgruppe der in China lebenden Muslime dar als auch einen Teil der Gruppe der sunnitischen Muslime allgemein,114 sodass sie als solche auch jeweils in den Schutzbereich der Vorschrift fielen. Beide Ansichten sind vertretbar; in beiden Fällen ist die uigurische Minderheit jedenfalls – zusätzlich zum Gruppenschutz als Ethnie – als religiöse (Teil-)Gruppe unter den Schutzbereich der Vorschrift zu fassen. Nachfolgend geht es im Rahmen der zweiten Prüfungseinheit um die einzelnen objektiven Tathandlungen des Völkermordtatbestands, die sog. acta rei. Es wird also untersucht, inwiefern das mutmaßliche Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die Uiguren115 die Voraussetzungen der einzelnen Tathandlungen nach Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention erfüllt. 1.5. Die objektiven Tathandlungen des Völkermords Artikel 2 der Völkermordkonvention sieht in den Buchstaben (a) – (e) in objektiver Hinsicht insgesamt fünf mögliche Begehungsformen des Völkermords vor. Dabei ist es für die Verwirklichung des Tatbestands ausreichend, wenn eine der genannten Tatbestandsvarianten verwirklicht wird, da es sich um eine alternative Aufzählung handelt.116 Im Hinblick auf diese Einzelakte, also die individuellen Taten, stellen jeweils die einzelnen Gruppenmitglieder die konkreten Angriffsobjekte dar,117 gegen die unmittelbar vorgegangen werden muss, während als Schutzobjekt der Vorschrift insgesamt gesehen die Gruppe als solche zu erachten ist. 114 So im Ergebnis jedenfalls wohl auch Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 15; van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination , Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-againstthe -uyghurs-legal-grounds-for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/; Wan, “The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China”, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 61. 115 Für eine ausführliche, zunächst von den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des Artikel 2 der Völkermordkonvention losgelösten Dokumentation der mutmaßlichen Verfolgung der Uiguren in Xinjiang s. Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 15 ff. 116 Siehe den Wortlaut der Vorschrift „any of the following acts“. 117 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 892. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 26 1.5.1. Artikel 2 (a) : Die Tötung von Gruppenmitgliedern Als Tötung („killing“) i.S.d. Artikel 2 (a) der Völkermordkonvention ist die Verkürzung der Lebensdauer zu verstehen, wobei die Verursachung des Todes ausreichend ist.118 In Xinjiang soll Berichten zufolge eine große Anzahl zuvor gefangen genommener Uiguren in Internierungslagern gestorben („died“) bzw. getötet worden sein („killed“).119 So sei bekannt, dass über einen Zeitraum von sechs Monaten ca. 150 Menschen gestorben seien.120 Außerdem seien insbesondere einige uigurische Religionsgelehrte kurz nach der Internierung durch die chinesischen Behörden in den Gefangenenlagern gestorben;121 prominente Angehörige der Uiguren würden zum Teil zum Tode verurteilt.122 Berichte über Massenhinrichtungen oder ähnliches liegen allerdings nicht vor.123 Anders als etwa in den von den Nationalsozialisten errichteten Konzentrationslagern124 scheinen die in Xinjiang gefangenen Uiguren zwar unter massiver 118 Siehe IStGH-Statut, Elements of Crimes, S. 2, Fn. 2: „The term „killed“ is interchangeable with the term „caused death“, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/336923D8-A6AD-40EC-AD7B- 45BF9DE73D56/0/ElementsOfCrimesEng.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 48; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen : Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 894. 119 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 26, m.w.N. 120 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 26, m.w.N. 121 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 26, m.w.N. 122 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 26f. m.w.N. 123 So auch Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“ in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500; Sachs/Schabas, „The Xinjiang Genocide Allegations Are Unjustified“, Project Syndicate vom 20. April 2021, abrufbar unter: https://www.project-syndicate.org/commentary/biden-should-withdraw-unjustified-xinjianggenocide -allegation-by-jeffrey-d-sachs-and-william-schabas-2021-04; van Schaack, „Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination “, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-againstthe -uyghurs-legal-grounds-for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/; und Wan, “The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China”, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 61. 124 Siehe etwa Forced Labor: An Overview, Holocaust Encyclopedia, United States Holocaust Memorial Museum, abrufbar unter: https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/forced-labor-an-overview. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 27 Zwangsarbeit zu leiden, zugleich aber nicht – wie es jedenfalls für diese Tatbegehungsvariante erforderlich wäre – sich im wahrsten Sinne des Wortes „zu Tode zu arbeiten“.125 Für die juristische Subsumtion unter den Begriff der Tötung dürfte es hier somit entscheidend auf den Ursächlichkeitszusammenhang ankommen, sodass nachzuweisen wäre, dass durch eine bestimmte Handlung die Lebenszeit der betroffenen Person konkret verkürzt wurde. Die Feststellung , dass eine Person bzw. Personen in Gefangenenlagern gestorben sei/en („died“), dürfte für sich genommen nicht ausreichen. Doch jedenfalls im Hinblick auf die explizit getöteten („killed “) Menschen wäre zumindest der objektive Tatbestand des Artikels 2 (a) der Völkermordkonvention erfüllt. Bezüglich der zum Tode verurteilten Personen dürfte es aber letztlich auf die Vollstreckung der jeweiligen Urteile ankommen. Nicht nur, aber insbesondere in diesem Zusammenhang , ist es mit Blick auf die subjektive Tatseite wohl auch erforderlich, zu überprüfen, was im jeweiligen Fall die genaue Ursache für die Verurteilung war. Denn während unter Berücksichtigung der Zerstörungsabsicht generell eine Tötung als Mittel eingesetzt werden müsste, um die beabsichtigte Zerstörung voranzutreiben, dürfte eine Tötung durch Vollstreckung eines Todesurteils nur dann relevant sein, wenn es sich um einen Willkürprozess gehandelt hat, was im Einzelfall nachgewiesen werden müsste. Jedenfalls ist die Verhängung und Vollstreckung einer Todesstrafe in China rechtmäßig; das 2. Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 15. Dezember 1989,126 mit dem sich die Staaten zur Abschaffung der Todesstrafe verpflichten, hat China nicht ratifiziert.127 1.5.2. Artikel 2 (b) : Die Verursachung schweren körperlichen oder seelischen Schadens Mit Artikel 2 (b) der Völkermordkonvention soll auch Gewalt erfasst werden, die nicht zum Tod des Opfers führt.128 Maßgeblich sind körperliche Verletzungen sowie mentale Störungen. Der Wortlaut „serious“129 verdeutlicht jedoch, dass eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschrit- 125 Siehe hierzu Forced Labor: An Overview, Holocaust Encyclopedia, United States Holocaust Memorial Museum, abrufbar unter: https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/forced-labor-an-overview. S. auch van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-theuyghurs -legal-grounds-for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/; und Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 61, Fn. 352. 126 Für die Vorschriften des Protokolls s. Zweites Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe vom 15. Dezember 1989, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/en/professionalinterest/pages/2ndopccpr.aspx. 127 UN Human Rights Office of the High Commissioner, Status of Ratification, abrufbar unter: https://indicators.ohchr.org/. 128 Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 181. 129 Siehe den Wortlaut der Vorschrift: „serious bodily or mental harm“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 28 ten werden muss.130 Dies dürfte der internationalen Rechtsprechung zufolge131 dann der Fall sein, wenn von schwerwiegenden und lang anhaltenden Nachteilen für die Fähigkeit einer Person132, ein normales und schöpferisches Leben zu führen, auszugehen ist.133 Nicht erforderlich ist hingegen ein dauerhafter oder unheilbarer Schaden;134 nur vorübergehende körperliche oder seelische Beeinträchtigungen genügen jedoch nicht.135 Denn mit Blick auf den gruppenorientierten Schutzzweck des Tatbestands bedarf es – da regelmäßig nur eine solche geeignet sein wird, die Fähigkeit der Gruppenmitglieder zu sozialer Interaktion zu gefährden – einer nachhaltigen Beeinträchtigung des Einzelnen.136 Im Hinblick auf Schäden physischer Art werden somit etwa schwere Schädigungen der Gesundheit , die Verursachung von Entstellungen sowie schwere Verletzungen der äußeren oder inneren Organe oder Sinne verlangt.137 Beispielhaft werden Verstümmelungen, Schläge mit einem Gewehrkolben und Verletzungen, die durch eine Machete zugefügt wurden, genannt.138 In Bezug auf seelische Schäden scheint es schwierig, eine abstrakte Definition aufzustellen, 130 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 66. 131 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 50. 132 Auch hier ist grundsätzlich umstritten, ob bereits eine Person als Opfer ausreicht (so etwa Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 52; sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 895) oder ob mindestens zwei Personen betroffen sein müssen (so etwa Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 73). 133 JStGH, Urteil vom 2. August 2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Rdnr. 510, 513, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/tjug/en/krs-tj010802e.pdf: „a grave and long-term disadvantage to a person ´s ability to lead a normal and constructive life“. 134 RStGH, Urteil vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu , ICTR 96-4-T, Rdnr. 502; Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 69; Kreß, The Crime of Genocide under International Law, International Criminal Law Review 6, 2006, S. 481. 135 Siehe RStGH, Urteil vom 12. März 2008, Prosecutor v. Seromba, ICTR-2001-66-A, Rdnr. 46, abrufbar unter: https://unictr.irmct.org/sites/unictr.org/files/case-documents/ictr-01-66/appeals-chamberjudgements /en/080312.pdf; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 897. 136 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 855f. 137 Siehe etwa RStGH, Urteil vom 12. März 2008, Prosecutor v. Seromba, ICTR-2001-66-A, Rdnr. 46, abrufbar unter: https://unictr.irmct.org/sites/unictr.org/files/case-documents/ictr-01-66/appeals-chamberjudgements /en/080312.pdf; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 895. 138 RStGH, Urteil vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 706ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 29 weshalb es vor allem auf eine Beurteilung an Hand von konkreten Handlungen ankommen wird.139 Dazu können etwa Vergewaltigungen, Vertreibungen und entwürdigende Verhaltensweisen 140 sowie Auswirkungen zwangsweiser Deportationen zählen141. Aber auch traumatische Erinnerungen von Überlebenden einer Massenhinrichtung sowie das Erlebnis einer gewaltsamen Trennung von einer besonders nahestehenden Person bei Ungewissheit über ihren Verbleib können tatbestandlich relevante psychische Schäden darstellen,142 sofern sie eine bestimmte Erheblichkeitsschwelle überschreiten. Dies gilt ebenso für die beharrliche Verweigerung von Auskunft über den Verbleib von Personen, die im Zuge einer genozidalen Kampagne verschwunden sind,143 wobei hier ein maßgeblicher Schaden wohl nur schwierig zu belegen sein wird144. Grundsätzlich gilt jedoch, dass in Fällen der Ungewissheit über das Ausmaß des Schadens auch die Schwere der erlittenen Behandlung indiziell herangezogen werden kann.145 Jedenfalls bedarf es keiner physischen Auswirkungen.146 Schließlich ist zu beachten, dass die Beeinträchtigung körperlicher oder seelischer Schäden für sich genommen jeweils die Erheblichkeitsschwelle überschreiten muss, sodass eine kumulative Berücksichtigung von körperlichen und seelischen Schäden, die erst zusammen genommen die erforderliche Schwelle überschreiten, nicht zulässig ist.147 139 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 70. 140 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 51. 141 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 896. 142 JStGH, Urteil vom 8. April 2015, Prosecutor v. Tolimir, IT-05-88/2-A, Rdnr. 207ff., abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/tolimir/acjug/en/150408_judgement.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 51. 143 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 160, abrufbar unter: https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 51. 144 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 51, Fn. 196 mit Verweis auf IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 160, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf. 145 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 71. 146 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 896. 147 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 72. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 30 Berichten zufolge sollen die Uiguren in Xinjiang in den errichteten Gefangenenlagern, sog. „Transformation-durch-Bildungs-Zentren“ bzw. „Berufsausbildungszentren“148 systematisch physisch und psychisch gefoltert und zu Opfern sexueller Gewalt gemacht worden sein bzw. weiterhin gemacht werden.149 Folter werde dabei etwa dann eingesetzt, wenn sich die Gefangenen nicht an die strengen, wohl in militärischem Stil gehaltenen Befehle hielten oder die einfachen Alltagsregeln im Lager nicht beachteten.150 In sog. Vernehmungsräumen würden – teilweise bis zu 24 Stunden lang – brutale Methoden eingesetzt, die bei den Opfern zu Bewusstseinsverlust führen würden.151 Außerdem würden Gefangene etwa zum Sitzen auf kleinen Hockern gezwungen, an Betten, Wände und Decken gefesselt oder Isolationshaft verhängt und ihnen die Nahrung über längere Zeit hinweg entzogen .152 Des Weiteren würden Gefangene ausgepeitscht, mit metallischen Gegenständen geschlagen und elektrischen Schocks ausgesetzt.153 Solche Handlungen dürften etwa den 148 Amnesty International, China: Behörden reissen uigurische Familien auseinander, Pressemitteilung vom 19. März 2021, abrufbar unter: https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/china-behoerden-uigurenfamilientrennung . 149 Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 19ff., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 27ff. m.w.N. S. auch „Eradicating Ideological Viruses“, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, Human Rights Watch, September 2018, S. 27ff., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf; und Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 37ff. und 43f.; außerdem Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte , Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf; und Defranoux, Ouighours: „On m´a fait m´allonger et écarter les jambes, et on m´a introduit un stérilet, Témoignage, Libération vom 20. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.liberation.fr/planete/2020/07/20/on-m-a-fait-m-allonger-et-ecarter-les-jambes-et-on-m-a-introduitun -sterilet_1794798/. 150 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 27 m.w.N. 151 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 27 m.w.N. 152 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 27 m.w.N. Siehe auch O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and its own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-human-rights-treaties-and-its-own-constitution-inxinjiang /; sowie Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Zhou zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 14. 153 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 27 m.w.N. S. auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 31 Schlägen mit einem Gewehrkolben entsprechen, die vom Ruandastrafgerichtshof bereits unter den Tatbestand subsumiert wurden.154 Zudem seien teilweise Gefangene ohne Fingernägel aus den Vernehmungsräumen herausgekommen; Blut habe den Boden und die Wände befleckt.155 In dieser Hinsicht könnte eine Parallele zu Verstümmelungen bestehen.156 Des Weiteren würden Gefangene gezwungen, Drogen zu konsumieren, die den Bewusstseinsverlust zur Folge haben,157 andere würden genötigt, sich auf elektrisierte oder mit Nägeln bestückte Stühle zu setzten oder würden an Wänden aufgehangen und mit elektrisierten Schlagstöcken maltraitiert.158 Während zwar der erzwungene Drogenkonsum nicht hinreichend sein wird,159 dürften jedoch die übrigen Methoden ebenfalls mit dem Schlagen mittels eines Gewehrkolbens gleichzusetzen sein; je nach Ausmaß könnten solche Handlungen auch dem Zufügen von Verletzungen durch eine Machete entsprechen.160 Im Hinblick auf sexuelle Gewalt wird von Massen- und Gruppenvergewaltigungen in den Lagern berichtet, außerdem würde es zu sexuellem Missbrauch kommen.161 Unter anderem würden dabei elektrisierte Stäbe eingesetzt.162 Derartige Handlungen dürften geeignet sein, schwere seelische Schäden i.S.d. Artikel 2 (b) zu verursachen.163 Zudem müssten sich Gefangene regelmäßig 154 Siehe RStGH, Urteil vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 706ff. 155 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28 m.w.N. 156 Siehe RStGH, Urteil vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 706ff. 157 Siehe O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and ist own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-humanrights -treaties-and-its-own-constitution-in-xinjiang/. 158 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28 m.w.N. 159 Siehe hierzu Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 70. 160 Siehe RStGH, Urteil vom 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 706ff. 161 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28 m.w.N. Siehe auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071. 162 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28 m.w.N. S. auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071; sowie O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and its own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-human-rights-treaties-and-its-own-constitution-inxinjiang /. 163 Siehe auch Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856 im Hinblick auf die vom IS im Nordirak begangenen Handlungen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 32 entblößen und würden zu erniedrigenden Handlungen gezwungen, bei denen sie beobachtet oder gefilmt würden,164 was ebenfalls unter den Tatbestand subsumiert werden kann.165 Abgesehen hiervon würden gefangene Uiguren teilweise auch Scheinhinrichtungen unterzogen; einige hätten auf Grund der psychischen Belastungen Selbstmord begangen. Andere würden von Gedächtnisverlust , Schlaflosigkeit und Selbstmordgedanken berichten.166 Diese beschriebenen Folgen scheinen so gravierend zu sein, dass die Erheblichkeitsschwelle auch für die psychischen Auswirkungen überschritten sein dürfte. Sollten die Berichte zutreffen, so ist davon auszugehen, dass jedenfalls die Uiguren in den Gefangenenlagern in Xinjiang Handlungen ausgesetzt sind, die zu körperlichen und seelischen Schäden i.S.d. Artikel 2 (b) der Völkermordkonvention geführt haben bzw. bei weiterer Anwendung zu solchen Schäden führen werden, wobei insbesondere die Erheblichkeitsschwelle in den geschilderten Fällen jeweils für die körperlichen und seelischen Schäden überschritten wäre und nicht erst zusammengenommen das erforderliche Ausmaß erreichen dürften.167 164 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28 m.w.N. S. auch O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and ist own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-human-rights-treaties-and-its-own-constitution-inxinjiang /. 165 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 51. 166 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 28f. m.w.N. 167 So jedenfalls im Ergebnis auch Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, January 2021, S. 71f., abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 27ff., 49; s. auch O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and its own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-humanrights -treaties-and-its-own-constitution-in-xinjiang/; sowie van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legal-grounds-for-the-united-statesbipartisan -genocide-determination/; und Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 62. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 33 1.5.3. Artikel 2 (c): Die Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen Die Tatbegehungsvariante nach Artikel 2 (c) der Völkermordkonvention erfasst sog. „slow death measures“.168 Hierunter sind Handlungen zu verstehen, die selbst nicht unmittelbar zum Tod führen, allerdings objektiv gesehen auf Dauer dazu geeignet169 sind, den Tod170 zu verursachen.171 Dies betrifft somit insbesondere Maßnahmen wie eine faktische Versklavung durch Zwangsarbeit 172, die Inhaftierung in bestimmten Lagern, die zu einer Gefangenensituation unter extrem unhygienischen bzw. unmenschlichen Bedingungen führt173 oder das Vorenthalten lebensnotwendiger Nahrung, Kleidung, Unterkunft oder medizinischer Versorgung174. Auch Massenvergewaltigungen können grundsätzlich dazu zählen,175 jedenfalls wenn sie systematisch und wiederholt eingesetzt werden. Kommt es zum Einsatz mehrerer unterschiedlicher Maßnahmen, so ist es auch ausreichend, wenn ihre Wirkung zusammengenommen geeignet sind, den Tod herbeizu- 168 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 74; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 55; Werle /Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 898. 169 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 77, der eine Neigung der internationalen Rechtsprechung erkennt, sogar eine Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf die tödliche Wirkung zu fordern, was eine höhere Hürde darstellt. 170 Jedenfalls die internationale Rechtsprechung versteht den Begriff der „physical destruction“ als Herbeiführung des Todes und nicht i.S.e. körperlichen Auflösung der Gruppe, s. JStGH, Urteil vom 8. April 2015, Prosecutor v. Tolimir, IT-05-88/2-A, Rdnr. 226, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/tolimir/acjug/en/150408_judgement.pdf; IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 161, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD- 01-00-EN.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 55; s. auch Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 78. 171 Siehe JStGH, Urteil vom 8. April 2015, Prosecutor v. Tolimir, IT-05-88/2-A, Rdnr. 203, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/tolimir/acjug/en/150408_judgement.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 54f.; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 898. 172 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 900. 173 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56. 174 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 900. 175 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 900; s. auch Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 195. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 34 führen.176 In jedem Fall ist eine Prüfung des Einzelfalles maßgeblich.177 Allerdings dürften Einschränkungen der Freizügigkeit oder die Zerstörung kultureller Objekte grundsätzlich nicht ausreichen , um den Tatbestand nach Artikel 2 (c) in objektiver Hinsicht zu erfüllen;178 auch Massenvertreibungen fallen als solche grundsätzlich179 nicht unter den Tatbestand.180 Im Übrigen genügt es, wenn ein Teil der Gruppe den zerstörerischen Lebensbedingungen unterworfen wird.181 In Xinjiang sollen sich Berichten zufolge in insgesamt etwa 1.200, zum Teil überfüllten,182 Internierungslagern183 mindestens 1 Mio. Menschen befinden.184 Während der damit verbundene 176 BGH, Urteil vom 21. Februar 2001, 3 StR 244/00, NJW 2001, S. 2733; BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56. 177 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56. 178 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 380ff., abrufbar unter: https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56. 179 Kreß macht darauf aufmerksam, dass jedoch in besonderen Fällen, wie etwa im Rahmen der Vertreibung der Armenier durch die Türkei, die Verwirklichung des Tatbestands in Betracht kommt, s. ders., in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 57 m.w.N. 180 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 57; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 900. 181 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 74; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen”, in: ZaöRV 2014, S. 861; Jeßberger, The Definition and the Elements of the Crime of Genocide, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 101; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 53. S. auch BGH, Urteil vom 21.2.2001, 3 StR 244/00, NJW 2001, S. 2733; BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80. 182 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 30. 183 Siehe Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeitim -umerziehungslager-landen-ld.1457048. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 35 Freiheitsentzug zumindest per se nicht ausreicht, um den Tatbestand zu erfüllen,185 scheint es sich in Xinjiang jedoch um eben solche Lager zu handeln, in denen extrem unhygienische und unmenschliche Bedingungen herrschen. Denn wie berichtet wird, sind die Gefangenen dort einem Entzug von Nahrung, Kleidung, und medizinischer Versorgung ausgesetzt, leiden zudem unter Schlafentzug und sind gesundheitsgefährdenden Bedingungen ausgesetzt186. Dies dürfte für sich genommen bereits die Annahme zerstörerischer Lebensbedingungen rechtfertigen.187 Hinzu kommen die bereits erwähnten, mutmaßlichen Massenvergewaltigungen, die ebenfalls den Tatbestand erfüllen würden, wenn sie – wie berichtet wird188 – systematisch durchgeführt werden.189 ____________________ 184 Siehe Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500; Ernst, Das Parlament der Niederlande wertet die Behandlung der Uiguren in China als Genozid, Neue Zürcher Zeitung vom 27. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/niederlande-bezichtigt-china-des-genozids-an-uiguren-ld.1603943; sowie Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/chinamuslime -uiguren-assimilierung-repressionen-protest; und Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-im-umerziehungslager-landen-ld.1457048. Zum Teil ist auch von 1,5 Mio. Menschen die Rede, s. Büchenbacher, Die Kinder von Xinjiang – am Tag in der Schule, in der Nacht im Waisenhaus, Neue Zürcher Zeitung vom 16. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/xinjiang-eltern-im-umerziehungslager-kinder-im-internat-nzz-ld.1582016. 185 Siehe IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 380ff., abrufbar unter: https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56. 186 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 30. S. auch O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and its own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-human-rights-treaties-and-its-own-constitution-inxinjiang /. 187 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 56 sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 900. 188 Siehe Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 36, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 28. 189 Siehe allerdings auch Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 81, der darauf hinweist , dass in Bezug auf diese Tatbegehungsvariante bei Vergewaltigungen grundsätzlich hohe Hürden bestünden , sodass dies erst anzunehmen sei, wenn etwa Suizide in großem Ausmaß die Folge wären. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 36 Schließlich wird von massenhafter Zwangsarbeit berichtet190, die in ihrer Intensität und ihrem Ausmaß einer faktischen Versklavung gleichkommen dürfte und damit ebenfalls die Tatbegehungsvariante erfüllen würde. Somit dürfte in objektiver Hinsicht auch die Tatbegehungsvariante nach Artikel 2 (c) der Völkermordkonvention erfüllt sein, vorausgesetzt, die zitierten Berichte entsprechen der Wahrheit. Dabei ließe sich vor allem anführen, dass – selbst wenn einzelne Maßnahmen für sich genommen nicht die erforderliche Eignungsschwelle erreichten – sie jedoch zumindest in der Gesamtschau so schwer wiegen dürften, dass sie als „slow death measures“ auf Dauer gesehen zum Tode der betroffenen Uiguren führen können.191 190 Siehe Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 34 ff., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 31; Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, Januar 2021, S. 38 ff., abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf; O´Connell, How China is Violating Human Rights Treaties and its own Constitution in Xinjiang, Just Security vom 19. August 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/72074/how-china-is-violating-human-rightstreaties -and-its-own-constitution-in-xinjiang/. Wan, „The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic“, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 46 ff. Zenz, „Coercive Labor and Forced Displacement in Xinjiang´s Cross-Regional Labor Transfer Program: A Process -Oriented Evaluation“, The Jamestown Foundation, März 2021, abrufbar unter: https://jamestown.org/wpcontent /uploads/2021/03/Coercive-Labor-and-Forced-Displacement-in-Xinjiangs-Cross-Regional-Labor- Transfers-A-Process-Oriented-Evaluation.pdf?x10476, wo ab S. 39 ff. eine rechtliche Untersuchung dahingehend vorgenommen wird, ob die Zwangsarbeitsmaßnahmen unter den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit subsumiert werden können. Siehe außerdem ders., Coercive Labor in Xinjiang: Labor Transfer and the Mobilization of Ethnic Minorities to Pick Cotton, Intelligence Brief, Center for Global Policy, Dezember 2020, abrufbar unter: http://newlinesinstitute.org/wp-content/uploads/20201214-PB-China-Cotton-NISAP-2.pdf. Lehr/Bechrakis, “Connecting the Dots in Xinjiang – Forced Labor, Forced Assimilation and Western Supply Chains”, Center for Strategic and International Studies, Oktober 2019, abrufbar unter: https://www.csis.org/analysis/connecting-dots-xinjiang-forced-labor-forced-assimilation-and-western-supplychains . Xu et al., Uyghurs for Sale, „Re-education“, forced labor and surveillance beyond Xinjiang, Policy Brief, Australian Strategic Policy Institute, International Cyber Policy Centre, Report No. 26/20, abrufbar unter: https://s3- ap-southeast-2.amazonaws.com/ad-aspi/2021- 03/Uyghurs%20for%20sale%2016%20March%202021.pdf?2cAI9MeTyg2JVaLGbvuFn8.SnGc314S1. 191 So jedenfalls im Ergebnis auch Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 31; ebenso van Schaack, “Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination”, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legal-grounds-for-the-united-statesbipartisan -genocide-determination/; Wan, “The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic”, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 62. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 37 1.5.4. Artikel 2 (d): Die Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung Artikel 2 (d) der Völkermordkonvention erfasst die sog. biologische Tatbegehungsvariante,192 da hierunter Maßnahmen fallen, die sich gegen den biologischen Fortbestand der Gruppe richten,193 indem ihre Reproduktionsfähigkeit beseitigt wird.194 Staatliche Geburtenregulierungspolitik (birth policy), wie sie u.a. in China unter dem Schlagwort der sog. „Ein-Kind-Politik“195 bis 2015 praktiziert wurde, erscheint nicht nur aus völkerstrafrechtlicher , sondern vor allem auch aus menschenrechtlicher Sicht – jedenfalls nach europäischen Maßstäben – höchst fragwürdig.196 Ob ein völkergewohnheitrechtlich geltendes „Menschenrecht auf Fortpflanzung“ auch China entgegengehalten werden könnte, kann an dieser Stelle allerdings nicht weiter untersucht werden.197 Geburtenregulierungspolitik manifestiert sich in Maßnahmen wie Zwangssterilisierungen, Geburtenkontrollen198 oder Heiratsverboten.199 192 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 58. 193 Jeßberger, “The Definition and the Elements of the Crime of Genocide”, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 101; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 902. 194 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 58. 195 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), 28. Oktober 2020, „Vor 5 Jahren: Ende der Ein-Kind-Politik in China“, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/317830/ein-kind-politik. 196 Im Kern geht es bei den sexuellen und reproduktiven Rechten um das Recht auf Selbstbestimmung. Alle Menschen haben das Recht, frei und unabhängig über ihre Körper, ihre sexuelle Identität und ihre Fortpflanzung zu entscheiden. Betroffen sein kann aber auch das Recht auf Familienplanung nach Art. 8 EMRK. Vgl. zur Rechtsprechung des EGMR, Factsheet: Reproductive Rights, Februar 2021, insb. zu Fällen von Zwangssterilisierungen von Roma-Frauen, https://www.echr.coe.int/documents/fs_reproductive_eng.pdf. 197 Vgl. etwa Petra Kolonko, „Ein Menschenrecht auf Fortpflanzung?“, FAZ vom 29. August 2012, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/china-ein-menschenrecht-auf-fortpflanzung- 11871994.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2. United Nations, Reproductive Rights are Human Rights - A Handbook for National Human Rights Institutions, https://www.ohchr.org/documents/publications/nhrihandbook.pdf. 198 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 83. 199 Siehe JStGH, Urteil vom 8. April 2015, Prosecutor v. Tolimir, IT-05-88/2-A, Rdnr. 743, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/tolimir/acjug/en/150408_judgement.pdf; sowie RStGH, Urteil vom 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 507; und Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 60; sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht , Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 902. S. auch Drost, The Crime of State, Band II: Genocide, Leyden: Sythoff, 1959, S. 87. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 38 Auch die Trennung der Geschlechter kann den Tatbestand erfüllen,200 jedenfalls wenn sie als Maßnahme objektiv geeignet ist,201 die Reproduktionsmöglichkeit tatsächlich zu unterbinden.202 Darüber hinaus können auch Vergewaltigungen tatbestandsmäßig sein, wobei allerdings erforderlich ist, dass die psychischen Folgen beim Opfer dazu führen können, dass dieses sich dazu entschließt , sich nicht (mehr) fortzupflanzen.203 Kommt es durch eine Vergewaltigung zu zwangsweise erzielten Schwangerschaften, so kann auch dies tatbestandsmäßig sein, da dann jedenfalls zeitweise die Fortpflanzungsmöglichkeit unterbunden wird.204 Dies gilt auch dann, wenn eine Vergewaltigung dazu geeignet ist, dass das Opfer innerhalb der eigenen Gruppe zukünftig als „unberührbar“ erachtet wird.205 Berichten zufolge soll es in der Region Xinjiang insbesondere in ländlich geprägten Regionen mit mehrheitlich uigurischer Bevölkerung zu einer Kampagne massenhafter Sterilisierungen 200 Siehe RStGH, Urteil vom 2.9.1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 507; Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 83; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord , Rdnr. 902. 201 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 61. 202 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Rdnr. 902. 203 RStGH, Urteil vom 2. September 1998, Prosecutor v. Akayesu, ICTR 96-4-T, Rdnr. 508; s. auch IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil vom 3. Februar 2015, ICJ Reports 2015, Rdnr. 166, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/caserelated /91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf; Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 83; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856f. Bei Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht , Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 902 scheint jedoch in dieser Hinsicht ein Erfolg dahingehend gefordert zu werden, dass sich das Opfer tatsächlich dazu entschließt, sich nicht fortpflanzen zu wollen. Auf einen Erfolg kommt es hier allerdings nicht an, s. Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 62, der klarstellt, dass noch nicht einmal die Feststellung, dass eine Gruppe bereits spürbar von der Maßnahme betroffen ist, erforderlich ist. 204 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 83; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856. 205 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 83; sowie Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 856 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 39 gekommen sein.206 Allein im Jahr 2019 seien dabei in zwei Bezirken 14 Prozent bzw. 34 Prozent aller verheirateten Frauen im gebährfähigen Alter betroffen gewesen; in einem Bezirk sei die Rate der unfruchtbaren Frauen innerhalb eines Jahres um 124 Prozent gestiegen.207 Die Rate der sterilisierten Frauen in Xinjiang betrage 250 pro 100.000 und habe sich seit 2015 verzwölffacht.208 Abgesehen von zwangsweisen Sterilisierungen wird auch von langfristig wirkenden Verhütungsmitteln berichtet,209 die zwangsweise verabreicht würden, ebenso wie von erzwungenermaßen durchgeführten Abtreibungen.210 Derlei Maßnahmen würden ebenso bei den Frauen inner- 206 Siehe Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 36ff., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 31 m.w.N. S. auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071; sowie Reinsberg, China´s Forced Sterilization of Uyghur Women Violates Clear International Law, Just Security vom 29. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/71615/chinas-forced-sterilization-of-uyghurwomen -violates-clear-international-law/; und Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 27 ff.; außerdem Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 207 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 31. 208 Siehe Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. S. hierzu auch Zenz, Sterilizations, IUDs, and Mandatory Birth Control: The CCP´s Campaign to Suppress Uyghur Birthrates in Xinjiang, The Jamestown Foundation, Juni/Juli 2020, S. 15ff., abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/343971074_Sterilizations_IUDs_and_Mandatory_Birth_Control_The_ CCP%27s_Campaign_to_Suppress_Uyghur_Birthrates_in_Xinjiang. 209 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 32 m.w.N. S. auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071; sowie Reinsberg, China´s Forced Sterilization of Uyghur Women Violates Clear International Law, Just Security vom 29. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/71615/chinas-forced-sterilization-of-uyghur-women-violates-clear-internationallaw /; und Zenz, Sterilizations, IUDs, and Mandatory Birth Control: The CCP´s Campaign to Suppress Uyghur Birthrates in Xinjiang, The Jamestown Foundation, Juni/Juli 2020, S. 12ff., abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/343971074_Sterilizations_IUDs_and_Mandatory_Birth_Control_The_ CCP%27s_Campaign_to_Suppress_Uyghur_Birthrates_in_Xinjiang. 210 Siehe Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 40 halb der Gefangenenlager durchgeführt.211 Auch von wiederholten Tritten in den Unterleib im Zuge von Verhören in den Lagern ist die Rede.212 Vor dem Hintergrund der massenhaften Internierung scheint aber auch die Gefangennahme als solche als geburtenverhindernde Maßnahme durch Trennung der Geschlechter eingesetzt zu werden: Laut der sog. „Karakax-Liste“, einem Dokument, das Aufschluss sowohl über die Internierten als auch den Grund für die Internierung gibt,213 handelt es sich bei den Gefangenen insbesondere um Personen im zeugungsfähigen Alter .214 Inwiefern diese Anzahl zum Anteil der betroffenen Gruppe an der Bevölkerung steht, ist allerdings nicht ersichtlich; ein solcher Vergleich ist für den objektiven Tatbestand jedoch auch nicht erforderlich.215 Zwar ist der objektive Erfolg geburtenverhindernder Maßnahmen nicht Voraussetzung für die Tatbestandsmäßigkeit.216 Doch zumindest als Indiz für die zwangsweise Vornahme geburtenverhindernder Maßnahmen können die Berichte herangezogen werden, denen zufolge die Geburtenrate in Xinjiang im Jahr 2019 um 24 Prozent gesunken ist, während der Rückgang landesweit lediglich bei ca. vier Prozent lag.217 211 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 32 m.w.N. S. auch Haitiwaji/Morgat, „Our souls are dead“: how I survived a Chinese „re-education“ camp for Uighurs, The Guardian vom 12. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/world/2021/jan/12/uighur-xinjiang-re-education-camp-china-gulbahar-haitiwaji; außerdem Defranoux, Ouighours: „On m´a fait m´allonger et écarter les jambes, et on m´a introduit un stérilet, Témoignage, Libération vom 20. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.liberation.fr/planete/2020/07/20/on-ma -fait-m-allonger-et-ecarter-les-jambes-et-on-m-a-introduit-un-sterilet_1794798/. 212 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 32 m.w.N. S. auch Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071. 213 Siehe dazu etwa Obermaier/Strittmatter, Was mit Uiguren nach der Internierung passiert, Süddeutsche Zeitung vom 17. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-uiguren-peking- 1.4801254; sowie Neue Geheimdokumente zeigen Verletzung der Religionsfreiheit in China, Zeit Online vom 18. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-02/uiguren-religionsfreiheitverfolgung -umerziehungslager-china?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com. 214 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 32f. m.w.N. 215 Ein solcher Vergleich könnte aber in subjektiver Hinsicht Aufschluss über eine entsprechende Absicht geben. 216 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 86: “the result aimed at“; sowie Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 62. 217 Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-einesgenozids -an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 41 Zwischen 2015 und 2018 soll die Geburtenrate in zwei uigurischen Bezirken sogar um etwa 80 Prozent gesunken sein.218 Die chinesische Regierung hingegen verweist darauf, dass die uigurische Bevölkerung zwischen den Jahren 2010 und 2018 um 25 Prozent gewachsen sei, wohingegen die han-chinesische Bevölkerung in Xinjiang lediglich um zwei Prozent zugenommen habe .219 Diese Zahlen sind jedoch gewissermaßen „doppelt“ vorsichtig zu berücksichtigen. Denn zusätzlich zur Tatsache, dass der Erfolg von Maßnahmen – wenn überhaupt, dann – nur indiziell herangezogen werden kann, muss die Frage des Bevölkerungswachstums keinen Rückschluss auf die Verhängung von geburtenverhindernden Maßnahmen zulassen. Hat die uigurische Bevölkerung nämlich zuvor ein größeres Wachstum verzeichnet, dann wäre ein Rückgang auf Grund von geburtenverhindernden Maßnahmen auch bei einem weiterhin hohen bzw. sogar überdurchschnittlichen Wachstum denkbar. Vor diesem Hintergrund scheint die Geburtenrate ein adäquateres Indiz darzustellen. Jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass – insgesamt gesehen – die in Xinjiang innerhalb und außerhalb der Lager verhängten Maßnahmen zumindest geeignet sein dürften, die Reproduktionsmöglichkeit der Uiguren nachhaltig zu beeinträchtigen, sodass in objektiver Hinsicht angenommen werden kann, dass die Tatbegehungsvariante (d) des Artikel 2 der Völkermordkonvention erfüllt ist.220 218 Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-einesgenozids -an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500; s. auch Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 33 m.w.N.; sowie Zenz, Sterilizations , IUDs, and Mandatory Birth Control: The CCP´s Campaign to Suppress Uyghur Birthrates in Xinjiang, The Jamestown Foundation, Juni/Juli 2020, S. 3 ff., abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/343971074_Sterilizations_IUDs_and_Mandatory_Birth_Control_The_ CCP%27s_Campaign_to_Suppress_Uyghur_Birthrates_in_Xinjiang. 219 Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-einesgenozids -an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500; siehe hierzu auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte , Stellungnahme des Sachverständigen Zenz zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 16. Zwischen 1982 und 1990 lag das Bevölkerungswachstum bei nationalen Minderheiten insgesamt sogar bei über 35 Prozent im Vergleich zu einem Zuwachs von ca. 12 Prozent bei der han-chinesischen Bevölkerung, Staiger, Die chinesische Bevölkerungspolitik: Gegenwärtiger Stand und Probleme, China aktuell, September 1994, S. 950. 220 So jedenfalls im Ergebnis auch Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, Januar 2021, S. 72, abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 33; s. auch van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocide-against-the-uyghurs-legal-grounds-for-the-united-statesbipartisan -genocide-determination/; Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 63. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 42 1.5.5. Artikel 2 (e): Die zwangsweise Überführung von Kindern Die zwangsweise Überführung von Kindern nach Artikel 2 (e) der Völkermordkonvention liegt als Tatbegehungsvariante einerseits an der Grenze zum sog. kulturellen Völkermord,221 (auch Ethnozid genannt, also die Zerstörung der kulturellen Identität einer Gruppe durch zwangsweise Assimilierung)222. Hierunter sollen nämlich Maßnahmen fallen, die im Ergebnis dazu führen können, dass die spezifischen kulturellen Eigenschaften einer Gruppe vernichtet werden.223 Andererseits stellt sie auch eine Form der biologischen Völkermordvariante dar und steht deshalb ebenfalls in gewisser Nähe zu Artikel 2 (d), da hier wie dort die Reproduktionsmöglichkeit der Gruppe unterbunden wird.224 Unter einem Kind i.S.d. Vorschrift sind Personen unter 18 Jahren zu verstehen.225 Erfasst wird eine Überführung, die dazu geeignet ist, die Existenz einer Gruppe zu zerstören, wobei es darum geht, das Kind226 als Repräsentant der Gruppe für die Zukunft auszuschalten227. Denn durch die Überführung, also die faktische Trennung von der Ursprungsgruppe und das Verbringen in eine 221 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 87; s. auch Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 65; sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 904, der von einer „speziellen Form“ des kulturellen Genozids spricht. 222 Brockhaus Enzyklopädie Online, Ethnozid, abrufbar unter: https://brockhaus.de/ecs/permalink/5BFD388FA8AA1678730C2259DEA3CF74.pdf. Siehe hierzu auch die Motion der schweizerischen Abgeordneten Josiane Aubert „Verhütung von Völkermord. Kampf gegen Ethnozid“ vom 9. Dezember 2008, mit der der schweizerische Bundesrat beauftragt wird, Rechtsnormen auszuarbeiten, mit denen kultureller Völkermord wirksam bekämpft werden können soll sowie die entsprechende Stellungnahme des Bundesrates vom 13. Mai 2009, der sich eine Ablehnung der Motion anschloss, abrufbar unter: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20083789. 223 Siehe Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 904. 224 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 87; s. auch Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 65; sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 905. 225 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 88. 226 Auch hier ist grundsätzlich umstritten, ob die Überführung eines Kindes ausreichend ist, etwa Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 69 oder ob mindestens zwei Kinder überführt werden müssen, so Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 89, was für die hiesige Untersuchung jedoch keinerlei Auswirkungen hat. 227 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 67. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 43 neue Gruppe, können Kinder nicht in ihrer eigenen Gruppe aufwachsen und sich kulturell mit ihr identifizieren; die soziale Existenz der Gruppe ist damit in Gefahr.228 Dies dürfte jedoch erst bei einer Überführung von gewisser Dauer der Fall sein.229 Eine räumliche und kommunikative Entfernung des Kindes bzw. eine räumliche und kommunikative Entfernung der Ursprungsgruppe kann dabei genügen;230 nicht erforderlich ist hingegen, dass das Kind in der anderen Gruppe tatsächlich aufgenommen wird.231 Werden Kinder etwa in Heimen untergebracht, so ist dies ebenfalls tatbestandsmäßig, wenn die neue Gruppe dadurch den Zugriff auf diese Kinder erlangt.232 Bei der Überführung ist die Anwendung von Gewalt nicht notwendig, das Androhen genügt, wenn es als Mittel eingesetzt wird, um die Überführung zu realisieren.233 228 Siehe Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 905. 229 So jedenfalls Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord , Rdnr. 905, und Fn. 135. Berster hingegen geht davon aus, dass zumindest keine Dauerhaftigkeit erforderlich ist, da das notwendige „Überführen“ vom Wortlaut her eher eine Handlung als eine bleibende Folge beschreibe, ders., in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 93. 230 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 91. 231 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 67; so wohl auch Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 906. 232 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 92; s. auch Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 857; sowie Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 67. 233 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 93; s. auch Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 68; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 907. Siehe auch IStGH-Statut, Elements of Crimes, S. 3, Fn. 5: „The term “forcibly” is not restricted to physical force, but may include threat of force or coercion, such as that caused by fear of violence, duress, detention , psychological oppression or abuse of power, against such person or persons or another person, or by taking advantage of a coercive environment“, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/336923D8- A6AD-40EC-AD7B-45BF9DE73D56/0/ElementsOfCrimesEng.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 44 In Xinjiang ist den vorliegenden Berichten zufolge seit 2017 ein enormes Netzwerk an staatlichen , hoch gesicherten Internaten bzw. Waisenheimen, sog. „child welfare guidance center“, errichtet worden, um dort uigurische Kinder, darunter auch Kleinkinder, unterzubringen.234 Diese Zentren lägen hunderte Kilometer von deren Wohnort entfernt, sodass die für die Tatbegehungsvariante erforderliche räumliche Distanz gegeben wäre. Da es sich zudem um staatlich geführte und zugleich engmaschig kontrollierte Einrichtungen handeln soll und die betroffenen Kinder dort zwangsweise festgehalten werden sollen, läge auch die effektive Kontrolle der neuen Gruppe, in diesem Fall also die der Han-Chinesen vor. Von diesen Überführungsmaßnahmen seien im Jahr 2019 etwa 880.550 Kinder betroffen gewesen, wobei es sich oftmals um Kinder handeln soll, die beide Elternteile dadurch verloren hätten, dass sie in den Gefangenen- bzw. Arbeitslagern interniert worden seien.235 In den Heimen würden die Kinder dann in einer Umgebung aufgezogen, die der han-chinesischen Kultur entspräche, insbesondere in chinesischer Sprache,236 womit also eine kulturelle Distanz zur Ursprungsgruppe geschaffen würde.237 Auch wenn die Assimilierung in der neuen Gruppe keine Voraussetzung für die Verwirklichung des Tatbestands ist,238 so weist dies jedoch darauf hin, dass die kulturelle Identifikation der betroffenen Kinder mit uigurischen Traditionen und Lebensweisen demnach gefährdet wäre und die Maßnahmen geeignet wären, zu verhindern, dass die Kinder als Repräsentanten der uigurischen Gruppe heranwachsen. 234 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 34 m.w.N. Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, Januar 2021, S. 41 ff., abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf; Amnesty International, Hearts and Lives Broken – The Nightmare of Uyghur Families Separated by Repression, 2021, abrufbar unter: https://pressecloud.amnesty.de/s/LxTp225mAzpX7nR#pdfviewer. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 235 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 34 m.w.N. 236 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 34 m.w.N. 237 Siehe hierzu auch Reinsberg, “China´s Forced Sterilization of Uyghur Women Violates Clear International Law”, Just Security vom 29. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/71615/chinas-forced-sterilizationof -uyghur-women-violates-clear-international-law/. 238 Siehe Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtlichen Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 857. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 45 Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass auch die Tatbegehungsvariante nach Artikel 2 (e) der Völkermordkonvention in objektiver Hinsicht erfüllt ist.239 1.5.6. Zwischenfazit Insgesamt gesehen erscheint die Annahme begründet, dass im Hinblick auf die Behandlung der Uiguren in Xinjiang durch die chinesische Regierung in objektiver Hinsicht die Voraussetzungen aller fünf Tatbegehungsvarianten des Artikel 2 der Völkermordkonvention jeweils erfüllt sind. Das bedeutet, dass die acta rei der Vorschrift bereits verwirklicht wurden und bei Fortsetzung der jeweiligen Handlungen weiterhin verwirklicht werden. 1.6. Die subjektiven Voraussetzungen des Völkermords Diese Ebene des Völkermordtatbestands nach Artikel 2 der Völkermordkonvention stellt wohl die höchste Hürde dar, um das Vorliegen eines Genozids bejahen zu können. Dies gilt sowohl in materieller Hinsicht als auch im Hinblick auf die Frage der Beweisbarkeit240. Für die Prüfung dieser inneren Tatseite des Tatbestands lässt sich dem Grunde nach eine Strukturierung in zwei Teile vornehmen, bestehend aus dem allgemeinen Vorsatz der individuellen Tat und der sog. Zerstörungsabsicht , wobei diese wiederum in das Zerstörungselement, das Absichtselement241, das (Teil-)Gruppenelement und das Motivelement aufgeteilt werden kann. Während zunächst festzustellen ist, dass die Anforderungen an sämtliche dieser Merkmale entweder nicht vollständig geklärt oder umstritten sind, wird im Folgenden der Fokus insbesondere auf dem Zerstörungselement liegen. 239 So jedenfalls im Ergebnis auch Mcdonald et al., International Criminal Responsibility for Crimes Against Humanity and Genocide Against the Uyghur Population in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, Essex Court Chambers, Januar 2021, S. 72f., abrufbar unter: https://14ee1ae3-14ee-4012-91cfa 6a3b7dc3d8b.usrfiles.com/ugd/14ee1a_3f31c56ca64a461592ffc2690c9bb737.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 34 f.; s. auch van Schaack, Genocide against Uyghurs: Legal Grounds for the United States´ Bipartisan Genocide Determination, Just Security vom 27. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.justsecurity.org/74388/genocideagainst -the-uyghurs-legal-grounds-for-the-united-states-bipartisan-genocide-determination/ Wan, The Persecution of the Uyghurs and Potential International Crimes in China, International Human Rights and Conflict Resolution Clinic, Mills Legal Clinic, August 2020, S. 63. 240 Siehe hierzu etwa Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 936. 241 Hierbei ist umstritten, inwiefern der Begriff „intent“ des Tatbestands von Artikel 2 der Völkermordkonvention zu verstehen ist, wobei es um die Frage geht, ob ein zielgerichtetes Wollen i.S.e. dolus directus 1. Grades erforderlich ist oder ob auch ein sicheres Wissen i.S.e. dolus directus 2. Grades ausreicht. S. hierzu ausführlich de Oliveira Santos, Der Bedeutungsgehalt der Wendung intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such in Art. 2 der Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Berlin: Duncker&Humblot, 2019, passim. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 46 1.6.1. Die Zerstörungsabsicht Unter dem Begriff der Zerstörungsabsicht242 ist eine Absicht bezüglich der Vernichtung der Gruppe zu verstehen. Diese Vernichtung muss objektiv nicht verwirklicht werden, sondern lediglich vom Täter beabsichtigt sein.243 Dabei ist jedoch höchst umstritten, worauf sich die beabsichtigte Zerstörung beziehen muss, was also „zerstören“ i.S.d. Tatbestands bedeutet: Genügt es, wenn beabsichtigt wird, die soziale Existenz der betroffenen Gruppe aufzulösen oder muss die Zerstörungsabsicht auf die physisch-biologische Vernichtung der Gruppe gerichtet sein? Während die erste, also extensive Alternative des Verständnisses vom Zerstörungsbegriff auch Formen zwangsweiser sozialer Assimilierung und Angriffe auf die kulturelle Identität erfasst, die auf die soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl abzielen244 – und damit den sog. kulturellen Völkermord bzw. Ethnozid miteinschließt – ist ein solcher nach der zweiten, restriktiven Alternative für sich genommen nicht ausreichend für einen Genozid nach Artikel 2 der Völkermordkonvention.245 Zwar wird die restriktive Auffassung vor allem in der internationalen Rechtsprechung und Literatur246 mehrheitlich vertre- 242 Siehe den Wortlaut der Vorschrift: „…intent to destroy…“. 243 Siehe ILC, Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, Report of the International Law Commission on the work of its fourty-eight session, 1996, S. 46, abrufbar unter: https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/7_4_1996.pdf; sowie S. Ambos, Internationales Strafrecht, München: Beck, 5. Auflage 2018, Rdnr. 151. 244 Siehe BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80. 245 Siehe Ambos, Internationales Strafrecht, München: Beck, 5. Auflage 2018, Rdnr. 151f. Siehe auch die Motion der schweizerischen Abgeordneten Josiane Aubert „Verhütung von Völkermord. Kampf gegen Ethnozid“ vom 9. Dezember 2008, mit dem der schweizerische Bundesrat beauftragt wird, Rechtsnormen auszuarbeiten, mit denen kultureller Völkermord wirksam bekämpft werden können soll sowie die entsprechende Stellungnahme des Bundesrates vom 13. Mai 2009, der sich eine Ablehnung der Motion anschloss, abrufbar unter: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20083789. 246 IGH, Urteil vom 26. Februar 2007, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), ICJ Reports 2007, Rdnr. 190, 344, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf; JStGH, Urteil vom 2. August 2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Rdnr. 580, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/tjug/en/krs-tj010802e.pdf; JStGH, Urteil vom 19. April 2004, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-A, Rdnr. 26, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/acjug/en/krs-aj040419e.pdf; RStGH, Urteil vom 13. Dezember 2006, Prosecutor v. Seromba, ICTR-2001-66-I, Rdnr. 319, abrufbar unter: https://unictr.irmct.org/sites/unictr.org/files/case-documents/ictr-01-66/trial-judgements/en/061213.pdf; IStGH, Urteil vom 4. März 2009, Prosecutor v. Al Bashir, ICC-02/05-01/09, Rdnr. 143f., abrufbar unter: https://www.icccpi .int/CourtRecords/CR2009_01517.PDF; ILC, Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, Report of the International Law Commission on the work of its fourty-eight session, 1996, S. 45f., abrufbar unter: https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/7_4_1996.pdf; Jeßberger, The Definition and the Elements of the Crime of Genocide, in: Gaeta (Hrsg.), The UN Genocide Convention. A Commentary, Oxford: Oxford, 2009, S. 107f.; Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 221 ff. S. auch UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1412, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM- Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 47 ten; in Deutschland247 herrscht hingegen die extensive Interpretation vor.248 So führt der BGH 1999 in einem Strafurteil im Zusammenhang mit dem Massaker in Srebrenica zum Völkermordvorwurf aus: „…der Tatbestand…[setzt] nicht zwingend voraus, daß der Täter die körperliche Vernichtung, die physische Zerstörung der Gruppe anstrebt. Es reicht aus, daß er handelt, um die Gruppe in ihrer sozialen Existenz („als solche“), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl zu zerstören.“249 In einem weiteren Urteil aus dem Jahr 2015 bestätigt er diese Interpretation, diesmal im Kontext des Völkermordes in Ruanda.250 Das BVerfG ist dieser Auffassung im Jahr 2000 ebenfalls gefolgt und führte hierzu aus: „ Die […] vorausgesetzte Absicht der Zerstörung der Gruppe ist schon nach dem natürlichen Wortsinne weiter als die physisch-biologische Vernichtung. Das folgt auch daraus, dass das Gesetz in […] Nr. 3 […] Zerstörung mit dem besonderen Attribut „körperlich” versieht, um damit die Eignung der Tathandlung zur physischen Vernichtung der Gruppe zu bezeichnen. Zudem bezeichnet […] Nr. 4 […] einen Sonderfall der biologischen Vernichtung der Gruppe, ohne dass sich dies auf die gegenwärtig lebenden Mitglieder bereits im Sinne einer physischen Vernichtung auswirkt. Dass es Absicht des Täters sein muss, zumindest eine substanzielle Zahl an Mitgliedern der Gruppe auch physisch zu vernichten, ergibt sich danach nicht zwingend aus dem Wortlaut.“251 247 BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80; BGH, Urteil vom 21. Mai 2015, 3 StR 575/14, BeckRS 126410, Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2000, BvR 1290/99, NJW 2001, S. 1850, 2; Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 2f.; ders., The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment, Journal of International Criminal Justice 2015; Demko, “Die Zerstörungsabsicht bei dem völkerstrafrechtlichen Verbrechen des Genozids. Zugleich eine Anmerkung zur deutschen Rechtsprechung im Verfahren gegen Onesphore R.“, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 12/2017, S. 766-781, http://zis-online.com/dat/artikel/2017_12_1171.pdf Jescheck, Die internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre vom Völkerstrafrecht , Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft 1954, S. 212f.; Werle, Die deutsche Rechtsprechung zur Zerstörungsabsicht beim Völkermord und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Hettinger et al. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller, 2007, S. 690; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 248 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 2, Fn. 5 f.; Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 71. Ausführlich kritisch mit der deutschen Rechtsprechung auseinandersetzend, ders., Ruth Rissing-van Saans Begegnung mit dem Völkerstrafrecht, in: Fischer/Bernsmann (Hrsg.), Festschrift Rissing-van Saan, Berlin: Gruyter , 2011, S. 322 ff. 249 BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80. 250 BGH, Urteil vom 21. Mai 2015, 3 StR 575/14, BeckRS 2015, 126410, Rdnr. 13. 251 BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2000, BvR 1290/99, NJW 2001, S. 1850. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 48 Der JStGH stellte u.a. im Jahr 2001 in einer vom IGH im Jahr 2007 herangezogenen Entscheidung hingegen fest: „…customary international law limits the definition of genocide to those acts seeking the physical or biological destruction of all or part of the group. Hence, an enterprise attacking only the cultural or sociological characteristics of a human group in order to annihilate these elements which give to that group its own identity distinct from the rest of the community would not fall under the definition of genocide.“252 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob im Umgang der chinesischen Regierung mit den Uiguren eine Zerstörungsabsicht vorliegt und worauf sie sich konkret bezieht. Da grundsätzlich nur in den seltensten Fällen Beweismaterial zur Verfügung stehen wird, das auf eine solche Absicht unmittelbar hindeuten könnte, muss vielmehr untersucht werden, ob sie sich aus den behaupteten Umständen, etwa aus Aussagen, Plänen, Vorgaben und Richtlinien oder Art und Ausmaß des Handelns ableiten lässt.253 Dabei wird eine mögliche Absicht jedoch nicht jeweils isoliert in Bezug auf die objektiven Begehungsvarianten nach Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention überprüft, sondern die aus den Berichten zu entnehmenden Indizien in ihrer Gesamtheit betrachet.254 Letztlich kann eine Absicht erst dann angenommen werden, wenn der aus den Indizien abzuleitende Rückschluss keine anderweitige Beurteilung zulässt.255 Nachfolgend werden daher die in den vorliegenden Berichten zitierten Indizien aufgeführt und im Hinblick auf eine mögliche Zerstörungsabsicht entsprechend eingeordnet. 1.6.1.1. Relevante Indizien und ihre Analyse Der „People´s War on Terror“ Das Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die uigurische Bevölkerung steht Berichten zufolge insbesondere im Zeichen des Kampfs gegen den Extremismus. So soll der chinesische Präsident Xi Jingping im April 2014 in einer Reihe von Reden den Kampf gegen „Terrorismus, Infiltration und Separatismus“ angekündigt haben, wobei er die Region Süd-Xinjiang, in der zu 252 JStGH, Urteil vom 2. August 2001, Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-T, Rdnr. 580, abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/tjug/en/krs-tj010802e.pdf. 253 Siehe UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1415, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf, m.w.N. 254 Siehe UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1416, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf, m.w.N. 255 Siehe UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1415, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf, m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 49 90 Prozent Uiguren leben, besonders hervorgehoben habe.256 Der Extremismus sei gerade in der uigurischen Gesellschaft tief verwurzelt, so das Argument.257 In diesem Zusammenhang habe er sinngemäß angeordnet, dass „die Waffen der Volksrepublik ohne Zögern geschwungen“ werden müssten, absolut keine Gnade gezeigt werden dürfe und selbst nachdem diese Leute freigelassen worden seien, ihre Erziehung und Umwandlung fortgesetzt werden müsse.258 Im Mai 2014 habe dann entsprechend die Kampagne des „People´s War on Terror“ in Xinjiang begonnen, im Zuge derer die Unterdrückung der uigurischen Bevölkerung ihren Lauf nahm.259 Im Vorfeld sowie im Nachgang ist es u.a. in Xinjiang offenbar zu einer Anschlagsserie radikaler Uiguren auf Polizisten und Han-Chinesen gekommen, bei der Dutzende von Menschen getötet wurden.260 Die Ankündigung und Durchführung dieses „People´s War on Terror“ lässt zwar die Entschlossenheit und Radikalität der chinesischen Regierung im Hinblick auf ihr Vorgehen erkennen. Eine physisch-biologische Vernichtung mutmaßlicher Terroristen, Infiltristen oder Separatisten ist dabei allerdings nicht zwingend; sie drängt sich auch nicht auf. Denn die Aussage: „nachdem diese Leute freigelassen worden seien, müsse ihre Erziehung und Umwandlung fortgesetzt werden “ weist vielmehr darauf hin, dass die Maßnahmen in diesem Kampf, wie offenbar die Inhaftierung , von temporärer Natur sein können und eine Umerziehung zum Ziel haben sollen. Dies aber bedeutet, dass eine Veränderung der Denk- und Lebensweise für die Zukunft herbeigeführt werden soll, was gewissermaßen im Widerspruch zu einer physisch-biologischen Zerstörung stünde. Auch die Ankündigung, dass „keine Gnade“ gezeigt werden solle, muss nicht zwingend auf eine Tötung der Gruppenmitglieder bezogen sein. In dem soeben aufgezeigten Kontext erscheint es sogar plausibler, dass es die Umerziehung sein soll, die in unnachgiebiger Weise durchgeführt werden soll. Allerdings ist die Wortwahl „selbst nachdem diese Leute freigelassen wurden“ insofern beachtlich , als dass damit impliziert wird, dass Inhaftierte auch nicht freigelassen werden könnten – also im Lager sterben müssten. In diesem Sinne könnten ebenfalls Berichte verstanden werden, denen zufolge aus einem Dokument des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas 256 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 37. 257 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 37. 258 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 37. 259 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 18, m.w.N. 260 Siehe Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/chinamuslime -uiguren-assimilierung-repressionen-protest; sowie Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-im-umerziehungslager-landen-ld.1457048; Siehe auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Leutner zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 50 hervorgeht, dass das Lagersystem so lange in Betrieb zu halten sei, „bis die gesamte Nation, Kasachen , Uiguren und andere muslimische Nationalitäten, verschwinden…bis alle muslimischen Nationalitäten ausgelöscht sind.“261 Auch diese Formulierung könnte auf eine physische Zerstörungsabsicht hindeuten – vorausgesetzt, das „Auslöschen“ bezieht sich auf die Personen und nicht auf das die Personen verbindende „nationale“ oder „muslimische“ Element. Doch es erscheint plausibel, dass genau diese Art der Interpretation zutrifft. Aus den Berichten ergibt sich nämlich auch, dass die Gefangenen (solange) im Lager festgehalten würden, bis sich ihre Ansichten änderten und wenn sie sich nicht ändern würden, dann blieben sie für immer.262 Dabei gelte das Motto: „Freiheit ist nur möglich, wenn dieses Virus in ihrer Denkweise ausgelöscht ist“.263 Zudem sei Gefangenen gesagt worden, dass so etwas wie eine ethnische Gruppe der Uiguren nicht existiere und dass es ein Verbrechen sei, ein Uigure zu sein.264 Wer im Lager die uigurische Sprache verwende oder es nicht schaffe, chinesisch zu sprechen, der werde gefoltert und unmenschlicher Behandlung unterzogen.265 All dies deutet darauf hin, dass es offenbar darum geht, das, was die Uiguren ausmacht, auszulöschen – nicht aber den bzw. die Uiguren als Menschen. Vor diesem Hintergrund ist auch ein chinesisches Gesetz vom Januar 2019 zu sehen, das vorschreibt, alle Muslime binnen fünf Jahren zu „sinisieren“ – sie also an die hanchinesische Mehrheit anzupassen.266 261 Zitiert nach Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 37, m.w.N. 262 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 37, Fn. 226; s. auch Haitiwaji/Morgat, „Our souls are dead“: how I survived a Chinese „reeducation “ camp for Uighurs, The Guardian vom 12. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/world/2021/jan/12/uighur-xinjiang-re-education-camp-china-gulbahar-haitiwaji. 263 Zitiert nach Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 38f., m.w.N. 264 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 17. 265 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43, m.w.N. 266 Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/chinamuslime -uiguren-assimilierung-repressionen-protest; s. dazu auch Defranoux, Ouighours: „On m´a fait m´allonger et écarter les jambes, et on m´a introduit un stérilet, Témoignage, Libération vom 20. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.liberation.fr/planete/2020/07/20/on-m-a-fait-m-allonger-et-ecarter-les-jambes-et-onm -a-introduit-un-sterilet_1794798/; sowie Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf; und Ruser et al., Cultural Erasure – Tracing the destruction of Uyghur and Islamic spaces in Xinjiang, Policy Brief, Australian Strategic Policy Institute, International Cyber Policy Centre, Report No. 38/2020, S. 33ff., abrufbar unter: https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/ad-aspi/2020- 09/Cultural%20erasure_0.pdf?NlJYOaEV6DF3IfupGsdb73xtX0wCNokg; außerdem Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Zhou zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 51 Keine „Parallel-Ideologie“ Allerdings scheint es nicht nur das Ziel zu sein, religiöse Verhaltensweisen zu unterbinden. Die Tatsache, dass auch die uigurische Sprache unterdrückt werden soll, ist ein Indiz dafür, dass die chinesische Regierung keine Art von „Parallelideologie“ zum „Kommunismus chinesischer Prägung “ dulden will. Es geht also um eine Umerziehung weg von Religion bzw. eigener Kultur und hin zur Staatsideologie.267 Dafür spricht ebenfalls, dass nicht nur Uiguren, sondern – wie sich auch aus den soeben erwähnten Dokument der Kommunistischen Partei ergibt – zudem andere, traditionell muslimisch geprägte Minderheiten wie Kasachen (und Kirgisen) von den Maßnahmen , wie etwa der Internierung, betroffen sein sollen.268 Diese Minderheiten sollen offenbar alle ethnisch zur Han-Bevölkerung und sprachlich zum Chinesischen hingeführt werden.269 Im Vordergrund der Kampagne scheint somit die Zerstörung jeder anderweitigen Kultur durch Zwangssinisierung, nicht aber die Vernichtung der (jeweiligen) Gruppe als physischbiologischer Zusammenschluss zu stehen.270 Dies deutet also auf eine kulturell-genozidale bzw. ethnozidale Kampagne hin. Hierbei ist ferner zu berücksichtigen, dass Berichten zufolge einige 267 Siehe auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Zenz zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 13; ebenso Zand/Zenz, „The Equivalent of Cultural Genocide“, Spiegel International vom 28. November 2019, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/international/world/chinese-oppression-of-the-uighurs-likecultural -genocide-a-1298171.html, wo als Ziel des Handelns der chinesischen Regierung die „soziale Kontrolle“ definiert wird, die mit kulturellem Genozid gleichzusetzen sei; außerdem Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-im-umerziehungslager-landen-ld.1457048. 268 Siehe auch Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kannjederzeit -im-umerziehungslager-landen-ld.1457048; sowie Human Rights Watch, „Eradicating Ideological Viruses “, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, September 2018, S. 9, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf; außerdem Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 269 Siehe Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeitim -umerziehungslager-landen-ld.1457048; s. auch Defranoux, Ouighours: „On m´a fait m´allonger et écarter les jambes, et on m´a introduit un stérilet, Témoignage, Libération vom 20. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.liberation.fr/planete/2020/07/20/on-m-a-fait-m-allonger-et-ecarter-les-jambes-et-on-m-a-introduitun -sterilet_1794798/. 270 Siehe auch Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/china-muslime-uiguren-assimilierung-repressionen-protest; sowie Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-was-uigurendurchmachen -ld.1605079. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 52 Lagerinsassen tatsächlich wieder entlassen worden sind;271 teilweise seien Lager wieder geschlossen worden272. Das Ziel, die zuvor internierten Menschen psychisch zu brechen, sei dann zwar erreicht.273 Doch ist ein solches Ziel nicht mit einer physischen Zerstörung gleichzusetzen. Dafür, dass es sich um eine kulturell-genozidale bzw. ethnozidale Kampagne handelt, sprechen Berichte, wonach in einem internen Parteidokument Statistiken darüber geführt werden, wie viele der Internierten während ihres Aufenthaltes ihre Ansichten geändert hätten, was als „Erfolg“ deklariert worden sei.274 „Transformation durch Bildung“ sei dabei die Maxime.275 Auch hier steht „Transformation“, also Umwandlung i.S.v. Sinisierung, in einem gewissen Widerspruch zu der Annahme einer physischen Zerstörungsabsicht. Die „Ausrottungs“-Methaphorik Anderen Berichten ist etwa zu entnehmen, dass der Parteisekretär des Bezirks Yarkand in einer Rede an Parteimitglieder im Jahr 2017 diese angehalten habe, „sie [Hervorhebung hinzugefügt] vollständig auszuradieren (…) sie mit Stumpf und Stiel auszurotten“.276 Hinter dieser Politik steht offenbar der Gedanke der chinesischen Staatsführung, dass die Uiguren – „ähnlich wie 271 Human Rights Watch, World Report 2021 – Events of 2020, S. 165, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/01/2021_hrw_world_report.pdf; Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-im-umerziehungslager-landen-ld.1457048; s. auch Haitiwaji/Morgat, „Our souls are dead“: how I survived a Chinese „re-education“ camp for Uighurs, The Guardian vom 12. Januar 2021, https://www.theguardian.com/world/2021/jan/12/uighur-xinjiang-re-educationcamp -china-gulbahar-haitiwaji; sowie Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, https://www.bbc.com/news/world-asia-china- 55794071. 272 Human Rights Watch, World Report 2021 – Events of 2020, S. 165, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/01/2021_hrw_world_report.pdf; Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-was-uiguren-durchmachenld .1605079. 273 Siehe Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeitim -umerziehungslager-landen-ld.1457048; s. auch Haitiwaji/Morgat, „Our souls are dead“: how I survived a Chinese „re-education“ camp for Uighurs, The Guardian vom 12. Januar 2021, https://www.theguardian.com/world/2021/jan/12/uighur-xinjiang-re-education-camp-china-gulbahar-haitiwaji; sowie Hill/Campanale/Gunter, „Their goal is to destroy everyone“: Uighur camp detainees allege systematic rape, BBC News vom 2. Februar 2021, https://www.bbc.com/news/world-asia-china-55794071. 274 Siehe Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-wasuiguren -durchmachen-ld.1605079. 275 Siehe Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-wasuiguren -durchmachen-ld.1605079. 276 Zitiert nach Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 37. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 53 Unkraut“ – nicht dadurch beseitigt werden könnten, dass jedes einzelne Gewächs herausgerissen werde; vielmehr müssten „Chemikalien eingesetzt“ werden – und Umerziehung beinhalte eine solche Chemikalie.277 Überdies habe der Parteisekretär der Region Xinjiang, Chen Quanguo, angeordnet, „alle zusammenzutreiben, die zusammengetrieben werden sollten“.278 Hierbei handele es sich um eine Formulierung, die seit 2017 wiederholt in Regierungsdokumenten auftauche .279 Chen Quanguo habe zudem in einer Rede gesagt, dass der Kampf zur Sicherstellung von Stabilität in Xinjiang ein Krieg sei, der auch Elemente des Angriffs beinhalte.280 Aus einer Regierungsanordnung aus Xinjiang ergebe sich zudem, dass die Abstammungslinien, Wurzeln, Verbindungen und die Herkunft bzw. die Ursprünge der Uiguren zerstört werden sollen.281 Regierungserklärungen aus Xinjiang beinhalteten – bezogen auf die Arbeit in den Internierungslagern – wiederholt die Aufforderung, „die Gehirne zu waschen und die Herzen zu reinigen“.282 Die von chinesischer Seite im Zusammenhang mit der Behandlung der Uiguren getätigten Aussagen lassen sich durchaus als Synonyme des „Zerstörens“ verstehen. Dementsprechend ist ihre Interpretation i.S.e. physisch-biologischen Zerstörungsabsicht grundsätzlich denkbar. Doch auch hier kommt es entscheidend darauf an, was oder wer „ausradiert“ oder „ausgerottet“ werden soll. Einige der verwendeten Methaphern und Bilder deuten eher darauf hin, dass es bei der Behandlung der Uiguren nicht um deren physische Vernichtung, sondern „nur“ um die Veränderung ihres Gedankenguts, ihrer Lebensweise und damit letztlich um die Ausmerzung ihrer Kultur geht. Dazu passen Begriffe wie „Tumor“ oder „Behandlung“, die im Zusammenhang mit den Uiguren gefallen sein sollen.283 So habe etwa Chen Quanguo das extremistisch-religiöse Gedankengut als einen „bösartigen Tumor“ bezeichnet, der eines chirurgischen Eingriffs bedürfe.284 277 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 37f. 278 Zitiert nach Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 38. 279 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 38. 280 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 38 m.w.N. 281 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 39. 282 Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 25, abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 39 m.w.N. 283 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 38 f. m.w.N. 284 Zitiert nach Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 38. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 54 All dies könnte darauf hindeuten, dass sich die „Ausrottungsmethaphorik“, der sich die chinesische Seite bedient, (nur) auf die soziale Existenz der Gruppe der Uiguren bezieht, nicht dagegen auf ihre biologische Vernichtung. Wer einen „Patienten“ chirurgisch „operieren“ will – so die naheliegende chinesische Lesart – trachtet ihm nicht nach dem Leben. Wer von „Gehirnwäsche“ oder „Herzensreinigung“ spricht, will soziale und/oder psychische Veränderung, aber womöglich nicht um den Preis der physischen Vernichtung. Letztlich bleibt die im Zusammenhang mit den Uiguren verwendete chinesische „Ausrottungsmethaphorik “ in hohem Maße offen für Interpretationen. Interpretationsanfällig zeigt sich in erster Linie die Sprache, denn die bilderreiche Metaphorik und Idiomatik des Chinesischen lässt sich nicht immer treffsicher ins Deutsche übersetzen. Die systematische Verfolgung von Repräsentanten In dieses Bild fügt sich zudem die Angabe ein, dass eine systematische Verfolgung uigurischer Intellektueller stattfinde; ebenfalls seien solche Uiguren betroffen, die entweder gut in der hanchinesischen Gesellschaft integriert oder sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas seien.285 Diese Verfolgung ziele insbesondere auf prominente Vertreter und Wächter der uigurischen Kultur, darunter Funktionäre, Religionsgelehrte, Universitätsprofessoren, Ärzte, Journalisten , Künstler u.s.w.286 Sollten diese Angaben zutreffen, so erhärtet sich der Verdacht, es sei „nur“ das Kulturgut auszulöschen. Denn es sind schließlich insbesondere die Repräsentanten der uigurischen Kultur, die deren Fortbestehen und Fortentwicklung garantieren bzw. betreiben können. Der Masterplan zur Masseninternierung Auch die Berichte, wonach im Hinblick auf die Masseninternierung ein Masterplan existiere, der eine detaillierte Anleitung für den Betrieb und die Erweiterung der Lager beinhalte,287 steht dem nicht entgegen. Zwar solle demnach der Aufbau und die Instandsetzung beschleunigt und die Sicherheitsvorkehrungen verbessert werden,288 was für eine Fortsetzung oder gar Ausweitung der Kampagne spricht. Doch laut dieses Plans sollten die Gefangenen in den Lagern zur Buße und zum Bekenntnis dahingehend angeregt werden, dass sie ihre Vergangenheit für rechtswidrig, 285 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 39 f. 286 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 40. 287 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 40, m.w.N. 288 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 40. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 55 kriminell und gefährlich erklären.289 Auch hierbei scheint also die Umerziehung das oberste Ziel zu sein.290 Dass es dabei Anordnungen gebe, die für mehrheitlich uigurisch bewohnte Regionen Internierungsquoten in Höhe von 50 Prozent an der uigurischen Bevölkerung vorsähen und – sollten diese nicht erfüllt werden – die für die Internierung zuständigen Personen selbst Gefahr liefen, interniert zu werden,291 ist lediglich ein Hinweis auf das angestrebte Ausmaß der Kampagne . Ein Zweck, die Internierten physisch zu zerstören, kann daraus nicht abgeleitet werden. Zugleich gibt es keine Hinweise in Bezug auf eine mögliche Zerstörungsabsicht, die mit den mutmaßlichen Tötungen in den Internierungslagern in Verbindung gebracht werden können.292 Bei der Prüfung des objektiven Tatbestandsmerkmals von Artikel 2 (a) der Völkermordkonvention wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es – abgesehen vom Ursächlichkeitszusammenhang zwischen einer bestimmten Handlung und dem Tod eines Internierten – letztlich entscheidend darauf ankommen wird, ob die Tötung als Mittel eingesetzt wurde, um die beabsichtigte Zerstörung voranzutreiben. Doch Aussagen darüber, dass Gefangene überhaupt oder unter gewissen Umständen getötet werden sollen, sind nicht ersichtlich. So ist es etwa auch denkbar, dass Gefangene getötet wurden, weil sie sich gegen die offenbar geradezu unerträglichen Internierungsbedingungen gewehrt haben. Dies würde die Tötung dann zwar keinesfalls rechtfertigen; die Tötung selbst wäre dann jedoch kein unmittelbares Mittel zur beabsichtigten Zerstörung der Gruppe. Hintergründe des Geschehens lassen sich an dieser Stelle nicht aufklären. Dies gilt insbesondere für die mutmaßlich vollstreckten Todesurteile und die damit zusammenhängende Frage nach möglichen Willkürprozessen. Die Tatsache, dass im Zusammenhang mit den Uiguren in Xinjiang keine Hinweise auf Massenhinrichtungen bekannt geworden sind, fügt sich eher in das Gesamtbild ein, nach dem eine beabsichtigte soziale Zerstörung der Gruppe plausibel erscheint. Die Geburtenregulierungspolitik Was die Geburtspolitik Chinas bezüglich der Uiguren angeht, so wurde bereits darauf hingewiesen , dass eine besondere Kampagne zur Kontrolle von Verstößen gegen die Geburtenkontrolle 289 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 41. 290 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 40, m.w.N.; s. auch Zoll, Totale Überwachung in China: „Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-im-umerziehungslager-landen-ld.1457048. 291 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 20, m.w.N.; siehe auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Zhou zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 14. 292 Für die Berichte über mutmaßliche Tötungen in den Lagern und die Frage, inwiefern diese unter Artikel 2 (a) der Völkermordkonvention subsumiert werden könnten, s. Teil I 1.5.1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 56 stattfindet („Special Campaign to Control Birth Control Violations“).293 Aus Bezirks- und Gemeindeanordnungen in Xinjiang aus den Jahren 2018 und 2019 ergibt sich etwa, dass Geburten unterbunden und die Fruchtbarkeitsrate gesenkt werden soll; jeder solle dahingehend getestet werden.294 In vier überwiegend uigurischen Regionen habe die Gesundheitskommission in Xinjiang 2019 geplant, über 80 Prozent aller Frauen im geburtsfähigen Alter Sterilisierungen oder anderer, langfristig geburtenverhindernder Maßnahmen zu unterziehen.295 Für die Jahre 2019 und 2020 seien genug finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt worden, um hunderttausende Zwangssterilisierungsmaßnahmen durchzuführen.296 Insgesamt würden umgerechnet Hunderte von Millionen Dollar in Maßnahmen zur Geburtenkontrolle in Xinjiang investiert.297 Zugleich würden zusätzlich zu den Zwangssterilisierungen gezielt Männer in die Internierungslager verbracht, sodass – wie beabsichtigt – die Fortpflanzungsfähigkeit unterbunden werde und keine Reproduktion innerhalb der Gruppe mehr möglich sei.298 Zur Begründung der gesunkenen Geburtenrate innerhalb der uigurischen Bevölkerung hat die chinesische Botschaft in den USA eine Erklärung abgegeben, der zufolge im Zuge der Auslöschung von Extremismus der Verstand uigurischer Frauen in Xinjiang emanzipiert und Geschlechtergerechtigkeit gefördert worden sei. Aus diesem Grund seien diese nun keine „Geburtsautomaten“ mehr.299 Darüber hinaus begründet die chinesische Regierung den Rückgang der Geburtenrate in Xinjiang mit staatlich geschaffenen Anreizen dafür, weniger Kinder zu bekommen und mit einem einfacheren Zugang zu Verhütungsmitteln.300 Zugleich scheint zudem 293 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 41 f., m.w.N. 294 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 41f. 295 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 42. 296 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 32, m.w.N. 297 Siehe Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurfeines -genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. 298 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 42. 299 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 42. 300 Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-einesgenozids -an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 57 eine Art Belohnungsgeld ausgeschrieben worden zu sein, um die freiwilligen Sterilisierungen und andere geburtenverhindernde Maßnahmen voranzutreiben.301 Während die Erklärung der chinesischen Botschaft die Annahme einer physisch-biologischen Vernichtungsabsicht mit Blick auf die Uiguren auszuschließen scheint, steht sie der Annahme einer sozialen Zerstörungsabsicht gleichwohl nicht entgegen. Denn mit der angeblich angestrebten Emanzipierung durch niedrigere Geburtenraten kann jedenfalls die Verbreitung der uigurischen Kultur entschieden eingedämmt und – zumindest bei entsprechender Fortdauer der Maßnahmen – die soziale Existenz der Gruppe ernsthaft gefährdet werden (ohne dass damit zugleich auch zwingend die physische Existenz bedroht werden müsste). In diesem Zusammenhang ist auch eine mutmaßliche Kampagne zu betrachten, die zum Ziel haben soll, uigurische Frauen mit han-chinesischen Männern in sog. „Mischehen“ zu verbinden („inter-ethnic-mingling“), wobei es sich meist um solche Frauen handele, deren Männer in Internierungslagern gefangen gehalten würden.302 Eine solche staatlich geführte Politik lässt ebenfalls erkennen, dass offenbar angestrebt wird, die Verbreitung uigurischer Kultur zu unterbinden, in diesem Fall dadurch, dass die Kinder durch eine han-chinesische Vaterfigur geprägt würden. Zwar wird auch darüber berichtet, dass diese Kampagne zumindest zum Teil mit Drohung, Zwang und Gewalt vorangetrieben werde. Inwiefern hier aber Drohungs-, Zwangs- oder Gewaltelemente zum dominierenden Element geworden sind, lässt sich nicht erkennen; jedenfalls scheinen teilweise auch lediglich Anreize geschaffen worden zu sein, eine solche Ehe zu schließen .303 Fraglich bleibt, inwieweit die Geburtenregulierungspolitik der chinesischen Regierung ein konkretes Indiz für eine Zerstörungsabsicht mit Blick auf die uigurische Minderheit bildet. China hat über Jahrzehnte hinweg die – international umstrittene – sog. „Ein-Kind-Politik“ verfolgt, die mit rigoroser Geburtenkontrolle vor allem bei Han-Chinesen einherging.304 Dazu zählten zwangsweise Verhütungen und Abtreibungen ebenso wie massive Geldstrafen bei Verstößen, sog. 301 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 32, Fn. 182. 302 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 19 f., m.w.N.; s. dazu auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 303 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 19 f., m.w.N. 304 Bu/Frank, Familienplanung und Ein-Kind-Politik in China, Zeitschrift für Rechtsvergleichung, 2009, S. 88 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 58 „soziale Kompensationsgebühren“.305 Die „Ein-Kind-Politik“ wurde zwar 2015 offiziell für beendet erklärt, doch werden Maßnahmen der Geburtenregulierung in ganz China auch nach 2015 in der Weise fortgesetzt, dass die Anzahl erlaubter Geburten nunmehr auf zwei beschränkt ist.306 Die uigurische Minderheit ist dagegen zuvor von der Geburtenregulierungspolitik gegenüber den Han-Chinesen weitgehend verschont geblieben;307 anders ließe sich ihr weit überdurchschnittliches Wachstum wohl auch nicht erklären. Zudem wurde die staatliche Geburtenregulierung bei den Uiguren erst vor einigen Jahren verstärkt aufgenommen. Dabei trifft sie nun auch Frauen, die bereits mehrere Kinder in die Welt gesetzt haben. Insoweit ergibt sich – was die Zerstörungsabsicht angeht – kein eindeutiges Bild. Bei einer differenzierten Bewertung der Indikation der aktuelle Geburtenregulierungspolitik darf die frühere Regulierungspolitik nicht unberücksichtigt bleiben: Erinnert sei an vergleichbare Maßnahmen im Umgang mit der chinesischen Mehrheitsbevölkerung, bei denen keine Zerstörungsabsicht vorlag. Die chinesische Regierung führt ihre Geburtenregulierung seit 2015 gegenüber den Han- Chinesen weniger strikt, gegenüber den Uiguren jedoch sehr rigide durch. Angesichts der Tatsache , dass Geburtenregulierung in China nach wie vor ein „gesamtstaatliches Phänomen“ darstellt , kann im Zusammenhang mit der Geburtenpolitik nicht zwingend auf eine Zerstörungsabsicht allein gegenüber den Uiguren geschlossen werden. Die Kampagne zur Zerstörung uigurischer Identität Für eine soziale Zerstörungsabsicht dürfte hingegen die Durchführung der Kampagne zur Zerstörung uigurischer Familien, gesellschaftlicher Verbindungen sowie heiliger Stätten und uigurischer Identität sprechen.308 Berichten zufolge sei dabei nämlich die Verhinderung der Weiterga- 305 Bu/Frank, Familienplanung und Ein-Kind-Politik in China, Zeitschrift für Rechtsvergleichung, 2009, S. 88 ff.; „Vor 5 Jahren: Ende der Ein-Kind-Politik in China“, Bundeszentrale für politische Bildung vom 28. Oktober 2020, Siehe auch Bianco/Chang-ming, Implementation and Resistance: The Single-Child Family Policy, in: Feuchtwang et al. (Hrsg.), Transforming China´s Economy in the Eighties, London: Zed Books, 1988, S. 150 ff.; sowie Michelson, Family Planning Enforcement in Rural China: Enduring State-Society Conflict?, in: Oi et al. (Hrsg.), Growing Pains: Tensions and Opportunity in China´s Transformation, The Walter H. Shorenstein Asia- Pacific Research Center, Stanford: Walter H. Shorenstein Asia-Pacific Research Center Books, 2010, S. 192 f.; und Staiger, Die chinesische Bevölkerungspolitik: Gegenwärtiger Stand und Probleme, China aktuell, September 1994, S. 947 f. 306 „Vor 5 Jahren: Ende der Ein-Kind-Politik in China“, Bundeszentrale für politische Bildung vom 28. Oktober 2020, https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/317830/ein-kind-politik. 307 Bu/Frank, Familienplanung und Ein-Kind-Politik in China, Zeitschrift für Rechtsvergleichung, 2009, S. 86; „Vor 5 Jahren: Ende der Ein-Kind-Politik in China“, Bundeszentrale für politische Bildung vom 28. Oktober 2020, Staiger, Die chinesische Bevölkerungspolitik: Gegenwärtiger Stand und Probleme, China aktuell, September 1994, S. 950. Siehe auch Fraser, “China´s National Minorities: Notes on Population Development and Birth Planning”, in: Far Eastern Affairs 1990, S. 263 ff. 308 Siehe Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 26 ff., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf; Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 42 ff., m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 59 be von religiösen Bräuchen, Tradition, Kultur und Sprache zwischen den Generationen beabsichtigt : So ergebe sich etwa aus einem Planungsdokument der Regierung aus 2017, dass der Zweck der zwangsweisen Trennung der uigurischen Kinder von ihren Familien darin liege, diese sowohl zu „indoktrinieren“ als auch den Einfluss der religiösen Atmosphäre von Zuhause zu unterbinden.309 Etwa 900.000 Kinder würden ein Internat besuchen (müssen).310 Zudem habe eine Analyse von Grundschulbüchern ergeben, dass die uigurische Kultur vollständig aus der Erziehung gestrichen worden sei; zweisprachige Erziehung sei ausnahmslos durch „nationalsprachige “ Erziehung ersetzt worden, sodass die uigurische Sprache nicht an die nächste Generation weitergegeben werden könne.311 Die chinesische Regierung hingegen stellt diese Maßnahmen in den Kontext verbesserter Ausbildungsmöglichkeiten für die uigurischen Kinder, die aus unterentwickelten Regionen stammten.312 Doch selbst wenn dies zutreffend wäre, spräche dies wohl nicht gegen eine auf die soziale Existenz der Gruppe gerichtete Zerstörungsabsicht. Denn das Motiv, den uigurischen Kindern bessere Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten, schließt eine damit einhergehende Absicht, die Kultur auszulöschen, nicht aus. Eine soziale Zerstörungsabsicht kristallisiert sich schließlich angesichts von Berichten heraus, nach denen die Regierung in Xinjiang systematisch gegen kulturelle und religiöse Stätten und Symbole der Uiguren vorgehe.313 2016 etwa sei von staatlicher Stelle die „Moschee-Bereinigungs- Kampagne“ gestartet worden, im Zuge derer muslimische Gebetshäuser und heilige Kultstätten abgerissen worden seien.314 Ziel sei es gewesen, Religion und Sozialismus einander anzupas- 309 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43; s. dazu auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 310 Büchenbacher, „Die Kinder von Xinjiang – am Tag in der Schule, in der Nacht im Waisenhaus“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/xinjiang-eltern-imumerziehungslager -kinder-im-internat-nzz-ld.1582016. 311 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43; s. auch Zoll, „Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren duchmachen“, Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/adrian-zenz-das-wort-genozid-besagt-das-was-uiguren-durchmachenld .1605079. 312 Büchenbacher, „Die Kinder von Xinjiang – am Tag in der Schule, in der Nacht im Waisenhaus“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/xinjiang-eltern-imumerziehungslager -kinder-im-internat-nzz-ld.1582016. 313 Siehe hierzu Ruser et al., Cultural Erasure – Tracing the destruction of Uyghur and Islamic spaces in Xinjiang, Policy Brief, Australian Strategic Policy Institute, International Cyber Policy Centre, Report No. 38/2020, abrufbar unter: https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/ad-aspi/2020- 09/Cultural%20erasure_0.pdf?NlJYOaEV6DF3IfupGsdb73xtX0wCNokg. 314 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43, m.w.N.; s. auch Yang, Passt euch an!, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/china-muslime-uiguren-assimilierung-repressionen-protest. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 60 sen.315 Insgesamt seien nach Schätzungen ca. 16.000 Moscheen (bzw. 65 Prozent) und etwa 58 Prozent aller weiteren religiösen Kultstätten, wie Schreine, Friedhöfe und Pilgerorte in der Region, darunter auch die wohl heiligste uigurische Stätte, zerstört oder beschädigt worden, wobei es bei 8.500 Moscheen zu einem vollständigen Abriss gekommen sei.316 Andere Moscheen seien zu areligiösen Zwecken umfunktioniert oder geschlossen worden.317 Religion solle, wie berichtet wird, unter keinen Umständen eine Rolle im Rahmen von Erziehung oder Familienplanung spielen.318 Eine mutmaßlich als rückwärtsgewandt betrachtete uigurische Lebensweise solle gewandelt319 und ethnisch-uigurische Architektur ausgelöscht werden.320 Davon betroffen seien auch Gegenstände des typisch uigurisch-geprägten Haushalts, die als Kernelemente der uigurischen Identität und Kultur verstanden werden müssten.321 Zwar ist es zutreffend, dass solche Handlungen im Rahmen der Beweiswürdigung grundsätzlich auch herangezogen werden können, um eine physische Zerstörungsabsicht zu begründen.322 Allerdings können solche Merkmale nur unterstützend dienen und nicht selbstständig bzw. für sich genommen den Rückschluss auf eine physisch-biologische Zerstörungsabsicht rechtfertigen. Dies muss vor allem dann gelten, wenn sich im Übrigen das Bild einer sozialen Vernichtungsabsicht abzeichnet und sich die Zerstörung von Kultstätten geradezu nahtlos in dieses Bild einfügt. 315 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43. 316 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 43f., m.w.N.; Ruser et al., Cultural Erasure – Tracing the destruction of Uyghur and Islamic spaces in Xinjiang, Policy Brief, Australian Strategic Policy Institute, International Cyber Policy Centre, Report No. 38/2020, S. 22ff., abrufbar unter: https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/ad-aspi/2020- 09/Cultural%20erasure_0.pdf?NlJYOaEV6DF3IfupGsdb73xtX0wCNokg; s. auch Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Sauytbay zur öffentlichen Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, 18. November 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/807638/1add1edd74e0b4adaa177af86151f4f1/stellungnahme_sayragul _sauytbay-data.pdf. 317 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 43 f., m.w.N. 318 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 44, m.w.N. 319 Siehe auch Zoll, „Totale Überwachung in China: Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kannjederzeit -im-umerziehungslager-landen-ld.1457048. 320 Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention , March 2021, S. 44. 321 Siehe Newlines Institute, The Uyghur Genocide: An Examination of China´s Breaches of the 1948 Genocide Convention, March 2021, S. 44, m.w.N. 322 Siehe etwa bei IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, Rdnr. 344, abrufbar unter: https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 61 Keine expliziten Indizien für eine physisch-biologische Zerstörungsabsicht Zugleich sind Aussagen oder Indizien, die explizit auf eine physisch-biologische Zerstörungsabsicht hindeuten, bislang nicht bekannt.323 In Anbetracht des eingangs aufgezeigten Grundsatzes, dass letztlich eine Absicht erst dann angenommen werden kann, wenn der aus den Indizien abzuleitende Rückschluss keine andersartige Beurteilung zulässt,324 muss unter Würdigung der Gesamtumstände somit davon ausgegangen werden, dass eine physisch-biologische Zerstörungsabsicht wohl nicht angenommen werden kann.325 Demgegenüber dürfte aber vernünftigerweise vertretbar davon ausgegangen werden, dass eine Zerstörungsabsicht „nur“ im Hinblick auf die Auflösung der sozialen Existenz der Uiguren als Gruppe gerichtet ist. Die Differenzierung im Hinblick auf die objektiven Tatbestandsmerkmale Allerdings muss vor dem Hintergrund der soeben vorgenommenen Analyse auch hier differenziert werden, denn nicht alle der fünf im objektiven Tatbestand angenommenen Begehungsvarianten nach Artikel 2 (a)-(e) scheinen als Mittel eingesetzt zu werden, um die mutmaßlich beabsichtigte Zerstörung der Gruppe voranzutreiben. Der Betrieb der Internierungslager, die dort mutmaßlich verübte physische und psychische Gewalt und auch die mutmaßliche Trennung der uigurischen Familien und die damit verbundene Überführung der Kinder in Heime und Internate , wo sie von uigurischer Kultur und muslimischen Glaubenspraktiken und -lehren „entwöhnt“ zu werden scheinen – all dies dürften zwar Mittel sein, die dem Zweck dienen sollen, die uigurische Kultur und die von Uiguren praktizierte Religion als mögliche Parallelideologien und Weltanschauungsmodelle neben dem staatlich-chinesischen Kommunismus auszumerzen. Bei den Tatbegehungsvarianten (a) und (d), also der Tötung und der Verhängung geburtenverhindernder Maßnahmen bestehen allerdings erhebliche Zweifel: Im Hinblick auf die Tötungen lässt sich, wie bereits erwähnt, nicht nachweisen, dass diese als Mittel eingesetzt wurden, um die Uiguren als Gruppe zu zerstören. Aber auch im Hinblick auf die mutmaßlichen Maßnahmen zur Geburtenverhinderung bestehen Bedenken gegen eine soziale Zerstörungsabsicht. Denn wie bereits erörtert, lassen sich zumindest dem Grunde nach vergleichbare Maßnahmen im Umgang mit der chinesischen Mehrheitsbevölkerung aus der Vergangenheit anführen, bei denen auch 323 In diesem Sinne sind wohl auch Baumann/Rüesch, „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-der-vorwurf-eines-genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500 zu verstehen; ebenso Human Rights Watch/Mills Legal Clinic, „Break Their Lineage, Break Their Roots“ – Chinese Government Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims, April 2021, S. 2f., abrufbar unter: https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2021/04/china0421_web_2.pdf. 324 Siehe UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1415, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf, m.w.N. 325 So sind wohl auch Baumann/Rüesch „Die USA werfen China einen Genozid an den Uiguren vor – zu Recht?“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. März 2021, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/usa-china-dervorwurf -eines-genozids-an-den-uiguren-ist-heikel-ld.1605500 zu verstehen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 62 keine solche soziale Zerstörungsabsicht vorlag. Daher erscheint es problematisch, in diesem Kontext von einer Zerstörungsabsicht auszugehen. Dementsprechend lässt sich hieraus – unter der Voraussetzung einer tatsachengetreuen Berichterstattung – die Schlussfolgerung ziehen, dass bei Zugrundelegung des u.a. vom BGH und BVerfG vertretenen extensiven Verständnisses bei den Tatbegehungsvarianten nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention eine (soziale) Zerstörungsabsicht bestehen dürfte. Unter Heranziehung des u.a. für die internationale Rechtsprechung maßgeblichen restriktiven Verständnisses der Zerstörungsabsicht dürfte eine solche aber eher nicht angenommen werden können. Damit stellt sich die Frage, welche der beiden Ansichten vorzuziehen ist. 1.6.1.2. Zur restriktiven und extensiven Auslegung des Zerstörungsbegriffs Für die extensive Auslegung des Zerstörungsbegriffs spricht zunächst, dass nach der Intention des geistigen Schöpfers der Genozidkonvention, Raphael Lemkin, der Völkermordtatbestand alle Formen der Zerstörung einer Gruppe als soziale Einheit – und damit auch den „kulturellen Völkermord“ – umfassen sollte.326 Während nach seinem Verständnis die physische Zerstörung nur die schwerste Form der Zerstörung darstellte, sollte dies nicht die einzig mögliche Form sein.327 Ferner wird als Argument für diese Auslegung angeführt, dass der Wortlaut von Artikel 2 der Völkermordkonvention den Zusatz beinhalte, die Zerstörungsabsicht müsse sich gegen die Gruppe „als solche“ richten.328 Dies schließe eine Vernichtung der sozialen Existenz der Gruppe jedenfalls nicht aus, sondern lasse sogar vermuten, dass diese mitgeschützt sei.329 Allerdings ist die genaue Bedeutung dieses Zusatzes nicht geklärt.330 Er scheint das Resultat einer Kontroverse 326 Lemkin, Axis Rules in Occupied Europe, Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, 1944, S. 82 ff., abrufbar unter: http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944-1.htm; s. auch Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 327 Lemkin, Axis Rules in Occupied Europe, Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, 1944, S. 79, abrufbar unter: http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944-1.htm; s. auch Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931; sowie Schabas, Genocide in International Law, Cambridge: Cambridge, 2. Auflage 2009, S. 271. 328 Siehe Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 329 BGH, Urteil vom 30. April 1999, 3 StR 215/98, BGHSt 45, 64, 80; BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2000, BvR 1290/99, NJW 2001, S. 1850; Werle, Die deutsche Rechtsprechung zur Zerstörungsabsicht beim Völkermord und die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Hettinger et al. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, Heidelberg: Müller, 2007, S. 682; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 330 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 89. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 63 um ein mögliches Motiverfordernis beim Täter zu sein331 und kann daher letztlich wohl nicht unbedingt für die extensive Interpretation der Zerstörungsabsicht ins Feld geführt werden332. Für diese Ansicht hingegen spräche vielmehr ein systematisch-lexikalisches Argument. Denn zum einen erfasst Artikel 2 (b) der Völkermordkonvention auch die ausschließliche Zufügung schweren seelischen Schadens, während die körperliche Integrität der einzelnen Gruppenmitglieder und damit auch der Gruppe selbst unangetastet bleiben kann, sodass diese Variante auf die soziale Gruppenexistenz abzielen müsste.333 Zum anderen sanktioniert Artikel 2 (c) der Völkermordkonvention ausdrücklich nur die Auferlegung zerstörerischer physischer Lebensbedingungen , was den Umkehrschluss zulässt, dass im Übrigen die nicht-physische Zerstörung erfasst ist.334 Auch wenn dieser Umkehrschluss nicht zwingend ist,335 erscheint die explizite Nennung anderenfalls dennoch überflüssig.336 Außerdem handelt es sich – wie bereits angesprochen – bei den Tatbegehungsvarianten nach Artikel 2 (d) und (e) der Völkermordkonvention um kulturelle bzw. biologische Ausprägungen des Genozids, die jedenfalls keine physische Komponente beinhalten müssen.337 Bei lebensnaher Betrachtung ist es zudem nicht ersichtlich, warum ein Täter, der mit physisch-biologischer Zerstörungsabsicht handelt, eine Überführungsaktion i.S.d. Artikel 2 (e) der Völkermordkonvention durchführen würde. Da der Tatbestand aber auch durch das Verwirklichen nur dieser einen Tatbestandsvariante realisiert werden kann („any of the following acts“), müsste eine solche Konstellation nicht nur theoretisch denkbar, sondern auch praktisch möglich sein. Dies erscheint jedoch zumindest unplausibel. Während also bei den anderen vier Tatbegehungsvarianten eine realistische Kombination aus objektiven Merkmalen und physisch-biologischer Zerstörungsabsicht besteht, ist dies bei Artikel 2 (e) der Völkermordkonvention bei lebensnaher Betrachtung 331 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 89. 332 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 72. 333 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 2; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen,“ in: ZaöRV 2014, S. 859f. 334 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 2. 335 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 72. 336 Siehe Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 860; sowie Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 337 Siehe Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 64 offenbar nicht gegeben. Hier scheint in praktischer Hinsicht lediglich die Annahme einer sozialen Zerstörungsabsicht nachvollziehbar.338 Die Auslegung eines subjektiven Tatbestandsmerkmals kann jedoch innerhalb eines Tatbestands nicht vom jeweiligen objektiven Merkmal abhängen , sondern muss einheitlich erfolgen. Dies führt zu beachtlichem Zweifel an der restriktiven Auffassung. Schließlich spricht auch ein teleologisches Argument, also der Sinn und Zweck der Vorschrift, für die extensive Interpretation der Zerstörungsabsicht. Denn nur auf diese Weise kann auch das kulturelle Gut als solches geschützt werden, was im Einklang mit dem Ziel der Völkermordkonvention , Gruppen auf Grund ihres Beitrags zur kulturellen Vielfalt der Menschheit zu schützen, steht.339 Eben dieser Beitrag ist aber durch die soziale Auflösung einer Gruppe nicht weniger gefährdet als durch ihre physische Zerstörung.340 Diesem teleologischen Argument der extensiven Interpretation ist zwar insofern zuzustimmen, als dass in dessen Konsequenz auch Kampagnen, die sich – wie mutmaßlich im Fall der Uiguren – ausschließlich gegen die kulturelle Identität einer Gruppe wenden, sanktioniert werden können und sich kulturelle Vielfalt dadurch wohl effektiver schützen ließe. Zu recht wird dagegen jedoch ins Feld geführt, dass dies auch ein lediglich wünschenswertes Ergebnis sein könne, das Anlass gebe, das geltende Recht zu ändern – was aber nicht bedeute, dass es in dieser Form (de lege lata) bereits existiere.341 Schließlich könne eine Vorschrift nicht „sinnvoller“ ausgelegt werden , als es ihre Schöpfer selbst vorgesehen hätten.342 Tatsächlich muss in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden, dass etwa die der Genozidkonvention vorausgehende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1946343 in ihrer Präambel noch eine Definition beinhaltete, nach der der Völkermord „das Gewissen der Menschheit geschockt und zu großen Verlusten für die Menschheit in Bezug auf kulturelle und andere Beiträge der betroffenen Gruppen geführt habe“ (Hervorhebung 338 So ist wohl auch Berster zu verstehen, ders., “The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment”, in: Journal of International Criminal Justice 2015, S. 15/16. 339 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen,“ in: ZaöRV 2014, S. 860; so wohl auch Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 931. 340 Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 2, 8; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen,“ in: ZaöRV 2014, S. 860. 341 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 72. 342 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 72. 343 UN General Assembly, Resolutions Adopted on the Reports of the Sixth Committee, The Crime of Genocide, A/RES/96, 11. Dezember 1946, abrufbar unter: https://www.refworld.org/docid/3b00f09753.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 65 hinzugefügt).344 Der Verweis auf die kulturellen Beiträge und die Sanktionierung von Handlungen , die sich als kultureller Völkermord darstellen, wurde dann aber im Rahmen der Verhandlungen zur Konvention – zwar nach zähem Ringen, aber dennoch – bewusst gestrichen.345 Die Genese der Vorschrift spricht somit eindeutig gegen eine nachträgliche „Wiedereinführung“ der Tatbestandsmäßigkeit des kulturellen Völkermords. Doch obwohl dieses historische Argument dem Grunde nach überzeugend ist, wird es aus methodischer Sicht zumindest abgeschwächt: Nach Artikel 31 f. der WVRK ist die Genese einer Vorschrift nämlich nur subsidiär heranzuziehen .346 Die extensive Auslegung ist jedoch auch aus einem anderen Grund in teleologischer Hinsicht problematisch. Denn wie zutreffend und überzeugend vorgebracht wird, führt sie in letzter Konsequenz dazu, dass auch derjenige einen Genozid begeht, der in dem Wissen um eine zugleich stattfindende kulturelle Vernichtungskampagne und nur in der Absicht, diese zu fördern, eine einzelne347 Person tötet – obwohl die kulturelle Vernichtungskampagne in objektiver Hinsicht keine der in Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention enthaltene Handlung umfasst.348 Das aber kann nicht gewollt sein und begründet daher erhebliche Zweifel an der extensiven Auslegung des Zerstörungsbegriffs. In dem Wissen um diese bedeutende Schwäche der extensiven Auslegung wird in der Literatur eine gewissermaßen vermittelnde Ansicht vorgetragen.349 Sie greift die Bedenken gegen beide Positionen auf, kommt letztlich zu einem ausgewogenen Ergebnis und kann daher den jeweiligen Gegenargumenten den „Wind aus den Segeln“ nehmen – ohne dass sich etwas am hier gefundenen Ergebnis änderte: Nach dieser Ansicht erfasst der Begriff der Zerstörungsabsicht zwar auch 344 Siehe den Wortlaut der Präambel der Resolution: „Genocide is a denial of the right of existence of entire human groups, as homicide is the denial of the right to live of individual human beings; such denial of the right of existence shocks the conscience of mankind, results in great losses to humanity in the form of cultural and other contributions represented by these human groups, and is contrary to moral law and to the spirit and aims of the United Nations …“. 345 Siehe Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 23, 72; s. auch Vrdoljak, “Genocide and Restitution: Ensuring Each Group´s Contribution to Humanity”, in: European Journal of International Law, Vol. 22 No. 1, 2011, S. 29. 346 Hierauf verweist zutreffend Berster, “The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment”, in: Journal of International Criminal Justice 2015, S. 3/16. 347 Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass das Töten einer Person genügt – nach der a.A. wäre die Tötung von mindestens zwei Personen erforderlich, s. hierzu oben unter dem objektiven Tatbestandsmerkmal der Tötung. Doch auch bei Zugrundelegung dieser Ansicht ergäbe sich kein Unterschied, der die Durchschlagskraft des hier wiedergegebenen Arguments schmälerte. 348 Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 72. 349 Berster, “The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment”, in: Journal of International Criminal Justice 2015, S. 5 ff. Die Stärke des Arguments wird auch hier anerkannt, ders., in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 3. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 66 die Vernichtung der sozialen Existenz der betroffenen Gruppe (insofern extensiv). Zugleich sollten für die Identifizierung einer Absicht nur diejenigen Handlungen relevant sein, die die Voraussetzungen der objektiven Tatbegehungsvarianten nach Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention erfüllen (insofern restriktiv).350 Für die Situation der Uiguren hätte die Anwendung dieser Interpretation also die Konsequenz, dass für die Bewertung, ob eine Zerstörungsabsicht vorliegt, alle Handlungen, die nicht nach Artikel 2 (a)-(e) der Völkermordkonvention tatbestandsmäßig sind, nicht miteinbezogen werden dürfen. Hierunter fallen insbesondere die mutmaßlichen, gegen kulturelle und religiöse Stätten gerichteten Kampagnen, in denen etwa Gebetshäuser und andere heilige Stätten zerstört und beschädigt worden seien sollen. Doch auch ohne deren Berücksichtigung lägen – die tatsachengetreue Berichterstattung vorausgesetzt – nach wie vor hinreichend Indizien vor, um eine soziale Zerstörungsabsicht annehmen zu können. Dies gilt zumindest auch nach dieser Auffassung für diejenigen Handlungen, die den objektiven Tatbestand von Artikel 2 der Völkermordkonvention in Form der Tatbegehungsvarianten (b), (c) und (e) verwirklichen. Im Hinblick auf die Tatbegehungsvarianten nach Artikel 2 (a) und (d) bestehen aus denselben Gründen Zweifel, die auch schon bei Zugrundelegung der extensiven Ansicht Bedenken begründet haben. Mit dieser Methodik wird das teleologische Argument der restriktiven Ansicht angemessen berücksichtigt , da Handlungen, die keine der im objektiven Tatbestand abschließend aufgeführten Tatbegehungsvarianten darstellen, als Bezugspunkt der sozialen Zerstörungsabsicht unberücksichtigt bleiben und deshalb der Einzelne, der eine Person tötet und damit eine im Übrigen sich als kulturell-genozidal bzw. ethnozidal vollziehende Kampagne zu fördern beabsichtigt, keinen Genozid begeht.351 Zudem wird der bei den Verhandlungen zur Völkermordkonvention ursprünglich verfolgte Sinn und Zweck bei der Ausgestaltung der Norm respektiert352 und gefördert. Schließlich können auch die systematisch-lexikalischen Auslegungsschwierigkeiten behoben und der Binnensystematik der Vorschrift Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund ist diese Ansicht eine überzeugende Vermittlung der sich gegenüberstehenden extensiven und restriktiven Auslegung. Diese vermittelnde Ansicht wurde allerdings noch von keinem gerichtlichen Spruchkörper aufgegriffen. Insgesamt kommen jedenfalls sowohl die „reine“ Interpretation der sozialen Zerstörungsabsicht als auch die vermittelnde Ansicht hier zum selben Ergebnis. 350 Berster, The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment, Journal of International Criminal Justice 2015, S. 6/16. 351 Berster, The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment, Journal of International Criminal Justice 2015, S. 6/16. 352 Berster, The Alleged Non-Existence of Cultural Genocide – A Response to the Croatia v. Serbia Judgment, Journal of International Criminal Justice 2015, S. 6f./16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 67 1.6.1.3. Zwischenfazit Folgt man der in Deutschland vorherrschenden und insbesondere vom BGH und BVerfG vertretenen Ansicht vom sozialen Zerstörungsbegriff, so kann auf der Grundlage der vorliegenden Quellen und Berichte davon ausgegangen werden, dass eine Zerstörungsabsicht vorliegt. Hingegen müsste bei Anwendung des von internationalen Gerichten zugrunde gelegten physischbiologischen Zerstörungsbegriffs eine Zerstörungsabsicht wohl verneint werden. Für und gegen beide Ansichten sprechen jeweils gute Argumente. Vor diesem Hintergrund vermag eine vermittelnde Ansicht, die jeweiligen Schwächen der Interpretationen angemessen zu berücksichtigen. Doch letztlich kommt auch sie zum selben Ergebnis wie die in Deutschland vorherrschende extensive Auslegung des Zerstörungsbegriffs. Dementsprechend kann wohl auch mit dieser vermittelnden Ansicht von einer vorliegenden Zerstörungsabsicht ausgegangen werden. Abschließend ist nun noch auf die eingangs erwähnten, zusätzlich erforderlichen Merkmale auf der Ebene der mens rea einzugehen: Das (Teil-)Gruppenelement und das Motivelement. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist jedoch lediglich dann erforderlich, wenn die restriktive Interpretation der Zerstörungsabsicht abgelehnt wird, da es nur in diesem Fall auf eine weitere Prüfung ankommt. 1.6.2. Das (Teil-)Gruppenelement Hierbei geht es um die Frage, auf wen genau sich die Zerstörungsabsicht richtet.353 Wäre es erforderlich , dass der Täter beabsichtigt, die gesamte Gruppe zu zerstören, so wären die Voraussetzungen unrealistisch hoch. Denn dann würde es für die Verneinung eines Genozids streng genommen bereits genügen, dass der Täter ein Gruppenmitglied von seiner Absicht ausschließt. Doch wie der Wortlaut des Artikels 2 der Völkermordkonvention klarstellt, genügt eine Zerstörungsabsicht , die sich auf einen Teil der Gruppe richtet.354 Da hier wiederrum ein Gruppenmitglied denkbar bereits einen Teil der Gruppe ausmacht und dieses Ergebnis ebenfalls nicht gewollt sein kann, muss das Teilgruppenelement weiter spezifiziert werden. Vor diesem Hintergrund wird gefordert, dass es sich um einen substanziellen Teil handeln muss, der zu zerstören 353 Sie dazu auch Demko, “Die Zerstörungsabsicht bei dem völkerstrafrechtlichen Verbrechen des Genozids. Zugleich eine Anmerkung zur deutschen Rechtsprechung im Verfahren gegen Onesphore R.“, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 12/2017, S. 766-781 (778 ff.) http://zisonline .com/dat/artikel/2017_12_1171.pdf. 354 Siehe den Wortlaut der Vorschrift: „…in whole or in part…“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 68 beabsichtigt wird.355 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, den Unterschied zwischen den objektiven und subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen klarzustellen: Während es in objektiver Hinsicht etwa nach Artikel 2 (a) der Völkermordkonvention ausreicht, eine Person zu töten, bedarf es für das Vorliegen eines Genozids zugleich der Absicht, dabei einen substanziellen Teil der Gruppe zerstören zu wollen, dem das getötete Mitglied angehört. Für die Beurteilung der Frage, wann von einem substanziellen Teil einer Gruppe gesprochen werden kann, ist auf verschiedene Parameter zurückzugreifen. Vor allem die numerische Größe (absolut wie relativ) ist dabei ein bedeutender Indikator, aber auch die Auswahl konkreter Opfer bzw. Opfergruppen oder die Bedeutung des avisierten Gruppenteils für die Gesamtgruppe können herangezogen werden, ebenso wie die besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles.356 Wie bei der Erörterung der Gruppeneigenschaften der Uiguren bereits hingewiesen, kann es jedoch entscheidend darauf ankommen, um was für eine Art von Gruppe es sich handelt, die zerstört werden soll. Bezieht man die Zerstörungsabsicht auf die Uiguren als ethnische Gruppe, so lässt sich wohl davon ausgehen, dass diese Absicht einen substanziellen Teil der Gruppe erfasst. Denn bereits bei ausschließlicher Betrachtung der absoluten und relativen Zahl an internierten Uiguren, mindestens 1 Mio. Menschen, also ca. 10 Prozent der uigurischen Bevölkerung,357 dürfte ein substanzieller Teil angenommen werden, der von den Maßnahmen gezielt erfasst wird.358 Wird bezüglich der Uiguren hingegen auf eine religiöse Gruppe abgestellt, so ergibt sich ein differenziertes Bild. Denn wie bereits festgestellt wurde, lässt sich hier nicht beurteilen, ob die Uiguren eine eigene religiöse Gruppe darstellen – oder ob sie lediglich eine Teilgruppe der sunnitischen Muslime weltweit oder als Teilgruppe der Muslime in China zu betrachten sind. Für den Fall, dass sie als eigene religiöse Gruppe angesehen werden, ebenso wie für den Fall, dass sie als Teilgruppe der Muslime in China erkannt werden, ist wohl ebenfalls davon auszugehen, dass sich die Zerstörungsabsicht auf einen substanziellen Teil richtet. In Anbetracht der Gesamtgruppe der Muslime 355 Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen“, in: ZaöRV 2014, S. 853; s. auch IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, Rdnr. 198, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD- 01-00-EN.pdf; UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact- Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1413, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf; sowie Werle/ Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Auflage 2020, Dritter Teil: Völkermord, Rdnr. 930. 356 Siehe Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 133ff. 357 Siehe Zoll, „Totale Überwachung in China: Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeitim -umerziehungslager-landen-ld.1457048. 358 Berster geht exemplarisch davon aus, dass eine Betroffenheit von 3 Prozent der Gruppenmitglieder allein wohl nicht ausreichen dürften und weitere Aspekte herangezogen werden müssten, siehe ders., in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 134. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 69 in China dürfte die Bedeutung der „uigurischen“ Muslime als größte muslimische Minderheit Chinas so groß und ein Angriff auf sie von solcher Symbolkraft sein, dass der Bezug auf einen substanziellen Teil erkennbar sein dürfte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Umgang der chinesischen Regierung mit den Uiguren bereits eine deutlich spürbare Abschreckungswirkung auf die Hui359, die zweitgrößte muslimische Gruppierung in China, haben soll.360 Lediglich bei einer Klassifizierung als Teilgruppe der sunnitischen Muslime weltweit dürfte eine Zerstörungsabsicht auf einen substanziellen Teil abzulehnen sein. Hierfür spricht nicht nur der geringe Anteil, den die „uigurischen“ Muslime an dieser großen Gruppe haben. Auch ist nicht ersichtlich, dass Xinjiang als Region eine besondere spirituelle Bedeutung für die weltweite Gruppe der sunnitischen Muslime hätte, wie sie etwa die Pilgerorte Mekka und Medina haben, sodass ihr Fortbestehen gerade dort für die Gruppe insgesamt wesentlich wäre. Um eine Zerstörungsabsicht auf einen substanziellen Teil der Gruppe annehmen zu können, ist es somit erforderlich, die Uiguren als ethnische oder/und religiöse Gruppe zu betrachten, wobei es dann darauf ankommt, dass die Uiguren entweder eine eigenständige religiöse Gruppe oder aber eine Teilgruppe der Muslime in China darstellen. 1.6.3. Das Motivelement Schließlich ist das Motivelement zu betrachten. Zwar ist die Bedeutung dieses Merkmals an sich unklar und auch umstritten.361 Mit der überwiegend herrschenden Meinung wird es jedoch aus der Tatbestandsformulierung des Artikels 2 der Völkermordkonvention hergeleitet, nach der der Täter gegen die Gruppe „als solche“ vorgehen muss. Demnach muss ein Motivationszusammenhang zwischen der einzelnen Handlung, die eine der Tatbestandsvarianten nach Artikel 2 (a)-(e) verwirklicht, und der Zugehörigkeit des einzelnen Opfers zur insgesamt angegriffenen Gruppe 359 Für religiöse Besonderheiten der Hui siehe Heberer, Der Islam in ausgewählten Staaten: Volksrepublik China, in: Ende/Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München: Beck, 5. Auflage 2005, S. 310 f. 360 Siehe Yang, „Passt euch an!“, Zeit Online vom 13. März 2019, abrufbar unter: https://www.zeit.de/2019/12/china-muslime-uiguren-assimilierung-repressionen-protest. 361 So Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 89. Dazu auch Demko, „Die Zerstörungsabsicht bei dem völkerstrafrechtlichen Verbrechen des Genozids. Zugleich eine Anmerkung zur deutschen Rechtsprechung im Verfahren gegen Onesphore R.“, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 12/2017, S. 766-781 (777 f.), http://zisonline .com/dat/artikel/2017_12_1171.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 70 bestehen (Angriff wegen der Gruppenzugehörigkeit und nicht als bloßes Individuum).362 Nach anderer Auffassung muss sich hingegen nur die Zerstörungsabsicht auf Umstände beziehen, die die jeweilige Gruppenklassifizierung ausmachen.363 In Bezug auf die Uiguren kommen diese beiden Ansichten aber zum selben Ergebnis, sodass es an dieser Stelle keiner Entscheidung bedarf: Davon ausgehend, dass es sich bei den Uiguren um eine ethnische Gruppe handelt, lässt sich aus den im Rahmen der Zerstörungsabsicht analysierten mutmaßlichen Aussagen und Fakten wohl vertretbar davon ausgehen, dass die Individuen in Internierungslagern gefangen gehalten, körperlicher und seelischer Tortur unterzogen und die uigurischen Kinder von ihren Familien getrennt und in Heime verbracht werden etc., weil sie Uiguren sind. Dies wird insbesondere dadurch deutlich, dass offenbar die Verwendung der uigurischen Sprache unterbunden werden soll und es somit eben auf die kulturelle Zugehörigkeit der angegriffenen Individuen ankommt. Vor diesem Hintergrund kann wohl ebenso mit der anderen Ansicht vertretbar angenommen werden, dass sich die mutmaßliche Vernichtungsabsicht darauf bezieht, was die Uiguren ethnisch erst zu Uiguren macht – etwa in Abgrenzung zur han-chinesischen Mehrheitsbevölkerung. Wird hingegen auf die Uiguren als religiöse Gruppe abgestellt, so scheint es darauf anzukommen, ob sie als eigenständige religiöse Gruppe zu betrachten sind oder als Teilgruppe der Muslime in China. Denn dass gegen die einzelnen Uiguren deshalb vorgegangen wird, weil sie gerade der Gruppe der „uigurischen Muslime“ angehören, erscheint in Anbetracht der Tatsache, dass grundsätzlich auch andere Muslime von den Maßnahmen betroffen sein sollen,364 höchst fraglich. Jedenfalls liegen dafür keine hinreichenden Anhaltspunkte vor. Demgegenüber erscheint es viel plausibler, dass gegen die einzelnen Uiguren vorgegangen wird, weil sie zur Gruppe der in 362 Siehe JStGH, Urteil vom 19. April 2004 – Prosecutor v. Krstic, IT-98-33-A, Rdnr. 12 ff., abrufbar unter: https://www.icty.org/x/cases/krstic/acjug/en/krs-aj040419e.pdf; sowie UN, Human Rights Council, Report of the detailed findings of the Independent International Fact-Finding Mission on Myanmar, Bericht vom 17. September 2018, A/HRC/39/CRP.2, Rdnr. 1414, abrufbar unter: https://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/FFM-Myanmar/A_HRC_39_CRP.2.pdf; und Kreß, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 6 VStGB, Rdnr. 90; sowie Lemkin, Axis Rules in Occupied Europe, Washington D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, 1944, S. 79, abrufbar unter: http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944-1.htm. 363 So etwa Berster, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article II, Rdnr. 146; Berster/Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak? – Die Handlungen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ und ihre völkerrechtliche Implikationen “, in: ZaöRV 2014, S. 862. 364 Human Rights Watch, „Eradicating Ideological Viruses“, China´s Campaign of Repression against Xinjiang´s Muslims, September 2018, S. 9, https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/china0918_web2.pdf. Zoll, „Totale Überwachung in China: Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kann-jederzeit-imumerziehungslager -landen-ld.1457048. Auch andere Minderheiten seien von massiven Repressalien betroffen, s. etwa Deutscher Bundestag, Ausschuss für Menschenrechte, Stellungnahme der Sachverständigen Zhou zur öffentl. Anhörung „Lage der Menschenrechte in China“, Protokoll der 66. Sitzung, 18. November 2020, S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 71 China lebenden Muslime gehören.365 Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass, wie erörtert, der Islam immer wieder mit Extremismus gleichgesetzt und sämtliche religiöse Elemente ausgelöscht werden sollen. Zum selben Ergebnis dürfte auch die andere Ansicht kommen, da ebenfalls davon ausgegangen werden kann, dass sich die Zerstörungsabsicht darauf bezieht, was die Uiguren zu Muslimen macht, also etwa ihre religiösen Praktiken und Lehren. Hingegen ist auch hier nicht davon auszugehen, dass sich diese Zerstörungsabsicht auf spezielle Merkmale bezieht, die die Uiguren zu „uigurischen Muslimen“ macht. Somit kann wohl vertretbar davon ausgegangen werden, dass – sollten die Berichte den Tatsachen entsprechen – das Motiverfordernis dann bejaht werden kann, wenn die Uiguren als ethnische oder/und als Teilgruppe der in China lebenden Muslime und damit als religiöse Gruppe klassifiziert werden. 1.7. Kontextualisierung der Rechtsprechung zum subjektiven Völkermordtatbestand (Zerstörungsabsicht ) Die in Rede stehenden nationalen (BGH, BVerfG) und internationalen Gerichte (JStGH, RStGH und IStGH) fällten ihre Urteile – mit Ausnahme des IGH – in einem strafrechtlichen Kontext, also im Zusammenhang mit der Frage der individuellen Strafbarkeit und Schuld einer natürlichen Person. Der BGH und das BVerfG legten dazu die Tatbestände und Begrifflichkeiten des Völkermords nach dem deutschen, also nationalen Strafrecht aus. Internationale Gerichte judizieren hingegen allein auf der Grundlage der für sie geschaffenen Statute (IStGH-Statut366, JStGH-Statut367 etc.). Zwar nehmen nationale und internationale Gerichte ihre jeweilige Rechtsprechung gegenseitig zur Kenntnis und zitieren einander; gleichwohl lassen sich Rechtsprechungsdivergenzen zwischen nationalen und internationalen Gerichten nicht ausschließen. Da der nationale Tatbestand des Völkermords deckungsgleich mit dem der Völkermordkonvention ist, kann die deutsche Rechtsprechung für die völkerrechtliche Bewertung der Situation der Uiguren herangezogen und fruchtbar gemacht werden. Dies gilt auch für das Verständnis der Völkermordkonvention. 365 Siehe auch Zoll, „Totale Überwachung in China: Jeder weiss, er kann jederzeit im Lager landen“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 28. Februar 2019, abrufbar unter: https://www.nzz.ch/international/china-jeder-uigure-kannjederzeit -im-umerziehungslager-landen-ld.1457048. 366 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, abrufbar unter: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 367 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, abrufbar unter: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/jugostat2000.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 72 Im Übrigen ist der IGH berufen, zwischenstaatliche Streitigkeiten über die Anwendung und Auslegung der Völkermordkonvention zu klären. Allein der IGH wäre völkerrechtlich befugt, die Verletzung der Völkermordkonvention durch einen Staat festzustellen und einen Staat „wegen Völkermordes“ zu verurteilen. Nationale und internationale Strafgerichte können dagegen nur Individuen strafrechtlich verurteilen. 1.8. Fazit Die in Xinjiang lebenden Uiguren können als ethnische oder als religiöse Gruppe i.S.v. Artikel 2 der Völkermordkonvention angesehen werden. Ausgehend von den öffentlich zugänglichen Quellen und Berichten über die Behandlung der Uiguren in Xinjiang lässt sich konstatieren, dass in objektiver Hinsicht alle fünf Tatbegehungsvarianten des Artikels 2 der Völkermordkonvention erfüllt sind. Das subjektive Tatbestandselement der Zerstörungsabsicht wird in der Rechtsprechung nationaler und internationaler Gerichte unterschiedlich ausgelegt: Während internationale Gerichte den sog. physisch-biologischen Zerstörungsbegriff vertreten – die Zerstörungsabsicht des Staates muss also auf die physische Vernichtung der Gruppe als solcher gerichtet sein – vertreten der BGH und das BVerfG demgegenüber einen sozialen Zerstörungsbegriff . Danach reicht es aus, wenn die Zerstörungsabsicht des Staates auf die soziale Existenz einer Gruppe gerichtet ist. Die weite Interpretation des subjektiven Völkermordtatbestands führt dazu, dass auch Handlungen mit dem Ziel, die kulturelle Identität einer Gruppe auszulöschen, vom Völkermordtatbestand erfasst werden. Dabei schafft die Rechtsprechung von BGH und BVerfG keinen neuen Völkerstraftatbestand (den sog. „kulturellen Völkermord“ bzw. „Ethnozid“), sondern legt lediglich den subjektiven Tatbestand des Genozids in einer weiten Interpretation aus. Unter Zugrundelegung des „sozialen Zerstörungsbegriffs“ lässt sich eine Zerstörungsabsicht der chinesischen Regierung im Zusammenhang mit Handlungen erkennen, die den objektiven Tatbestand nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention erfüllen. Klassifiziert man die Uiguren als ethnische Gruppe, lässt sich davon ausgehen, dass sich diese Zerstörungsabsicht auch auf einen substanziellen Teil der Gruppe als solche richtet. Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung deutscher Gerichte lässt sich somit die Auffassung rechtlich gut vertreten, dass an den Uiguren in Xinjiang ein Genozid nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention begangen wird. Unter Heranziehung des von internationalen Gerichten vertretenen engeren physisch-biologischen Zerstörungsbegriffs wäre dagegen die Annahme eines Genozids mit Blick auf die Situation in Xinjiang wohl abzulehnen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 73 Teil II 2. Rechtliche Implikationen der Situation der Uiguren für deutsche Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang Im Fokus des zweiten Teils dieser Ausarbeitung stehen das Engagement deutscher Wirtschaftsunternehmen mit Niederlassungen in Xinjiang sowie die damit möglicherweise verbundene unternehmerische und völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit. Dazu werden zunächst Medienberichte zu mutmaßlichen Aktivitäten deutscher Wirtschaftsunternehmen in der westchinesischen Provinz Xinjiang aufgegriffen (dazu 2.1); anschließend wird untersucht, welche menschenrechtlichen Vorgaben und unternehmerischen Sorgfaltspflichten deutsche Wirtschaftsunternehmen bei ihrer Tätigkeit in China zu beachten haben (dazu 2.2). Abschließend geht es um die völkerstrafrechtliche Verantwortung deutscher Unternehmen, wobei vor allem Beteiligungsformen der Beihilfe erörtert werden (dazu 2.3). 2.1. Medienberichterstattung zur Rolle deutscher Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang Xinjiang gilt als das größte Baumwollanbaugebiet Chinas und steht für etwa ein Fünftel der Weltproduktion an Baumwolle, zu deren Gewinnung Medienberichten zufolge hunderttausende Uiguren gezwungen würden.368 Medienberichten zufolge sollen zahlreiche ausländische Wirtschaftsunternehmen von der Ausbeutung der Uiguren in der Autonomen Region Xinjiang im Nordwesten Chinas profitieren.369 Darunter fallen auch Unternehmen mit Sitz in Deutschland. Berichten zufolge sollen sie zum Teil direkt Produkte aus Fabriken erhalten oder mit Zulieferern 368 Vgl. FAZ vom 13. Januar 2021, „Sanktionen gegen Sklavenarbeit in China“, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sanktionen-gegen-sklavenarbeit-in-china-17144142.html. 369 Vgl. u.a. CSIS Human Rights Initiative, „Connecting the Dots in Xinjiang: Forced Labor, Forced Assimilation, and Western Supply Chains“, Bericht vom 16. Oktober 2019, S. 7, https://www.csis.org/analysis/connectingdots -xinjiang-forced-labor-forced-assimilation-and-western-supply-chains; vgl. FAZ vom 13. Januar 2021, „Sanktionen gegen Sklavenarbeit in China“, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/sanktionen-gegensklavenarbeit -in-china-17144142.html; siehe auch z.B. SPIEGEL vom 19. Dezember 2020 „So beutet China die Uiguren aus“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/china-beutet-uiguren-aus-als-zwangsarbeiter-in-xinjianga -a98b58ab-5164-4c12-a3d3-1cd5de2cf3a4. Zum moralischen Dilemma „westlicher“ Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang, die eine Kooperation mit der chinesischen Regierung trotz „offensichtlicher Verletzung der Menschenrechte von Minderheiten, allen voran der Uiguren“ fortsetzen, vgl. „Manager in der China-Falle“, in: FAZ vom 4. Mai 2021, S. 15, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/deutsche-manager-in-der-china-fallemenschenrechte -und-geschaefte-17324044.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 74 kooperiert haben, die Zwangsarbeiter einsetzen.370 Fabrikgebäude, die von deutschen Wirtschaftsunternehmen genutzt werden, befänden sich in der unmittelbaren räumlichen Nähe der chinesischen Internierungs- und Umerziehungslager in Xinjiang.371 Konkret benennt zum Beispiel der australische Think Tank Australian Strategic Policy Institute (kurz: ASPI) u.a. die Konzerne Adidas, Puma, BMW, Bosch, Siemens und Volkswagen als Nutznießer der Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren durch die chinesische Regierung .372 Auch der Chemiekonzern BASF soll gleich mehrere sog. Joint Ventures mit chinesischen Unternehmen in Xinjiang betreiben.373 Medienberichten zufolge stehe auch der Siemens-Konzern wegen seiner Geschäfte in Xinjiang in der Kritik. Der Konzern arbeite mit dem chinesischen Rüstungszulieferer CETC zusammen, der nach einem Bericht von Human Rights Watch Technologie für die Massenüberwachung der uigurischen Minderheit („Überwachungs-App“) entwickelt hat.374 Die beschuldigten Unternehmen haben auf solche Vorwürfe mit diversen Stellungnahmen, Dementi oder Zugeständnissen reagiert. Das Reaktionsspektrum kann hier nur ansatzweise abgebildet werden. So dementierte die Firma Hugo Boss, Baumwolle aus Xinjiang zu verarbeiten.375 Zumeist wird jede Verbindung zu etwaiger Zwangsarbeit bei Zulieferbetrieben abgestritten. 370 Vgl. Tagesspiegel, 30. November 2019, „Welche Rolle deutsche Konzerne beim Uiguren-Konflikt spielen“, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/menschenrechte-in-china-welche-rolle-deutsche-konzerne-beimuiguren -konflikt-spielen/25285678.html; Süddeutsche Zeitung vom 4. März 2020, „Deutsche Firmen unter Zwangsarbeit-Verdacht“, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/uiguren-zwangsarbeitunternehmen -1.4830829; Süddeutsche Zeitung vom 25. November 2021 „VW und die Frage der Verantwortung “, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/china-cables-vw-verantwortung-xinjiang-uiguren- 1.4696626; Handelsblatt vom 2. März 2020, „Deutsche Firmen geraten in China wegen möglicher Zwangsarbeit unter Druck“, abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/uiguren-deutschefirmen -geraten-in-china-wegen-moeglicher-zwangsarbeit-unter-druck/25600326.html?ticket=ST-17875- Th2Y1oN2sZyyqCd10Tgi-ap2. 371 Vgl. Tagesspiegel, 30. November 2019, „Welche Rolle deutsche Konzerne beim Uiguren-Konflikt spielen“, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/menschenrechte-in-china-welche-rolle-deutsche-konzerne-beimuiguren -konflikt-spielen/25285678.html. 372 Vgl. Australian Strategic Policy Institute, Bericht vom 1. März 2020 zur Fallstudie „Uyghurs for sale – Re-education’, forced labour and surveillance beyond Xinjiang”, https://www.aspi.org.au/report/uyghurs-sale. 373 Der Chef des Chemiekonzerns BASF Martin Brudermüller kündigte in der Süddeutschen Zeitung an, man werde prüfen, „ob wir uns etwas vorzuwerfen haben und dann gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen", SZ vom 9. Dezember 2019, "BASF-Chef: Lage in Xinjiang prüfen", https://www.sueddeutsche.de/politik/menschenrechtewolfsburg -basf-chef-lage-in-xinjiang-pruefen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-191209-99-66807. 374 Vgl. FAZ vom 26. November 2019, „Was machen VW und Siemens in Xinjiang?“, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/deutsche-konzerne-in-xinjiang-was-machen-volkswagenund -siemens-16505245.html. 375 Vgl. Hugo Boss, „Stellungnahme zur Region Xinjiang, China“, abrufbar unter https://group.hugoboss.com/fileadmin/media/pdf/sustainability/company_commitments_DE/HUGO_BOSS_- _Stellungnahme_zu_Xinjiang.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 75 So bekräftigt beispielsweise der VW-Konzern, dass für die Produktion in der Präsenz des gemeinsam mit dem chinesischen Joint-Venture-Partner SAIC betriebenen Werkes in Xinjiang keine Zwangsarbeiter beschäftigt würden.376 Der Adidaskonzern räumt derweil ein, dass ein mittelbarer Zulieferbetrieb zur Garn-Produktion uigurische Zwangsarbeiter einsetze; das Unternehmen ließ verlauten, fortan die Zusammenarbeit mit dem entsprechenden Zulieferer einzustellen.377 Von chinesischer Seite wird Medienberichten zufolge offenbar wirtschaftlicher und wettbewerbspolitischer Druck auf die in Xinjiang ansässigen deutschen Unternehmen ausgeübt und mit dem Verlust von Marktpositionen im „China-Geschäft“ gedroht, sollten die betreffenden Unternehmen Produkte chinesischer Zulieferer ablehnen, Geschäftsbeziehungen abbrechen oder Niederlassungen aufgeben.378 2.2. Menschenrechtliche und unternehmerische Verantwortlichkeit von Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang für ihre Lieferkette Untersucht werden zunächst rechtliche Instrumente, die die im Auslandsgeschäft tätigen Wirtschaftsunternehmen mit Blick auf potentielle Menschenrechtsverletzungen entlang ihrer Lieferketten in die Pflicht zu nehmen wollen. 2.2.1. VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte Auf der Ebene des völkerrechtlichen soft law hat die unternehmerische Verantwortung zur Beachtung menschenrechtlicher Vorgaben und Sorgfaltspflichten durch die VN-Leitprinzipien 376 Vgl. Handelsblatt vom 14. Februar 2021, „VW-Chef Diess verteidigt Produktion in chinesischer Provinz Xinjiang “, abrufbar unter https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/menschenrechtsverletzungen-vwchef -diess-verteidigt-produktion-in-chinesischer-provinz-xinjiang/26914260.html?ticket=ST-3692564- 0ExGnSLcUbXqbSc2qNf9-ap3; auch z.B. der Siemenskonzern streitet eine Beteiligung an der Unterdrückung der Uiguren ab, vgl. Tagesspiegel vom 30. November 2019, „Welche Rolle deutsche Konzerne beim Uiguren- Konflikt spielen“, https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/menschenrechte-in-china-welche-rolle-deutschekonzerne -beim-uiguren-konflikt-spielen/25285678.html. 377 Vgl. SZ vom 4. März 2020, „Deutsche Firmen unter Zwangsarbeit-Verdacht“, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/uiguren-zwangsarbeit-unternehmen-1.4830829. 378 Deutschlandfunk 7. Mai 2021, Wirtschaftsgespräch: Deutsche Unternehmen (insbes. Textilbranche) spüren im politischen Streit um die Uiguren Druck von der chinesischen Regierung; bei einem Boykott werde „zurückboykottiert “, https://www.deutschlandfunk.de/wirtschaftsgespraech.3668.de.html. „Der riskanteste Standort im VW-Imperium“, in: Wirtschaftswoche vom 22. November 2013. Dort heißt es: Das neue Werk in der muslimisch geprägten westchinesischen Unruhe-Provinz Xinjiang sei der Preis, den der deutsche Autobauer bezahlen müsse, um eine viel größere Fabrik im Osten des Landes hochfahren zu dürfen, https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/werk-in-xinjiang-der-riskanteste-standort-im-vw-imperium/9079890- all.html. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 76 für Wirtschaft und Menschenrechte (UN Guiding Principles on Business and Human Rights)379 deutlich an Gewicht gewonnen. Die Leitprinzipien wurden in Form einer Resolution des VN- Menschenrechtsrates verabschiedet.380 Die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte fordern, dass Unternehmen die Menschenrechte achten, wo immer sie ihre Geschäftstätigkeit ausüben.381 Die Leitprinzipien enthalten im Wesentlichen Vorgaben zur Beachtung menschenrechtlicher Belange bei unternehmerischen Tätigkeiten mit Auslandsbezug und richten sich nicht nur an die Staatengemeinschaft, sondern auch an Wirtschaftsunternehmen. Die VN-Leitprinzipien formulieren politische Zielsetzungen für Unternehmen und Staaten – ihre Umsetzung ist jedoch rechtlich nicht einklagbar. In den Leitprinzipien Nr. 11 bis 24 werden Wirtschaftsunternehmen dazu angehalten, je nach Größe, Branche und Position in der Lieferkette, die „Kernelemente“ menschenrechtlicher Sorgfaltspflicht anzuwenden.382 Gemäß Leitprinzip Nr. 17 sollen Wirtschaftsunternehmen u.a. tatsächliche und potenzielle menschenrechtliche Konsequenzen ermitteln, die sich daraus ergebenden Erkenntnisse berücksichtigen und Folgemaßnahmen ergreifen; zudem sollen sie Angaben dazu machen, wie den menschenrechtswidrigen Auswirkungen entgegengewirkt wird („human rights due diligence“). Die Verantwortlichkeit eines Wirtschaftsunternehmens bezieht sich hierbei auch auf die Verhütung oder Minderung derjenigen negativen Folgen für die Menschenrechte , die auf Grund seiner Geschäftsbeziehung unmittelbar mit eigenen Dienstleistungen oder Produkten verbunden sind.383 379 Die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind in einem sechsjährigen Forschungs- und Konsultationsprozess unter der Leitung des VN-Sonderbeauftragten für Unternehmen und Menschenrechte, John Ruggie, erarbeitet worden am 16. Juni 2011 verabschiedet, A/HRC/17/4, abrufbar unter https://www.ohchr.org/documents/publications/guidingprinciplesbusinesshr_en.pdf. 380 United Nations Human Rights Council, „Guiding Principles on Business and Human Rights“, A/HRC/RES/17/4, verabschiedet am 16. Juni 2011 und angehängt an den abschließenden Bericht des Sonderbeauftragten A/HRC/17/31, https://undocs.org/en/A/HRC/RES/17/4; vgl. auch Wiss. Dienste, „Das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten und die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte “, WD 2 – 3000 – 022/21. 381 Demnach sollen Wirtschaftsunternehmen die Menschenrechte achten, die Beeinträchtigung der Menschenrechte Anderer verhindern und den nachteiligen menschenrechtlichen Auswirkungen, an denen sie beteiligt sind, entgegenwirken (vgl. Leitprinzip Nr. 11). 382 Dazu gehören eine Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte, Verfahren zur Ermittlung tatsächlicher und potentiell nachteiliger Auswirkungen auf die Menschenrechte, Maßnahmen zur Abwendung solcher Auswirkungen sowie die Überprüfung der Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Darüber hinaus sollen Wirtschaftsunternehmen menschenrechtsbezogene Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit leisten und effektive Beschwerdemechanismen einrichten. 383 So wörtlich aus Leitprinzip Nr. 13 lit. b). Von einer „Geschäftsbeziehung, die unmittelbar mit den Dienstleistungen oder Produkten des Wirtschaftsunternehmens verbunden ist“, sprechen auch die Leitlinien Nr. 16 (c), 17 (a) und 19. Darunter können unmittelbare Zulieferer gefasst werden. Folglich richten sich die oben bereits ausgeführten Sorgfaltsanforderungen auch hinsichtlich ihrer unmittelbaren Zulieferer an Wirtschaftsunternehmen . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 77 Die Leitprinzipien haben neben den Wirtschaftsunternehmen selbst auch die unmittelbaren Zulieferbetriebe eines Unternehmens im Blick. Gleichwohl gilt die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht – in abgestuftem Umfang bzw. kontextabhängiger Intensität – auch entlang der übrigen Lieferkette.384 Dazu gehört gemäß Leitprinzip Nr. 18, dass Wirtschaftsunternehmen bei der Ermittlung von Risiken für die Menschenrechte ein spezielles Augenmerk auf besonders gefährdete bzw. marginalisierte Gruppen legen sollen.385 Die muslimische Minderheit der Uiguren als marginalisierte Gruppe stellt entsprechend hohe Anforderungen an die Sorgfaltspflichten bei der Überwachung von Lieferketten in Hinblick auf potentielle Menschenrechtsverletzungen. Deutsche Unternehmen mit Niederlassungen in Xinjiang stehen in der – wenn auch rechtlich nicht einklagbaren – Pflicht regelmäßiger Sorgfaltsüberprüfungen ihrer Fabrikarbeit in China. Insbesondere die Medienberichterstattung über die - mutmaßlichen - Menschenrechtsverbrechen an der Minderheit der Uiguren in Xinjiang dürfte hinreichend konkrete Anhaltspunkte liefern, die eine besonders gründliche Beobachtung der gesamten Lieferkette erforderlich machen Mit dem Aufrechterhalten von Geschäftsbeziehungen zu (staatlich-)chinesischen Zulieferbetrieben in dem Wissen, dass diese Betriebe Zwangsarbeiter aus den uigurischen Internierungslagern rekrutieren, würden deutsche Unternehmen mit Niederlassungen in Xinjiang gegen die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verstoßen. Gemäß dem Leitprinzip Nr. 19 sollen „angemessene Maßnahmen“ getroffen werden (appropriate action), um nachteilige menschenrechtliche Auswirkungen zu verhüten und zu mindern. Die Angemessenheit der Maßnahmen ist grundsätzlich davon abhängig, ob das Wirtschaftsunternehmen selber Menschenrechte verletzt, dazu beiträgt oder nur indirekt daran beteiligt ist.386 Bei der Frage der „Angemessenheit“ sind u.a. der Einfluss des Unternehmens (leverage) sowie die Schwere der Menschenrechtsverletzung zu berücksichtigen. Ein großes Unternehmen wäre danach also verpflichtet, sein wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale zu werfen, um nachteiligen Auswirkungen auf die Menschenrechte entlang seiner Lieferkette entgegenzuwirken und auf die Zulieferbetriebe vor Ort entsprechend Druck auszuüben. Denkbar wäre auch eine Pflicht 384 Gemäß Leitprinzip Nr. 17 lit. (b) wird anerkannt, dass die Intensität der Sorgfaltspflicht auf dem Gebiet der Menschenrechte je nach Größe des Wirtschaftsunternehmens, des Risikos schwerer menschenrechtlicher Auswirkungen und der Art und des Kontexts seiner Geschäftstätigkeit variieren kann. Gemäß Leitprinzip Nr. 14 S. 2 können Umfang und Komplexität der Maßnahmen, durch die Unternehmen ihrer Verantwortung nachkommen, nach Maßgabe bestimmter Faktoren (Größe, Wirtschaftssektor, operatives Umfeld, Eigentumsverhältnisse, Struktur ) und der Schwere ihrer nachteiligen Auswirkungen variieren. 385 Vgl. die Kommentierung des Leitprinzips Nr. 18 im englischen Original: „In this process, business enterprises should pay special attention to any particular human rights impacts on individuals from groups or populations that may be at heightened risk of vulnerability or marginalization [...]“, S. 20, https://www.ohchr.org/documents/publications/guidingprinciplesbusinesshr_en.pdf. 386 Je nach Komplexität der Situation werden Unternehmen dazu angehalten, zur Festlegung seiner Strategie unabhängigen und sachverständigen Rat einzuholen, vgl. Kommentierung des Leitprinzips Nr. 19, S. 22, https://www.ohchr.org/documents/publications/guidingprinciplesbusinesshr_en.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 78 zur Beendigung der Zusammenarbeit mit den Zulieferbetrieben oder – ultima ratio – die Aufgabe der Unternehmenspräsenz vor Ort.387 An dieser Stelle ist zu überlegen, ob und inwieweit der durch China ausgeübte wirtschaftspolitische Druck auf deutsche Unternehmen, über den eingangs berichtet wurde, im Hinblick auf die von den Unternehmen zu ergreifenden Maßnahmen gegenüber örtlichen Zulieferbetrieben rechtlich relevant wird. Wirtschaftlicher oder politischer Druck aus dem Ausland entbindet deutsche Unternehmen jedenfalls nicht per se davon, deutsche Gesetze einzuhalten oder internationale Vorgaben wie die VN-Leitprinzipien zu beachten. Bei kleineren Unternehmen, die selber keinen wirksamen wirtschaftlichen Druck auf ihre größeren – im Zweifel staatlichen – Zulieferbetriebe ausüben können, ist bei der Wahl der Maßnahmen darauf abzustellen, ob die jeweilige Geschäftsbeziehung für das Wirtschaftsunternehmen „ausschlaggebend“ ist. In der deutschsprachigen Kommentierung der VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte heißt es dazu: "Es gibt Situationen, in denen es dem Unternehmen an Einflussvermögen zur Verhütung oder Milderung nachteiliger Auswirkungen mangelt und es nicht in der Lage ist, sein Einflussvermögen zu steigern. Ist dies der Fall, sollte das Unternehmen in Erwägung ziehen, die Beziehung zu beenden, unter Berücksichtigung verlässlicher Abschätzungen der damit potenziell verbundenen nachteiligen menschenrechtlichen Auswirkungen. Ist die Beziehung ausschlaggebend für das Unternehmen, ergeben sich durch ihre Beendigung weitere Herausforderungen. Eine Beziehung könnte dann als ausschlaggebend angesehen werden, wenn durch sie ein Produkt oder eine Dienstleistung zugeliefert wird, die für das Geschäft des Unternehmens wesentlich ist und für die keine zumutbare andere Quelle existiert. Ist dies der Fall, muss auch die Schwere der menschenrechtlichen Auswirkung in Betracht gezogen werden: je schwerwiegender die Verletzung ist, desto umgehender muss das Unternehmen sich verändern, bevor es entscheidet, ob es die Beziehung beenden soll. Solange die Verletzung fortdauert und das Unternehmen in der Beziehung verbleibt, sollte es jedenfalls seine eigenen kontinuierlichen Bemühungen unter Beweis stellen können, die Auswirkung zu mildern, und bereit sein, alle reputationsbezogenen, finanziellen oder rechtlichen Folgen einer Fortsetzung der Beziehung auf sich zu nehmen.“388 387 Vgl. Kommentierung der Leitprinzipien, S. 22, https://www.ohchr.org/documents/publications/guidingprinciplesbusinesshr_en.pdf. Eine solche Pflicht leitet auch Julia Emtseva aus den VN-Leitprinzipien ab, vgl. „Sanctioning the Treatment of Uighurs in China“, Verfassungsblog vom 25. April 2021, https://verfassungsblog.de/sanctioning-the-treatment-of-uighurs-in-china/. 388 Vgl. Kommentierung zu Leitprinzip Nr. 19, S. 25, https://www.auswaertigesamt .de/blob/266624/b51c16faf1b3424d7efa060e8aaa8130/un-leitprinzipien-de-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 79 2.2.2. Entwurf der Bundesregierung für ein Lieferkettengesetz Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Sorgfaltspflichtengesetz389 (sog. Lieferkettengesetz ) zur Regelung menschenrechtlicher Belange entlang der Lieferketten von Wirtschaftsunternehmen sollen die Vorgaben der VN-Leitprinzipien für deutsche Wirtschaftsunternehmen verbindlich festgeschrieben werden. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht eine Verabschiedung des sog. Lieferkettengesetzes noch in der 19. Legislaturperiode vor; ab Januar 2023 soll das Gesetz in Kraft treten.390 Das in der Gesetzesbegründung explizit erklärte Ziel des Gesetzesentwurfs ist die Gewährleistung der Einhaltung des sog. Nationalen Aktionsplans (NAP), der auf den VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte basiert. Ungeachtet der fehlenden völkerrechtlichen Verbindlichkeit der VN-Leitprinzipien ergibt sich damit zumindest eine politische Selbstverpflichtung des deutschen Gesetzgebers hinsichtlich der völkerrechtskonformen Umsetzung der VN- Leitprinzipien.391 Das sog. Lieferkettengesetz soll auf die in Deutschland ansässigen Unternehmen anwendbar sein, die in der Regel mehr als 3.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Sorgfaltspflichten bestehen entlang der gesamten Liefer- und Produktionskette – einschließlich unmittelbarer und mittelbarer Zulieferbetriebe (vgl. § 2 Abs. 5 des Gesetzentwurfs). Die Sorgfaltspflichten stellen – ausweislich der Gesetzesbegründung – Bemühens- und keine Erfolgspflichten dar; Unternehmen müssen demnach nicht garantieren, dass innerhalb ihrer Lieferketten keine Menschenrechte verletzt werden. Jedoch müssen sie nachweisen können, dass sie all jene Sorgfaltspflichten umgesetzt haben, die mit Blick auf die konkrete Situation „machbar und angemessen“ erscheinen.392 Dabei müssen 389 Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 3. März 2021 „Entwurf eines Gesetzes über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“, mit Gesetzesbegründung abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/286/1928649.pdf. Der Bundestag hat am 22. April 2021 in erster Lesung über den Gesetzentwurf beraten und zur weiteren Beratung in den federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen, vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw16-de-lieferkettengesetz-834842. Dem Bundesrat wurde der Gesetzentwurf am 26. März 2021 als besonders eilbedürftig zugeleitet. 390 Zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, „Sorgfaltspflichtengesetz “, abrufbar unter https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze-und-Gesetzesvorhaben/gesetzunternehmerische -sorgfaltspflichten-lieferketten.html; vgl. auch Artikel 4 „Inkrafttreten“ des Gesetzentwurfs, abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/286/1928649.pdf. 391 Das Gesetz fügt sich ein in eine jüngere Rechtsentwicklung zur Verfolgung nachhaltiger und verantwortlicher Wirtschaft auf EU-Ebene ein; die Gesetzesbegründung zählt in diesem Zusammenhang u.a. den britischen Modern Slavery Act von 2015, das französische Loi de Vigilance von 2017 sowie das 2019 beschlossene niederländische Gesetz gegen Kinderarbeit auf. Auch die EU-Kommission plant, noch in diesem Jahr einen europäischen Legislativakt zur nachhaltigen Unternehmensführung vorzulegen, der auch verbindliche Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten enthalten soll, vgl. Europäisches Parlament, Pressemitteilung „Lieferketten : Unternehmen für Schäden an Mensch und Umwelt verantwortlich“, 28. Januar 2021, online abrufbar unter https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20210122IPR96215/lieferketten-unternehmen-furschaden -an-mensch-und-umwelt-verantwortlich. 392 Vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, S. 22 f. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/286/1928649.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 80 Unternehmen im Ergebnis menschenrechtlichen Risiken wirksam entgegentreten. Gem. § 4 Abs. 2 des Entwurfs zum Lieferkettengesetz sind solche Maßnahmen wirksam, „(…) die es ermöglichen, menschenrechtliche (…) Risiken zu erkennen, Verletzungen geschützter Rechtspositionen (…) vorzubeugen, sie zu beenden oder zu minimieren, wenn das Unternehmen diese Risiken oder Verletzungen innerhalb der Lieferkette verursacht oder dazu beigetragen hat.“ Zu den menschenrechtlichen Risiken zählt auch die Beschäftigung von Personen unter Zwangsarbeit ,393 die tatbestandlich sowohl im Rahmen des Völkermordtatbestandes als auch mit Blick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit völkerstrafrechtlich relevant ist.394 Auch im Rahmen des Lieferkettengesetzes stellt sich die Frage, wie sich der von China ausgeübte wirtschaftliche Druck im Hinblick auf die von den Unternehmen zu ergreifenden Maßnahmen auswirkt. § 7 des Gesetzentwurfs regelt die entsprechenden Abhilfemaßnahmen: (1) „Stellt das Unternehmen fest, dass die Verletzung einer geschützten Rechtsposition (…) in seinem eigenen Geschäftsbereich oder bei einem unmittelbaren Zulieferer bereits eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht, hat es unverzüglich angemessene Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, um diese Verletzung zu verhindern, zu beenden oder zu minimieren. (3) Der Abbruch einer Geschäftsbeziehung ist nur geboten, wenn 1. die Verletzung einer geschützten Rechtsposition (…) als sehr schwerwiegend bewertet wird, 2. die Umsetzung der im Konzept erarbeiteten Maßnahmen nach Ablauf der im Konzept festgelegten Zeit keine Abhilfe bewirkt, 3. dem Unternehmen keine anderen milderen Mittel zur Verfügung stehen und 4. eine Erhöhung des Einflussvermögens nicht aussichtsreich erscheint. Mit Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes erscheint – unter Anwendung der gesetzlich verankerten Kriterien – eine Pflicht deutscher Unternehmen zum Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu ihren chinesischen Zulieferern fast unausweichlich. Für den Fall, dass ein Unternehmen gleichwohl an seinen Geschäftsbeziehungen zu inkriminierten chinesischen Zulieferbetrieben festhält und seine Verpflichtungen aus dem Lieferkettengesetz dadurch missachtet, könnte der von der chinesischen Regierung offenbar ausgeübte „nötigende“ Druck im Rahmen einer Bemessung der Bußgelder in Rechnung gestellt werden. Gem. § 24 Abs. 4 des Entwurfs zum Lieferkettengesetz sind bei der Bemessung von Bußgeldern die Umstände , insoweit sie für und gegen das Unternehmen sprechen, gegeneinander abzuwägen, wozu auch die jeweiligen Beweggründe des Unternehmens zählen. 393 Im Gesetzentwurf bedeutet der Begriff „Zwangsarbeit“ gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 3 jede „Arbeitsleistung oder Dienstleistung , die von einer Person unter Androhung von Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat [...]“, abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/286/1928649.pdf. 394 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 899 und 1027 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 81 2.3. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von deutschen Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang Die durch das Lieferkettengesetz bzw. die VN-Leitprinzipien begründeten unternehmerischen Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette werden strafrechtlich flankiert durch die Pönalisierung von Beihilfehandlungen in Bezug auf Menschenrechtsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Das VStGB passt das deutsche Strafrecht an die völkerstrafrechtlichen Vorgaben aus dem IStGH-Statut an,395 pönalisiert allerdings keine Wirtschaftsunternehmen als solche ,396 sondern richtet sich nur an natürliche Personen (z.B. Mitarbeiter von Wirtschaftsunternehmen ).397 Auf der Ebene des Völkerstrafrechts existiert derzeit kein internationales Strafgericht , das Unternehmen oder juristische Personen als solche völkerstrafrechtlich aburteilen könnte.398 2.3.1. Strafbarkeit der Beihilfe Sofern eine Handlung den Tatbestand eines Völkerrechtsverbrechens erfüllt, ist der Regelungsbereich des VStGB eröffnet.399 Zu unterscheiden ist zwischen Täterschaft und Teilnahme.400 Da das VStGB hinsichtlich der Teilnahme an einem Verbrechen keine eigenen eigenen Regelungen 395 Die Fokussierung des IStGH-Statuts auf die individuelle Strafbarkeit geht auf die sog. Nürnberger Prinzipien zurück (Principles of International Law Recognized in the Charter of the Nurnberg Tribunal and in the Judgement of the Tribunal, 1950). 396 Ob und wie sich die kollektive Haftung eines Unternehmens dogmatisch begründen ließe, wird an dieser Stelle nicht erörtert; vgl. aber näher Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht, Berlin: Duncker 2018, S. 45 ff. zur Diskussion über Haftungsanknüpfungspunkte im sog. Zurechnungsmodell und zu der im anglo-amerikanischen Rechtsraum anerkannten kollektiven Haftung juristischer Person (sog. Organisationsmodell). 397 Eine Sanktionierung von Wirtschaftsunternehmen als Folge kriminellen Verhaltens ihres Leitungspersonals ist aktuell Gegenstand des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Sanktionierung unternehmensbezogener Straftaten , vgl. „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“, BT-Drucks. 19/23568 vom 21. Oktober 2020, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/235/1923568.pdf. 398 Vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 581; Kai Ambos, „Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Die Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen“, Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 23; insofern stellt die Entscheidung des Special Tribunal for Lebanon vom 2.10. 2014, in der eine juristische Person schuldig gesprochen wurde, eine Ausnahmeentscheidung dar (Interlocutory Appeal Concerning Personal Jurisdiction in Contempt Proceedings, New TV S.A.L. und Al Khayat). 399 Völkerstrafrechtlich sind gleichwohl in Deutschland seit den Nürnberger Prozessen gegen IG Farben, Krupp und Flick keine Verantwortungsträger in Wirtschaftsunternehmen mehr juristisch verfolgt worden, vgl. Jeßberger /Kaleck/Singelnstein, „Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Ursprünge, Begriff, Praxis, Perspektiven“, 2015, S. 17. 400 Zudem kommt eine etwaige Strafbarkeit des Leitungspersonals gemäß den Grundsätzen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Vorgesetzten für die Taten ihrer Untergebenen in Frage, die in den §§ 4, 14, 15 VStGB aufgegriffen wird. Vgl. zur Vorgesetztenverantwortlichkeit, vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen : Mohr 2020, Rdnr. 689 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 82 trifft, findet gem. § 2 VStGB das allgemeine Strafrecht Anwendung.401 In Verbindung mit §§ 25- 27 StGB ergibt sich daraus, dass auch im Völkerstrafrecht eine Strafbarkeit wegen Beihilfe möglich ist. Beihilfe setzt die vorsätzliche Hilfe zur vorsätzlichen rechtswidrigen Haupttat eines anderen voraus. Auf der Grundlage einer Kategorisierung des UN Global Compact402 kann Beihilfe unterschiedlichen Formen annehmen: Direkte Beihilfe (direct complicity): Wenn ein Unternehmen Waren oder Dienstleistungen bereitstellt, von denen es weiß, dass sie zur Durchführung des Missbrauchs verwendet werden (z.B. durch Vermittlung von Zwangsarbeitern). Begünstigende Beihilfe (beneficial complicity): Wenn ein Unternehmen von Menschenrechtsverletzungen profitiert, auch wenn es diese nicht unterstützt oder verursacht hat (z.B. durch unternehmerische Profite infolge von günstigen Marktkonditionen, die durch Zwangsarbeit erzeugt wurden). Stille Beihilfe (silent complicity): Wenn ein Unternehmen angesichts systematischer oder kontinuierlicher Menschenrechtsverletzungen schweigt oder inaktiv ist. Die stille Beihilfe ist eher moralischer Natur403 und begründet üblicherweise keine strafrechtliche Verantwortlichkeit .404 2.3.2. Beihilfehandlungen Nicht alle der genannten Begehungsformen sind gleichermaßen strafrechtlich relevant.405 Die objektiven Anforderungen an die strafrechtlich relevante Beihilfe im Völkerstrafrecht sind nicht vollständig geklärt. Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch enthält jedenfalls keine objektive Erheblichkeitsschwelle für Beihilfehandlungen; Beihilfe kann im Prinzip bereits durch die 401 Im Rahmen des VStGB zu beachten sind auch die allgemeinen strafrechtlichen Regelungen zu Vorsatz und Fahrlässigkeit. Gemäß § 15 StGB ist nur vorsätzliches Handeln strafbar, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können nicht fahrlässig begangen werden, was bereits aus dem jeweiligen Absichtserfordernis deutlich wird. Eine Strafbarkeit fahrlässiger Beihilfe scheidet grundsätzlich aus. 402 Der UN Global Compact ist ein Vertrag zwischen den VN und Wirtschaftsunternehmen, der auf dem Wirtschaftsforum in Davos im Jahr 1999 ins Leben gerufen wurde. Darin verpflichten sich die Unternehmen zur Einhaltung von zehn Prinzipien, der Pakt enthält jedoch keine Sanktionsmechanismen und basiert auf der freiwilligen Einhaltung der Kriterien, vgl. https://www.unglobalcompact.org/what-is-gc/mission/principles. 403 Vgl. Kai Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Die Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 18 m.w.N. 404 Dazu heißt es im Global Compact wörtlich: “This is the most controversial type of complicity and is least likely to result in legal liability.” 405 Insbesondere kommt wohl der „silent complicity“ vor allem eine moralische Bedeutung zu, vgl. Kai Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Die Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 83 Ermutigung des Haupttäters oder die Gewährung sonstiger Unterstützung zur Verbrechensbegehung verwirklicht werden.406 Rechtlich problematisch ist die – hinsichtlich der Verstrickung transnationaler Unternehmen in Menschenrechtsverletzungen bedeutsame – Einordnung sog. „neutraler“ bzw. sozialadäquater Handlungen. Darunter fallen z.B. die Lieferung von Chemikalien, Lebensmitteln oder Gebrauchsgütern . So zeigt der Verkauf von technischer (Überwachungs-)Ausrüstung an autoritäre Regime oder der Einkauf von Rohstoffen aus Zwangsarbeit, dass sich gerade vermeintlich „neutrale“ Geschäftshandlungen wirtschaftlich profiterhöhend und somit tatfördernd in Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen auswirken können.407 Die Eingrenzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit erfolgt bei der Beihilfe über das Vorsatzerfordernis . Auf subjektiver Ebene ist – wie auch im nationalen Strafrecht – ein doppelter Teilnehmervorsatz erforderlich, der sich sowohl auf die Gesamttat als auch auf die tatbestandliche Einzelhandlung beziehen muss. Der Teilnehmer muss in dem Bewusstsein handeln, dass sein Beitrag die Begehung der Haupttat unterstützt;408 dafür ist jedenfalls die Kenntnis der risikoerhöhenden Auswirkung eines Beitrags auf die Haupttat erforderlich und üblicherweise aus dem Tatbegehungszusammenhang ableitbar.409 Besondere Absichten des Haupttäters, die in den jeweiligen Verbrechenstatbeständen des VStGB vorausgesetzt werden, muss ein Teilnehmer nicht aufweisen. Demgemäß muss der Gehilfe eines Völkermordes bzw. von Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine eigene Zerstörungsabsicht aufweisen; ausreichend wäre auf der subjektiven Ebene bereits die Kenntnis der Zerstörungsabsicht des (Haupt-)Täters.410 Für die präzise Einordnung der Handlungen unternehmerischer Verantwortungsträger in das Modell von Täterschaft und Teilnahme wären weitere Fragen zu klären: Zurechnungsmechanismen und strafrechtliche Verantwortlichkeiten in arbeitsteilig und ggf. transnational organisierten Arbeitsgängen bei Unternehmen, bei denen möglicherweise die Verantwortlichkeit „umgekehrt proportional“ zur Ausführungsnähe ansteigt.411 406 Das Erfordernis einer „substantiellen Wirkung“ einer Unterstützungshandlung zur Eingrenzung der Strafbarkeit hat sich nicht durchgesetzt, vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 644. 407 Vgl. Jeßberger/Kaleck/Singelnstein, „Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Ursprünge, Begriff, Praxis, Perspektiven“, Nomos, Baden-Baden 2015, S. 17 f. 408 Vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 648. 409 Vgl. Kai Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Die Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 69. 410 Vgl. Kreß, in: Münchener Kommentar zum StGB 2018, § 6 VStGB Rdnr. 98; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 648 m.w.N. 411 Vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, Rdnr. 655. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 84 Verteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Wirtschaftsunternehmens auch mit Blick auf Tochterunternehmen, Zweigstellen oder Zusammenschlüsse mit weiteren Unternehmen zu sog. Joint Ventures. Klassische Kausalitätsprobleme einschließlich kumulativer und alternativer Kausalitätsverläufe 412 (z.B. bei Gremienentscheidungen). 2.4. Fazit Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang handeln den VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zuwider, wenn sie wissentlich direkt oder indirekt mit chinesischen Zulieferbetrieben kooperieren, die durch die Beschäftigung von uigurischen Zwangsarbeitern in schwere Menschenrechtsverletzungen an der uigurischen Minderheit in Xinjiang verstrickt bzw. daran beteiligt sind. Sobald das Lieferkettengesetz, das eine Selbstverpflichtung der Bundesregierung zur Umsetzung der VN-Leitprinzipien beinhaltet, in Kraft tritt, drohen den betreffenden Unternehmen bei Verstößen gegen ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten entsprechende Bußgelder. Unternehmen sind nach Maßgabe der VN-Leitprinzipien (und künftig auch des Lieferkettengesetzes ) gehalten, menschenrechtlichen Risiken innerhalb ihrer Lieferkette wirksam entzgegentreten , indem sie etwa ihr wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale werfen und entsprechenden Druck auf die örtlichen Zulieferbetriebe ausüben. Wenn anders keine Abhilfe möglich erscheint, kann unter bestimmten, gesetzlich normierten Voraussetzungen ultima ratio auch ein Abbruch der Geschäftsbeziehungen zu den Zulieferbetrieben und/oder eine Beendigung der Unternehmenspräsenz vor Ort angezeigt sein. Auch wenn nach aktueller Rechtslage Wirtschaftsunternehmen als solche nicht auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches belangt werden können, kann sich eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmensmitarbeitern (etwa in Form der „begünstigenden Beihilfe “) dann ergeben, wenn die Unternehmen durch Aufrechterhaltung von profitablen Geschäftsbeziehungen mit inkriminierten örtlichen Zulieferbetrieben Menschenrechtsverbrechen vor Ort (z.B. Zwangsarbeit) wissentlich unterstützen. 412 Vgl. Kai Ambos, Wirtschaftsvölkerstrafrecht – Die Grundlagen der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen, Berlin: Duncker & Humblot 2018, S. 74. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 85 Teil III 3. Rechtliche Reaktionsmöglichkeiten und völkerrechtliche Verpflichtungen der Staatengemeinschaft 3.1. Einführung und Gang der Erörterung Die Frage, ob und wie die internationale Staatengemeinschaft auf schwere Menschenrechtsverletzungen ,413 die sich irgendwo auf der Welt ereignen, reagieren soll, ist politisch oftmals heikel und völkerrechtlich nicht immer einfach zu beantworten. Die zahlreichen rechtlichen Instrumente , Verträge und Konzepte414, die sich seit der Völkermordkonvention (1948) herausgebildet haben , begreifen das Thema ´Menschenrechtsverletzungen` mittlerweile zwar als Angelegenheit der internationalen Gemeinschaft (international concern), müssen sich aber im Spannungsfeld zwischen einer menschenrechtlich geprägten Werteordnung und dem Prinzip der Staatensouveränität immer wieder aufs Neue behaupten. Vor allem die Volksrepublik China weist westliche Kritik an der chinesischen Menschenrechtspolitik immer deutlicher als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurück.415 Wer also die Behandlung der Uiguren in den Internierungslagern der westchinesischen Provinz Xinjiang rechtlich sanktionieren will, trifft bei China auf einen Staat, der sich durch ein ausgesprochen restriktives Ratifizieren menschenrechtlicher Abkommen,416 die zudem durch Vorbehalte in ihrer Wirkung noch weiter eingeschränkt werden, besonders effektiv gegen Einmischun- 413 Dazu zählen nach Auffassung von Literatur und Rechtsprechung Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit , Folter, Apartheit, Kriegsverbrechen und mittlerweile wohl auch das systematische Verschwindenlassen von Personen. 414 Im Zentrum steht das Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect, „R2P“), welches die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Abschlussdokument des Weltgipfels 2005 (Resolution 60/1, https://www.un.org/Depts/german/gv-60/band1/ar60001.pdf) anerkannt hat. „R2P“ bezieht sich auf Fälle schwerster Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord oder Sklaverei. „Schutzverantwortung“ bezeichnet die Verantwortung eines Staates, für den Schutz seiner Bevölkerung zu sorgen. Kann oder will ein Staat dies nicht leisten, geht die Verantwortung an die internationale Gemeinschaft über. In diesen Fällen kann der VN-Sicherheitsrat notfalls sogar Zwangsmaßnahmen beschließen. Trotz der internationalen Anerkennung des „R2P“-Konzepts blieben seine Auslegung und Umsetzung in der Praxis – insbesondere mit Blick auf den Grundsatz der staatlichen Souveränität – umstritten (vgl. dazu näher DGVN, https://frieden-sichern.dgvn.de/friedenssicherung/ueberblick/responsibility-to-protect). 415 Vgl. dazu u.a. Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste, „Die Volksrepublik China und der internationale Menschenrechtsschutz“, WD 2 – 3000 – 027/20, https://www.bundestag.de/resource/blob/793164/976d29998aee92cb280a5c7854bd5a3c/WD-2-027-20-pdfdata .pdf. WD-Dokumentation, „Die Haltung der Volksrepublik China zum Konzept der internationalen Schutzverantwortung “, WD 2 – 3000 – 094/20, https://www.bundestag.de/resource/blob/814848/f21b86dc9ae77851fa5b69c42aa963b8/WD-2-094-20-pdfdata .pdf. 416 Zum Ratifikationsstand Chinas im Menschenrechtsbereich vgl. die Übersicht unter: https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/TreatyBodyExternal/Treaty.aspx?CountryID=36&Lang=EN. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 86 gen in seine staatliche Souveränität „abgeschirmt“ hat.417 Dieser völkerrechtliche „Souveränitätspanzer “ reicht – wie noch im Einzelnen zu zeigen ist – von fehlenden Untersuchungs- oder Beschwerdemöglichkeiten im Menschenrechtsbereich über eine Ablehnung der Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs sowie des Internationalen Strafgerichtshofs bis hin zu Veto-Rechten im Sicherheitsrat und im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Zudem argumentieren einflussreiche Vertreter der chinesischen Völkerrechtslehre dezidiert gegen gewohnheitsrechtliche Entwicklungen, die zu Durchbrechungen der Immunität staatlicher Hoheitsträger gegenüber ausländischer Strafgewalt führen können.418 Was den Schutz der kulturellen Identität von ethnischen Minderheiten / Volksgruppen wie den Uiguren angeht, so kann China auf dessen schwache Ausgestaltung im internationalen Recht verweisen.419 Minderheitenbezogene Gruppenrechte, die sich gegen eine Diskriminierung aufgrund von kulturellen Merkmalen richten, werden im Rahmen des weitgehend auf das Individuum zugeschnittenen Menschenrechtsregimes zumeist nur als individuelle Rechte von Angehörigen kultureller Minderheiten formuliert. Dies gilt auch für die zentrale Schutzverpflichtung im VN-Zivilpakt,420 den China aber nicht ratifiziert hat. Die VN-Deklaration über Minderheiten,421 die einer etwaigen staatlichen Assimilationspolitik zwar eine klare Absage erteilt, bildet – als Resolution der Generalversammlung – indes nur völkerrechtlich unverbindliches soft law ab. Verbindliche Regelungen, die zudem gesellschaftliche Gruppen als Kollektiv schützen, finden sich in der – auch von China ratifizierten – UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen.422 Verpflichtungen aus der UNESCO- Konvention, gegen die China mit Blick auf die Behandlung der Uiguren in Xinjiang offensichtlich 417 So auch Julia Emtseva, “Sanctioning the Treatment of Uighurs in China. Targeted Sanctions and Accountability Avenues for Human Rights Violations in Xinjiang”, VerfBlog vom 25. April 2021, https://verfassungsblog.de/sanctioning-the-treatment-of-uighurs-in-china/. 418 Vgl. für viele nur Huang Huikang, “On Immunity of State Officials from Foreign Jurisdiction”, in: Chinese Journal of International Law 2014, S. 1-11, https://academic.oup.com/chinesejil/article/13/1/1/292137?login=true. Zum Autor: https://www.chinadaily.com.cn/china/2012diplomats/2012-01/13/content_14440673.htm. 419 Vgl. näher Corsin Bisaz, „The Concept of Group Rights in International Law: Groups as Contested Right- Holders, Subjects and Legal Persons“, Martinus Nijhoff 2012. Nicola Wenzel, “Group Rights”, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: Januar 2011, https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e805?prd=EPIL. Nicola Wenzel, „Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht“, Heidelberg: Springer 2008, S. 34 f., https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-540-74721-5.pdf. 420 Art. 27 des VN-Zivilpakts vom 16. Dezember 1966 lautet: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“ 421 „VN-Deklaration über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören“, UN Doc. GA/RES/47/135 vom 18. Dezember 1992, https://undocs.org/A/RES/47/135. 422 Convention on the Protection and Promotion of the Diversity of Cultural Expressions vom 20. Oktober 2005, https://en.unesco.org/creativity/sites/creativity/files/passeport-convention2005-web2.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 87 verstößt, bleiben jedoch nicht nur inhaltlich,423 sondern auch mit Blick auf ihre vertragliche Durchsetzung denkbar schwach ausgestaltet: So sieht Art. 25 der UNESCO-Konvention etwa lediglich einen Streitbeilegungsmechanismus vor. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen rechtlichen Mitteln die Staatengemeinschaft auf eine Situation wie in Xinjiang reagieren kann. So geht es im dritten und letzten Teil dieser Ausarbeitung um die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten, aber auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Staatengemeinschaft angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen (einschließlich Völkermord). Die Untersuchung behandelt Fragen der Durchsetzung, Sanktionierung , Verhinderung, Bestrafung und Öffentlichmachung. Freilich kann nur eine repräsentative Auswahl an Reaktionsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Frage, ob die rechtlichen Möglichkeiten der Staatengemeinschaft, auf schwere Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, durch die Feststellung, es handele sich dabei um „Völkermord“, spürbar gestärkt oder erweitert werden. Zunächst geht es um die Frage, wie Menschenrechtsverpflichtungen rechtlich durchgesetzt und Menschenrechtsverstöße sanktioniert werden können (sog. law enforcement). Dazu wird zunächst einmal der rechtliche Rahmen abgesteckt (dazu 3.2.). Für die Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen völkerrechtlich relevant sind u.a. das Konzept der erga omnes-Verpflichtungen (3.2.1.) sowie die Regelungen zur Staatenverantwortlichkeit (3.2.2.). Sodann werden verschiedene Möglichkeiten der Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen aufgezeigt und erörtert (dazu 3.3.). Dazu zählen etwa die gerichtliche Klärung von Streitfragen vor dem Internationalen Gerichtshof (3.3.1.), ferner Staatenbeschwerden vor menschenrechtlichen Spruchkörpern (3.3.2.) sowie unabhängige Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen (3.3.3.). Weiter werden Möglichkeiten der Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen aufgezeigt (dazu 3.4.) – wie z.B. Gegenmaßnahmen (3.4.1.) oder humanitäre Interventionen (3.4.2.). Aufbauend auf die Untersuchung zum Völkermordtatbestand (Teil 1) sollen die beiden staatlichen Kernverpflichtungen der Völkermordkonvention näher beleuchtet werden: Die Pflicht zur Verhinderung von Genozid (3.5.) sowie die Pflicht zur Bestrafung von Völkermord (3.6.1.). 423 Gem. Art. 7 der UNESCO-Konvention „bemühen sich die Vertragsparteien [Parties shall endeavour], in ihrem Hoheitsgebiet ein Umfeld zu schaffen, in dem Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen darin bestärkt werden, ihre eigenen kulturellen Ausdrucksformen zu schaffen und zu verbreiten […], wobei die besonderen Bedingungen und Bedürfnisse von […] Personen, die Minderheiten oder indigenen Völkern angehören, gebührend berücksichtigt werden […].“ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 88 Schwierig gestaltet sich vor allem die strafrechtliche Verfolgung des Völkermordverbrechens (dazu 3.6.). Dabei geht es um Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof sowie vor nationalen Strafgerichten. Erörtert werden in diesem Zusammenhang u.a. Fragen der universellen Jurisdiktion sowie Verfahrenshindernisse der völkerrechtlichen Immunität . Die Herstellung von Öffentlichkeit angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen ist Teil des sog. „naming and shaming“ im Menschenrechtsbereich. In diesem Zusammenhang werden zunächst die völkerrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Befassung von VN-Organen mit der Genozidfrage untersucht (3.7.). Abschließend geht es dann um rechtliche Fragen einer möglichen parlamentarischen Befassung mit dem Thema „Völkermord an den Uiguren“ (dazu 3.8.). 3.2. Rechtlicher Rahmen für die Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen und die Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen 3.2.1. Zwingendes Völkerrecht und das Konzept der erga omnes-Verpflichtungen Das Verbot des Völkermordes – nicht aber die Völkermordkonvention als Ganzes – gehört nach einhelliger Auffassung in Literatur und Rechtsprechung zu den wenigen, unabänderlichen Normen des sog. zwingenden Völkerrechts (ius cogens).424 Diese nehmen in der völkerrechtlichen Normenhierarchie eine besondere Stellung ein.425 424 Vgl. zum Begriff für viele: Stefan Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, Berlin: Duncker 1992. Jochen A. Frowein, „Ius Cogens“, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: März 2013, m.w.N., https://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1437. Zur Einordnung des Genozidverbots als ius cogens vgl. für viele Schmalenbach, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties. A Commentary, Vol. 2, Heidelberg: Springer 2012, Art. 53 Rdnr. 81 mit umfangreichen Nachweisen (Fn. 287) aus der Rechtsprechung des IGH und des Jugoslawientribunals. Ebenso Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Art. VI Rdnr. 65. 425 Vgl. dazu Dinah Shelton, “Normative Hierarchy in International Law“, in: American Journal of International Law (AJIL) 2006, S. 221-323, https://www.cambridge.org/core/journals/american-journal-of-internationallaw /article/abs/normative-hierarchy-in-international-law/B17B59F4D46511BE55786728214856BB. Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 283 ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 89 Zum ius cogens zählen auch das Folterverbot und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.426 Art. 53 WVRK definiert ius cogens als eine Norm, „die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann“. Ius cogens-Normen – also die Fundamentalnormen der Völkerrechtsordnung – gelten für alle und gegenüber allen (erga omnes), d.h. ihre Einhaltung ist allen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft gegenüber geschuldet.427 Während der Begriff „ius cogens“ eine Normkategorie beschreibt, bezieht sich der Terminus „erga omnes“ auf die Frage, wem gegenüber die Einhaltung einer Norm geschuldet ist, bzw. wer ihre Einhaltung gerichtlich oder mittels Sanktionen geltend machen kann. Nach traditionellem Völkerrechtsverständnis ist jede Reaktion auf eine Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung lediglich bilateraler Art, d.h. nur der verletzte bzw. benachteiligte Staat (also das „Opfer“) konnte gegenüber dem verletzenden Staat reagieren und die Einhaltung gegenseitiger Verpflichtungen anmahnen. Seit der IGH mit seinem Urteil im Fall Barcelona Traction 428 aus dem Jahre 1970 eine Kategorie von Verpflichtungen anerkannt hat, die nicht nur einem anderen Staat, sondern der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt geschuldet sind, hat sich aus dem Geflecht von bi- und multilateralen Beziehungen die Vorstellung einer universellen Werteordnung entwickelt,429 die vor allem von den „westlichen“ Teilen der Staatengemeinschaft propagiert wird. Ein Völkermord, wo immer begangen, betrifft danach die internationale Gemeinschaft als Ganzes, weil er das „Herzstück des universellen Völkerrechts“ (also den internationalen ordre public) tangiert.430 426 Zum ius cogens zählen nach Auffassung der VN-Völkerrechtskommission das Gewaltverbot, das Verbot des Völkermordes, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Folterverbot, das Sklaverei- sowie das Apartheitsverbot , das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie die Mindeststandards des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen (vgl. UN-Doc. A/74/10, S. 141 ff. (147), https://legal.un.org/ilc/reports/2019/english/chp5.pdf). 427 Vgl. dazu näher für viele Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, 2. Kap. Rdnr. 159 ff. m.w.N. 428 IGH-Urteil vom 5. Februar 1970 – Barcelona Traction, ICJ Report 1970, S. 3 ff. (32), para 33, https://www.icjcij .org/public/files/case-related/50/050-19700205-JUD-01-00-EN.pdf: “In particular, an essential distinction should be drawn between the obligations of a State towards the international community as a whole, and those arising vis-à-vis another State in the field of diplomatic protection. By their very nature the former are the concern of all States.” 429 Zur Frage der Konstitutionalisierung einer „Werteordnung“ im Völkerrecht vgl. Thomas Kleinlein, „Konstitutionalisierung im Völkerrecht“, Heidelberg: Springer 2012, S. 18 ff., https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-642-24884-9.pdf. Matthias Herdegen, „Der Kampf um die Weltordnung“, München: Beck 2019, S. 118 f. 430 Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 292. James Crawford, “Brownlie´s Principles of Public International Law”, Oxford, 8. Aufl. 2012, S. 602 f., spricht von einem „emerging system of multilateral public order“. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 90 Der IGH hat die dogmatische Konstruktion der erga omnes-Verpflichtungen nicht abschließend geklärt. Dadurch ergeben sich Unsicherheiten hinsichtlich der Rechtsfolgen.431 Würde man das Konzept der Verpflichtung erga omnes konsequent umsetzen, wäre jeder Staat – unabhängig von seiner spezifischen Betroffenheit – berechtigt, solche Verpflichtungen auch durchzusetzen und entsprechende Verstöße zu ahnden. Die Frage nach der Durchsetzung von erga omnes- Verpflichtungen durch die Staatengemeinschaft bei schwersten Menschenrechtsverletzungen ist seit vielen Jahren Gegenstand völkerrechtlicher Diskussionen.432 Dabei hat sich die Vorstellung, dass jeder einzelne Staat aus eigenem Antrieb und gleichsam als „Treuhänder“ der Weltgemeinschaft das zwingende Völkerrecht durchsetzen bzw. Verstöße ahnden darf, in dieser „Radikalität“ nicht gänzlich durchsetzen können – nicht zuletzt mit Blick auf eine mögliche Missbrauchsgefahr .433 3.2.2. Regelungen zur Staatenverantwortlichkeit Die gewohnheitsrechtlich geltenden Draft-Articles der International Law Commission (ILC)434 zur Staatenverantwortlichkeit (2001)435 bleiben bei der Frage nach den rechtlich zulässigen Reaktionen auf ius cogens-Verstöße durch Drittstaaten, die von dem Völkerrechtsverstoß nicht selber betroffen sind, weitgehend zurückhaltend: Die einschlägigen ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit lauten: Art. 40 ILC-Artikel: „Dieses Kapitel findet Anwendung auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit, die eine schwere Verletzung einer Verpflichtung, die aus einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechtes erwächst, durch einen Staat zur Folge hat.“ 431 Dazu Claudia Annacker, „Die Durchsetzung von erga omnes-Verpflichtungen vor dem Internationalen Gerichtshof “, Hamburg 1994, S. 14 ff. 432 Vgl. dazu etwa Christian J. Tams, “Enforcing obligations erga omnes in international law”, Cambridge 2005. Annie Bird, “Third State Responsibility for Human Rights Violations”, in: European Journal of International Law (EJIL) Vol. 21 (2010), S. 883-900, https://academic.oup.com/ejil/article/21/4/883/418145. Møgster, Daniel Elias, “Erga Omnes and Countermeasures: Countermeasures by Non-Injured States in Response to Mass Atrocities”, Oslo University 2014, online abrufbar unter: https://www.duo.uio.no/handle/10852/39566. 433 Dazu Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 293. 434 Die Völkerrechtskommission (https://legal.un.org/ilc/) wurde 1947 von der VN-Generalversammlung als Nebenorgan der Vereinten Nationen zur Weiterentwicklung und Kodifizierung des Völkerrechts eingesetzt. Der ILC gehören 34 unabhängige Völkerrechtsexperten an, die jeweils für die Dauer von fünf Jahren gewählt werden und die wichtigsten Rechtssysteme der Welt repräsentieren. 435 Die mit Resolution A/56/83 vom 12. Dezember 2001 von der VN-Generalversammlung auf ihrer 56. Tagung (2001) zur Kenntnis genommenen Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts sind abrufbar unter: https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 91 Art. 41 ILC-Artikel: „Die Staaten arbeiten zusammen, um jede schwere Verletzung im Sinne des Art. 40 durch rechtmäßige Mittel zu beenden. Kein Staat erkennt die durch eine schwere Verletzung im Sinne des Art. 40 hervorgerufene Situation als rechtmäßig an oder leistet Hilfe oder Unterstützung bei der Aufrechterhaltung dieser Situation.“ Gem. Art. 48 Nr. 1 (b) der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit ist zwar auch jeder nicht unmittelbar betroffene oder benachteiligte Staat „berechtigt, die Verantwortlichkeit eines anderen Staates nach Maßgabe des Absatz 2 geltend zu machen, wenn (…) die verletzte Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft als Ganzes geschuldet ist.“ Art. 48 Abs. 2 der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit beschränkt sich aber in diesem Kontext lediglich auf das Recht eines Staates, „die Einstellung des völkerrechtswidrigen Handelns zu fordern.“ Art. 41 der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit schreibt weder die Form der Staatenkooperation vor,436 noch wird auf der normativen Ebene deutlich, welche „rechtmäßigen Mittel“ von den Staaten ergriffen werden dürfen, um eine ius cogens-Verletzung zu beenden. In der Kommentierung der ILC zu Art. 41 heißt es: “Because of the diversity of circumstances which could possibly be involved, the provision does not prescribe in detail what form this cooperation should take. Cooperation could be organized in the framework of a competent international organization, in particular the United Nations. However , paragraph 1 also envisages the possibility of non-institutionalized cooperation. Neither does paragraph 1 prescribe what measures States should take in order to bring to an end serious breaches in the sense of article 40. Such cooperation must be through lawful means, the choice of which will depend on the circumstances of the given situation. It is, however, made clear that the obligation to cooperate applies to States whether or not they are individually affected by the serious breach. What is called for in the face of serious breaches is a joint and coordinated effort by all States to counteract the effects of these breaches.”437 3.3. Rechtliche Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen 3.3.1. Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof Zu den „rechtmäßigen Mitteln“ der Durchsetzung von ius cogens-Verpflichtungen im Sinne der Draft Articles on State Responsibility zählen in erster Linie Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) als dem Hauptrechtsprechungsorgan der VN. Zahlreiche Staaten – darunter 436 Vgl. dazu näher Annie Bird, “Third State Responsibility for Human Rights Violations”, in: European Journal of International Law (EJIL) Vol. 21 (2010), S. 883-900 (887), https://academic.oup.com/ejil/article/21/4/883/418145. 437 Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries, 2001, S. 114, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 92 jene, deren Menschenrechtslage prekär ist – haben jedoch die Jurisdiktion des IGH für Klagen gegen den eigenen Staat ausgeschlossen.438 Auch die Volksrepublik China hat sich nicht der Gerichtsbarkeit (jurisdiction) des IGH gem. Art. 36 des IGH-Statuts unterworfen.439 Aus Art. IX der Völkermordkonvention ergibt sich indes eine besondere obligatorische Jurisdiktion des IGH für Streitigkeiten in Bezug auf die Anwendung der Völkermordkonvention: „Streitfälle zwischen den vertragschließenden Parteien hinsichtlich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen beziehen, werden auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet.“ China hat anlässlich seiner Ratifikation des Völkermordkonvention zu Art. IX indes einen Vorbehalt (reservation, vgl. Art. 19 WVRK) abgegeben, der die Anwendung dieser Vorschrift für China und damit seine Unterwerfung unter die IGH-Gerichtsbarkeit ausschließt.440 Gem. Art. 19 lit. c) WVRK dürfen allerdings Vorbehalte dem Ziel und Zweck des Vertrags nicht widersprechen . Die Frage, ob Vorbehalte zu einzelnen Bestimmungen der Völkermordkonvention völkerrechtlich überhaupt zulässig sind, ist umstritten441 und wurde kurz nach Inkrafttreten der Konvention sogar im sog. Vorbehalts-Gutachten des IGH thematisiert.442 In dem IGH-Verfahren zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Ruanda (Armed Activities on the Territory of Congo) hatte Kongo die Jurisdiktion des IGH ungeachtet der erklärten Vorbehalte Ruandas gegen die kompromissarische Klausel in Art. IX Völkermordkonvention für gegeben angesehen. Der Vorbehalt sei, so die Argumentation der kongolesischen Regierung, angesichts des ius cogens- 438 Vgl. Declarations recognizing the jurisdiction of the Court as compulsory, https://www.icjcij .org/en/declarations. 439 Eine Unterwerfung kann auf drei Wegen erfolgen: Ad hoc durch eine Erklärung nur für ein bestimmtes Verfahren , durch einem völkerrechtlichen Vertrag (sog. kompromissarische Klausel) oder in Form einer generellen Unterwerfungserklärung (sog. Fakultativklausel). Der Text des IGH-Statuts, das gem. Art. 92 VN-Charta Bestandteil der Charta ist, ist abrufbar unter: https://www.menschenrechtsabkommen.de/statut-des-internationalengerichtshofs -1154/. 440 Der Vorbehalt lautet: “The People's Republic of China does not consider itself bound by Article IX of the said Convention.” Der Ratifikationsstatus ist abrufbar unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4&clang=_en. 441 Vgl. dazu etwa die umfangreiche Kommentierung von Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Annex to Art. IX: Reservations to the Convention, Rdnr. 1-57. 442 ICJ, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of Genocide (Advisory Opinion), Gutachten vom 28. Mai 1951, ICJ Rep. 1951, S. 15, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/12/012- 19510528-ADV-01-00-EN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 93 Charakters des Völkermordverbots, rechtlich wirkungslos. Diese Rechtsauffassung hat der IGH indes nicht geteilt.443 Vorbehalte gegen die obligatorische Jurisdiktion des IGH nach Art. IX der Völkermordkonvention wurden zuhauf erklärt. Tams weist in seiner Kommentierung darauf hin, dass die Staatengemeinschaft solche Vorbehalte nicht als „generally incompatible with the object and purpose of the Genocide Convention“ angesehen hat und dass deshalb Einsprüche gegen solche Vorbehalte (gem. Art. 21 Abs. 3 WVRK) weitgehend ausgeblieben sind.444 Im Fall Kongo gegen Ruanda machten die IGH-Richter*innen Higgins, Kooijmans, Simma u.a. vielmehr deutlich: „It cannot be said that the entire scheme of the Genocide Convention would necessarily collapse if some States make reservations to Art. IX.“445 Ähnliche Vorbehalte, welche die obligatorische Gerichtsbarkeit des IGH ausschließen, hat China überdies auch im Rahmen der VN-Konvention gegen Rassendiskriminierung vom 21. Dezember 1965 (vgl. Art. 22)446 sowie der VN-Antifolterkonvention vom 10. Dezember 1984 (vgl. Art. 30)447 erklärt. Durch den völkerrechtlich zulässigen Ausschluss der entsprechenden Streitbeilegungsklauseln verhindert China, dass ein internationales Gericht sich mit Streitigkeiten befasst, die das eigene Land betreffen. In der 75-jährigen Geschichte des IGH ist China dementsprechend noch nie verklagt worden. Rechtsgutachten des IGH (Advisory Opinions) können allein die Organe der VN anfordern448 (vgl. Art. 96 VN-Charta), nicht dagegen einzelne Staaten – auch nicht die Vertragsstaaten der Völkermordkonvention . Art. VIII der Völkermordkonvention ermöglicht insoweit keine weitergehende Befassung des IGH.449 443 IGH, Armed Activities, Urteil vom 3. Februar 2006, para. 56 ff., https://www.icj-cij.org/public/files/caserelated /126/126-20060203-JUD-01-00-EN.pdf. 444 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Annex to Art. IX: Reservations to the Convention, Rdnr. 44. 445 IGH, Urteil vom 19. Dezember 2005, Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda), ICJ Rep. 2006, S. 65, joint separate opinion, para 26, http://www.worldcourts.com/icj/eng/decisions/2006.02.03_armed_activities.htm. 446 International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, Ratifikationsstand unter: https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/TreatyBodyExternal/Treaty.aspx?Treaty=CERD&Lang=en. 447 Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Ratifikationsstand unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV- 9&chapter=4&clang=_en#EndDec. 448 Mosler, in: Simma (Hrsg.), Charta der Vereinten Nationen. Kommentar, München: Beck 1991, Art. 96 Rdnr. 7. 449 So Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article VIII, Rdnr. 34. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 94 3.3.2. Staatenbeschwerdeverfahren vor menschenrechtlichen Spruchkörpern Nur wenige Menschenrechtsverträge sehen die Möglichkeit eines sog. Staatenbeschwerdeverfahrens (inter-state communication) vor.450 Verankert ist ein solches Verfahren z.B. in Art. 11 der VN-Rassendiskriminierungskonvention,451 das zwar verfahrensrechtlich kompliziert ausgestaltet, dafür aber für alle Vertragsstaaten der Konvention – darunter auch China – obligatorisch ist.452 Nach Art. 1 der VN-Rassendiskriminierungskonvention bezeichnet der Ausdruck Rassendiskriminierung „jede auf der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, dem nationalen Ursprung oder dem Volkstum beruhende Unterscheidung, Ausschließung, Beschränkung oder Bevorzugung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass dadurch ein gleichberechtigtes Anerkennen, Genießen oder Ausüben von Menschenrechten und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder jedem sonstigen Bereich des öffentlichen Lebens vereitelt oder beeinträchtigt wird.“ Mit dieser Definition will die Rassendiskriminierungskonvention nicht allein Benachteiligung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse verhindern, sondern auch ethnische und andere Minderheiten wie z.B. die Uiguren schützen. Der mit der Behandlung von Staatenbeschwerden betraute Ausschuss gegen Rassendiskriminierung (Committee on the Elimination of Racial Discrimination, CERD) ist ein Kontrollorgan, welches die Umsetzung und Einhaltung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch die Vertragsstaaten überwacht und Empfehlungen abgeben kann.453 Im Staatenbeschwerdeverfahren erstellt das CERD einen Schlussbericht, welcher den Streitgegenstand und die Empfehlungen der Vergleichskommission enthält. Im Gegensatz zu 450 Vgl. z.B. fakultativ Art. 21 der VN-Folterkonvention von 1984 oder Art. 10 des Fakultativprotokolls von 2008 (in Kraft seit 2013) zum VN-Sozialpakt, das China aber nicht ratifiziert hat. 451 Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination, Text der Konvention (dt.) abrufbar unter https://www.rassendiskriminierungskonvention.de/internationales-uebereinkommen-zur-beseitigung-jederform -von-rassendiskriminierung-3100/. Die Konvention wurde von der VN-Generalversammlung durch Resolution 2106 (XX) vom 21. Dezember 1965 angenommen. Das Abkommen ist von 182 Staaten ratifiziert worden. Art. 11 der Konvention lautet: „Führt ein Vertragsstaat nach Ansicht eines anderen Vertragsstaats die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht durch, so kann dieser die Sache dem Ausschuss zur Kenntnis bringen.“ 452 Die (fakultative) Zuständigkeit des Ausschusses für das in Art. 14 Rassendiskriminierungskonvention vorgesehene Individualbeschwerdeverfahren hat China dagegen nicht akzeptiert. Ebenso hat China die Jurisdiktion des IGH nach Art. 22 Rassendiskriminierungskonvention für sich ausgeschlossen. 453 Vgl. die Homepage des CERD, https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CERD/Pages/CERDIntro.aspx. Patrick Thornberry, “Confronting Racial Discrimination: A CERD Perspective”, in: Human Rights Law Review (HRLR) Vol. 5 (2005), S. 239-269, https://academic.oup.com/hrlr/article/5/2/239/789461?login=true. Der Ausschuss besteht aus 18 unabhängigen, gem. 8 der Konvention gewählten Experten – Deutschland ist bis 2024 durch den Rechtswissenschaftler Payandeh, China bis 2024 durch die Juristin Li Yanduan vertreten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 95 einem Urteil des IGH, der gem. Art. 22 der Rassendiskriminierungskonvention angerufen werden kann, sind die Empfehlungen und Berichte des CERD völkerrechtlich aber nicht bindend. Staatenbeschwerden im Rahmen der VN-Rassendiskriminierungskonvention sind ein relativ neues Instrument, das sich in der Praxis erst noch bewähren muss. Im Jahre 2018 wurden dem CERD erstmals drei Staatenbeschwerdeverfahren vorgelegt;454 das CERD hat dazu bislang Verfahrensentscheidungen getroffen.455 Der Ausgang der Verfahren und die damit möglicherweise verbundene völkerrechtliche Profilierung des CERD als internationales Rechtsprechungsorgan bleiben abzuwarten. Beth van Schaack von der Stanford-University (und ehemalige US-Ambassadorat -Large für Kriegsverbrechen) analysierte unlängst die rechtlichen und politischen Reaktionsmöglichkeiten der USA vis-à-vis der chinesischen Uiguren-Politik:456 Sie hält ein Staatenbeschwerdeverfahren gegen China für durchaus überlegenswert, zumal das Thema „Uiguren“ im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens (vgl. Art. 9 der VN-Rassendiskriminierungskonvention )457 bereits 2019 auf der Tagesordnung des CERD stand.458 3.3.3. Unabhängige Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen Die Kenntnis der Menschenrechtssituation vor Ort ist eine wichtige Voraussetzung für mögliche Reaktionen der Staatengemeinschaft. Einige Menschenrechtskonventionen459 sehen bei Anzeichen schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen in einem Vertragsstaat (reliable information on serious, grave or systematic violations by a State Party) die Möglichkeit vor, dass die Überwachungsorgane auf eigene Initiative die jeweilige Situation in dem Mitgliedstaat unabhängig untersuchen (inquiries).460 454 Dies sind die Verfahren Katar gegen Saudi-Arabien, Katar gegen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sowie Palästina gegen Israel. 455 Vgl. dazu https://www.ohchr.org/EN/HRBodies/CERD/Pages/InterstateCommunications.aspx. 456 Beth van Schaack, “Policy Options in Response to Crimes against Humanity and Potential Genocide in Xinjiang”, Just Security (blog), 25. August 2020, https://www.justsecurity.org/72168/policy-options-inresponse -to-crimes-against-humanity-and-potential-genocide-in-xinjiang/. 457 Jeder Vertragsstaat ist gem. Art. 9 der Konvention verpflichtet, alle zwei Jahre einen Bericht einzureichen, aus dem die Tätigkeit innerhalb des Staates in Bezug auf die Verwirklichung der Ziele der Rassendiskriminierungskonvention hervorgeht. Nachdem der Ausschuss diese Berichte geprüft hat, kann er allgemeine Empfehlungen abgeben und dem jeweiligen Staat Vorschläge unterbreiten. 458 Vgl. dazu Shannon Tiezzi, “Rival Camps Clash over Xinjiang at UN Committee Session”, in: The Diplomat, 31 October 2019, https://thediplomat.com/2019/10/rival-camps-clash-over-xinjiang-at-un-committee-session/. 459 Vgl. z.B. Art. 20 der Folterkonvention von 1984; Art. 33 des Übereinkommens von 2006 zum Schutze aller Personen vor dem Verschwindenlassen; Art. 8 des Fakultativprotokolls von 1999 zur VN-Frauenrechtskonvention (von 1979) sowie Art. 11 des Zusatzprotokolls von 2008 zum VN-Sozialpakt (von 1966). 460 Vgl. näher Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel: Helbing, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 692 f. Ein Überblick über die Beschwerdemöglichkeiten im Rahmen von VN-Menschenrechtsabkommen findet sich online unter: https://www.ohchr.org/en/hrbodies/tbpetitions/pages/hrtbpetitions.aspx. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 96 Auch das im September 2020 auf Initiative des Präsidenten des Weltkongresses der Uiguren (World Uyghur Congress) in Großbritannien errichtete „Uiguren-Tribunal“ zur Aufklärung der Vorgänge in Xinjiang461 hat – als NGO – keinerlei rechtliche Handhabe gegen China. Eine unabhängige Untersuchung der Situation in den Internierungslagern in Xinjiang erscheint jedoch gegen den Willen der chinesischen Regierung rechtlich kaum möglich. Im Sommer 2020 hatte China eine von Experten des VN-Menschenrechtsrats (vgl. dazu unten 2.11.4.) geforderte462 Untersuchungsmission in China (country visit) abgelehnt. Im Rahmen der Antifolterkonvention hat China die Kompetenz des Ausschusses (Committee on Torture), Informationen über systematische Folterpraktiken zu prüfen und einen Mitgliedstaat zu beauftragen, eine vertrauliche Untersuchung durchzuführen (vgl. Art. 20 der Konvention), nicht akzeptiert.463 Gleichwohl mahnte der VN-Folterausschuss in seinem Staatenbericht zu China vom 3. Februar 2016: “It urges [China] to ensure that all custodial deaths, disappearances, allegations of torture and ill-treatment and reported use of excessive force against persons in […] the Xinjiang Uyghur Autonomous Region, are promptly, impartially and effectively investigated by an independent mechanism.”464 Eine neue Studie von Human Rights Watch und der Mills Legal Clinic an der Stanford Law School greift diese Forderung auf: “UN special procedures should continue to document and publicly report on human rights violations in Xinjiang by the Chinese authorities within their respective mandates, with a view to supporting the creation of a commission of inquiry or a similar investigative mechanism.”465 461 Vgl. dazu die Homepage unter: https://uyghurtribunal.com/about/: “The Uyghur Tribunal, which has no powers of sanction or enforcement, will confine itself to reviewing evidence in order to reach an impartial and considered judgment on whether international crimes are proved to have been committed by China.” 462 “UN experts call for decisive measures to protect fundamental freedoms in China”, 26. Juni 2020, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=26006 . 463 Der Vorbehalt Chinas lautet: “The Chinese Government does not recognize the competence of the Committee against Torture as provided for in Article 20 of the Convention”, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-9&chapter=4&clang=_en. 464 Concluding observations on the fifth periodic report of China, CAT/C/CHN/CO/5, 3 February 2016, https://www.refworld.org/docid/58bed9954.html. 465 Human Rights Watch / Stanford Law School, “Break Their Lineage, Break Their Roots. China’s Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims”, 19. April 2021, S. 49, https://www.hrw.org/report/2021/04/19/break-their-lineage-break-their-roots/chinas-crimes-against-humanitytargeting . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 97 3.4. Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen 3.4.1. Gegenmaßnahmen Rechtlich noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob ein Staat auf die Verletzung von erga omnes-Verpflichtungen eines anderen Staates mit gewaltfreien Gegenmaßnahmen466 (früher: Repressalien, wie z.B. Wirtschaftssanktionen, Beschlagnahme von ausländischen Vermögenswerten , Einreiseverbote für Mitglieder der Staatsführung u.a.m.) reagieren kann, oder ob es hierfür einer besonderen Betroffenheit seitens des durchsetzenden Staates bedarf.467 Unproblematisch sind Gegenmaßnahmen, die vom VN-Sicherheitsrat autorisiert werden könnten (z.B. Wirtschaftssanktionen nach Art. 41 VN-Charta). Eine Beschlussfassung des Sicherheitsrats zur causa der „Uiguren“ würde jedoch aller Voraussicht nach am Veto Chinas scheitern. Zu den Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft auf schwerste Menschenrechtsverletzungen gehören zunehmend auch unilaterale bzw. kollektiv ergriffene Gegenmaßnahmen.468 Wie bereits in der Einleitung zu Teil 1 erwähnt, haben die USA, Kanada, Großbritannien und die EU im März 2021 wegen der Behandlung der Uiguren Sanktionen gegen China verhängt,469 ohne dass dabei explizit der Vorwurf des Völkermordes erhoben wurde.470 466 Vgl. zum Begriff der Gegenmaßnahme, der in Art. 22 der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit erwähnt wird, Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 421 ff. 467 Im Sinne einer Zulässigkeit ohne eigene Betroffenheit wohl tendenziell Matthias Herdegen, Völkerrecht, München: Beck, 18. Aufl. 2018, § 39 Rdnr. 4. Ebenso Jochen A. Frowein, „Obligations erga omnes“, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: Dezember 2008, Rdnr. 12 sowie “Ius Cogens”, in: Max Planck Encyclopedias of International Law [MPIL], Stand: März 2013, Rdnr. 10. Zurückhaltender dagegen Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, 7. Kap. Rdnr. 114. Schröder, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin: de Gruyter, 7. Aufl. 2016, 7. Abschnitt Rdnr. 18. 468 Ausführliche Nachweise aus der Staatenpraxis finden sich in den Kommentierungen der ILC zu den Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit, Art. 54 para (3) und (4), Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries, 2001, S. 138 f., https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. Weitere Beispiele bei Matthias Herdegen, Völkerrecht, München: Beck, 18. Aufl. 2018, § 39 Rdnr. 4. 469 Handelsblatt vom 31. Juli 2020, „Menschenrechtsverletzungen: USA verhängen Sanktionen gegen China“, https://www.handelsblatt.com/politik/international/konflikt-menschenrechtsverletzungen-usa-verhaengenweitere -sanktionen-gegen-china/26056232.html?ticket=ST-4846455-0QKfQm9euOD4RE0tSWGz-ap6c. Spiegel online vom 22. März 2021, „Verfolgung von Uiguren: EU beschließt Sanktionen gegen China“, https://www.spiegel.de/politik/ausland/uiguren-eu-beschliesst-sanktionen-gegen-china-a-5f508aae-7be2-4c39- 94c9-4fd301b89002. 470 Vgl. näher zum EU Global Human Rights Sanction Regime vom 7. Dezember 2020, https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/12/07/eu-adopts-a-global-human-rightssanctions -regime/ sowie Julia Emtseva, “Sanctioning the Treatment of Uighurs in China. Targeted Sanctions and Accountability Avenues for Human Rights Violations in Xinjiang”, VerfBlog vom 25. April 2021, https://verfassungsblog.de/sanctioning-the-treatment-of-uighurs-in-china/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 98 Das Recht auf Ergreifen von Gegenmaßnahmen im kollektiven Interesse, also durch Drittstaaten, die von dem völkerrechtswidrigen Verhalten des anderen Staates nicht direkt betroffen oder benachteiligt sind, ist in den ILC-Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit nicht eindeutig geregelt.471 Die ILC führt dazu in ihren Commentaries aus: “As this review demonstrates, the current state of international law on countermeasures taken in the general or collective interest is uncertain. State practice is sparse and involves a limited number of States. At present, there appears to be no clearly recognized entitlement of States […] to take countermeasures in the collective interest. Consequently, it is not appropriate to include in the present articles a provision concerning the question whether other States, identified in article 48, are permitted to take countermeasures in order to induce a responsible State to comply with its obligations .”472 Gleichwohl verschließt sich die ILC keineswegs einer weiteren Entwicklung des Völkerrechts dahingehend, den Begriff der „rechtmäßigen Maßnahmen“ von Drittstaaten als Antwort auf erga omnes-Verletzungen (vgl. Art. 41 und Art. 54 der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit) auch auf gewaltfreie Gegenmaßnahmen auszudehnen: “The article speaks of ´lawful measures` rather than ´countermeasures` so as not to prejudice any position concerning measures taken by States other than the injured State in response to breaches of obligations for the protection of the collective interest or those owed to the international community as a whole”.473 Gegenmaßnahmen nicht betroffener Drittstaaten erscheinen in dem Maße völkerrechtlich gerechtfertigt , wie sie vom Kooperationsgedanken i.S.d. Art. 41 der ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit getragen sind – also gemeinsam durch ein Staatenbündnis oder durch die EU durchgeführt werden. Dieser Kooperationsgedanke kommt nicht nur in der Präambel zur Völkermordkonvention 474 zum Ausdruck, sondern liegt auch dem Konzept der Schutzverantwortung475 471 So Theodor Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen: Mohr 2006, 7. Kap. Rdnr. 114, der darauf hinweist, dass die ILC-Artikel über die Staatenverantwortlichkeit nur von „rechtmäßigen Maßnahmen“, nicht dagegen von „Gegenmaßnahmen“ sprechen. 472 Kommentierungen der ILC zu den Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit, Art. 54 para (6), Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries, 2001, S. 139, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. 473 Kommentierungen der ILC zu den Artikeln über die Staatenverantwortlichkeit, Art. 54 para (7), Draft articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, with commentaries, 2001, S. 139, https://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/9_6_2001.pdf. 474 In der Präambel heißt es: „(…) In der Überzeugung, dass zur Befreiung der Menschheit von einer solch verabscheuungswürdigen Geißel internationale Zusammenarbeit erforderlich ist (…).“ 475 Vgl. VN-Generalversammlung A/RES/60/1 vom 16. September 2005, World Summit Outcome, https://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_ 60_1.pdf. Vgl. zuletzt Daniel Peters, „Menschenrechtsschutz in der internationalen Gesellschaft: Extraterritoriale Staatenpflichten und Responsibility to Protect“, Baden: Baden: Nomos 2020. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 99 zugrunde. In dem – völkerrechtlich allerdings nicht verbindlichen – „R2P“-Dokument des Weltgipfels von 2005 heißt es (Rdnr. 139): “The international community, through the United Nations, also has the responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other peaceful means, in accordance with Chapters VI and VIII of the Charter, to help to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. In this context, we are prepared to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities are manifestly failing to protect their populations from genocide , war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. We stress the need for the General Assembly to continue consideration of the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity and its implications, bearing in mind the principles of the Charter and international law”. 3.4.2. Humanitäre Intervention Ungeachtet der nicht abreißenden Diskussion über den Rechtfertigungstatbestand der „humanitären Intervention“ erscheinen gewaltsame Interventionen, die nicht vom VN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII VN-Charta autorisiert worden sind, als Reaktion auf erga omnes-Verletzungen nach ganz überwiegender Auffassung völkerrechtlich unzulässig.476 3.5. Verpflichtung zur Verhinderung eines Genozids Geht es um den Vorwurf des Völkermordes, so normiert Art. I der Völkermordkonvention zwei grundlegende Kernpflichten. Neben der Bestrafungspflicht (dazu unten 3.7.1.) geht es darum, einen Genozid zu verhindern/verhüten (duty to prevent). Art. I der Völkermordkonvention lautet: „Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten .“ 476 Vgl. zuletzt Andreas Kulick, “Die humanitäre Repressalie – Rechtsbruch zur Rechtsdurchsetzung?“, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 2018, S. 303-323, https://www.mohrsiebeck.com/artikel/die-humanitaere-repressalierechtsbruch -zur-rechtsdurchsetzung-101628avr-2018-0017?no_cache=1. Rajan Menon, „Why humanitarian intervention still isn't a global norm”, in: Current history: A journal of contemporary world affairs Vol. 116 (2017), S. 35-37, https://online.ucpress.edu/currenthistory/article/116/786/35/107924/Why-Humanitarian-Intervention-Still-Isnt -a-Global. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 100 3.5.1. Geographischer Anwendungsbereich der Völkermordkonvention Der geographische Anwendungsbereich der Völkermordkonvention477 – obwohl in der Konvention selbst nicht explizit geregelt – erstreckt sich nicht nur auf das eigene Territorium, auf dem der Vertragsstaat der Völkermordkonvention seine Hoheitsgewalt ausübt. Nach Auffassung des IGH478 sowie der Literatur479 gilt die Verhinderungsverpflichtung aus Art. I der Völkermordkonvention „global“, d.h. ohne territoriale Begrenzungen. Völkermord ist damit eine globale Angelegenheit, unabhängig vom locus delicti commissi. 3.5.2. Zeitliche Dimension In zeitlicher Hinsicht muss die Pflicht zur Verhinderung von Völkermord bereits im „Vorfeld“ – also möglichst früh – greifen. Literatur und Rechtsprechung verlangen in objektiver Hinsicht das ernste Risiko, dass sich ein Völkermord ereignet („a serious risk that acts of genocide will be committed“).480 Der Genozid selbst muss also weder schon stattgefunden haben, noch muss er unmittelbar bevorstehen. Erst recht bedarf es keiner gerichtlichen Feststellung, die ein bestimmtes staatliches Verhalten als „Völkermord“ qualifiziert. Was unter einem „ernsten Risiko“ zu verstehen ist, bleibt allerdings offen. Einigkeit besteht darüber, dass sich die Gefahr eines Genozids bereits als „real“ und „plausibel“ abzeichnen muss. Der inkriminierte Staat muss also bereits substantielle Handlungen („substantial steps“) unternommen haben, welche die Schwelle zum Versuch („attempt to commit genocide“), der gem. Art. III lit. d) der Völkermordkonvention ebenfalls pönalisiert ist, überschreiten.481 Sind genozidale Handlungen schon im Gange, bleibt die Pflicht zur Verhinderung aus Art. I der Völkermordkonvention gleichwohl bestehen. 477 Die Völkermordkonvention von 1948 zählt aktuell 152 Mitgliedstaaten – allein einige afrikanische Staaten sowie Japan, Thailand und Indonesien zählen nicht dazu. Vgl. zum Ratifikationsstand: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4&clang=_en. 478 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 11. Juli 1996, Preliminary Objections, ICJ Reports 1996, 595, para 31, https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/91/091-19960711-JUD-01-00-EN.pdf. 479 Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel: Helbing, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 873. Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 35 ff. (37 f., 50). 480 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 40. Andrea Gattini, “Breach of the Obligation to Prevent and Reparation thereof in the ICJ’s Genocide Judgment”, in: EJIL (2007), Vol. 18 No. 4, S. 695-713 (703 f.), http://www.ejil.org/pdfs/18/4/237.pdf. IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, S. 43 ff. (182), para 430, https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf. 481 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 40. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 101 In subjektiver Hinsicht muss die Regierung eines Vertragsstaates wissen oder zumindest wissen können („has to be aware or should have been aware“), dass ein ernsthaftes Risiko eines Völkermordes besteht. Dazu müssen entsprechende Informationen etwa auf der Grundlage von Berichten von Menschenrechtsorganisationen oder Medienberichten vorliegen. Absolut sicheres Wissen ist dagegen nicht erforderlich; die Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord kann also schon dann relevant werden, wenn über das Vorliegen des Völkermordes noch eine gewisse Unklarheit herrscht.482 Handlungen, die man gemeinhin als „kulturellen Genozid“ oder Ethnozid bezeichnet – also etwa die Zerstörung der kulturellen Identität einer Minderheit oder Volksgruppe – können als Indiz für eine physische Zerstörungsabsicht herangezogen werden. Sieht man darin zeitlich gleichsam den ersten Schritt zur physischen Ausrottung der Volksgruppe, so lässt sich die Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord aus Art. I der Völkermordkonvention auch auf Situationen des Ethnozid anwenden. 3.5.3. Inhalt der Verhinderungspflicht Die Pflicht zur Verhütung bzw. Verhinderung von Völkermord bleibt, was ihren konkreten Inhalt angeht, weitgehend vage und belässt den Vertragsstaaten der Völkermordkonvention einen nicht unerheblichen Handlungs- und Ermessensspielraum.483 Zur Konkretisierung der staatlichen Handlungspflichten hat der IGH in seinem zweiten Urteil zum Bosnischen Völkermordfall im Jahre 2007 grundsätzliche Erwägungen angestellt: “[I]t is clear that the obligation in question is one of conduct and not one of result, in the sense that a State cannot be under an obligation to succeed, whatever the circumstances, in preventing the commission of genocide: the obligation of States parties is rather to employ all means reasonably available to them, so as to prevent genocide so far as possible. A State does not incur responsibility simply because the desired result is not achieved; responsibility is however incurred if the State manifestly failed to take all measures to prevent genocide which were within its power, and which might have contributed to preventing the genocide. In this area the notion of “due diligence”, which calls for an assessment in concreto, is of critical importance . 482 So Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 41: “ (…) even where uncertainty remains.” 483 Vgl. grundlegend Marko Milanović, “State Responsibility for Genocide”, in: The European Journal of International Law (EJIL) 2006, Vol. 17 No. 3, S. 553-604, http://www.ejil.org/pdfs/17/3/204.pdf. Ders., “State Responsibility for Genocide: A Follow-up”, in: EJIL 2007, Vol. 18 No. 4, S. 669-694 (684 ff.), https://academic.oup.com/ejil/article/18/4/669/453793?login=true. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 102 Various parameters operate when assessing whether a State has duly discharged the obligation concerned. The first, which varies greatly from one State to another, is clearly the capacity to influence effectively the action of persons likely to commit, or already committing, genocide. This capacity itself depends, among other things, on the geographical distance of the State concerned from the scene of the events, and on the strength of the political links, as well as links of all other kinds, between the authorities of that State and the main actors in the events. The State’s capacity to influence must also be assessed by legal criteria, since it is clear that every State may only act within the limits permitted by international law; seen thus, a State’s capacity to influence may vary depending on its particular legal position vis-à-vis the situations and persons facing the danger, or the reality, of genocide.”484 Handlungsverpflichtungen der Staaten nach der Völkermordkonvention sind danach zunächst einmal auf bereits bestehende legale Mittel beschränkt; die Konvention begründet keine neuen (humanitären) Interventionsrechte.485 Abgesehen davon variieren die aus der Völkermordkonvention erwachsenen Verhinderungspflichten entsprechend den Umständen des Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind u.a. Faktoren wie die geographische Nähe eines Vertragsstaates der Völkermordkonvention zum „Völkermord-Geschehen“486 sowie seine politischen Einflussmöglichkeiten , seine wirtschaftliche Stärke487 oder seine bilateralen Beziehungen zum inkriminierten Staat. Von einem „Zwergstaat“ wie Andorra kann also nicht der gleiche Beitrag zur Verhinderung eines Völkermordes erwartet werden wie von einem ständigen Mitglied des VN-Sicherheitsrats. Eine für alle Staaten gleichermaßen bestehende konkrete Verhinderungspflicht lässt sich der Völkermordkonvention demnach nicht entnehmen. Die Verantwortlichkeit nach Art. I der Völkermordkonvention wird in der Literatur vielmehr als „differentiated responsibility“ beschrieben .488 484 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, S. 43 ff. (182), para 430, https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf. 485 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 45. 486 IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia v. Serbia), Urteil vom 26. Februar 2007, ICJ Reports 2007, S. 43 ff. (182), para 430 ff., https://www.icjcij .org/public/files/case-related/91/091-20070226-JUD-01-00-EN.pdf. 487 Vgl. Lars Berster / Björn Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak?“, in: ZaöRV 2014, S. 847-872 (866), https://www.zaoerv.de/74_2014/74_2014_4_a_847_872.pdf. Marko Milanović, “State Responsibility for Genocide: A Follow-up”, in: EJIL 2007, Vol. 18 No. 4, S. 669-694 (686), https://academic.oup.com/ejil/article/18/4/669/453793?login=true. Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 46. Andrea Gattini, “Breach of the Obligation to Prevent and Reparation thereof in the ICJ’s Genocide Judgment”, in: EJIL (2007), Vol. 18 No. 4, S. 695-713 (701), http://www.ejil.org/pdfs/18/4/237.pdf. 488 So Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 43. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 103 In der völkerrechtlichen Literatur werden konkrete Handlungsoptionen diskutiert: Sie reichen von diplomatischem Protest über gerichtliche Schritte zum IGH bis hin zu internationalen Wirtschaftssanktionen .489 Im Ergebnis erweist sich Art. I der Völkermordkonvention als eine Verpflichtung des besten Bemühens („best-efforts-obligation“). Mit Blick auf das staatliche Handlungsermessen lässt sich allenfalls eine Untermaßgrenze ziehen: Passivität – im Sinne von „Wegschauen“ – ist heute keine völkerrechtskonforme Option mehr.490 Das Grundproblem bei der Konkretisierung von Handlungsverpflichtungen aus der Völkermordkonvention besteht im Fehlen spezieller vertraglicher Überwachungsorgane (treaty bodies), wie sie in zahlreichen Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen (z.B. Antifolterkonvention, Rassendiskriminierungskonvention, Kinderkonvention, VN-Zivilpakt etc.) vorgesehen sind. Diese vertraglich etablierten internationalen Spruchkörper können etwa im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens oder durch General Comments die jeweiligen Verpflichtungen aus den Menschenrechtskonventionen juristisch konkretisieren, ausdifferenzieren und weiterentwickeln. Das Fehlen eines institutionalisierten Überwachungsmechanismus stellt ein Manko der Völkermordkonvention dar. Die Möglichkeiten der internationalen Staatengemeinschaft, auf eine Situation schwerer Menschenrechtsverletzungen rechtlich zu reagieren, werden durch die Anwendung der Völkermordkonvention daher nicht grundlegend erweitert. Der juristische „Mehrwert“ der Konvention besteht darin, dass die Staatengemeinschaft durch Art. I explizit dazu verpflichtet wird, einen Genozid zu verhindern bzw. zu bestrafen. Angesichts der Unbestimmtheit der Verpflichtung aus der Völkermordkonvention wird dieser „Mehrwert“ indes wieder relativiert. 3.6. Bestrafungspflicht und strafrechtliche Verfolgung 3.6.1. Regelungen über die Strafbarkeit Neben der Pflicht zur Verhütung ist die Pflicht zur Bestrafung von Genozid in der Völkermordkonvention an mehreren Stellen verankert: Art. I: Die Vertragsparteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten . 489 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 48 f. Marko Milanović, “State Responsibility for Genocide: A Follow-up”, in: EJIL 2007, Vol. 18 No. 4, S. 669-694 (686), https://academic.oup.com/ejil/article/18/4/669/453793?login=true. 490 Tams, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article I, Rdnr. 49. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 104 Art. IV: „Personen, die Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen begehen, sind zu bestrafen, gleichviel, ob sie regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“ Art. V: „Die vertragschließenden Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Verfassungen, die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Konvention sicherzustellen und insbesondere wirksame Strafen für Personen vorzusehen, die sich des Völkermordes oder einer der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen schuldig machen.“ Art. VI: „Personen, denen Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen zur Last gelegt wird, werden vor ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist, oder vor das internationale Strafgericht gestellt, das für die vertragschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist.“ Die Pönalisierung des Völkermordes ist auf internationaler Ebene durch die Artikel 5 und 6 des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH-Statut)491 – dessen Gerichtsbarkeit auch das Verbrechen des Völkermordes umfasst – und auf nationaler Ebene durch § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches492 (vormals § 220a StGB) umgesetzt worden. Das in § 6 VStGB unter Strafe gestellte Verbrechen des Völkermordes ist hinsichtlich der Formulierung des Tatbestandes deckungsgleich mit Art. II der Völkermordkonvention. Den Tatbestand des „Ethnozids“ kennt das Völkerstrafrecht zwar nicht explizit. Gesetzessystematisch „gleichrangig“ neben dem Verbrechen des Völkermordes (§ 6 VStGB) steht allerdings der Straftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB), der auch ius cogens abbildet . Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt gem. § 7 Abs. 1 Nr. 10 VStGB bereits, wer „eine identifizierbare Gruppe oder Gemeinschaft verfolgt, indem er ihr aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen (…) grundlegende Menschenrechte entzieht oder diese wesentlich einschränkt.“ Diese Vorschrift findet ihre internationale strafrechtliche Entsprechung in Art. 7 Abs. 1 lit. h) des IStGH-Statuts. 491 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, deutsche Übersetzung abrufbar unter: https://www.un.org/Depts/german/internatrecht/roemstat1.html. 492 Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 2002 (BGBl. I S. 2254), https://www.gesetze-iminternet .de/vstgb/VStGB.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 105 3.6.2. Universelle Strafverfolgung Anders als das Verbot des Völkermordes in Art. I der Völkermordkonvention gehört die völkerrechtliche Pflicht, dieses Verbrechen auch strafrechtlich zu ahnden, nach Auffassung des IGH nicht zum zwingenden Völkerrecht (ius cogens).493 Aus dem Verbot des Völkermordes folgt auch nicht automatisch ihre universelle gerichtliche Verfolgbarkeit. Es existiert per se kein allgemeiner Rechtssatz des Völkerrechts, wonach die universell anerkannten Völkerstraftaten (z.B. Völkermord , Verbrechen gegen die Menschlichkeit) gleichzeitig auch der unbeschränkten Gerichtsbarkeit aller Staaten unterliegen.494 Selbst die Völkermordkonvention selbst sieht kein universelles Bestrafungsrecht vor. Eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Durchführung eines Strafprozesses ergibt sich nach Art. VI der Völkermordkonvention nur in Bezug auf den Staat, auf dessen Gebiet sich der Völkermord ereignet hat, es sei denn, die Gerichtsbarkeit ist auf ein internationales Gericht (z.B. den IStGH) übergegangen.495 Ansonsten bestimmen die übrigen Vertragsstaaten der Völkermordkonvention selbst, ob und inwieweit sie die Zuständigkeit zur Strafverfolgung eines Völkermordverbrechens , das sich in einem anderen Staat ereignet, ausüben wollen. Mittlerweile haben zahlreiche Staaten – darunter Deutschland – das sog. „Weltrechtsprinzip“ (oder „Weltrechtspflegeprinzip“) als Zuständigkeitsnorm für die Verfolgung internationaler Kernverbrechen (sog. core crimes wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) in ihre nationalen Strafgesetze aufgenommen. So lässt sich heute wohl davon ausgehen, dass eine völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Regel die universelle Strafverfolgung von Kernverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip gestattet.496 3.6.3. Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof Die Volksrepublik China ist nicht Mitglied des sog. Rom-Statuts,497 was eine völkerstrafrechtliche Befassung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) mit der Situation der Uiguren in der westchinesischen Provinz Xinjiang im Prinzip ausschließt (vgl. Art. 12 ff. IStGH-Statut). Die 493 Urteil des IGH vom 14. Februar 2002 (DR Kongo gegen Belgien), ICJ Rep. 2002, S. 3, https://www.icjcij .org/public/files/case-related/121/121-20020214-JUD-01-00-EN.pdf. 494 Caroline Volkmann, „Die Strafverfolgung des Völkermordes nach dem Weltrechtsprinzip im internationalen Strafrecht und im Völkerstrafrecht“, Frankfurt: Lang 2009, S. 375. 495 Schiffbauer in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Art. VI Rdnr. 26 ff., 58. Die Völkermordkonvention postuliert also unausgesprochen den strafrechtlichen Grundsatz aut dedere aut iudicare. 496 Caroline Volkmann, „Die Strafverfolgung des Völkermordes nach dem Weltrechtsprinzip im internationalen Strafrecht und im Völkerstrafrecht“, Frankfurt: Lang 2009, S. 272. 497 Eine Liste der Mitgliedstaaten des IStGH-Statuts findet sich unter: https://asp.icccpi .int/en_menus/asp/states%20parties/Pages/states%20parties%20_%20chronological%20list.aspx. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 106 Möglichkeit, dass der VN-Sicherheitsrat dem IStGH eine Angelegenheit unterbreitet (vgl. Art. 13 lit. b) IStGH-Statut), würde mit Blick auf die causa der Uiguren am Veto des ständigen Sicherheitsratsmitglieds China scheitern. Dass der Ankläger des IStGH – der britische Jurist Karim Khan folgt im Sommer 2021 auf die Chefanklägerin Fatou Bensouda aus Gambia – in Sachen „Uiguren“ gem. Art. 13 lit. c) i.V.m. Art. 15 IStGH-Statut aus eigener Initiative (proprio motu) tätig wird, ist ausgeschlossen, da die Vorverfahrenskammer des IStGH die dafür notwendige Genehmigung (vgl. Art. 15 Abs. 3 und 4 IStGH-Statut) nur dann erteilt, wenn sie der Auffassung ist, die Angelegenheit unterfiele der Gerichtsbarkeit des IStGH. Dies ist bei einer Situation, die sich allein auf dem Territorium eines Nicht-Mitgliedstaats des IStGH-Statuts abspielt, nicht der Fall. Ungeachtet dessen haben Exil-Uiguren in letzter Zeit versucht, die Situation ihrer Landsleute in Xinjiang dem IStGH in Den Haag zu unterbreiten.498 Sie beriefen sich dabei auf die Möglichkeit einer Jurisdiktion des IStGH für grenzüberschreitende Verbrechen, sofern nur einer der betroffenen Staaten Mitglied des Rom-Statuts ist. Hintergrund der Argumentation der Exil-Uiguren ist eine Jurisdiktionsentscheidung des IStGH aus dem Jahre 2019 im Fall der Rohingya in Myanmar .499 Der IStGH bejahte damals im Grundsatz seine Zuständigkeit für die Untersuchung von mutmaßlichen Verbrechen, die von myanmarischen Beamten – Myanmar ist kein Mitglied des Rom-Statuts – gegenüber den Rohingyas in Bangladesch begangen wurden, das wiederum zu den Mitgliedstaaten des Rom-Statuts gehört.500 Die Exil-Uiguren verwiesen in diesem Zusammenhang auf – vermeintlich – gewaltsame Deportationen von Angehörigen ihrer Volksgruppe von China nach Tadschikistan und Kambodscha; beide Staaten sind im Gegensatz zu China Mitglieder des IStGH-Statuts. Die (nicht-staatliche) Exilvertretung der Uiguren – East Turkistan Government in Exile501 – führt in einer Presseerklärung aus: 498 The Guardian, 7. Juli 2020, „Exiled Uighurs call on ICC to investigate Chinese 'genocide' in Xinjiang “,https://www.theguardian.com/world/2020/jul/07/exiled-uighurs-call-on-icc-to-investigate-chinesegenocide -in-xinjiang. 499 The Guardian, 6. September 2018, “ICC says it can prosecute Myanmar for alleged Rohingya crimes”, https://www.theguardian.com/world/2018/sep/06/icc-says-it-can-prosecute-myanmar-for-alleged-rohingyacrimes . 500 Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation in the People’s Republic of Bangladesh/Republic of the Union of Myanmar, ICC-01/19-27, 14 November 2019, Pre-Trial Chamber III, abrufbar unter: https://www.icc-cpi.int/CourtRecords/CR2019_06955.PDF. 501 Die staatlichen Unabhängigkeitsbestrebungen der Uiguren sind eng verknüpft mit der Geschichte Ostturkestans, das auf dem Gebiet der heutigen Autonomen Region Xinjiang (VR China) den dort beheimateten Turkvölkern im 20. Jhd. für wenige Jahre eine staatliche Heimstatt bot – die (Erste) Islamische Republik Ostturkestan von 1933- 1934 und die (Zweite) Republik Ostturkestan von 1944-1949. Vgl. zur Geschichte Ostturkestans die Homepage des Weltkongresses der Uiguren, https://www.uyghurcongress.org/de/east-turkestan/ sowie der Exilvertretung https://east-turkistan.net/east-turkistan-at-a-glance/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 107 “The Complaint has been submitted in light of, and relies on, the decisions of ICC Pre-Trial Chambers I and III of 6 September 2018 and 14 November 2019 respectively (decisions related to Bangladesh and Myanmar in reference to Rohingya people), which clarified that the Court may exercise jurisdiction over international crimes under Article 12 (2) (a) of the Statute when part of the criminal conduct takes place on the territory of a signatory. In this case, Tajikistan and Cambodia. The Crimes committed against the Uyghur people have been widespread and systematic. They have taken place on a mass scale and should therefore all be investigated in order to ascertain whether the alleged perpetrators can be charged and tried. As the Court held in the Rohingya cases , continuing crimes that commence on the territory of an ICC State Party come within the jurisdiction of the Court and can be investigated. These crimes include Genocide and Crimes Against Humanity.“502 Über die Tragfähigkeit der Argumentation der Exil-Uiguren im Falle möglicher chinesischer Deportationen nach Tadschikistan lässt sich – schon mangels Vergleichbarkeit der Fallgestaltungen – kaum mehr als spekulieren; in der völkerrechtlichen Debatte wird die Möglichkeit einer Jurisdiktion des IStGH über Nicht-Mitgliedstaaten des Rom-Statuts wohl eher für abwegig gehalten.503 3.6.4. Verfahren vor nationalen Strafgerichten Gem. § 1 VStGB gilt das Völkerstrafgesetzbuch „für alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht; für Taten nach den §§ 6 bis 12 auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist.“ § 1 VStGB ist – was den Anwendungsbereich des Völkerstrafgesetzbuchs angeht – Ausdruck des sog. „Weltrechtsprinzips“. Zur Ausübung der Weltrechtspflege bedarf es keines weiteren inländischen Anknüpfungspunktes im Sinne des Territorialitäts- oder Personalitätsprinzips (also Tatort, Staatsangehörigkeit bzw. Wohnsitz von Täter oder Tatopfer). Vielmehr bildet das Weltrechtsprinzip als Mittel der Durchsetzung der gemeinsamen Interessen der Staaten selbst einen legitimierenden Anknüpfungspunkt .504 Ein Verstoß gegen das – die extraterritoriale Strafrechtsanwendung begrenzende – völkerrechtliche Nichteinmischungsprinzip ist darin nicht zu sehen, denn bei den §§ 6-12 VStGB 502 “Uyghur Genocide and Crimes Against Humanity: Credible Evidence submitted to ICC for the first time asking for investigation of Chinese officials”, https://east-turkistan.net/press-release-uyghur-genocide-and-crimesagainst -humanity-credible-evidence-submitted-to-icc-for-the-first-time-asking-for-investigation-of-chineseofficials /. 503 Vgl. Douglas Guilfoyle, “Is the International Criminal Court destined to pick fights with non-state parties?”, Blog of the European Journal of International Law, 14. Juli 2020, https://www.ejiltalk.org/is-the-internationalcriminal -court-destined-to-pick-fights-with-non-state-parties/. 504 Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 1 VStGB, Rdnr. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 108 handelt es sich um die völkerstrafrechtlichen Kernverbrechen („core crimes“), deren Verfolgung im Interesse der Menschheit liegt.505 Das Weltrechtsprinzip ist mittlerweile durch eine entsprechende Staatenpraxis gefestigt und für Kernverbrechen (wie Folter, Völkermord) durch entsprechende völkerrechtliche Verträge explizit (vgl. Art. 5 Abs. 2 der Antifolterkonvention) oder implizit (vgl. Art. IV Völkermordkonvention) anerkannt.506 Das Weltrechtsprinzip ermöglicht damit auch eine Zuständigkeit deutscher Strafgerichte für Strafverfahren gegen ausländische Delinquenten, sofern diese wegen Völkermords oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutschland angeklagt werden sollen. 3.6.5. Exkurs: Zum Unterschied zwischen Völkermordverfahren vor nationalen Strafgerichten und Völkermordverfahren vor dem IGH Wie bereits erläutert wurde (s.o. 3.3.1.), ist der IGH berufen, Streitigkeiten zwischen Staaten zu klären. Die Völkermordkonvention richtet sich an die Vertragsstaaten, die durch sie völkerrechtlich verpflichtet werden. Gem. Art. IX der Völkermordkonvention kann der IGH, sofern die Jurisdiktion nicht ausgeschlossen wurde, über die Auslegung, Anwendung oder Durchführung der Konvention entscheiden. Im Zentrum steht die Frage der Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord. Der IGH verurteilt keine natürlichen Personen, sondern allein Staaten. Allein der IGH kann rechtsverbindlich feststellen, ob ein Staat für Völkermord verantwortlich ist und nur der IGH besitzt die Autorität, die Völkermordkonvention verbindlich auszulegen. Anders gestaltet sich die Rechtslage, wenn sich nationale Strafgerichte mit dem Thema „Völkermord “ befassen. Gesetzliche Grundlage für die Strafbarkeit von natürlichen Personen bildet nicht die Völkermordkonvention – diese verpflichtet die Vertragsstaaten lediglich zur Pönalisierung des Völkermords – sondern nur die nationalen Strafgesetze. Strafgerichte legen folglich nicht die Völkermordkonvention aus, sondern (nur) das nationale Strafgesetz. Dies können sie in autonomer Weise tun. Ein Strafgericht entscheidet nicht über die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines anderen Staates – Staaten genießen gewohnheitsrechtlich Immunität vor den Gerichten anderer Staaten – sondern allein über die Strafbarkeit des Verhaltens eines mutmaßlichen Delinquenten. Die Strafgerichte prüfen in diesem Zusammenhang, ob dieser den Tatbestand des Völkermordes in objektiver Hinsicht verwirklicht hat, ob er Vorsatz (subjektiver Tatbestand) gehabt hat, ob sein Handeln möglicherweise gerechtfertigt ist (z.B. durch Befehlsnotstand) und ob ihn eine persönliche Schuld trifft. 505 Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, München: Beck, 3. Auflage 2018, § 1 VStGB, Rdnr. 1, 11 ff. 506 So Lars Berster / Björn Schiffbauer, „Völkermord im Nordirak?“, in: ZaöRV 2014, S. 847-872 (870), https://www.zaoerv.de/74_2014/74_2014_4_a_847_872.pdf. Caroline Volkmann, „Die Strafverfolgung des Völkermordes nach dem Weltrechtsprinzip im internationalen Strafrecht und im Völkerstrafrecht“, Frankfurt: Lang 2009, S. 107 ff. (128 ff.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 109 Das (potentielle) Urteil eines Strafgerichts klärt juristisch nur die Frage, ob sich eine natürliche Person wegen Völkermordes in einer konkreten Situation strafbar gemacht hat. Die Einschätzungen eines nationalen Strafgerichts sind – anders als die des IGH – nur im nationalen Rechtsraum verbindlich. Das bedeutet auch, dass das Strafgericht eines anderen Staates die Strafbarkeit eines anderen Delinquenten in einer vergleichbaren Konstellation anders beurteilen kann. 3.6.6. Völkerrechtliche Immunität als Verfahrenshindernis Die Frage, inwieweit sich die völkerrechtliche Immunität von staatlichen Hoheitsträgern bzw. von ehemaligen oder amtierenden Repräsentanten des Staates als Verfahrenshindernis für Strafverfahren gegen diese auswirkt,507 ist seit der Pinochet-Entscheidung des House of Lords aus dem Jahre 1999 Gegenstand einer kaum mehr überschaubaren völkerrechtlichen Literatur,508 sowie zahlreicher nationaler und internationaler Gerichtsentscheidungen. Die International Law Commission hat 2017 die Draft Articles on Immunity of State Officials from Foreign Criminal Jurisdiction verabschiedet,509 die – ähnlich wie die Draft Articles on State Responsibility von 2001 – weitgehend Völkergewohnheitsrecht wiederspiegeln. Die ILC-Draft Articles on Immunity of State Officials lauten: Art. 3: “Heads of State, Heads of Government and Ministers for Foreign Affairs enjoy immunity ratione personae from the exercise of foreign criminal jurisdiction.” Art. 4: “Heads of State, Heads of Government and Ministers for Foreign Affairs enjoy immunity ratione personae only during their term of office. Such immunity ratione personae covers all acts performed, whether in a private or official capacity, by Heads of State, Heads of Government and Ministers for Foreign Affairs during or prior to their term of office. The cessation of immunity ratione personae is without prejudice to the application of the rules of international law concerning immunity ratione materiae.” 507 Vgl. dazu grundlegend Christian Appelbaum, „Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen“, Berlin: Duncker 2007. Ramona Pedretti (Hrsg.), Immunity of Heads of State and State Officials for International Crimes, Amsterdam: Brill Publ. 2014, https://brill.com/view/title/26871. 508 Vgl. etwa Rosanne van Alebeek, “National Courts, International Crimes and the Functional Immunity of State Officials”, in: Netherlands International Law Review (NILR) 2012, S. 5-41, https://link.springer.com/content/pdf/10.1017/S0165070X12000022.pdf. Andrew Sanger, “Immunity of State Officials from the criminal jurisdiction of a foreign state”, in: International & Comparative Law Quarterly (ICLQ) 2013, S. 193-224, https://www.cambridge.org/core/journals/internationaland -comparative-law-quarterly/article/i-immunity-of-state-officials-from-the-criminal-jurisdiction-of-a-foreignstate /92D5ECD4A8DBC5EBE501FC6A6D999355. Brigitte Stern, “Can a State or a Head of State claim the Benefit of Immunities in Case an International Crime has been committed?”, in: ILSA Journal of International & Comparative Law Vol. 14 (2008), S. 441-449, https://core.ac.uk/reader/80036960. 509 Report of the International Law Commission, 69th session (2017), Chapter VII: Immunity of State officials from foreign criminal jurisdiction, UN-Doc. A/72/10, S. 163-191 (175 ff.), https://undocs.org/pdf?symbol=en/a/72/10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 110 Art. 5: “State officials acting as such enjoy immunity ratione materiae from the exercise of foreign criminal jurisdiction.” Art. 6: “State officials enjoy immunity ratione materiae only with respect to acts performed in an official capacity. Individuals who enjoyed immunity ratione personae in accordance with draft article 4, whose term of office has come to an end, continue to enjoy immunity with respect to acts performed in an official capacity during such term of office.” Vor diesem Hintergrund lassen sich einige grundlegende Aussagen zum Immunitätsrecht machen: Die Immunität von Staatsorganen gegenüber ausländischer Strafgewalt gilt gewohnheitsrechtlich und leitet sich aus dem Grundsatz der Staatenimmunität ab. Weil Staaten durch ihre Organe handeln, genießen diese für ihr hoheitliches (amtliches) Handeln, das insoweit dem Staat zugerechnet wird, die sog. funktionelle Immunität (ratione materiae). Diese ist abzugrenzen von der persönlichen Immunität (ratione personae), die nur besonders privilegierten (und amtierenden ) Staatsorganen zukommt, die am diplomatischen Verkehr teilnehmen. Dazu zählen Diplomaten (nach Art. 31 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen von 1961) sowie – völkergewohnheitsrechtlich – auch hohe Repräsentanten des Staates (Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister).510 Während der Amtszeit dieser Personen stehen beide Immunitäten grundsätzlich nebeneinander und gewähren den Staatsvertretern größtmögliche (absolute) Immunität: Sie sind somit sowohl für hoheitliches als auch für privates Handeln jeder fremden Staatsgewalt entzogen. Nach dem Ende der Amtszeit endet die Immunität ratione personae . Allerdings besteht die funktionale Immunität (ratione materiae) grundsätzlich auch nach Beendigung der Amtszeit fort und gewährt somit auch ehemaligen Amtsträgern weiterhin Schutz vor Strafverfolgung für die während der Amtszeit begangenen Taten.511 §20 des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)512 spiegelt diese Rechtslage wider: „(1) Die deutsche Gerichtsbarkeit erstreckt sich auch nicht auf Repräsentanten anderer Staaten und deren Begleitung, die sich auf amtliche Einladung der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten. (2) Im übrigen erstreckt sich die deutsche Gerichtsbarkeit auch nicht auf […] Personen, soweit sie nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften von ihr befreit sind.“ 510 Vgl. zur Ausdehnung der Immunität auf andere Fachminister Johanna Horsthemke, „Immunitäten für Staatsoberhäupter und hochrangige Regierungsmitglieder vor dem IStGH“, Berlin: Duncker 2019, S. 154 ff. Nationale Gerichte haben zum Teil auch Fachministern Immunität ratione personae zugesprochen, vgl. den Fall des israelischen Verteidigungsministers Mofaz, Judgment of UK Bow Street Magistrates Court, ILDC 97 (UK 2004), 12 February 2004 sowie den Fall des Wirtschaftsministers und Mitglieds des Politbüros der KP China Re Bo Xilai, Judgment of UK Bow Street Magistrates Court, ILDC 429 (UK 2005), 8 November 2005. 511 Schiffbauer in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Art. IV Rdnr. 50. Andreas v. Arnauld, Völkerrecht, Heidelberg: Müller, 4. Aufl. 2019, Rdnr. 328 ff. 512 Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), https://www.gesetze-im-internet.de/gvg/GVG.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 111 Ob bereits Art. IV der Völkermordkonvention, der die Pflicht zur Bestrafung für (amtierende) regierende Personen („responsible rulers“) vorsieht, eine „konventionsspezifische“ Ausnahme vom Immunitätsgrundsatz darstellt, ist kontrovers diskutiert worden.513 Wer Art. IV in diese Richtung interpretiert, muss jedoch bedenken, dass nicht jedes nationale Gericht, sondern nur die Gerichte des Tatortstaates von dem Anwendungsbereich der Norm umfasst sind,514 was die praktische Relevanz deutlich mindert. Mittlerweile besteht rechtlich zunehmend Einigkeit darüber, dass die Immunität von Staatsorganen partiell durchbrochen werden kann, wenn den betreffenden Amtsträgern schwere Menschenrechtsverletzungen (sog. core crimes) zur Last gelegt werden.515 Dabei wird argumentiert, dass Menschenrechtsverletzungen nicht zu den Amtspflichten eines Staatsoberhaupts gehören (dürfen). Hierbei ist streng zwischen der Immunität ratione personae und ratione materiae sowie zwischen amtierenden und ehemaligen Repräsentanten des Staates zu unterscheiden: Während sich der Immunitätsschutz für ehemalige Staatschefs aufzuweichen beginnt (vgl. den Pinochet- Fall), ist eine Verfolgung amtierender Staats- und Regierungschefs wegen völkerrechtlicher Verbrechen gewohnheitsrechtlich derzeit nur durch internationale Gerichte möglich.516 So lehnte der IStGH in seinem Beschluss vom 6. Mai 2019 die Immunität des sudanesischen Staatspräsidenten für Verfahren vor dem IStGH ab: „There is neither State practice nor opinio juris that would support the existence of Head of State immunity under customary international law vis-à-vis an international court”.517 513 Näher Schiffbauer in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck 2014, Art. IV Rdnr. 55, 58. 514 So Johanna Horsthemke, „Immunitäten für Staatsoberhäupter und hochrangige Regierungsmitglieder vor dem IStGH“, Berlin: Duncker 2019, S. 164 m.w.N. Wolfgang Weiß, „Völkerstrafrecht zwischen Weltrechtsprinzip und Immunität“, in: JZ 2002, S. 696-704 (701). 515 Immunity of State Officials from Foreign Criminal Jurisdiction, UN-Doc. A/CN.4/631, Second report on immunity of State officials from foreign criminal jurisdiction, by Mr. Roman Anatolevich Kolodkin, Special Rapporteur, 10. Juni 2010, S. 411 ff., https://legal.un.org/ilc/documentation/english/a_cn4_631.pdf. Eine Übersicht zur neueren Entwicklung findet sich bei Dire Tladi, “The international law commission’s recent work on exceptions to immunity: Charting the course for a brave new world in international law?”, in: Leiden Journal of International Law Vol. 32 (2019), S. 169-187 (186), https://doi.org/10.1017/S0922156518000663. 516 § 27 Abs. 2 IStGH-Statut sieht in diesem Zusammenhang einen regelrechten Immunitätsausschluss vor: „Immunitäten oder besondere Verfahrensregeln, die nach innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“ Näher dazu Johanna Horsthemke, „Immunitäten für Staatsoberhäupter und hochrangige Regierungsmitglieder vor dem IStGH“, Berlin: Duncker 2019, S. 150 ff. 517 The Prosecutor v. Omar Hassan Ahmad Al-Baschir, ICC-02/05-01/09-397, para 1, https://www.icccpi .int/CourtRecords/CR2019_02856.PDF. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 112 Anders stellt sich die Immunitätsfrage dagegen bei Verfahren vor nationalen Strafgerichten. Die Immunität amtierender Staatsoberhäupter dient dabei letztlich der Aufrechterhaltung der Stabilität der internationalen Beziehungen. So hielt der französische Cour de Cassation die Immunität des damaligen amtierenden lybischen Staatsoberhaupts Muammar al Gaddafi, aufrecht. Der belgische Cour de Cassation stellte fest, dass der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Sharon Immunität genieße, solange er im Amt sei.518 Im „Haftbefehl-Fall“ (Arrest Warrant-Case)519 hielt der IGH den belgischen Haftbefehl gegen den kongolesischen Außenminister auch angesichts des Völkermordvorwurfs für unvereinbar mit dem Grundsatz der Immunität hochrangiger Regierungsvertreter gegenüber Gerichten anderer Staaten. Die absolut wirkende Immunität ratione personae auch in Bezug auf ius-cogens- Verbrechen ist in der völkerrechtlichen Literatur unbestritten.520 Immer deutlicher zeichnet sich dagegen die Durchbrechung der funktionellen Immunität ratione materiae z.B. von weniger hochrangigen Staatsbediensteten (z.B. von Offizieren, Polizisten, Sicherheitskräften, Provinzbeamten) ab, sofern diese in Kriegsverbrechen o.ä. verstrickt sind. Deutsche Gerichte hatten in der Vergangenheit mehrfach Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord oder Kriegsverbrechen abgeurteilt, obwohl diese im Ausland an Ausländern verübt wurden.521 In einem vielbeachteten Urteil vom 28. Januar 2021 hat der Bundesgerichtshof (BGH) einen eher unspektakulären Fall von Gewaltexzessen eines ehemaligen Offiziers der afghanischen Armee in Afghanistan zum Anlass genommen, dem Verfahrenshindernis der funktionellen Immunität von Angehörigen ausländischer Streitkräfte eine Absage zu erteilen.522 518 Vgl. näher Salvatore Zappalà, „Do Heads of State in Office Enjoy Immunity from Jurisdiction for International Crimes ? in: EJIL 2001, S. 595-612, https://doi.org/10.1093/ejil/12.3.595. 519 Urteil des IGH vom 14. Februar 2002 (DR Kongo gegen Belgien), ICJ Rep. 2002, S. 3 ff., Rdnr. 51 ff., https://www.icj-cij.org/public/files/case-related/121/121-20020214-JUD-01-00-EN.pdf. Vgl. dazu Sigrid Zeichen / Johannes Hebenstreit, „Kongo v. Belgien. Sind Außenminister vor Strafverfolgung wegen völkerstrafrechtlicher Verbrechen immun?,“ in: Archiv des Völkerrechts 2003, S. 182-200. 520 Vgl. etwa Dapo Akande / Sangeeta Shah, “Immunities of State Officials, International Crimes, and Foreign Domestic Courts”, in: The European Journal of International Law (EJIL) Vol. 21 No. 4 (2011), S. 815-852 (819 f.), http://www.ejil.org/pdfs/21/4/2115.pdf. 521 So wurden ein Angehöriger der örtlichen serbischen Streitkräfte und der Leiter einer örtlichen Polizeistation wegen Beihilfe zum Völkermord sowie weiterer Delikte verurteilt (s. BGH, Beschluss vom 21. Februar 2001 - 3 StR 244/00, NJW 2001, 2732; BayObLG, Urteile vom 23. Mai 1997 - 3 St 20/96, NJW 1998, 392; vom 15.12.1999 - 6 St 1/99). Im Übrigen stand der Verurteilung eines ruandischen Bürgermeisters wegen Völkermords dessen frühere Position ebenfalls nicht entgegen (s. BGH, Urteil vom 21. Mai 2015 - 3 StR 575/14, JZ 2016, 103; OLG Frankfurt, Urteil vom 29. Dezember 2015 - 4 - 3 StE 4/10 - 4 - 1/15, juris).“ 522 BGH Urteil vom 28. Januar 2021, Az.: 3 StR 564/19, abrufbar unter https://rewis.io/service/pdf/urteile/cff-28-01- 2021-3-str-56419.pdf. Vgl. dazu Legal Tribune Online (LTO) vom 28. Januar 2021, „BGH zum Völkerstrafrecht: Mutmaßliche Kriegsverbrecher können in Deutschland verurteilt werden“, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bgh-3-str-564- 19-voelkerstrafrecht-keine-immunitaet-fuer-staatliche-funktionstraeger-armeeangehoerige-nachkriegsverbrechen /. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 113 Dabei sah sich der BGH nicht nur auf einer Linie mit der völkerrechtlichen Literatur, die eine funktionelle Immunität bei Völkerrechtsverbrechen zumindest mit Blick auf nachgeordnete Hoheitsträger zunehmend ablehnt;523 der BGH beruft sich ausdrücklich auf die Arbeiten der International Law Commission, die 2017 die bereits erwähnten Draft Articles on Immunity of State Officials from Foreign Criminal Jurisdiction verabschiedet hat. Art. 7 der Draft Articles, der allerdings innerhalb der ILC ausgesprochen kontrovers diskutiert und nur mit knapper Mehrheit verabschiedet wurde, schließt dabei die funktionelle Immunität von Hoheitsträgern mit Blick auf bestimmte Kernverbrechen explizit aus:524 “Immunity ratione materiae from the exercise of foreign criminal jurisdiction shall not apply in respect of the following crimes under international law: (a) crime of genocide; (b) crimes against humanity; (c) war crimes; (d) crime of apartheid; (e) torture; (f) enforced disappearance.” Spekulationen über etwaige Strafverfahren in Deutschland, welche die Behandlung der Uiguren in Xinjiang zum Gegenstand haben, soll an dieser Stelle kein Vorschub geleistet werden. Zumindest erscheint es rechtlich möglich, dass sich chinesische Funktionäre aus Xinjiang – die von der EU allerdings gerade mit Einreiseverboten belegt wurden – oder Angehörige des Wachpersonals in den chinesischen Internierungslagern wegen Verstößen gegen das Völkerstrafgesetzbuch vor deutschen Strafgerichten verantworten müssen. Eine Berufung auf den Grundsatz der funktionellen Immunität (ratione materiae) dürfte mit Blick auf das jüngste BGH-Urteil erschwert sein. 3.7. Zur Befassung der Vereinten Nationen mit der Genozidfrage Zu den klassischen Instrumenten des Menschenrechtsschutzes gehört die Herstellung von Öffentlichkeit (sog. „naming and shaming“). Nachfolgend erörtert werden die rechtlichen sowie politischen Implikationen einer Befassung von VN-Organen mit der Genozidfrage. 523 Kai Ambos, in: MüKo-StGB, 4. Aufl., vor § 3 Rdnr. 135 ff. Gerhard Werle / Florian Jeßberger, Völkerstrafrecht, Tübingen: Mohr, 5. Aufl., 2020, Rdnr. 811; Claus Kreß, in: Ambos (Hrsg.), “Rome Statute of the International Criminal Court”, München: Beck, 4. Aufl. 2021, Art. 98 Rdnr. 31 f. Ramona Pedretti, “Immunity of Heads of State and State Officials for International Crimes”, M. Nijhoff Publ. 2014, S. 307 f.; zurückhaltend dagegen Huang Huikang, “On Immunity of State Officials from Foreign Jurisdiction ”, in: Chinese Journal of International Law 2014, S. 1-11, https://academic.oup.com/chinesejil/article/13/1/1/292137?login=true. 524 Draft Article 7, ILC Draft Articles on the Immunity of State Officials from Foreign Criminal Jurisdiction (provisionally adopted by the Commission), Report of the International Law Commission, 69th session (2017), Chapter VII: Immunity of State officials from foreign criminal jurisdiction, UN-Doc. A/72/10, S. 177, https://undocs.org/pdf?symbol=en/a/72/10. Vgl. dazu näher Dire Tladi, “The international law commission’s recent work on exceptions to immunity: Charting the course for a brave new world in international law?”, in: Leiden Journal of International Law Vol. 32 (2019), S. 169-187 (180 f.), https://doi.org/10.1017/S0922156518000663. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 114 Die Achtung der Menschenrechte gehört zwar zu den Zielen der Vereinten Nationen (vgl. Art. 1 Ziff. 3 VN-Charta), doch kennt das Völkerrecht – aus Rücksicht auf die Staatensouveränität – nur wenige vertraglich vorgezeichnete Wege, auf denen ein Staat die Weltgemeinschaft formal mit einer Menschenrechtsverletzung in einem anderen Staat befassen kann. Art. VIII der Völkermordkonvention sieht das Recht jedes Vertragsstaats vor, sich an die in Art. 7 VN-Charta erwähnten Organe der VN zu wenden.525 Dies ist insoweit bedeutsam, als sich die Verpflichtungen der Völkermordkonvention allein an die Staaten, nicht aber auch an die Weltorganisation richten.526 Art. VIII Völkermordkonvention lautet: „Eine Vertragschließende Partei kann die zuständigen Organe der Vereinten Nationen damit befassen , gemäß der Charta der Vereinten Nationen die Maßnahmen zu ergreifen, die sie für die Verhütung und Bekämpfung von Völkermordhandlungen oder einer der sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen für geeignet erachten.“ Die Vorschrift bringt verfahrensrechtlich jedoch keinen entscheidenden Vorteil. Ein anderer Weg, die VN direkt ins Spiel zu bringen, ergibt sich vielmehr aus Art. 35 Abs. 1 VN-Charta:527 „Jedes Mitglied der Vereinten Nationen kann die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats oder der Generalversammlung auf jede (…) Situation der in Artikel 34 bezeichneten Art lenken, [die zu internationalen Reibungen führen oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte].“ Wie die Vereinten Nationen auf die Mitteilung eines VN-Mitgliedstaates reagieren, bleibt im Ermessen der Weltorganisation; Anspruch auf eine bestimmte Reaktion besteht nicht.528 3.7.1. VN-Sicherheitsrat Der VN-Sicherheitsrat hat sich angesichts von Völkermordsituationen nicht immer leicht damit getan, seiner Verantwortung für die internationale Sicherheit (Art. 24 VN-Charta) nachzukom- 525 So Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article VIII, Rdnr. 24. 526 Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article VIII, Rdnr. 2. 527 Vgl. zum Verhältnis der beiden Normen ebda., Article VIII, Rdnr. 18 f. Die Völkermordkonvention sieht den vielleicht erfolgversprechenderen Weg vor, die VN für Genozid-Situationen „ins Boot zu holen“. 528 Vgl. näher Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article VIII, Rdnr. 13 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 115 men.529 Die Handlungsmöglichkeiten des Sicherheitsrats sind besonders dann eingeschränkt, wenn die menschenrechtliche Situation, um die es geht, die Macht- und Interessenssphäre eines seiner ständigen Mitglieder berührt. Ein ständiges Sicherheitsratsmitglied kann jede potentielle Resolution des Sicherheitsrats durch Einlegen eines Vetos verhindern (vgl. Art. 27 Abs. 3 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 VN-Charta). Ein informelles und flexibles Sitzungsformat, bei dem auch das Thema „Uiguren in Xinjiang“ aufgegriffen werden könnte, bilden die sog. „Arria-Formel-Sitzungen“. Diese werden in der Regel von einem oder mehreren Mitgliedern des Rats organisiert, sind aber formal gesehen keine Sitzungen des VN-Sicherheitsrats. Deutschland hat als nicht-ständiges Sicherheitsratsmitglied (2019-2020) mehr als 15 „Arria-Sitzungen“ (mit-)organisiert und hochrangig begleitet (z.B. 2019 zur Krim, sonst eher zu Querschnittsthemen). Der „Mehrwert“ dieser Sitzungen besteht in der Möglichkeit einer Zusammenarbeit des VN-Sicherheitsrats mit Staatenvertretern, die nicht selbst im Sicherheitsrat vertreten sind, sowie mit Sachverständigen und Vertretern der Zivilgesellschaft .530 3.7.2. VN-Generalversammlung und Generalsekretariat In der VN-Generalversammlung wurden immer wieder länderspezifische Situationen auf die politische Agenda gesetzt, bei denen auf Betreiben einzelner Mitgliedstaaten der Vorwurf des Völkermordes im Raum stand.531 Mehrheitsfähig war u.a. eine Resolution aus dem Jahre 1982, in der Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung als Genozid bezeichnet wurden.532 529 So sah sich der Sicherheitsrat angesichts des Völkermordes in Ruanda 1994 zunächst außerstande, eine entsprechende Resolution zu verabschieden; vgl. dazu näher Schabas, William A., Genocide in International Law, Cambridge Univ. Press, 2. Aufl. 2009, S. 547 ff.; Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: 2014, Article VIII, Rdnr. 30. 530 Vgl. dazu näher Melanie Coni-Zimmer / Anton Peez, „Deutschland im UN-Sicherheitsrat: Arria-Formel- Sitzungen als Instrument der Krisenbewältigung und -prävention“, PRIF-Blog (Peace Research Institute, Frankfurt / HSFK), 19. Juni 2019, https://blog.prif.org/2019/06/19/deutschland-im-un-sicherheitsrat-arriaformel -sitzungen-als-instrument-der-krisenbewaeltigung-und-praevention/. 531 Vgl. zur Praxis der Generalversammlung Schiffbauer, in: Tams/Berster/Schiffbauer (Hrsg.), Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. A Commentary, München: Beck u.a. 2014, Article VIII, Rdnr. 28. 532 Vgl. A/Res/37/123 vom 16. Dezember 1982 - The situation in the Middle East, https://unispal.un.org/UNISPAL.NSF/0/FAABB796990CF95A852560D9005240CF “Condemns in the strongest terms the large-scale massacre of Palestinian civilians in the Sabra and Shatila refugee camps (…). Resolves that the massacre was an act of genocide.” Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 116 Solche Resolutionen sind aber – im Gegensatz zu den unter Kapitel VII der VN-Charta verabschiedeten Resolutionen des Sicherheitsrats – völkerrechtlich nicht bindend.533 Das Generalsekretariat der VN (vgl. Art. 97 ff. VN-Charta) hat sich u.a. mit der menschenrechtlichen Situation im ehemaligen Jugoslawien, in Ruanda und in Dafur befasst. Im Jahre 2004 schuf der damalige Generalsekretär Kofi Annan das Amt eines Special Adviser of the Secretary-General on the Prevention of Genocide, der einen Frühwarnmechanismus zur Erkennung von potentiellen Genozid-Situationen entwickelt hat.534 3.7.3. VN-Menschenrechtsrat Der 2006 als Nachfolger der VN-Menschenrechtskommission eingesetzte VN-Menschenrechtsrat (United Nations Human Rights Council, kurz: UNHRC) ist das im Bereich der Menschenrechte zuständige Hauptorgan der VN.535 Die 47 Mitglieder des Menschenrechtsrats werden von der Generalversammlung für jeweils drei Jahre gewählt; Deutschland ist noch bis 2022, die Volksrepublik China bis 2023 im Rat vertreten. Zu den Instrumenten des Menschenrechtsrats gehört das bereits 1967 durch die VN-Menschenrechtskommission etablierte System der Spezialverfahren («Special Procedures»),536 bei denen unabhängige Experten/innen mit der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Staaten (Ländermandate) oder mit der Einhaltung ausgewählter Menschenrechte (thematische Mandate) betraut sind. Der VN-Menschenrechtsrat hat sich bereits mit der Situation der Uiguren in der westchinesischen Provinz Xinjiang befasst. In einem Aufruf der Arbeitsgruppe „Wirtschaft und Menschenrechte “, der mehrere vom VN-Menschenrechtsrat benannte Menschenrechtsexperten/innen angehören , äußert sich der Sprecher der Arbeitsgruppe diplomatisch: 533 Vgl. näher Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste, „Zur Frage der Rechtsverbindlichkeit von VN- Resolutionen des Sicherheitsrats und der Generalversammlung“, WD 2 – 3000 – 097/20, https://www.bundestag.de/resource/blob/814850/01532964412de94aa450b981a7c4fdea/WD-2-097-20-pdfdata .pdf. 534 Vgl. näher Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel: Helbing, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 878. Special Adviser ist derzeit die Kenianerin Alice Wairimu Nderitu, vgl. die VN-Homepage des Office on Genocide Prevention and the Responsibility to Protect, https://www.un.org/en/genocideprevention/. 535 Näher Kälin/Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, Basel: Helbing, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 703. 536 Die von der Menschenrechtskommission entwickelten Spezialverfahren befassen sich mit der Menschenrechtssituation in einem bestimmten Staat oder mit einem bestimmten, international virulenten Menschenrechtsthema . Die Mandate sind entweder länderspezifisch oder thematisch. Aufgabe der Mandatsträger ist die regelmäßige Beobachtung der Menschenrechtssituation. Sie führen dazu Ländermissionen durch, verfassen Studien und bieten den jeweiligen Staaten Beratung und Hilfe an. Bei gewissen Mandaten ist die Entgegennahme von spezifischen Beschwerden über die Nichteinhaltung von Menschenrechten möglich. Vgl. näher unter: https://www.humanrights.ch/de/ipf/grundlagen/durchsetzungsmechanismen/uno/menschenrechtsrat/specialprocedures /und die Homepage des UNHRC, https://www.ohchr.org/en/hrbodies/sp/pages/welcomepage.aspx. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 117 “We are deeply concerned by these allegations which, if proven, would constitute grave human rights abuses. (…) We stand ready to strengthen our dialogue with the Government of China at the earliest opportunity and welcome the Government’s prompt response to these allegations as well as its willingness to continue the constructive engagement with us. As independent experts appointed by the Human Rights Council, of which China is a State Member, we consider that an official visit to China (including the Xinjiang region) would be the ideal opportunity for such dialogue and to assess the situation for ourselves based on free and unhindered access. (…) While the Government of China justifies its actions relating to the treatment of Uighurs by combatting terrorism and violent extremism, poverty alleviation or development purposes, we nevertheless respectfully urge the Government to immediately cease any such measures that are not fully compliant with international law, norms and standards relating to human rights, including the rights of minorities (…).”537 Die Möglichkeiten des VN-Menschenrechtsrats, auf die Menschenrechtspolitik Chinas in Xinjiang Einfluss zu nehmen, bleiben politisch begrenzt. Als gewähltes Mitglied der einflussreichen Consultative Group des VN-Menschenrechtsrats538 konnte China im vergangenen Jahr zudem Einfluss auf die Nominierung von neuen Sonderberichterstattern und indirekt auch Einfluss auf die Menschenrechtsagenda des Menschenrechtsrats nehmen.539 Eine neue Studie von Human Rights Watch540 listet gleichwohl einen ganzen Katalog mit Empfehlungen und Forderungen an die Vereinten Nationen zwecks Befassung mit der causa „Uiguren “ auf: „The United Nations Human Rights Council should adopt a resolution to create a commission of inquiry with authority to …investigate allegations of crimes against humanity and other human rights abuses against Turkic Muslims in Xinjiang (…); make recommendations to end the abuses; identify responsible officials and provide a road map for holding them accountable; call for appropriate reparations for victims and survivors; and report regularly to the council and other relevant UN bodies. 537 Office of the UN High Commissioner on Human Rights, “China: UN experts deeply concerned by alleged detention , forced labour of Uyghurs”, 29. März 2021, https://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=26957&LangID=E. 538 Die Consultative Group wurde eingesetzt durch Resolution 5/1 des VN-Menschenrechtsrats vom 18. Juni 2007, para 47 – Institution-building of the United Nations Human Rights Council, https://ap.ohchr.org/documents/dpage_e.aspx?si=a/hrc/res/5/1. 539 The Diplomat, 8. April 2020, „China Appointed to Influential UN Human Rights Council Panel”, https://thediplomat.com/2020/04/china-appointed-to-influential-un-human-rights-council-panel/. 540 Human Rights Watch / MillsLegalClinic, “Break Their Lineage, Break Their Roots. China’s Crimes against Humanity Targeting Uyghurs and Other Turkic Muslims”, 19. April 2021, S. 49 f., https://www.hrw.org/report/2021/04/19/break-their-lineage-break-their-roots/chinas-crimes-against-humanitytargeting . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 118 The UN high commissioner for human rights should exercise her independent monitoring and reporting mandate to collect information, speak out publicly on her findings, prepare reports on the human rights situation in Xinjiang, and keep the Human Rights Council regularly informed. The UN secretary-general should publicly voice support for a commission of inquiry into human rights violations in Xinjiang, and publicly and privately urge Chinese authorities to end abuses against Turkish Muslims in Xinjiang. The secretary-general should publicly express support for accountability for those responsible for crimes against humanity in Xinjiang. The UN General Assembly should request that the commission of inquiry into abuses in Xinjiang also present its reports to the General Assembly and that the reports be transmitted to all UN member states and relevant UN bodies. The General Assembly should adopt a resolution that explicitly supports concrete measures for accountability, including targeted sanctions against those responsible for crimes against humanity. Members of the UN Security Council should take action to the extent possible, given China’s position as a permanent member, including by expressing support for a commission of inquiry on human rights violations in Xinjiang, including through an Arria formula meeting.” 3.8. Befassung nationaler Parlamente mit der Frage „Völkermord an den Uiguren“ Durch parlamentarische Resolutionen, in denen bestimmte aktuelle oder historische Vorgänge als „Völkermord“ bezeichnet bzw. politisch verurteilt werden, können nationale Parlamente menschenrechtspolitisch eigene Akzente setzen. So hatte der Deutsche Bundestag mit seiner Resolution vom 2. Juni 2016 die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier im Jahre 1915 als „Völkermord “ bezeichnet.541 541 Deutscher Bundestag, „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“, BT-Drs. 18/8613 vom 31. Mai 2016, https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/086/1808613.pdf. Deutschlandfunk vom 2. Juni 2016, „Bundestag beschließt Armenier-Resolution fast einstimmig“, https://www.deutschlandfunk.de/einstufung-als-voelkermord-bundestag-beschliesstarmenier .2852.de.html?dram:article_id=355908. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 119 3.8.1. Parlamentarische Praxis Zur Situation der Uiguren in Xinjiang haben sich bereits mehrere Parlamente geäußert: Das Parlament von Kanada stellt in seinem Beschluss vom 22. Februar 2021 fest: “(a) in the opinion of the House, the People's Republic of China has engaged in actions consistent with the United Nations General Assembly Resolution 260, commonly known as the "Genocide Convention", including detention camps and measures intended to prevent births as it pertains to Uighurs and other Turkic Muslims; and (b) given that (i) where possible, it has been the policy of the Government of Canada to act in concert with its allies when it comes to the recognition of a genocide, (ii) there is a bipartisan consensus in the United States where it has been the position of two consecutive administrations that Uyghur and other Turkic Muslims are being subjected to a genocide by the Government of the People's Republic of China, the House, therefore, recognize that a genocide is currently being carried out by the People's Republic of China against Uighurs and other Turkic Muslims, call upon the International Olympic Committee to move the 2022 Olympic Games if the Chinese government continues this genocide and call on the government to officially adopt this position.”542 Die Feststellungen des Parlaments der Niederlande in seiner Resolution vom 25. Februar 2021 fallen dagegen knapper aus: „De Kamer, (…) overwegende dat Nederland een voorvechter is van mensenrechten en zich hardmaakt tegen misdrijven tegen de menselijkheid; overwegende dat China zich bezighoudt met handelingen die vallen onder Verenigde Natiesresolutie 260, inclusief het houden van strafkampen en het uitvoeren van maatregelen die bedoeld zijn om geboorten binnen een specifieke groep te voorkomen; spreekt uit dat in China genocide plaatsvindt op de Oeigoerse minderheid (…).“543 Als Reaktion auf die Resolution des niederländischen Parlaments gab die chinesische Regierung folgende Erklärung ab: “In total disregard of facts and common sense, the Xinjiang-related motion passed by the Dutch House of Representatives has deliberately smeared China and grossly interfered in China's internal affairs. The Chinese side strongly condemns and firmly opposes that. (…) 542 House of Commons of Canada / Chambre des Communes du Canada, Vote No. 56, 22 February 2021, Opposition Motion (Religious Minorities in China), https://www.ourcommons.ca/members/en/votes/43/2/56. 543 Tweede Kamer der Staten-Generaal, „Motie van het lid Sjoerdsma c.s. over uitspreken dat in China genocide plaatsvindt op de Oeigoerse minderheid“, 25. Februar 2021, https://www.tweedekamer.nl/kamerstukken/moties/detail?id=2021Z03872&did=2021D08405. Dazu NZZ vom 27. Februar 2021, „Das Parlament der Niederlande wertet die Behandlung der Uiguren in China als Genozid“, https://www.nzz.ch/international/niederlande-bezichtigt-china-des-genozids-an-uigurenld .1603943?mktcid=smsh&mktcval=E-mail. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 120 Genocide is clearly-defined in international law. The Netherlands is renowned for hosting many international law organizations, but by hyping up Xinjiang issue before the Dutch election, some of its parliament members are taking this issue as leverage for political gains, there is no respect for facts and rule of law at all. This fully demonstrates their ignorance and bias towards China, as well as their selfishness and narrowness of mind. Xinjiang-related issues are never about human rights, ethnicity, or religion, but about combating violent terrorism and secession. They are completely China's internal affairs, and tolerate no interfere from any foreign country. The Xinjiang region of China has been earnestly implementing the UN Plan of Action to Prevent Violent Extremism, drawing on similar practices of other countries and taking de-radicalization measures in accordance with law. All this is fully consistent with the principles and spirit of the UN Global Counter-Terrorism Strategy. The so-called concentration camp in Xinjiang with millions of Uyghurs is totally groundless. Thanks to the efforts of the local people of all ethnic groups, there has been no violent terrorist case for more than four years in a row in Xinjiang. The region now enjoys social stability and a sound development momentum. And the local people are living a safe and happy life. The Chinese people have the best say in the human rights situation in China. We strongly urge these parliament members with ulterior motives to stop their wrongdoing before it's too late, stop interfering with China's internal affairs, stop using the Xinjiang-related issue to seek their own interests, stop jeopardizing Sino-Dutch relations. The Chinese side is resolute in safeguarding China's sovereignty, security and development interests, and the attempt to contain China's development through the afore-mentioned Xinjiang-related motion will never succeed.”544 Auch im belgischen Parlament wird derzeit über die Einbringung einer Resolution diskutiert;545 worauf die chinesische Botschaft im Brüssel bereits entsprechend reagiert hat.546 Mittlerweile hat auch das britische Unterhaus eine Resolution verabschiedet, in der das Handeln der chinesischen Regierung als „Völkermord“ bezeichnet wird.547 544 Remarks of the Spokesperson of the Chinese Embassy in the Netherlands on the Xinjiang-related motion passed by the Dutch House of Representatives, 26 February 2021, http://nl.china-embassy.org/eng/xwdt/t1856788.htm. 545 Vgl. die Meldung der Inter-Parlamentarischen Allianz gegen China vom 18. Februar 2021, “Belgian Parliamentarians call for government to declare “genocide” in Xinjiang”, https://ipac.global/belgian-parliamentarians-callfor -government-to-declare-genocide-in-xinjiang-reject-eu-china-cai-deal/. 546 Remark by Spokesperson of the Embassy of China in Belgium on the Xinjiang-related Proposal by Some Members of the Belgian Chamber of Representatives, 12 February 2021, http://be.chineseembassy.org/eng/sghd/t1853867.htm. 547 BBC 23. April 2020, “Uyghurs: MPs state genocide is taking place in China”, https://www.bbc.com/news/ukpolitics -56843368. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 121 3.8.2. Rechtsfragen zu schlichten Parlamentsbeschlüssen Würde der Bundestag eine Resolution betreffend die Situation der Uiguren in Xinjiang ins Auge fassen, so wären im Vorfeld einige rechtliche Fragen zu klären. Als parlamentarische Handlungsform steht dem Deutschen Bundestag der sog. „schlichte“ Parlamentsbeschluss zur Verfügung. Die Kompetenz des Bundestages für solche Beschlüsse ergibt sich zwar nicht ohne weiteres aus Art. 42 Abs. 2 GG548 oder aus § 75 GOBT.549 Teilweise wird die verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Beschlüsse auf eine ungeschriebene verfassungsgewohnheitsrechtliche Grundlage gestützt ;550 zum Teil wird die Kompetenz des Deutschen Bundestags auch aus dem Zusammenspiel der dem Parlament für die Wahrnehmung seiner Aufgaben zugewiesenen Funktionen (insb. der Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion) hergeleitet.551 Mit Blick auf die Kontrollfunktion des Parlaments unterliegen schlichte Parlamentsbeschlüsse – sieht man einmal von verfassungsimmanenten Schranken wie dem Organtreue- oder dem Bundestreueprinzip ab – keinen inhaltlichen Begrenzungen.552 Schlichte Parlamentsbeschlüsse können also ohne weiteres auf den Bereich der auswärtigen Gewalt ausgreifen oder zu menschenrechtlichen Fragen Stellung beziehen. Parlamentarische Resolutionen können das Handeln der Regierung (z.B. die Verhängung von Sanktionen) politisch unterstützen und demokratisch legitimieren. Die chinesische Reaktion auf die „Völkermord“-Resolution des niederländischen Parlaments vom 25. Februar 2021 hat deutlich gemacht, dass solche parlamentarischen Äußerungen außenpolitisch nicht ohne Wirkung bleiben. Im Gegensatz zum konstitutiven Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr wirken schlichte Parlamentsbeschlüsse des Deutschen Bundestags nur politisch. Sie entfalten gegenüber der Exekutive keine rechtliche Bindungswirkung, etwa in Gestalt von verbindlichen Weisungen im Bereich der Außen- und Menschenrechtspolitik.553 548 Art. 42 Abs. 2 GG ist eine rein verfahrensrechtliche Vorschrift, die schlichte Parlamentsbeschlüsse zwar von ihrem Anwendungsbereich her mit umfasst (so Brocker, in: Epping/Hillgruber, Hrsg., Grundgesetz. Kommentar, München: Beck, 3. Aufl. 2020, Art. 42 Rdnr. 17), aber im Grunde nichts zu ihrer Zulässigkeit aussagt. 549 So im Ergebnis Nobert Achterberg, Parlamentsrecht, Tübingen: Mohr 1984, S. 739. 550 Vgl. zur Frage der Zulässigkeit unverbindlicher Parlamentsbeschlüsse Anika D. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Baden-Baden: Nomos 2016, § 10 Rdnr. 32 ff. (38). 551 So Tatjana Holter in ihrer Dissertation „Völkermord im Parlament“, Berlin: Duncker 2020, S. 127 ff. (133 ff.). 552 Anika D. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Baden-Baden 2016, § 10 Rdnr. 39 ff. (50). 553 So einhellig Tatjana Holter, Völkermord im Parlament, Berlin: Duncker 2020, S. 154 ff. Anika D. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, Baden-Baden, 2016, § 10 Rdnr. 21. Nobert Achterberg, Parlamentsrecht, Tübingen: Mohr 1984, S. 747. Kment, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, München: Beck, 16. Aufl. 2020, Art. 76 Rdnr. 1 unter Verweis auf BVerwGE 12, 16 (20). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 122 Um rechtserheblich zu handeln, kann und muss ein Parlament auf die Handlungsform des (verbindlichen ) Gesetzes zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob schlichte Parlamentsbeschlüsse neben ihrer politischen Appellfunktion überhaupt irgendeine rechtserhebliche Relevanz haben. Ist es völkerrechtlich bedeutsam, wenn das niederländische Parlament die Behandlung der Uiguren im chinesischen Xinjiang – ohne nähere juristische Begründung – als „Völkermord“ qualifiziert? Fest steht zunächst einmal, dass sich die für das nationale Straf- oder Zivilverfahrensrecht anwendbaren Standards des Beweismaßes554 nicht ohne weiteres auf eine außergerichtliche Bewertungssituation übertragen lassen. Parlamente genießen bei der rechtlichen Bewertung bestimmter Situationen einen größeren Spielraum als die Gerichte. Parlamentarier müssen – im Gegensatz zu einem Gerichtsurteil – einen Parlamentsbeschluss auch nicht juristisch begründen. All dies spricht prima facie dafür, die „Völkermordresolution“, mit der das niederländische Parlament die Behandlung der Uiguren in Xinjiang verurteilt hat, lediglich in einem politischen, nicht aber in einem juristischen Sinne zu verstehen. Offensichtlich wollte das niederländische Parlament mit seinem Beschluss vom 25. Februar 2021 nur eine „politische Ansage“ machen, nicht aber einen völkerrechtlich umstrittenen Begriff juristisch auslegen. Wenn es um die Interpretation bzw. Anwendung eines internationalen Vertrages wie der Völkermordkonvention geht, sind in der Regel Gerichte, Schiedsgerichte oder Regierungen in der Lage, den Vertrag anzuwenden, auszulegen oder durch spätere Übung (subsequent practice) i.S.d. Art. 31 Abs. 3 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) weiterzuentwickeln. Doch macht die WVRK selbst keine Vorgaben dazu, wer (oder welches Organ) dafür zuständig ist, einen Vertrag auszulegen. Angesichts der Tatsache, dass die internationale Rechtsordnung ein weitgehend dezentralisiertes System darstellt, besteht Einigkeit darüber, dass im Prinzip jedes staatliche Organ, das mit einem völkerrechtlichen Vertrag befasst ist, auch das Recht hat, ihn auszulegen.555 Es besteht also ein „offenes System“ von Vertragsinterpreten. Dazu gehört auch ein parlamentarischer Gesetzgeber, der den völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert hat. Ein Parlament, das sich mittels einer Resolution (politisch) zur Völkermordfrage äußert, wird damit nolens volens auch zum Interpreten der Völkermordkonvention. Die im ersten Teil dieser Ausarbeitung erörterte Frage, ob sich der (subjektive) Völkermordtatbestand nach Art. 2 der Völkermordkonvention auch auf „ethnozidale Handlungen“ (sog. cultural genocide) erstreckt, wird von der nationalen und internationalen Rechtsprechung bis heute nicht einheitlich beantwortet. Diese Frage beschäftigte auch schon den Schöpfer des Genozidbegriffs , den Völkerrechtler Raphael Lemkin, als dieser 1947 am Resolutionsentwurf der VN- Generalversammlung über die Bestrafung von Völkermord mitarbeitete. 554 Vgl. dazu Kevin M. Clermont, “Standards of Proof Revisited”, in: Vermont Law Review Vol. 33 (2008-2009), S. 469-487, https://lawreview.vermontlaw.edu/wp-content/uploads/2012/02/14-Clermont-Book-3-Vol.-33.pdf. 555 Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of treaties. A Commentary, Heidelberg: Springer 2012, Art. 31 Rdnr. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 123 Das Konzept des cultural genocide weist über den aktuellen Fall der „Uiguren“ hinaus und wird – als „neue“ Variante des Völkermordes – heute zunehmend auch in anderen Kontexten diskutiert .556 Bei dieser Diskussion, an der sich zahlreiche Akteure beteiligen (sollten), geht es im Kern um nicht weniger als um die Verständigung der Weltgemeinschaft über den Begriff des Völkermordes , seine Auslegung und seine interpretative Weiterentwicklung. 556 So zuletzt im Kontext des Berg-Karabach-Konflikts, vgl. insoweit Sylvia Maus, „A Violent Effort to Rewrite History? Destruction of Religious Sites in Nagorno-Karabakh and the Concept of Cultural Genocide”, Völkerrechtsblog , 19. April 2021, https://voelkerrechtsblog.org/de/a-violent-effort-to-rewrite-history/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 124 Zusammenfassende Thesen Zur Anwendung des Völkermordtatbestandes Der erste Teil dieser Arbeit befasst sich mit der Frage, ob durch den Umgang der Volksrepublik China mit der uigurischen Minderheit in der westchinesischen Provinz Xinjiang der Tatbestand des Völkermordes nach Artikel 2 der Völkermordkonvention verwirklicht wird. Die rechtliche Bewertung erfolgt auf der Grundlage öffentlich zugänglicher Quellen und Berichte, wobei eine unabhängige Überprüfung der Faktenlage seitens der Wissenschaftlichen Dienste nicht möglich ist. Es wird davon ausgegangen, dass die untersuchten Handlungen dem Staat China als Völkerrechtssubjekt zurechenbar sind; eine eingehende Prüfung der Voraussetzungen völkerrechtlicher Staatenverantwortlichkeit bei Genozidvorwürfen erfolgt aber nicht. Schutzobjekt von Artikel 2 der Völkermordkonvention sind nationale, ethnische, rassische und religiöse Gruppen. Die Uiguren können sowohl als ethnische als auch als religiöse Gruppe angesehen werden. Der objektive Tatbestand von Artikel 2 der Völkermordkonvention kann jeweils durch eine der fünf im Tatbestand alternativ aufgeführten Handlungen verwirklicht werden. Im Hinblick auf die Behandlung der Uiguren in Xinjiang lässt sich davon ausgehen, dass in objektiver Hinsicht alle fünf Tatbestandsvarianten erfüllt sind – also (a) die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, (b) die Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden , (c) die Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen, (d) die Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung und (e) die zwangsweise Überführung von Kindern. Der subjektive Tatbestand von Artikel 2 der Völkermordkonvention verlangt insbesondere eine sog. Zerstörungsabsicht. Hierbei ist umstritten, ob bereits eine „soziale Zerstörungsabsicht “ – bezogen auf die Vernichtung der kulturellen Identität und sozialen Existenz einer Gruppe als solcher – ausreicht, oder ob es vielmehr einer „physisch-biologischen Zerstörungs- bzw. Vernichtungsabsicht“ bedarf. Während internationale Gerichte den restriktiveren physisch-biologischen Zerstörungsbegriff vertreten, reicht nach der in Deutschland vorherrschenden Auffassung, die vor allem vom BGH und vom BVerfG vertreten wird, auch eine „soziale Zerstörungsabsicht“ aus. Die weite Interpretation des subjektiven Völkermordtatbestandes, führt dazu, dass auch Handlungen mit dem Ziel, die kulturelle Identität einer Gruppe auszulöschen, vom Völkermordtatbestand erfasst werden. Dabei schafft die Rechtsprechung von BGH und BVerfG keinen neuen Völkerstraftatbestand (den sog. „kulturellen Völkermord“ bzw. „Ethnozid“), sondern legt lediglich den Tatbestand des Genozids in einer weiten Interpretation aus. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 125 Im Hinblick auf den Umgang Chinas mit den Uiguren kann auf der Grundlage der ausgewerteten Indizien eine soziale Zerstörungsabsicht angenommen werden, allerdings nur im Zusammenhang mit Handlungen, die den objektiven Tatbestand nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention erfüllen; eine physisch-biologische Zerstörungsabsicht ist dagegen nicht erkennbar. Klassifiziert man die Uiguren als ethnische Gruppe bzw. als Teilgruppe der in China lebenden Muslime und damit als religiöse Gruppe im Sinne der Völkermordkonvention, lässt sich davon ausgehen, dass sich die Zerstörungsabsicht auch auf einen substanziellen Teil der Gruppe als solche richtet. Unter Zugrundelegung des sozialen Zerstörungsbegriffs lässt sich rechtlich gut vertreten, dass die Behandlung der Uiguren in Xinjiang, jedenfalls sofern sie als ethnische Gruppe bzw. als Teilgruppe der in China lebenden Muslime und damit als religiöse Gruppe angesehen werden, den Tatbestand des Völkermords nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention erfüllt. Unter Heranziehung des von internationalen Gerichten vertretenen engeren physisch-biologischen Zerstörungsbegriffs wäre dagegen die Annahme eines Genozids mit Blick auf die Situation in Xinjiang wohl abzulehnen. Zu den Implikationen für deutsche Wirtschaftsunternehmen in Xinjiang Auch wenn deutsche Wirtschaftsunternehmen mit Niederlassungen in Xinjiang selbst keine uigurischen Zwangsarbeiter beschäftigen, können sie gleichwohl von günstigen Marktkonditionen profitieren, die kausal im Zusammenhang mit der staatlichen Unterdrückung der Uiguren stehen und über Lieferketten chinesischer Zulieferunternehmen vermittelt werden. Durch Aufrechterhaltung von Geschäftsbeziehungen mit (staatlichen) Zulieferbetrieben vor Ort, deren Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen und/oder Völkerstraftaten (z.B. Ausbeutung durch Zwangsarbeit) nicht ausgeschlossen werden kann, verletzten deutsche Unternehmen Sorgfaltspflichten, die auf menschenrechtskonformes Verhalten innerhalb der gesamten Lieferkette gerichtet sind. Die Verletzung solcher Pflichten ist mit Inkrafttreten des sog. Lieferkettengesetzes bußgeldbewährt. Nach Maßgabe der VN-Leiprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind Unternehmen gehalten, menschenrechtlichen Risiken innerhalb ihrer Lieferkette wirksam entgegentreten , indem sie z.B. entsprechenden Druck auf die Zulieferbetriebe vor Ort ausüben. Wenn anders keine Abhilfe möglich erscheint, kann unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Abbruch von Geschäftsbeziehungen mit den Zulieferbetrieben und/oder eine Beendigung der Unternehmenspräsenz vor Ort angezeigt sein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 126 Auch wenn nach aktueller Rechtslage Wirtschaftsunternehmen als solche nicht auf Grundlage des Völkerstrafgesetzbuches strafrechtlich belangt werden können, kann sich eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmensmitarbeitern (z.B. in Form der „begünstigenden Beihilfe“) dann ergeben, wenn die Unternehmen durch Aufrechterhaltung von profitablen Geschäftsbeziehungen mit inkriminierten örtlichen Zulieferbetrieben Menschenrechtsverbrechen vor Ort (z.B. Zwangsarbeit) wissentlich unterstützen . Zu den rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten und Verpflichtungen der Staatengemeinschaft Das Verbot des Völkermordes gehört – ebenso wie das Verbot der Folter und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit – zu den Fundamentalnormen des Völkerrechts (ius cogens), deren Einhaltung der gesamten Staatengemeinschaft gegenüber geschuldet ist. Die Durchsetzung von Menschenrechtsverpflichtungen gegenüber China gestaltet sich völkerrechtlich schwierig. Durch entsprechende Vorbehalte zu menschenrechtlichen Verträgen vermag sich China gegenüber einer völkerrechtlichen Kontrolle durch internationale Gerichte und Menschenrechtsorgane weitgehend „abzuschirmen“. China hat sich weder der Jurisdiktion des Internationalen Gerichtshofs noch der des Internationalen Strafgerichtshofs unterworfen. Eine Klage gegen China wegen mutmaßlicher Verletzung der Völkermordkonvention oder eine Anklage von chinesischen Hoheitsträgern vor dem IStGH wegen mutmaßlicher Völkerrechtsverbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) lassen sich derzeit prozessual nicht realisieren. Ein Staatenbeschwerdeverfahren gegen China im Rahmen der Rassendiskriminierungs- Konvention der VN wäre – auf Antrag einer Vertragspartei – theoretisch zwar möglich, doch fehlt es dem Ausschuss noch an Erfahrung im Umgang mit politisch „heiklen“ Fällen. Eine unabhängige Untersuchung der Menschenrechtssituation in den Internierungslagern in Xinjiang gegen den Willen der chinesischen Regierung erscheint rechtlich nicht möglich. Kollektiv durchgeführte Gegenmaßnahmen (z.B. Wirtschaftssanktionen, Reisebeschränkungen ), wie sie u.a. die EU als Antwort auf die Behandlung der Uiguren ergriffen hat, sind völkerrechtlich zulässig. Unzulässig wären jedoch „humanitäre Militärinterventionen “ zum Schutze der uigurischen Minderheit in Xinjiang. Aus der Völkermordkonvention erwächst eine Verpflichtung der Staaten zur Verhinderung und Bestrafung von Genozid. Die Verhinderungspflicht greift zeitlich zwar schon im Vorfeld einer Völkermordsituation, ist jedoch inhaltlich (nur) als eine „Verpflichtung des besten Bemühens“ ausgestaltet, wobei die staatliche Verantwortlichkeit (differentiated responsibility) von zahlreichen Umständen abhängt. Im Übrigen fehlt der Völkermordkonvention ein institutionalisierter Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismus. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 127 Die Pönalisierung des Völkermordes ist in den Artikeln 5 und 6 des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof sowie auf nationaler Ebene durch § 6 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs erfolgt. Zahlreiche Staaten – darunter Deutschland – haben das sog. „Weltrechtsprinzip“ als Zuständigkeitsnorm für die Verfolgung internationaler Kernverbrechen (sog. core crimes wie z.B. Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit) in ihre nationalen Strafgesetze aufgenommen und ermöglichen damit die Zuständigkeit für Strafverfahren gegen ausländische Delinquenten vor heimischen Gerichten. Der Grundsatz der völkerrechtlichen Immunität steht Völkerstrafverfahren gegen staatliche Hoheitsträger eines auswärtigen Staates vor nationalen Strafgerichten nur teilweise entgegen. Während Repräsentanten eines ausländischen Staates – zumindest während ihrer Amtszeit – absolute (persönliche) Immunität genießen, zeichnet sich im Völkergewohnheitsrecht immer deutlicher eine Durchbrechung der funktionellen Immunität ab, wenn Amtsträgern schwere Menschenrechtsverbrechen (sog. core crimes wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit) zur Last gelegt wird. Dies hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom Januar 2021 unter Berufung auf entsprechende Arbeiten der Völkerrechtskommission (Draft Articles on Immunity of State Officials from foreign criminal jurisdiction) bestätigt. Damit erscheint es zumindest rechtlich möglich, dass sich chinesische Provinz- Funktionäre oder Angehörige des Wachpersonals der Internierungslager wegen Verstößen gegen das Völkerstrafgesetzbuch vor deutschen Strafgerichten verantworten könnten. Der Vorwurf des „Völkermordes“ generiert zweifelsohne große mediale und politische Aufmerksamkeit. In der öffentlichen Diskussion über die Behandlung der „Uiguren“ begegnet man zuweilen jedoch der fälschlichen Vorstellung, dass die juristische Qualifizierung einer bestimmten Situation als „Völkermord“ (bzw. die Anwendung der Völkermordkonvention ) die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten der Weltgemeinschaft erweitern oder bestehende rechtliche Instrumente entscheidend stärken würden. Die völkerrechtliche Realität ist diesbezüglich (leider) ernüchternd: Bei Lichte betrachtet eröffnen sich auch nach Feststellung eines „Völkermordes“ – vor allem gegenüber einem Staat wie China – keine realen Klagemöglichkeiten vor dem IGH oder dem IStGH, keine zusätzlichen Verfahren, um ein Rechtsgutachten des IGH in Auftrag zu geben, keine rechtliche Handhabe für unabhängige Expertenuntersuchungen, keine individuellen Beschwerdemöglichkeiten, keine privilegierten staatlichen „Zugänge“ zu den Vereinten Nationen, keine weiteren Sanktionsmöglichkeiten, die nicht schon als zulässige Reaktion auf ius cogens-Verstöße ohnehin bestehen würden, keine humanitären Interventionsrechte und schließlich – etwa im Vergleich zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit – keine erleichterten Möglichkeiten für Strafverfahren vor nationalen Gerichten einschließlich von Durchbrechungen der Immunität. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 027/21 Seite 128 Der Deutsche Bundestag kann sich – ähnlich wie bereits die Parlamente von Kanada oder den Niederlanden – zur Behandlung der Uiguren im chinesischen Xinjiang menschenrechtspolitisch äußern und sich dabei der Handlungsform des schlichten Parlamentsbeschlusses bedienen. Mit der Klassifizierung „ethnozidaler Handlungen“ als „Völkermord“ im Sinne der Völkermordkonvention wird auch ein nationales Parlament gleichsam zum Interpreten der Genozidkonvention. Es bezieht damit nicht nur politisch, sondern auch rechtlich Position bei einer Diskussion über den Tatbestand des Völkermordes, der bis heute in der Rechtsprechung nicht einheitlich ausgelegt wird. ***