© 2017 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 026/17 Die Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen seit 1967 in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und Ost-Jerusalem Fakten und völkerrechtliche Einschätzung Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. 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Faktische Ausgangslage: Das Westjordanland und Ost- Jerusalem nach dem Sechs-Tage-Krieg 8 1. Historische Einordnung 8 2. Am Siedlungsbau beteiligte wesentliche politische Akteure innerhalb Israels 13 2.1. Die israelischen Regierungen 13 2.2. Die Siedlerbewegung 16 3. Politische Instrumente für Ost-Jerusalem und das Westjordanland 18 3.1. Stadtplanung und der Jerusalem Master Plan 2000 18 3.2. Verteilung von Baugenehmigungen für palästinensischen Wohnungsbau 20 3.3. Baugenehmigungen für Ost- und West-Jerusalem 20 3.4. Häuserzerstörung aufgrund fehlender Baugenehmigungen 21 3.5. Häuserzerstörung als kollektive Bestrafungsaktion palästinensischer Attentäter und ihrer Familien oder als Abschreckungsmaßnahme 23 3.6. Zugang zu Trinkwasserversorgung 24 3.7. Rechtlich-bürokratische Instrumente der Landnahme für israelische Siedlungen in Sektor C des Westjordanlandes 25 4. Zwangsumsiedlungen (1967-1992) 26 5. Ausgewählte Stationen des israelischen Siedlungsbaus seit 1967 29 6. Außenposten 30 C. Die völkerrechtliche Einschätzung am Maßstab der Genfer Konvention IV 33 1. Anwendbarkeit der Genfer Konvention IV auf den israelischpalästinensischen Konflikt 33 2. Das Verbot von Vertreibungen nach Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV 34 2.1. Der Begriff der „Vertreibung“ 34 2.1.1. Allgemeines Völkerrecht 34 2.1.1.1. Das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs und die Haager Landkriegsordnung (1907) 35 2.1.1.2. Die Genfer Konvention IV (1949) 36 2.1.2. Die Fortentwicklung des Begriffs der „Vertreibung“ im Völkerstrafrecht 39 2.1.2.1. Die Rechtsprechung des Jugoslawientribunals 39 2.1.2.2. Die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs 40 2.1.3. Übertragbarkeit auf allgemeines Völkerrecht 42 2.2. Evakuierungen nach Art. 49 Abs. 2 Genfer Konvention IV 44 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 4 3. Das Verbot der Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten nach Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV 45 3.1. Inhalt des Verbots 45 3.2. Die Positionierung der Vereinten Nationen zur Siedlungspolitik Israels 47 3.2.1. Der VN-Sicherheitsrat 47 3.2.2. Der VN-Generalsekretär 48 3.2.3. Die VN-Generalversammlung 48 3.2.4. Der Menschenrechtsrat und die Menschenrechtskommission 50 3.2.5. Der Internationale Gerichtshof 53 D. Schlussbetrachtung 55 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 5 A. Einleitung Der folgenden Ausarbeitung liegt die Prüfungsbitte eines Abgeordnetenbüros zugrunde, ob die israelische Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der letzten sechs Jahrzehnte in den besetzten palästinensischen Gebieten (Occupied Palestinian Territories, OPT) des Westjordanlandes, insbesondere in dessen territorial größtem Sektor C sowie in Ost-Jerusalem, Züge einer völkerrechtlichen Vertreibung aufweist. Ausgangspunkt der Betrachtungen ist daher die Besetzung des Westjordanlandes und Ost-Jerusalems durch Israel im Jahre 1967. Aufgrund der zeitlichen Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes auf den Zeitraum 1967 bis 2017 wird auf die Vorgeschichte des Konflikts nicht vollumfänglich eingegangen. Vielmehr wird dieser Ausarbeitung nur eine knappe historische Einordnung des strittigen Gebiets vorangestellt und auf einschlägige Literatur verwiesen. Es liegt eine Vielzahl von Veröffentlichungen über die konfliktreiche Geschichte von Israelis und Arabern sowie beider Anspruch auf das Territorium der heutigen besetzten palästinensischen Gebiete als Heimstätte für das jeweilige Volk vor. Obwohl Israel die Besetzung der OPT bestreitet – diese seien indes als „umstrittene“ Gebiete zu qualifizieren – geht diese Ausarbeitung in Anlehnung an die nahezu einstimmige Rechtsauffassung der internationalen Staatengemeinschaft von einer Besatzungssituation im juristischen Sinne aus. Als Besatzungsmacht unterliegt Israel nach dem Völkerrecht bestimmten Verpflichtungen gegenüber dem Gebiet und den Menschen, die unter seiner Besatzung stehen. Dazu gehören das an eine Besatzungsmacht gerichtete Verbot der Vertreibung fremder Zivilbevölkerung aus besetzten Gebieten einerseits und das Verbot der Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten andererseits. Bei der völkerrechtlichen Einschätzung der Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen sind geschichtlich kaum Vertreibungen im Sinne des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV – also der systematische Abtransport von Menschen unter Zwangsanwendung – nachzuweisen. Vielmehr findet sich eine Fülle von hoheitlichen Einzelmaßnahmen, die für sich genommen als Diskriminierung und/oder Menschenrechtsverletzung zu qualifizieren sind. Diese Einzelmaßnahmen ergeben jedoch gleichwohl in der Gesamtschau ein Bild, das der klassischen Vertreibungsdefinition des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV sehr nahe kommt und das es juristisch zu fassen gilt. Die genannten Einzelmaßnahmen werden im zweiten Teil dieser Ausarbeitung (B.) beleuchtet, um gewisse Muster in der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik zu verdeutlichen. Der zweite Teil dieser Ausarbeitung beschäftigt sich insbesondere mit der Frage, in welcher Weise Israels divergierende Auffassung zum Rechtsstatus der aus seiner Sicht „befreiten Gebiete“ sich in der operationalen Politik niederschlagen, auf welche Weise das Regierungshandeln mit nichtstaatlichen israelischen Akteuren verbunden ist und auf Forderungen der internationalen Staatengemeinschaft reagiert.1 Daran anknüpfend werden „politische Meilensteine“, wie etwa die 1 Wenn in diesem Zusammenhang von der „Vorgehensweise Israels“ gesprochen wird, dann sind darunter die verschiedenen israelischen Regierungen gemeint und getrennt von nichtstaatlichen Akteuren, den Organen der Rechtsprechung sowie des Parlamentes, so weit möglich, untersucht. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 6 Osloer Verträge von 19932 oder das Interimsabkommen von 19953 daraufhin untersucht, in welcher Weise die Politik das erklärte Ziel der Übergabe der besetzten Gebiete in die Hände der autonomen Verwaltung einer palästinensischen Einheitsregierung verfolgt oder aber einen entgegengesetzten Kurs anstrebt, indem die Besatzungsmacht Fakten schafft, die ihren Anspruch auf das Westjordanland zementieren. Gegenstand der Betrachtung im zweiten Teil dieser Ausarbeitung (B.) sind deshalb die politischen Maßnahmen der israelischen Regierungen, die den Verdacht einer bewussten Ungleichbehandlung jüdischer und palästinensischer Bewohner Ost-Jerusalems und des Westjordanlandes ebenso nähren wie den Verdacht der Schaffung eines unwirtlichen, abweisenden, entwicklungsfeindlichen Umfeldes für die palästinensischen Bewohner. Untersucht werden dabei, etwa die allgemeine Stadtplanung, Genehmigungsverfahren für Wohnungen und Wohnhäuser, Häuserzerstörungen von palästinensischen Attentätern und ihren Familien, Zwangsumsiedlungen, Landnahme durch die israelische Armee sowie der Zugang zu Wasser. Darüber hinaus wird auch der Siedlungsbau, seine prominenten Fürsprecher in Politik und Gesellschaft sowie die Lage der Außenposten untersucht. Der Siedlungsbau erhielt seit der Wahl des 45. US-Präsidenten (Donald Trump) deutliche Impulse: Diese schlugen sich zum einen in legislativen Initiativen im Sinne einer nachträglichen Legalisierung von Außenposten4 nieder, zum anderen in der von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seinem Sicherheitskabinett am 30. März 2017 erteilten Baugenehmigung einer ganzen Siedlung im Westjordanland, der ersten seit 1992.5 In Anlehnung an die Terminologie der Vereinten Nationen (VN) werden unter „israelischen Siedlungen“ alle „physischen und nicht-physischen Strukturen und Prozesse (zusammengefasst), die den Bau, die Ausweitung und Erhaltung von israelischen Wohngebieten jenseits der Grünen Linie von 1949 in den besetzten palästinensischen Gebieten bezeichnen, ermöglichen und unterstützen.“6 2 Israel-Palestinian Peace Process: Declaration of Principles On Interim Self-Government Arrangements (Oslo Accords) (13. September 1993), verfügbar unter: http://www.unsco.org/Documents/Key/Declaration %20of%20Principles%20on%20Interim%20Self-Government%20Arrangements.pdf (zuletzt aufgerufen am 16. Mai 2017). 3 Israel-Palestinian Negotiations: Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip (Oslo II) (28. September 1995), verfügbar unter: http://www.unsco.org/Documents/Key/Israeli-Palestinian%20Interim%20Agreement %20on%20the%20West%20Bank%20and%20the%20Gaza%20Strip.pdf (zuletzt aufgerufen am 16. Mai 2017). 4 Auswärtiges Amt, „Israelischer Gesetzentwurf zur nachträglichen Legalisierung von Außenposten im Westjordanland “ (7. Dezember 2016), verfügbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Meldungen /2016/161207-Legalisierung_Aussenposten_Westjordanland.html?nn=341278 (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2017). 5 SpiegelOnline, „Israel genehmigt erste Siedlung im Westjordanland seit 1992“ (31. März 2017), verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/westjordanland-israel-genehmigt-erste-siedlung-seit-1992-a- 1141240.html (zuletzt aufgerufen am 3. April 2017). 6 VN-Generalversammlung, “Report of the Independent International Fact-finding Mission to Investigate the Implications of Israeli Settlements on the Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights of the Palestinian People throughout the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem. (7. Februar 2013), VN-Dok. A/HRC/22/63, verfügbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session 22/A-HRC-22-63_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 7 Aufgrund des fortschreitenden Siedlungsbaus gibt es auch innerisraelische Kritiker, die ein Ende der Besatzung des Westjordanlandes und die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung fordern.7 Als Hauptquellen für die Darstellung politischer Instrumente und Ziele für die Jahre 1967 bis 2017 dienen insbesondere Berichte der Vereinten Nationen, verschiedener israelischer Nichtregierungsorganisationen (NRO), wissenschaftliche Publikationen, Medienberichte sowie Informationen des Auswärtigen Amtes. Da offizielle Quellen des israelischen Parlaments oder der Behörden überwiegend nicht übersetzt, sondern nur in der Landessprache vorliegen, konnten diese nicht in die Untersuchung einbezogen werden. Dies betrifft sowohl Veröffentlichungen des israelischen Zentralbüros für Statistik zur demographischen Entwicklung Israels8 als auch Gesetze der Knesset, deren Inhalte durch Angaben des Auswärtigen Amtes oder von zivilgesellschaftlichen israelischen Organisationen rekonstruiert werden mussten. Der dritte Teil dieses Gutachtens (C.) bearbeitet – als Komplementärstück zu den Fakten – die völkerrechtliche Rechtslage. Zunächst geht es um eine Annäherung an den Begriff der „Vertreibung “, in deren Rahmen sowohl völkerrechtliche Verträge (wie die Haager Landkriegsordnung von 1907 und Art. 49 Abs. 1 der Genfer Konvention IV von 1949) als auch neuere Entwicklungen in der völkerstrafrechtlichen Rechtsprechung aufgezeigt werden. Dabei wird deutlich, dass eine Politik, die darauf angelegt ist, die Lebensumstände und das humanitäre Umfeld in einem Besatzungsgebiet so unerträglich auszugestalten, dass sich die ansässige Bevölkerung letztlich gezwungen sieht, ihre angestammte Heimat zu verlassen, nicht unter den Begriff der völkerrechtlichen Vertreibung subsumiert werden kann – selbst wenn, wie im zweiten Teil dieser Ausarbeitung dargestellt, politische Steuerungselemente zielgerichtet und systematisch eingesetzt werden. An diesen Befund anknüpfend wird ein mit Besatzungssituationen oftmals einhergehendes Phänomen diskutiert: Die Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung der Besatzungsmacht in besetzten Gebieten, welche nach Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV verboten ist. Die Vereinten Nationen haben die Siedlungspolitik der israelischen Regierungen in diesem Zusammenhang kontinuierlich und über die Jahrzehnte hinweg zunehmend deutlicher als Völkerrechtsverstoß und Hindernis für einen Friedensprozess im Nahen Osten verurteilt. Diese Positionierung der VN wird abschließend zum Anlass genommen, um die Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik der israelischen Regierungen im Lichte des Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV zu betrachten. Auf Grund der hohen Komplexität der Geschehnisse und des langen Untersuchungszeitraumes können lediglich einzelne politische Instrumente in Zusammenhang mit der Fragestellung schlaglichtartig beleuchtet werden. Ziel dieser Arbeit ist es, bestimmte politische und gesellschaftliche Entwicklungen anhand von geschichtlichen Marksteinen aufzuzeigen sowie den völkerrechtlichen Rahmen von Vertreibungen einzugrenzen. 7 Wie zuletzt auf einer von Labor und Meretz Partei zusammen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen organisierten Demonstration in Tel Aviv offenbar wurde, an der geschätzt 15.000 Israelis teilnahmen und eine Erklärung von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vorgetragen wurde. Ilan Lior, „15,000 Rally in Tel Aviv in Support of Two-State-Solution” (27. Mai 2017), in Haaretz, verfügbar unter: http://www.haaretz.com/israel-news/1.792194 (zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2017). 8 Vgl. Israels Central Bureau of Statistics, „Population of Israel: 2005-2014 – Hebrew Only” (2017), verfügbar unter : http://www.cbs.gov.il/reader/publications/bysubject_e_new.htm#18 (zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 8 B. Faktische Ausgangslage: Das Westjordanland und Ost-Jerusalem nach dem Sechs-Tage-Krieg 1. Historische Einordnung Nach einer wechselvollen Geschichte von staatlicher Selbständigkeit, politischer Abhängigkeit und Streben nach Selbstbestimmung wurden die Juden nach der Niederschlagung ihres letzten Aufstands im Jahre 135 n. Chr. zum Großteil zur Emigration aus der Provinz Judäa gezwungen. Die Stadt Jerusalem zu betreten war ihnen untersagt.9 Den Namen Palästina erhielt das Heilige Land 135 n. Chr. von den römischen Besatzern. Im Jahr 638 wurde Palästina von den Arabern erobert . Im 19. Jahrhundert lebten Christen und Juden in Palästina als Angehörige der geschützten und mit besonderen Rechten ausgestatteten Religionsgemeinschaften.10 Die jüdische Einwanderung nach Palästina ab Ende des 19. Jahrhunderts war vor allem eine Folge von Nationalismus, Antisemitismus und Pogromen in Europa und Russland.11 In seinem 1896 erschienenen Buch „der Judenstaat“ plädierte der jüdische Journalist Theodor Herzl für die Errichtung eines eigenständigen jüdischen Staates in Reaktion auf religiöse und kulturelle Konflikte. Die Hoffnungen auf eine jüdische Heimstätte erhielten während des Ersten Weltkrieges mit der Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 Nahrung. In einem Brief an Lionel Walter Rothschild, einem führenden Vertreter der britischen Juden, stellte der britische Außenminister Arthur James Balfour „eine eigene Heimstätte für den Staat Palästina“ in Aussicht.12 Die genaue Bedeutung der Balfour-Erklärung blieb strittig, da diese im Gegensatz zu Territorialversprechen der Briten an die Araber stand. Im Gegenzug für den gemeinsamen Kampf gegen das Osmanische Reich der Türken war den Arabern Unabhängigkeit in Aussicht gestellt worden, so wie es im Schriftverkehr zwischen dem britischen Hochkommissar in Ägypten McMahon und dem Scherifen Hussein von Mekka zum Ausdruck kam. Im Auftrag der britischen Regierung hatte McMahon „die Vertreibung der Türken aus arabischen Ländern und die Befreiung der arabischen Völker vom türkischen Joch, das so lange auf ihnen lastete“, angekündigt und Gebiete versprochen.13 Das „diplomatische Doppelspiel“ Großbritanniens wurde nach Veröffentlichung des britisch-französischen Geheimabkommens vom 16. Mai 1916 über die Zerstückelung und Gebietsaufteilung des Osmanischen Reiches14 (Sykes-Picot-Abkommen) durch die russische 9 Jörn Böhme und Christian Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts., 2014), S. 11. 10 Jörn Böhme und Christian Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Fn. 9), S. 12. 11 Muriel Asseburg und Jan Busse, Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen und Perspektiven (Beck, München, 2016). 12 Encyclopedia Britannica, „Balfour Declaration“ (2017), verfügbar unter: https://www.britannica.com/event/Balfour -Declaration (zuletzt aufgerufen am 1. Juni 2017). 13 Michael Wolffsohn, „Die Briten im Heiligen Land“ (28. März 2008), verfügbar unter: http://www.bpb.de/internationales /asien/israel/44971/briten-im-heiligen-land (zuletzt aufgerufen am 24. Mai 2017). 14 Encyclopedia Britannica, „Sykes-Picot Agreement (2017), verfügbar unter: https://www.britannica .com/event/Sykes-Picot-Agreement (zuletzt aufgerufen am 24. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 9 Regierung offenbar.15 Nach Kriegsende hat der Völkerbund Großbritannien Mandate für Mesopotamien (Königreich Irak) und Palästina übertragen; Syrien und der Libanon wurden französisches Mandatsgebiet. Die Balfour-Deklaration wurde durch den Völkerbund 1922 zum Bestandteil des britischen Mandatsvertrages über Palästina erklärt und ging mit der Verpflichtung Großbritanniens einher, eine jüdische Heimstätte Palästina zu fördern.16 Die Balfour-Deklaration gilt als Geburtsurkunde des Staates Israel, auch wenn bis zu dessen Gründung noch 30 Jahre vergehen sollten .17 Das Mandat galt als eine Art Treuhandschaft. Erst wenn die Bevölkerung des Nahen Ostens für die Unabhängigkeit „reif“ wäre, könnte man sie ihnen gewähren. Damit wurde deutlich, dass weder Großbritannien noch Frankreich gewillt waren, die Treuhandschaft eines Tages freiwillig aufzugeben.18 Infolge der massiven Judenverfolgung in den 1930er Jahren durch die Nationalsozialisten und der Beschränkung jüdischer Einwanderung in vielen Staaten stieg die Zahl jüdischer Siedler in Palästina sprunghaft an.19 Die Siedler kauften Boden von arabischen Großgrundbesitzern und errichteten eigene Siedlungen und Betriebe. Die englische Mandatsmacht gewährte der jüdischen Gemeinschaft weitgehende Selbstverwaltung. Durch die jüdische Zuwanderung sah sich die arabische Bevölkerung Palästinas immer stärker ihrer Existenzgrundlage beraubt und in ihren nationalen Ambitionen eingeschränkt. Während sich in den 1920er Jahren arabische Protestbewegungen und Aufstände noch gegen zionistische Siedler richteten, rückten Ende der 1930er Jahre die britischen Mandatsbehörden ins Zentrum ihrer Kritik.20 Sowohl die zionistische als auch die arabische Nationalbewegung forderten vehement die Beendigung der britischen Herrschaft und suchten, die einander diametral entgegengesetzten nationalen Ziele durchzusetzen. Militante Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, aber auch Überfälle auf Einrichtungen der Mandatsbehörden waren an der Tagesordnung. Die britische Regierung sah sich nicht mehr in der Lage, das Mandat aufrechtzuerhalten und bat die Vereinten Nationen um Vermittlung.21 Angesichts der Ermordung von etwa sechs Millionen Juden in deutschen Vernichtungslagern, der Zerstörung Hunderter jüdischer Gemeinden in Europa und der Tragödie um das mit Überlebenden des Holocausts gefüllten Flüchtlingsschiffes „Exodus“, dessen Flüchtlinge von Frankreich aus geflohen waren und ausgerechnet nach Deutschland zurückgeschickt werden sollten, setzten die Vereinten Nationen 1947 einen Sonderausschuss zu Palästina ein. Dieser sollte die Situation prüfen und Lösungsvorschläge erarbeiten. Der VN-Sonderausschuss präsentierte mehrere 15 Jörn Böhme und Christian Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Fn. 9), S. 18. 16 Ibid., S. 18. 17 Der Tagesspiegel, „Das Versprechen“ (4. November 2007), verfügbar unter: http://www.tagesspiegel.de/politik /geschichte/das-versprechen/1085450.html (zuletzt aufgerufen am 24. Mai 2017). 18 Michael Wolffsohn, „Die Briten im Heiligen Land“ (Fn. 13). 19 Jörn Böhme und Christian Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Fn. 9), S. 20. 20 Angelika Timm, „Die jüdische Siedlungsbewegung“, in Bernhard Chiari und Dieter H. Kollmer (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte Naher Osten (Ferdinand Schöningh Verlag, 2009), S. 76. 21 Angelika Timm, „Die Gründung des Staates Israel“(28. März 2008), in Bundeszentrale für politische Bildung, verfügbar unter: http://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44995/gruendung-des-staates-israel (zuletzt aufgerufen am 2. Juni 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 10 Vorschläge: das britische Mandat zu beenden und Palästina in zwei Staaten zu unterteilen bzw. einen binationalen Föderativstaat zu gründen.22 Nach monatelanger Prüfung der Empfehlungen des Komitees stimmte die VN-Generalversammlung am 29. November 1947 auf Grundlage von VN-Resolution 181 (II) mit 33 Ja- und 13 Gegenstimmen für eine Teilung Palästinas in zwei Staaten und für die Beendigung von Großbritanniens Mandat.23 Am Tag vor dem offiziellen Abzug der englischen Mandatstruppen (14. Mai 1948) verkündete Ben Gurion die Gründung Israels. In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai erklärten die umliegenden arabischen Staaten Israel den Krieg.24 Nach langen Kämpfen und verschiedenen Feuerpausen, die von beiden Seiten wiederholt gebrochen wurden, kam es 1949 zum Waffenstillstand, ohne dass die arabischen Staaten den Staat Israel oder seine Grenzen anerkannten. Nachdem sich zu Beginn des Jahres 1967 die Drohungen zur Vernichtung des jüdischen Staates durch die arabischen Anrainerstaaten gehäuft hatten (u.a. durch verstärktes Aufrüsten an den Grenzen) und Israel ihren Angriff fürchtete, erreichten die Spannungen im Mai/Juni 1967 ihren Höhepunkt. Ägypten verhängte eine Blockade über den Hafen Eilat, verfügte den Abzug der VN- Truppen aus dem Sinai und ließ Truppen aufmarschieren.25 Israel entschloss sich am 5. Juni – mit amerikanischer Rückendeckung – zu einem Präventivangriff und erreichte innerhalb weniger Tage große territoriale Gewinne: Israelische Truppen hatten den Jordan und den Suez-Kanal erreicht , die Golanhöhen, ganz Jerusalem und den Gazastreifen besetzt. Drei Wochen nach Kriegsende im Jahr 1967 wurde Jerusalem von Israel annektiert und das Westjordanland erhielt den offiziellen jüdischen Namen Judäa und Samaria. Der Sechs-Tage-Krieg veränderte die Bedeutung des Westjordanlandes für jüdische Israelis grundlegend: überwog zuvor die Furcht um das eigene Überleben, war es anschließend die Freude über die „wundersame Eroberung von Kernbereichen des historischen und jüdischen Heimatlandes“.26 Für den Staat Israel und einen Großteil seiner jüdischen Bevölkerung gehören Ost-Jerusalem und die Stadtteile jenseits der Grünen Linie untrennbar zu Israel.27 Israel ließ den größten Teil der besetzten Gebiete durch eine Militärregierung verwalten, in der Armeeoffiziere für die Regelung des Alltagslebens zuständig waren. Drei Wochen nach Ende des Sechs-Tage-Krieges autorisierte die Knesset per Gesetz die israelische Regierung, ihre 22 Angelika Timm „Die Gründung des Staates Israel“, in Bernhard Chiari und Dieter H. Kollmer (Hrsg.), Wegweiser zur Geschichte Naher Osten (Ferdinand Schöningh Verlag, 2009), S. 90. 23 Ibid. 24 Jörn Böhme und Christian Sterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (Fn. 9), S. 32. 25 Ibid., S. 38. 26 Brent E. Sasley and Mira Sucharov, “Resettling the West Bank Settlers” (2011) International Journal, Vol. 66:4, S. 1004. 27 BIMKOM-Planners for Planning Rights, “Trapped by Planning“ (2014), verfügbar unter: http://bimkom .org/eng/wp-content/uploads/TrappedbyPlanning.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 11 Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetze auf das vorherige Mandatsgebiet Palästina auszuweiten .28 Kurze Zeit später wurde Ost-Jerusalem der auch für den westlichen Teil der Stadt zuständigen Gemeindeverwaltung unterstellt. Dem Gesetz nach war von einer Ausdehnung von Verwaltung , Rechtsprechung und Gesetzen auf Jerusalem die Rede, nicht aber von Annexion. In wenigstens einem Urteil des Obersten Gerichtes Israels werden beide Teile Jerusalems als integraler Bestandteil Israels betrachtet.29 Mit ihrem Grundgesetz „Jerusalem, Hauptstadt von Israel“ von 1980 betrachtet die Knesset auch den annektierten Teil Jerusalems als Teil des israelischen Staatsgebietes: „[u]nified Jerusalem is the capital of Israel“. Die Annexion von Ost-Jerusalem wurde von keiner Regierung weltweit anerkannt und war ein Grund für die Eröffnung von Botschaften in Tel Aviv. Israelische Regierungen haben in der Zeit nach 1967 wiederholt bestritten, dass das von Jordanien eroberte palästinensische Gebiet als „besetzt“ zu bezeichnen sei.30 Für sie stellt zudem die am Ende des ersten arabisch-israelischen Krieges von 1948 zwischen Israel und seinen Nachbarn gezogene Demarkationslinie, die so genannte Grüne Linie, keine anerkannte Grenze dar, sondern eine Waffenstillstandslinie. Hier stehen die Interpretationen der israelischen Regierungen in einem Spannungsverhältnis zu den Auffassungen der internationalen Staatengemeinschaft, das bereits mit den Verhandlungen um VN-SR-Resolution 242 (1967) begann.31 28 Benjamin Rubin, „Israel, Occupied Territories“ (2009), in Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law. 29 Hanazalis v. Court of the Greek Orthodox Patriarchate, HC 171/68, 23(1) Piskei Din (amtliche Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs, 1948- ), S. 260. 30 Ahron Bregman, Gesiegt und doch verloren: Israel und die besetzten Gebiete (Orell Füssli, Zürich, 2015), S. XXVIII; Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law“, (2015) Michigan State International Law Review, Vol. 24/2, S. 279 (282-286). Siehe auch Ausarbeitung, „Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch-palästinensischen Konflikts“ (28. Februar 2013), WD 2 – 3000 – 177/12, S. 6-7 (Anlage). 31 Eine Darstellung der schwierigen Verhandlungen und unterschiedlichen Interpretationen der VN-SR-Resolution 242 (1967), die nach israelischer Lesart keinen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus „allen“ besetzten Gebieten oder „hinter die Grenzen vom 5. Juni 1967“ bedeutet, findet sich unter : Jewish Virtual Library, “U.N. Security Council: Meaning of Resolution 242” (2017), verfügbar unter: http://www.jewishvirtuallibrary.org/the-meaning-of-un-security-council-resolution-242 (zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2017). VN-SR-Resolution 242 (1967) gilt als diejenige Resolution, welche die grundlegenden Prinzipien für die arabisch-israelischen Friedensverhandlungen festschreibt. Sie fordert in Kernpunkten, „dass die Verwirklichung der Grundsätze der Charta die Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten verlangt, der die Anwendung der beiden folgenden Grundsätze einschließen sollte: i) Rückzug der israelischen Streitkräfte aus (den)* Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden; ii) Beendigung jeder Geltendmachung des Kriegszustands beziehungsweise jedes Kriegszustands sowie Achtung und Anerkennung der Souveränität, territorialen Unversehrtheit und politischen Unabhängigkeit eines jeden Staates in der Region und seines Rechts, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden zu leben; Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 12 Zum Zeitpunkt des israelischen Einmarsches ins Westjordanland lebten 670.000 Palästinenser auf diesem Gebiet, einschließlich 35.000 Bewohner in Ost-Jerusalem. Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg kam es zur Zerstörung ganzer Dörfer durch israelische Soldaten, um – wie es heißt – zu verhindern, „dass die Häuser künftig von Terroristen als Stützpunkt genutzt werden “.32 So sollen in Imwas 375 Häuser, in Yalu 535 Häuser von Palästinensern und in Beit Nuba 550 Häuser durch israelische Soldaten zerstört worden sein.33 Im September 1995 einigten sich die israelische Regierung und die palästinensische Befreiungsorganisation PLO auf das sogenannte Interims- oder Oslo-II-Abkommen. Darin wurden das Westjordanland und der Gaza-Streifen in Gebiete mit unterschiedlichem Status und je eigenen Kompetenzen für Israel und die palästinensische Autonomiebehörde (PA) in die drei Sektoren A, B und C unterteilt.34 Ost-Jerusalem blieb davon ausgenommen. Den Vereinbarungen zufolge fallen der PA Aufgaben der Selbstverwaltung und der inneren Ordnung in den Sektoren A und B zu. Für den Sektor C des Westjordanlandes, in dem sich der Großteil der israelischen Siedlungen, landwirtschaftlichen Flächen und Militäreinrichtungen befindet, ist eine weitreichende israelische Kontrolle vorgesehen, u.a. über öffentliche Ordnung, Sicherheit, Planverfahren und Baugenehmigungen .35 Die Sektoren A und B umfassen 40 Prozent des Westjordanlandes, in dem 95 Prozent der palästinensischen Bevölkerung in Städten, Flüchtlingslagern und Dörfern leben. Während zivile Angelegenheiten in die Zuständigkeit der Palästinensischen Autonomiebehörde fallen, ist Israel für Fragen der äußeren Sicherheit verantwortlich. Dabei handelt es sich zumeist um Dutzende von Enklaven, die nicht zusammenhängen, sondern von israelischen Siedlungen, Siedlungsstraßen und geschlossenen militärischen Gebieten zerteilt sind. Während die meisten Palästinenser in den Sektoren A und B leben, liegt die Infrastruktur für sie in oder führt durch Sektor C. Dort erlaubt die israelische Armee selten Bau- und Entwicklungsvorhaben für Palästinenser.36 Sektor C umfasst etwa 60 Prozent des Westjordanlandes inklusive Straßen und Nationalparks. Israel ist hier für die innere und äußere Sicherheit sowie Planung und Bauwesen verantwortlich. Die wichtigsten Landreserven für Palästinenser sowie der Großteil des Weide- und Agrarlandes von Palästinensern befinden sich in Sektor C. Es ist das einzige zusammenhängende Gebiet im Westjordanland, das auch größere Infrastrukturprojekte zulässt für den Straßenbau, Wasser- und Diese Resolution wurde von Teilen Israels so ausgelegt, dass nicht ein Rückzug gemeint sei, wie zunächst von arabischer Seite gefordert worden war. Da Israel sich von 91 Prozent der Gebiete zurückzog als es den Sinai aufgab, gilt die Auflage des Rückzuges als teilweise, wenn nicht gar gänzlich erfüllt nach der Lesart mancher Israelis. 32 Ahron Bregman, Gesiegt und doch verloren (Fn. 30), S. 5. 33 Ibid. 34 Muriel Asseburg und Jan Busse, Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven (Fn. 11), S. 34. 35 Ibid. 36 Amnesty International, “Troubled Waters – Palestinians Denied Fair Access to Water: Israel-Occupied Palestinian Territories” (2009), verfügbar unter: http://www.amnestyusa.org/sites/default /files/pdfs/mde150272009en.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), S. 18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 13 Abwasserbereitstellung sowie die Stromversorgung. Israelische Siedlungen befinden sich überwiegend zwischen den agrarischen Dörfern von Palästinensern. Die Bevölkerungszusammensetzung im Westjordanland: 594.000 Israelis lebten im Jahr 2015 in 135 Siedlungen plus etwa hundert Siedlungsaußenposten – eine Verdopplung der Siedlerbevölkerung seit den Osloer Verträgen,37 300.000 Palästinenser in 532 Wohngebieten, die überwiegend in Sektor C liegen; teilweise aber auch in den Sektoren A und B,38 450.000 Palästinenser im Gaza-Streifen (davon 315.000 palästinensische Flüchtlinge).39 Palästinenser unterliegen in den besetzten palästinensischen Gebieten (OPT) der israelischen Militärgesetzgebung , anders als israelische Siedler, für die die Zivilgesetzgebung gilt. 2. Am Siedlungsbau beteiligte wesentliche politische Akteure innerhalb Israels 2.1. Die israelischen Regierungen Nach Auffassung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen haben alle Regierungen Israels seit 1967 die Planung, den Bau, die Entwicklung, Konsolidierung und Einladung zum Siedlungsbau weitergeführt und waren direkt daran beteiligt, indem sie grundlegende Politikinstrumente , Regierungsstrukturen und bestimmte Werkzeuge entsprechend eingesetzt haben.40 Zu diesen Maßnahmen gehören: Planung und Bau von Infrastruktur sowie Siedlungsbau, die Ermunterung jüdischer Migranten in Israel sich in Siedlungen niederzulassen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Siedlungen, die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen (Strom- und Wasserversorgung, Straßenbau , Müllentsorgung etc.) Landnahme palästinensischer privater Ländereien für militärische Zwecke, Umwandlung von palästinensischem Privatland in öffentliches Staatsgebiet und 37 VN-Menschenrechtsrat VN-Dok. A/HRC/34/39 (15. März 2017), Advance unedited version, verfügbar unter: http://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/israeli-settlements-occupied-palestinian-territory-including -5 (zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2017), S. 4. 38 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs Occupied Palestinian Territory “Under Threat: Demolition Orders in Area C of the West Bank” (2015), verfügbar unter: https://www.ochaopt.org/documents /demolition_area_c_3-9-2015.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 39 Ilan Pappé, “The Jewish Settlements in the West Bank: Occupation and Ethnic Cleansing by Other Means” (2013) Orient: Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur des Orients, Vol. 54, S. 7. 40 VN-GV, Menschenrechtsrat “Report of the Independent International Fact-finding Mission to Investigate the Implications of Israeli Settlements on the Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights of the Palestinian People throughout the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem” (7. Februar 2013), VN-Dok. A/HRC/22/63 (Fn. 6). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 14 die Enteignung von Land für öffentliche Zwecke. Wieviel Geld die Regierung für den Siedlungsbau zur Verfügung gestellt hat, ist nicht im Haushalt der jeweiligen Regierungen aufgeführt. Die Mittelvergabe erfolgte durch versteckte Zuweisungen und wurde vom ehemaligen Chef der israelischen Zivildienstkommission, Itzhak Galnoor (1994-1996) als teilweise geheim beschrieben.41 Die Ausgaben der Regierung für den Siedlungsbau schwankten über die Jahre und erreichten Spitzen von bis zu 795,8 Millionen US-Dollar im Jahr 2005.42 Siedlungen wurden zur nationalen Priorität erklärt und mittels Subventionen zur Schaffung von Wohnraum und für Bildungszwecke sowie durch direkte Anreize für den Industrie-, Landwirtschafts- und Tourismussektor finanziert.43 Nach Auffassung des VN-Menschenrechtsrates spiegelten sich die diversen Pläne zum Siedlungsbau (Allon Plan: 1967; Drobles Plan: 1978; Sharon Plan: 1981) in den politischen Instrumenten, die die israelische Regierung zu ihrer Umsetzung entwickelte. So hat etwa der dem Kabinett von Arbeitsminister Yigal Allon vorgestellte Allon Plan erheblichen Einfluss ausgeübt, um den Siedlungsbau im Sinne der von Allon vorgeschlagenen Gründung von großen Siedlungen und landwirtschaftlicher Tätigkeit im Jordantal und als Sicherheitsgürtel voranzubringen.44 Allons Pläne wurden zwar nicht offizielle Regierungspolitik , dennoch folgte die Regierung seinen Plänen. 1967 initiierte Allon „Keile“ in das Jordantal und zu den Hängen der östlichen Berge des Westjordanlandes, die 1971 fertiggestellt waren. Als Plan wird unterstellt, dass ein entfernter Punkt israelisch besiedelt werden sollte und im Anschluss daran, das Gebiet zwischen der Siedlung und dem Staatsgebiet Israels beansprucht und mit Straßen und militärischen Außenposten versehen werden sollte. Die erste, im September 1967 gegründete Siedlung war Kefar Ezyon. Die politischen Muster, die in Zusammenhang mit der israelischen Siedlungspolitik stehen, werden so beschrieben: Siedler hatten Zugang zu hochrangigen israelischen Regierungsmitgliedern und appellierten an deren emotionale Bindung zu Samaria und Judäa, um sie davon zu überzeugen, den Siedlungsbau durch Landnahme für vermeintliche militärische Zwecke zu ermöglichen und durch die Gründung und Ausweitungen von Siedlungen anzuführen.45 In einem Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen heißt es zum Siedlungsbau in den besetzten Gebieten, Ost-Jerusalem und den besetzten syrischen Golanhöhen, dass „die demographische und territoriale Präsenz der Palästinenser in den besetzten palästinensischen Gebieten durch den fortgesetzten Bevölkerungstransfer durch Israel als Besatzungsmacht in die besetzten 41 So wird etwa der 2012 amtierende Finanzminister Yuval Steinitz mit den Worten zitiert „we’ve doubled the budget for Judea and Samaria. We did this in a low-profile manner, because we didn’t want parties either in Israel or abroad to thwart the move.” Haaretz Editorial, “Like a Thief in the Night” (14. November 2012), verfügbar unter: http://www.haaretz.com/opinion /like-a-thief-in-the-night-1.477544 (zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2017). 42 VN-Menschenrechtsrat, VN-Dok. A/HRC/22/63 (7. Februar 2013), S. 6. 43 Ibid. 44 Efraim Karsh, Peace in the Middle East. The Challenge for Israel (Routledge, London, 1995), S. 138 f. 45 VN-Menschenrechtsrat, VN-Dok. A/HRC/22/63 (7. Februar 2013), S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 15 Gebiete gefährdet sei“.46 Israel hat seit 1970 etwa acht Prozent seiner Bevölkerung in die besetzten Gebiete umgesiedelt und damit die Bevölkerungsstruktur im Westjordanland und in Ost-Jerusalem verändert. Im Jahr 2012 stellten israelische Siedler schätzungsweise 19 Prozent der gesamten Bevölkerung des Westjordanlandes dar.47 Darüber hinaus sind als Folge der israelischen Politik der Umwandlung von privatem palästinensischem Land in öffentliches Staatsland48, in militärisches Sperrgebiet, in israelische Nationalparks und archäologische Kulturstätten 70 Prozent des Gebietes in Sektor C für den Bau palästinensischer Wohnungen gesperrt.49 Ahron Bregman beschreibt die israelische Politik in den besetzten Gebieten in seinem Buch als einen „Zickzackkurs“, der zwei widerstreitenden Impulsen folgte. So sei mit dem Bau großer jüdischer Siedlungen und militärischer Einrichtungen einerseits eine „De-facto-Annexion“ besetzter Gebiete durchgesetzt worden, andererseits habe es den Trend des Rückzugs aus einem Teil der besetzten Gebiete gegeben, oft auf Druck der Staatengemeinschaft. Diese beiden Trends seien auch innerhalb der israelischen Gesellschaft zu beobachten und würden auf Ebene der operationalen Politik zuweilen sogar gleichzeitig verfolgt.50 Nach Auffassung von Ilan Pappé hat die israelische Regierung den Siedlungsbau zum wichtigsten Werkzeug der Kontrolle über die besetzten Gebiete gemacht, ohne diese Gebiete bisher vollständig zu annektieren oder deren Bevölkerung zu vertreiben: „(…) without annexing its people or expelling them, while fooling the world that they were a chip in future negotiations for peace.”51 Pappé beschrieb die Stimmung als gefühlte „internationale Immunität für eine groß angelegte territoriale Expansion“ im Sinne einer fehlenden Bereitschaft, offen gegen die territoriale Expansion vorzugehen. Da die Möglichkeit einer rechtlichen Grundlage für eine Annexion des Westjordanlandes fehlte und einflussreiche Mitglieder der Regierung eine Vertreibung aus moralischen Gründen ebenso ablehnten wie die Integration der palästinensischen Bevölkerung in israelisches 46 VN-Generalversammlung, “Israeli Settlements in the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem, and the Occupied Syrian Golan“ (18. September 2012), VN-Dok. A/67/375, verfügbar unter: https://documentsdds -ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N12/512/28/PDF/N1251228.pdf?OpenElement (zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2017), S. 6 f. 47 Da Veröffentlichungen des israelischen Zentralbüros für Statistik zur demographischen Entwicklung Israels lediglich auf Hebräisch vorliegen, kann diese VN-Angabe nicht durch eine staatliche Quelle verifiziert werden. Ibid., S. 6. Die NRO Peace Now beziffert den prozentualen Anteil israelischer Siedler gemessen an der gesamten Bevölkerung des Westjordanlandes auf 13 Prozent. Vgl. Peace Now „Population“ (2017), verfügbar unter: http://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlements-data/population (zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2017). 48 VN-Menschenrechtsrat VN-Dok. A/HRC/34/39 (15. März 2017), Advance unedited version (Fn. 37), S. 5. 49 Ibid., S. 4. 50 Ahron Bregman, Gesiegt und doch verloren (Fn. 30), S. XXIII. 51 Ilan Pappé, “The Jewish Settlements in the West Bank: Occupation and Ethnic Cleansing by Other Means” (Fn. 39), S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 16 Staatsgebiet, galt es aus israelischer Sicht, Fakten zu schaffen. Aufgrund der großen Zahl palästinensischer Bürger im Gaza-Streifen und Westjordanland schloss sich für Israel die Möglichkeit aus, Palästinensern wie nach 1948 in Israel selbst die Staatsbürgerschaft anzubieten.52 2.2. Die Siedlerbewegung Die Siedlerbewegung hat sich zu einem mächtigen politischen Akteur entwickelt. Nachdem israelische Sicherheitskräfte 1984 Führungspersonen von Gush Emunim, einer Art ideologischer Avantgarde der Siedlerbewegung, festnahmen und wegen terroristischer Aktivitäten gegenüber Palästinensern vor Gericht stellten, kam es zu einem Riss innerhalb der radikalen Organisation . Ihre ideologischen Konzepte allerdings lebten weiter: die der „stillen Annexion“ des Westjordanlandes und dem Zerfall der Zwei-Staaten-Lösung.53 Der israelische Wissenschaftler Ami Pedazhur vertritt die Auffassung, dass bei Territorialstreitigkeiten nicht-staatliche Akteure zunehmend auf gewaltfreie Aktionen setzen, um ihre Ziele der territorialen Aneignung zu erreichen . Sie tun dies, so Pedazhur, mit so großem Erfolg, dass sie zur Fortsetzung des Konfliktes beitragen , wie im Falle der israelischen Siedlerbewegung. Im Anschluss an den Sechs-Tage-Krieg mussten die israelischen Streitkräfte große Gebiete unter ihre Kontrolle bringen, was sie dazu veranlasste, ihre Verantwortung mit enthusiastischen Freiwilligen zu teilen: den Siedlern. Diese studierten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Landbesitz in den besetzten Gebieten und begannen, diese für sich zu nutzen. Auch indem sie Bündnisse mit der Jewish Agency und dem Jüdischen Nationalfonds eingingen, die sie finanziell und mit Expertise beim Landerwerb unterstützten.54 Auf diese Weise durchdrangen Siedler mit ihrer Weltsicht staatliche Einrichtungen und gewannen einflussreiche Persönlichkeiten in Regierung und Verwaltung für ihre Ziele. In den 1980er Jahren wurde der Rat Yesha, eine Dachorganisation für die Selbstverwaltung israelischer Siedlungen, zu einem Vehikel für die Ziele der Siedlerbewegung . Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Erweiterung bestehender Siedlungen und auf den Bau von Straßen hin zu Siedlungen für Israels urbane Zentren sowie für die Lobbyarbeit in den Ministerien für diese Zwecke. Die Ziele der Siedlerbewegung bestanden auch darin, Gebietszugeständnisse zu verhindern und letztlich eine Annexion des Westjordanlandes und Gaza-Streifens zu erreichen, um an die Annexion Ost-Jerusalems von 1980 und der Golanhöhen von 1981 anzuknüpfen. Siedlerfreundliche Verbände wie die Elad Verbände oder Ateret Cohanim, rekrutierten zunächst gesinnungsgleiche Beamte, um anschließend Siedler in Führungspositionen der Verwaltung zu installieren und sich so staatliche Subventionen für ihre Vorhaben zu sichern.55 Nach einem Regierungswechsel zugunsten der Arbeiterpartei im Jahr 1992, in der die Siedlerbewegung nicht 52 Ibid., S. 8. 53 Ami Pedahzur, “The Silent Victory of the Israeli Settlers’ Movement” (2014) Current History: A Journal of Contemporary World Affairs, Vol. 113, S. 350-355. 54 Ibid., S. 352. 55 Ibid., S. 353. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 17 präsent war und im Zuge dessen es bei den Verhandlungen zu den Osloer Verträgen zu Gebietszugeständnissen im Westjordanland und Gaza-Streifen kommen sollte, wurden diese von der Siedlerbewegung auf israelischer Seite, aber auch von Hamas und islamischer Jihad auf palästinensischer Seite als eine Bedrohung ihrer Ziele wahrgenommen. In Reaktion darauf kam es zu gewaltsamen Feldzügen gegen die Friedensgespräche. Israels damaliger Ministerpräsident Yitzhak Rabin hatte einen Stopp des Siedlungsbaus als Bedingung für die Friedensgespräche akzeptiert . Dies wurde allerdings von der Siedlerbewegung nicht mitgetragen und führte schließlich dazu, dass die Siedlerbewegung für den Bau neuer Häuser und Wohneinheiten keine Erlaubnis mehr einholte, sondern – nach israelischem Recht – illegale Außenposten einrichtete. Nach dem Mord an Yitzhak Rabin verlor die Bevölkerung beider Seiten Vertrauen in den Friedensprozess und der Rat Yesha unterstützt von Infrastrukturminister Ariel Sharon schaffte Fakten mit israelischen Außenposten und einem Straßenbau, der die Erweiterung palästinensischer Bevölkerungszentren einzugrenzen suchte. Premierminister Sharons Entscheidung, unilateral israelische Siedlungen im Gaza-Streifen aufzulösen, ist vor dem Hintergrund einer sich anbahnenden Ein-Staaten-Logik zu verstehen, die Israelis zu einer ethnischen Minderheit innerhalb ihres Staates machen würde. Die Frage, welche Handlungsfreiheit die israelische Regierung gegenüber der Siedlerbewegung hat, die Tatsache, dass Besiedlung nicht nur im stillen Einvernehmen mit der israelischen Regierung , sondern teilweise auf Ermunterung durch diese erfolgt ist, führt nach Auffassung von Ami Pedazhur zu einer Situation gegenseitiger Abhängigkeiten, die es der Regierung erschwert, der Siedlerbewegung klare Grenzen zu setzen: Eine kollektive Identität beeinflusst den öffentlichen Raum: “The Israeli government has no choice but to account for the demands of the settler population . They number in the hundreds of thousands; have sympathizers among the broader population, including state leaders; and themselves occupy decision-making positions in the civil service and the Israeli armed forces.”56 Die Siedler selbst werden für die gewaltsame Vertreibung von Palästinensern, die auf siedlungsnahem Grund und Boden leben, verantwortlich gemacht. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem hat zahlreiche Fälle gewaltsamer Übergriffe durch physische Bedrohung, Zerstörung von Ernten- oder palästinensische Strukturen wie Schulen dokumentiert, bei denen die israelischen Streitkräfte nicht einschritten und bei denen die Täter straffrei ausgingen.57 Die israelische Siedlerorganisation „Forum der Peripherie Jerusalems“ hatte jüngst in einem Videobeitrag den EU-Botschafter Lars Faborg-Andersen mit einem Maulkorb dargestellt und mit dem Titel „Wir müssen Faborg zum Schweigen bringen“. Dieser hatte die israelische Regierung 56 Brent E. Sasley und Mira Sucharov, „Resettling the West Bank Settlers” (Fn. 26), S. 999-1017. 57 B'Tselem, “Settler Violence” (März 2017), verfügbar unter: http://www.btselem.org/video-channel/settler_violence (zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 18 für die Zerstörung von Häusern von Palästinensern in Sektor C des Westjordanlandes kritisiert.58 Die Siedlerorganisation drängt auf ein Ende der EU-Hilfen für Beduinensiedlungen entlang der Autostraße zwischen der Großsiedlung Maale Adumim im Norden von Jerusalem und dem Toten Meer.59 Den Siedlern wird eine aktive Rolle zugunsten der Zerstörung von Häusern von Palästinensern durch den israelischen Staat zugesprochen.60 3. Politische Instrumente für Ost-Jerusalem und das Westjordanland Im Folgenden wird ein politisches Instrument näher beleuchtet, das im Zuge der Verhandlungen zum Interimsabkommen 1995 zunächst vorübergehend für einen Zeitraum von zehn Jahren in die Verantwortung der israelischen Behörden fiel, nun aber dauerhaft von ihm genutzt wird. Es handelt sich dabei um die generelle Stadt- und Regionalplanung. Zunächst dargestellt wird in diesem Zusammenhang der Jerusalem Master Plan 2000, der das erklärte politische Ziel hat, ein „Bevölkerungsgleichgewicht“ im Sinne eines Verhältnisses von 60:40 (jüdische vs. arabische Einwohner Jerusalems) herzustellen. 3.1. Stadtplanung und der Jerusalem Master Plan 2000 Der unter Bürgermeister Ehud Olmert entwickelte Jerusalem Master Plan 2000 gilt als der erste umfassende Plan für Jerusalems Stadtplaner, der gleichwohl bis heute offiziell noch nicht beschlossen wurde.61 Grund dafür sind der langwierige Diskussionsprozess des Bezirksplanungsausschusses , aber auch die Intervention durch Israels Innenminister Eliyahu Yishai 2009 mit der Forderung nach Überarbeitung. Dennoch gilt dieser erste umfassende Stadtplanungsprozess als Bezugsrahmen für gegenwärtige Planungsentscheidungen für Jerusalem. Der Plan sieht folgende territoriale Ausweitung des Wohnungsbaus bis 2020 vor: 31.778 Wohneinheiten für Juden (62,4 Prozent) 14.462 Wohneinheiten für Araber (44,3 Prozent) 58 Yotam Berger, “EU Slams Israel’s Destruction of Palestinian Homes in West Bank’s Area C“ (27. Juli 2016), in: Haaretz, verfügbar unter: http://www.haaretz.com/israel-news/1.733729 (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). 59 FAZ.net, “EU-Botschafter als Hannibal Lecter“ (29. Februar 2017), verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell /politik/ausland/naher-osten/israel-siedlerorganisation-stellt-faaborg-andersen-mit-maulkorb-dar- 14096514.html (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). 60 VN-Generalversammlung, VN-Dok. A/67/375 (18. September 2012), (Fn. 46), S. 5. 61 Francesco Chiodelli, “The Jerusalem Master Plan: Planning into the Conflict” (2013), Jerusalem Quarterly, Vol. 51, verfügbar unter: http://www.palestine-studies.org/sites/default/files/jq-articles/51__The_Jerusalem _Master_plan_1.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), S. 50-60. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 19 Im Weiteren sieht der Plan folgende Verdichtung62 von Wohneinheiten vor: 19.131 Wohneinheiten für Juden (37,6 Prozent) 18.168 Wohneinheiten für Araber (55,7 Prozent) Der Jerusalem Master Plan 2000 wird deshalb als ein politisches Werkzeug definiert, weil er darauf abzielt, das „demographische Gleichgewicht“ für Jerusalem in einem Verhältnis von 60:40 (jüdische vs. arabische Einwohner Jerusalems) dauerhaft zu gewährleisten.63 Zur Umsetzung dieses Zieles setzt die Politik nach Auffassung des Wissenschaftlers Francesco Chiodelli auf die Strategie der verstärkten Judaisierung und Ent-Arabisierung bzw. Eindämmung der Ausdehnung des Wohnungsbaus in den arabischen Stadtvierteln. Als Werkzeug dient nach Auffassung Chiodellis die Genehmigungspolitik der Stadtverwaltung, die im Falle arabischer Bauvorhaben äußerst restriktiv gehandhabt wird und einer Wohnraumverdichtung vor einer territorialen Ausdehnung den Vorrang gibt, im Falle jüdischer Bauvorhaben hingegen auf territoriale Ausdehnung setzt. Dies hängt damit zusammen, dass etwa für Bezirke mit akutem Infrastrukturmangel keine Baugenehmigung erteilt wird. Auch wird in Bezirken, in denen kein detaillierter Plan vorliegt, keine Baugenehmigung erteilt. Weitere Probleme für arabische Bewohner Jerusalems stehen in Zusammenhang mit den hohen Kosten für Baugenehmigungen und den Problemen eines fehlenden Katasteramtes. Bauprojekte benötigen die Genehmigung der betreffenden Ausschüsse, die Kontrolle darüber liegt bei Israel, wie es im Interimsabkommen von 1995 festgelegt ist. Für Ost-Jerusalem beschriebene Einschränkungen gelten auch für Sektor C des Westjordanlandes. Zwischen 2010 und 2015 hat die palästinensische Autonomiebehörde zusammen mit 116 palästinensischen Gemeinden Bebauungspläne für Sektor C vorbereitet. Nur drei von 67 Plänen wurden von der israelischen Ziviladministration genehmigt.64 Demgegenüber haben die israelischen Behörden zwischen 2010 und 2015 Ausschreibungen für den Bau von 12.639 Wohneinheiten auf öffentlichem Land in Siedlungen des Sektors C veranlasst.65 Die israelische Regierung hat seit 1967 Grundbesitz im Umfang von etwa 35 Prozent des Territoriums von Ost-Jerusalem (etwa 24,5 Quadratkilometer) enteignet, um darauf überwiegend jüdische Wohneinheiten zu schaffen. Auch die Genehmigungen für 393 neue Häuser bei Neve Ya’acov und 2.337 neuen Häusern bei Givat Hamatos C entsprechen den im Master Plan 2000 vorgesehenen Ausdehnungsgebieten.66 62 Verdichtung bedeutet, dass bestehende Gebäude aufgestockt werden dürfen, um einen weiteren Flächenverbrauch zu vermeiden. 63 Ibid., S. 6 f. Seit 1967 hat sich das Verhältnis jüdischer zu arabischer Bevölkerung zugunsten der arabischen Bevölkerung verschoben. Waren 1967 von 266.3000 Einwohnern Jerusalems noch 74 Prozent jüdisch und 25,8 Prozent arabisch, waren von 789.000 Einwohnern im Jahr 2011 rund 64 Prozent jüdisch und 36 Prozent arabisch. 64 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), “Under Threat: Demolition Orders in Area C of the West Bank” (7. September 2015), verfügbar unter: https://www.ochaopt.org/content/underthreat -demolition-orders-area-c-west-bank (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), S. 13. 65 Ibid. 66 Francesco Chiodelli, “The Jerusalem Master Plan” (Fn. 61), S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 20 3.2. Verteilung von Baugenehmigungen für palästinensischen Wohnungsbau Der VN-Nothilfekoordinator für die besetzten palästinensischen Gebiete (OCHA) hält das Planungs - und Gebietsverteilungswesen für ein Instrument israelischer Regierungen, den Zugang zu Land und Ressourcen für Palästinenser stark einzuschränken. Diese Einschränkungen gelten bis heute, obwohl nach dem Interimsabkommen von 1995 die Zuständigkeit für das Planungs- und Gebietsverteilungswesen allmählich von der israelischen Zivilverwaltung auf die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übergehen sollte.67 Dennoch unterliegen Baugenehmigungen für Häuser, Viehunterstände oder Infrastrukturprojekte palästinensischer Gemeinden in Sektor C des Westjordanlandes nach wie vor der Genehmigungspflicht durch die israelische Zivilverwaltung (ICA) im Verantwortungsbereich des Verteidigungsministeriums. Nur auf 30 Prozent des Gebietes in Sektor C werden Bauaktivitäten von Palästinensern in Gebieten genehmigt, die allerdings überwiegend für israelischen Siedlungsbau oder die IDF ausgewiesen sind und für die auch weitere Einschränkungen durch die israelische Ziviladministration gelten.68 So gelten für diese Gebiete die obligatorischen Regionalpläne aus den 1940er Jahren, die das Gebiet überwiegend in Agrargebiete einteilen. Die Planungsverantwortlichkeiten für Sektor C wurden zu Beginn der Besatzung zentralisiert und schließen eine Teilnahme oder ein Input von palästinensischer Seite an der Gestaltung und Einteilung von Bebauungsflächen generell aus, anders als dies zuvor das jordanische Planungs- und Bebauungsrecht vorsah. 3.3. Baugenehmigungen für Ost- und West-Jerusalem Zwischen 1967 und 2012 wurden für die palästinensischen Bezirke Ost-Jerusalems insgesamt 4.300 Baugenehmigungen erteilt. Das kann sowohl eine Wohnhauserweiterung bedeuten wie auch die Baugenehmigung für eine Einzimmerwohnung oder mehrere Apartments.69 Dabei kommt es in der Genehmigungspraxis zu Fluktuationen und Veränderungen, mit dem Wandel in der Kommunalpolitik zusammenhängen: Während 1967 und 1972 nur acht Baugenehmigungen für die palästinensischen Bezirke Ost-Jerusalems erteilt wurden, liegt ihre Zahl in den Jahren 1980 bis 2000 bei durchschnittlich 200 pro Jahr. Der Anstieg an Baugenehmigungen ist auch Ausdruck einer allmählichen Anpassung der palästinensischen Bewohner Ost-Jerusalems an die israelische Planungsbürokratie durch Vorlage von genehmigungsfähigen Plänen sowie Bezugnahme auf Artikel 78 des Planungs- und Baurechts. Zwischen 2005 und 2009 belief sich die Zahl der von der Baugenehmigungsbehörde der Kommune Jerusalem erteilten positiven Bescheide auf 3.197 für Wohnhäuser für ganz Jerusalem. Davon entfielen 1.932 Baugenehmigungen auf West-Jerusalem und 662 positive Baubescheide auf 67 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs Occupied Palestinian Territory, “Restricting Space: The Planning Regime Applied by Israel in Area C of the West Bank” (Dezember 2009), verfügbar unter: https://www.ochaopt.org/documents/special_focus_area_c_demolitions_december_2009.pdf (zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2017), S. 2. 68 Ibid. 69 BIMKOM-Planners for Planning Rights, “Trapped by Planning“ (Fn. 27), S. 68 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 21 die israelischen Bezirke im Ostteil der Stadt, aber nur 603 positive Bescheide für die palästinensischen Bezirke. Nur etwa 55,5 Prozent der Anträge auf Baugenehmigung (1.087 Anträge) erhielten einen positiven Bescheid für die palästinensischen Bezirke. Demgegenüber lag die Genehmigungsquote in West-Jerusalem mit 1.932 positiven Bescheiden von 2.242 Anträgen bei 86 Prozent deutlich darüber.70 Dies wird auf strengere Anforderungen beim Nachweis für Bodenbesitz und -registrierungsverfahren durch die Kommune zurückgeführt.71 Letztlich hängt die Knappheit an Wohnraum für die arabischen Bewohner Ost-Jerusalems damit zusammen, dass es keine formalisierten Landregistrierungsverfahren gab und der Grund und Boden nie im israelischen Katasteramt registriert wurde.72 Ebenso restriktiv werden Baugenehmigungen für Palästinenser im Westjordanland verteilt. Während die israelische Zivilverwaltung die Bauaktivitäten palästinensischer Gemeinden einerseits stark einschränkt, genehmigt sie andererseits detaillierte Pläne für nahezu alle israelischen Siedlungen im Westjordanland.73 Die Schwierigkeiten, eine Baugenehmigung von der ICA zu erhalten , wirken sich auch direkt auf die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen der PA aus, die nach dem Interimsabkommen für den Zugang von Gesundheitsleistungen und die Bildung der palästinensischen Bewohner von Sektor C zuständig sind. Auf ähnliche Schwierigkeiten beim Erhalt von Baugenehmigungen trifft auch die internationale Staatengemeinschaft mit Projekten der humanitären Hilfe. Die Restriktionen bei der Vergabe von Baugenehmigungen haben sich in den Folgejahren noch verschärft. So hat die israelische Zivilverwaltung dem EU-Botschafter Lars Faborg-Anderson zufolge 2014 nur eine Baugenehmigung für Palästinenser erteilt, im Folgejahr 2015 wurde kein Antrag auf Baugenehmigung positiv beschieden.74 In den Jahren 2009 bis 2013 wurden nur 34 Baugenehmigungen für palästinensische Strukturen erteilt. Demgegenüber seien in Sektor C für den israelischen Hausbau jährlich etwa 1.500 Baugenehmigungen erteilt worden. 3.4. Häuserzerstörung aufgrund fehlender Baugenehmigungen Israel beruft sich bei der Zerstörung palästinensischer Strukturen, die ohne Baugenehmigung errichtet wurden, auf jordanisches Recht sowie Zusätze im israelischen Militärrecht, das bereits in Kraft war, als die Besetzung des Westjordanlandes durch Israel begann. Zudem begründen Israels Behörden die Rechtmäßigkeit von Häuserabriss mit dem Interimsabkommen von 1995. 70 Ibid., S. 71. 71 Ibid., S. 70 f. 72 Ibid., S. 73. 73 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs occupied Palestinian Territory, “Restricting Space: The Planning Regime Applied by Israel in Area C of the West Bank”, (Fn. 67), S. 4. 74 The Times of Israel, “UN: Israel ‘systematically’ emptying Area C of Palestinians” (28. Juli 2016), verfügbar unter : http://www.timesofisrael.com/un-israel-systematically-emptying-area-c-of-palestinians/ (zuletzt aufgerufen am 12. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 22 Einem Bericht von OCHA zufolge soll die israelische Zivilverwaltung zwischen 1988 und 2014 insgesamt 14.087 Abrissanordnungen gegen palästinensische Strukturen in Sektor C ausgestellt haben.75 In vielen Fällen sind bei der gleichen Abrissanordnung verschiedene Strukturen eines Haushaltes betroffen, also etwa das Wohnhaus, die Viehunterstände, Latrinen etc. Schätzungen gehen von 17.000 vom Abriss betroffener Strukturen aus.76 Dem Archiv der israelischen Zivilverwaltung zufolge sind davon etwa 20 Prozent der Abrissanordnungen (2.802 Anordnungen) bis Dezember 2014 ausgeführt worden. Ein Prozent der Verfügungen wurde widerrufen, die verbleibenden 11.134 Abrissbefehle wurden bis Januar 2015 noch nicht durchgeführt.77 Geographisch konzentrieren sich die ausstehenden Abrissverfügungen zu 33 Prozent auf das Gouvernement Hebron, zu 16 Prozent auf Jerusalem, 11 Prozent auf Ramallah und 10 Prozent auf das Gouvernement Bethlehem.78 Zu einer besonders hohen Konzentration von Abrissbefehlen kam es in palästinensischen Gemeinden, die in Nachbarschaft zu israelischen Siedlungen oder militärischen Übungsgebieten lagen. Ein Drittel der noch ausstehenden Abrissbefehle (4.325) richtet sich gegen palästinensische Beduinen und ähnliche Gemeinden.79 Laut dem VN-Nothilfekoordinator wurden im Jahr 2009 insgesamt 180 palästinensische Gebäude und Strukturen aufgrund fehlender Baugenehmigungen zerstört; 319 palästinensische Anwohner wurden obdachlos, darunter 167 Kinder.80 Die Zahl zerstörter Strukturen in palästinensischen Gemeinden zwischen 1998 bis 2009 beläuft sich auf 2.450 infolge fehlender Baugenehmigungen durch die ICA. Die israelische Menschenrechtsgruppe B’Tselem berichtet in einem Blog über die Vorgehensweise und den Umfang von Häuser- und Wohnraumzerstörung sowie Zerstörung von Viehunterständen im Westjordanland in Sektor C. Ihren Ausführungen zufolge wurden zwischen Januar und März 2016 insgesamt 435 Menschen einschließlich 234 Minderjähriger infolge von Abrissaktivitäten des israelischen Militärs und der Ziviladministration obdachlos, da ihre Behausungen ohne Baugenehmigungen errichtet worden waren. Die Räumung und der Abriss betrafen Gemeinden im Umfeld von Hebron, Ma’ale Adumim und dem Jordantal.81 75 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), „ Under Threat: Demolition Orders in Area C of the West Bank” (Fn. 64), S. 5. 76 Ibid. 77 Ibid. 78 Ibid., S. 7. 79 Ibid., S.8. 80 United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs Occupied Palestinian Territory, „ Restricting Space: The Planning Regime Applied by Israel in Area C of the West Bank” (Fn. 64), S.2 f. 81 B’Tselem, „Facing Expulsion“ (8. März 2016), verfügbar unter: http://www.btselem.org/facing_expulsion _blog?community=All&nid=148952&page=3 (zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 23 3.5. Häuserzerstörung als kollektive Bestrafungsaktion palästinensischer Attentäter und ihrer Familien oder als Abschreckungsmaßnahme Die Zerstörung von Häusern oder Wohnungen in Ost-Jerusalem, dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland sind nach Darstellung der israelischen Regierung Maßnahmen der Abschreckung vor weiteren terroristischen Angriffen durch die palästinensische Bevölkerung. Von Angehörigen palästinensischer Attentäter oder Hausbewohnern, die ohne familiäre Beziehung zu den Attentätern ebenfalls obdachlos werden, werden sie als Kollektivbestrafung empfunden. Seit 1967 haben israelische Behörden in Reaktion auf Attentate oder geplante Anschläge auf Zivilisten oder israelische Soldaten Hunderte Häuser von palästinensischen Attentätern im Gaza-Streifen oder Westjordanland entweder zerstört oder versiegelt.82 Im Jahr 2001 wurde diese Abschreckungs- und Vergeltungsmaßnahme gegen 10 Häuser in den besetzten Gebieten eingesetzt, wodurch 88 Menschen obdachlos wurden.83 2003 waren 225 Häuser in den besetzten Gebieten betroffen und 1.805 Menschen wurden obdachlos. 2004 waren es 177 zerstörte Häuser und 909 Menschen, die ihr Zuhause verloren. Am 17. Februar 2005 kündigte Israels Verteidigungsminister an, auf diese Maßnahme künftig zu verzichten. Allerdings wurden im Jahr 2014 erneut vier Häuser zerstört und 40 Palästinenser verloren ihr Zuhause. Häuserzerstörungen finden in der Regel ohne vorherige Anhörung oder Gerichtsverfahren statt. Bis zur zweiten Intifada wurde der Befehl vom Regionalkommandeur gemäß Section 119 der „Emergency defense regulations of 1945“ erteilt.84 Daraus bezieht der Militärkommandeur seither die Kompetenz, Häuser von Gewalttätern gegen israelische Staatsbürger zu zerstören. Section 119 gewährte betroffenen Familien eine Frist von 48 Stunden, um Berufung einzulegen. Im Falle einer abgelehnten Berufung konnten betroffene Personen seit 1989 eine Petition vor dem Obersten Gerichtshof Israels einreichen, bevor das Haus zerstört wurde. Über die Jahre wurden über 150 Urteile zu solchen Petitionen erlassen, wobei der Oberste Gerichtshof dem israelischen Staat gefolgt ist.85 Dieser charakterisierte die Maßnahmen als erforderlich, um Palästinenser vor weiteren Gewalttaten abzuschrecken. Während der zweiten Intifada haben die Israeli Defense Forces (IDF) nächtliche Häuserzerstörungen als eine imperative militärische Maßnahme durchgeführt, ohne die Familien vorher 82 Eline Gordts, „Israel Brought Back A Controversial Response to Terror Attacks” (21. November 2014), Huffington Post, verfügbar unter: http://www.huffingtonpost.com/2014/11/21/israel-house-demolitions _n_6194454.html (zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2017). 83 B’Tselem “House Demolitions as Punishment” (20. März 2017), verfügbar unter: http://www.btselem.org/punitive _demolitions/statistics (zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2017). 84 B’Tselem „Defense Regulations” (2017) verfügbar unter: http://www.btselem.org/legal _documents/emergency_regulations (zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2017). 85 Hamoked „House Demolitions“ (2017) verfügbar unter: http://www.hamoked.org/topic.aspx?tid=main_3 (zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 24 darüber zu informieren.86 Auch hier akzeptierte der Oberste Gerichtshof die staatliche Position, dass eine vorherige Ankündigung die IDF in Gefahr bringen und die Aktion vereiteln könnte.87 Während der zweiten Intifada haben für jede bestrafte Person etwa 12 Personen ihr Haus verloren . 3.6. Zugang zu Trinkwasserversorgung Als Israel das Westjordanland und den Gaza-Streifen 1967 besetzte, gab es überschneidende Rechtssysteme in den besetzten Gebieten bestehend aus ottomanischen, britischen, jordanischen und ägyptischen Gesetzen. Sie stellten das Erbe der Mächte dar, unter deren Kontrolle die Gebiete sich zuvor befanden. Ein Wechsel des rechtlichen Rahmens wurde mit der israelischen Besatzung durch Erlass verschiedener militärischer Befehle herbeigeführt, mit denen Israel die Kontrolle über Boden- und Wasserressourcen in den besetzten palästinensischen Gebieten erzielte . Der militärische Befehl 92 vom 15. August 1967 wies den israelischen Streitkräften die vollständige Verantwortung für alle die Wasserversorgung betreffenden Entscheidungen zu.88 Der militärische Befehl 158 vom 19. November 1967 legt fest, dass Palästinenser keine neuen Wasseranlagen ohne die vorherige Einwilligung der israelischen Streitkräfte bauen dürften und alle Wasseranlagen, die ohne vorherige Erlaubnis gebaut werden, beschlagnahmt werden können. Mit dem militärischen Befehl 291 vom 19. Dezember 1968 wurden alle boden- und wasserbezogenen Vereinbarungen aufgehoben, die zeitlich vor der Besetzung des Westjordanlandes durch Israel lagen. 89 Die israelische Wassergesellschaft Mekorot wurde 1937 gegründet und verwaltet den Großteil der Wasserversorgung in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Das israelische Wassergesetz von 1959 erkennt gemeinsame Oberflächen- und Grundwasserressourcen nicht an. Der Gebrauch von Wasser liegt im Rechtsbereich des Landwirtschaftsministeriums, das Normen zur Preis- und Mengenfestlegung, den Bedingungen der Versorgung und der Wassernutzung ebenso festlegen kann, wie Regeln für den effizienten und wirtschaftlichen Nutzen von Wasser. Auch eine Mengenbegrenzung liegt in der Autorität des Landwirtschaftsministeriums. Regelungen zum Wasserrecht sind nicht in Israels Grundgesetz enthalten. Der Oberste Gerichtshof Israels hat 1989 festgelegt, dass das Recht auf Wasser ein Grundrecht ist, das allerdings nicht per Statut festgelegt werden muss. Der Zugang zu Wasser und Zisternen für Palästinenser in angrenzenden Dörfern 86 B’Tselem „Punitive House Demolitions from the Perspective of International Law” (1. Januar 2011), verfügbar unter: http://www.btselem.org/punitive_demolitions/legal_basis, (zuletzt aufgerufen am 18. Mai 2017). 87 Ibid. 88 Amnesty International, „Troubled Waters” (Fn. 36), S. 12. 89 Ibid. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 25 auf palästinensischem Land im Westjordanland wird durch Israels Ausweitung von militärischem Sperrgebiet eingeschränkt.90 Israel bezieht etwa ein Drittel seines Wassers aus dem Jordan, Palästinenser haben keinen Zugang zum Flussufer.91 Siedler im Jordantal erhalten durchschnittlich die 18-fache Menge an Wasser gegenüber palästinensischen Bewohnern des Westjordanlandes und um das 2,5-fache mehr Wasser als Verbraucher israelischer Gemeinden. Auf 10.000 Siedler im Jordantal entfallen 45 Mio. Kubikmeter Wasser, das entspricht 30 Prozent des Gesamtverbrauchs der Palästinenser im Westjordanland .92 Die größten Wasservorräte der Gegend entstammen dem Grundwasserlauf der Berge (mountain aquifer), die zu beiden Seiten der seit 1949 geltenden Grünen Grenze liegen. 3.7. Rechtlich-bürokratische Instrumente der Landnahme für israelische Siedlungen in Sektor C des Westjordanlandes Seit 1979 werden palästinensische Privatgrundstücke aufgrund militärischer Anordnung (military requisition orders) enteignet, die dann für den Bau von Siedlungen und nicht für militärische oder sicherheitsrelevante Zwecke vorübergehend genutzt wurden. Israels Oberster Gerichtshof folgte bis 1979 der Argumentation, dass die Siedlungen sicherheitsrelevanten Zwecken dienten . Im Falle Elon Morehs verlangte der Oberste Gerichtshof die Rückgabe von Land an seine palästinensischen Besitzer. Im Anschluss an das Urteil wurde die Zahl militärischer Anordnungen zur Landnahme für Siedlungszwecke eingeschränkt, derart übertragenes Land aber nicht zurückgegeben .93 Nach Unterzeichnung der Prinzipienerklärung (Oslo I) von 1994 wurde die Praxis der Landnahme durch militärische Anordnungen für den Bau von Umgehungsstraßen für den Neueinsatz der IDF wieder aufgenommen. Zudem werden Ländereien zur gemeinschaftlichen Nutzung enteignet . Auch wurde Land für die (ursprünglich palästinensische) Öffentlichkeit durch fehlerhafte Auslegung des Ottomanischen Landgesetzes von 1858 enteignet, die 40 Prozent des Westjordanlandes zu öffentlichem Land (state land) erklärten. Dieses Land wurde für den Siedlungsbau bereitgestellt .94 Häufig erhielten die Landeigentümer keine Information darüber, dass ihr Land zu 90 Amnesty International, „Troubled Waters” (Fn. 36). 91 VN-GV, VN-Dok. A/HRC/25/38 (12. Februar 2014), verfügbar unter: http://www.securitycouncilreport .org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3-CF6E4FF96FF9%7D/A_HRC_25_38.pdf (zuletzt aufgerufen am 19. Mai 2017). 92 Peace Now, „The Jordan Valley, Policy Of Palestinian Dispossession in the Jordan Valley & North Dead Sea Area (2017), S. 2. 93 B’Tselem, “Access Denied: Israeli Measures to Deny Palestinians Access to Land around Settlements” (2008), verfügbar unter: http://www.btselem.org/download/200809_access_denied_eng.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), S. 16. 94 Ibid., S. 17. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 26 öffentlichem Land erklärt wurde, so dass, wenn sie davon Kenntnis erhielten, zumeist die Einspruchsfrist verstrichen war. Zudem lag die Beweislast für die Besitzverhältnisse bei palästinensischen Eigentümern. Israels Höchstes Gericht hielt dieses Verfahren für legal und lehnte Petitionen von Palästinensern grundsätzlich ab. 4. Zwangsumsiedlungen (1967-1992) Zwangsumsiedlungen begannen kurz nach der Besetzung im Jahre 1967 und fanden ihren vorläufigen Höhepunkt in der Umsiedlung von 415 Personen, die angeblich der Hamas und islamistischen Jihadisten nahestanden, im Jahre 1992.95 Nach israelischer Darstellung erfolgt die Zwangsumsiedlung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung in den Gaza-Streifen, nach Israel oder in angrenzende Länder aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen oder zur Vermeidung, Einhegung oder Bestrafung von Terrorismus durch Palästinenser. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem beziffert die Zahl der aus den besetzten Gebieten entfernten und mit staatlicher Gewalt umgesiedelten Palästinenser für die Jahre 1967 bis 1992 auf 1.522.96 Dabei sei keinem der Zwangsumgesiedelten zuvor eine Straftat nachgewiesen oder dieser in einem Strafverfahren rechtskräftig verurteilt worden. Aus rechtlicher Perspektive gelten diese Personen also als unschuldig. Von „Massenabschiebungen“ von über 400 Palästinensern in eine von Israel gekennzeichnete „Sicherheitszone“ im Süden des Libanon am 17. Dezember 1992 berichtet die New York Times.97 Dabei seien die Menschen gefesselt und mit Augenbinden versehen per Bus in eine Pufferzone an der südlichen Grenze des Libanon gefahren und dort ausgesetzt worden. Die Abschiebungen auf Anordnung der israelischen Regierung seien als „Bestrafungsaktion“ geplant und einen Tag später vom Obersten Gerichtshof genehmigt worden.98 Israels damaliger Ministerpräsident Yitzhak Rabin hatte die Ausweisungen als einen „notwendigen Schlag gegen islamistische Fundamentalisten“ verteidigt, die zuvor vier israelische Soldaten und einen Grenzpolizisten getötet hatten und deren Entfernung als notwendig zur Sicherung des Nahostfriedensprozesses erachtet wurde. Nach Auffassung des Obersten Gerichtes handelte es sich im Fall der über 400 ausgewiesenen Palästinenser nicht um eine „Kollektivan- 95 Benjamin Rubin, „Israel, Occupied Territories“ (Fn. 28), Rn. 114. 96 B’Tselem, „Deportations“ (1. Januar 2011), verfügbar unter: http://www.btselem.org/deportation (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 97 Clyde Haberman, „Israel Expels 400 from Occupied Lands; Lebanese Deploy to Bar Entry of Palestinians (18. Dezember 1992), verfügbar unter: http://www.nytimes.com/1992/12/18/world/israel-expels-400-occupiedlands -lebanese-deploy-bar-entry-palestinians.html?pagewanted=all (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 98 Clyde Haberman, „Israel’s Highest Court Upholds The Deportation of Palestinians“ (29. Januar 1993), verfügbar unter: http://www.nytimes.com/1993/01/29/world/israel-s-highest-court-upholds-the-deportation-of-palestinians .html?pagewanted=all (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 27 ordnung“, sondern um eine „Ansammlung individueller Anordnungen“.99 Seit 2002 werden nach Aussagen B’Tselems zur Abschreckung gegen Gewalt oder geplante Gewaltakte die Familien von Verdächtigen vom Westjordanland in den Gaza-Streifen abgeschoben . Bis 2011 sind 32 solcher Fälle von Ausweisungen aus dem Westjordanland bekannt geworden . Deren Rechtsgrundlage sind Verwaltungsakte, keine gerichtlichen Anweisungen. Diese Verwaltungsakte basieren wiederum auf Vorschrift 112 der Anordnung für den Notfall aus dem Jahr 1945.100 Damit wird der Regionalkommandeur ermächtigt, per Anordnung, eine Person zum Verlassen und Fernbleiben Palästinas aufzufordern ("to make an order under his hand, requiring any person to leave and remain out of Palestine"). Obwohl diese Anordnung in Israel 1979 aufgehoben wurde, bleibt sie für die besetzten Gebiete weiterhin in Kraft. Als Gründe für Ausweisungen wurde die Vermeidung einer von dem/der Auszuweisenden ausgehenden Gefahr angegeben. In der Praxis soll die Ausweisung als alternative Bestrafung zu Rechtsstrafen aufgrund politischer Erwägungen und nicht aus Sicherheitsgründen angewandt worden sein. Nach Auffassung von B’Tselem hat Israel Palästinenser unter Missachtung ordentlicher Verwaltungs- und Rechtsverfahren abgeschoben, d.h. ohne vorherige Gerichtsverhandlung .101 Als eine weitere gewaltsame Umsiedlung gilt die Verlegung von palästinensischen Gefangenen vom Ost-Jerusalem und dem Westjordanland nach Israel. Einem Bericht des BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights zufolge werden palästinensische Häftlinge systematisch zu einem von 17 Gefängnissen innerhalb Israels überführt. Das Ofer Prison befindet sich als einziges Gefängnis innerhalb des Westjordanlandes.102 Folge des „systematischen und illegalen Transfers“ palästinensischer Gefangener aus den OPT ist die Isolierung von Familienmitgliedern , die für ihren Grenzübertritt nach Israel einer Genehmigung bedürfen, die ihnen „regelmäßig verweigert“ werde, insbesondere für männliche Familienmitglieder im Alter zwischen 16 und 35 Jahren.103 In Zusammenhang mit der Inhaftierung von Palästinensern in israelischen Strafanstalten wird auch von einem „erzwungenen Transfer“ von Gefangenen in den Gaza- 99 B’Tselem, „The Mass Deporation of 1992“ (1. Januar 2011), verfügbar unter: http://www.btselem.org/deportation /1992_mass_deportation (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 100 B’Tselem, „Legal Basis for Deportation“ (1. Januar 2017), verfügbar unter: http://www.btselem.org/deportation /legal_basis (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 101 B’Tselem, „Deportations“ (1. Januar 2011), verfügbar unter: http://www.btselem.org/deportation (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 102 BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights, „ Forced Population Transfer: The Case of Palestine” (Dezember 2016), verfügbar unter: http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/wp19- Suppression-of-Resistance.pdf (zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2017), S. 57 f. 103 Ibid., S. 57. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 28 Streifen berichtet, als Druckmittel für ein Geständnis sowie als Kondition für die Freilassung im Rahmen von Verhandlungen zum Gefangenenaustausch.104 Einem gemeinsamen Bericht von B’Tselem und HaMoked vom April 1997 zufolge führten Gesetze , Regulierungen, Gerichtsurteile und Regierungstaktiken seit 1996 zu einer “stillen Zwangsumsiedlung ” von Palästinensern aus Ost-Jerusalem und dem Verlust ihrer Rechte als Anwohner der Stadt.105 Der Bericht schlussfolgert, dass dies in Kontinuität mit Israels Politik von 1967 stehe mit dem Ziel die demographische Bevölkerungsstruktur und geographische Realität so zu verändern, dass Israels Souveränität über Ost-Jerusalem nicht angefochten werden könne. “The quiet deportation is a direct continuation of Israel’s overall policy in East Jerusalem since 1967, whose goal is to create a demographic and geographic reality such that Israel’s sovereignty in East Jerusalem cannot be challenged.” Zahlreiche Palästinenser hätten Ost-Jerusalem aufgrund von Einschränkungen beim Häuserbau und einer verweigerten Familienzusammenführung verlassen und ihren Wohnsitz außerhalb der Stadt verlegt. In der Konsequenz hätten sie damit dauerhaft ihr Rückkehrrecht für Jerusalem verloren , der Stadt, in der sie geboren wurden und aufwuchsen und die sie als ihre Heimatstadt betrachteten .106 Natalie Grove zufolge, einer Vertreterin des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte , schaffe Israels Politik in Sektor C des Westjordanlandes ein so restriktives Umfeld, dass es Palästinenser zum Verlassen ihrer Heimat „zwinge“.107 Mit Blick auf 180 palästinensische Gemeinden in Sektor C, die über keinen Wasseranschluss verfügten und deren Bewohner nur teilweise Zugang zu Gesundheitsversorgung und Schulbildung hätten, bezeichnete sie die israelische Politik in Sektor C als „systematisch und umfassend einschränkend“. Die Bewohner verließen Sektor C unter Zwang, was einer Zwangsumsiedlung gleichkomme. Auch der VN-Koordinator für humanitäre Hilfe und Entwicklung für die besetzten Gebieten und Ost-Jerusalem Robert Piper sowie Scott Anderson von der VN-Hilfsorganisation für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) sprechen im Februar 2017 von einem vergleichbar restriktiven Umfeld für eine Beduinengemeinde nahe Ost-Jerusalem, das unter Umsiedlungsdruck durch den Staat Israel geraten sei. Ihren Angaben zufolge sind fast 140 Gebäude der Beduinengemeinde Khan al Ahmar im Westjordanland vom Abriss bedroht nachdem die israelischen Behörden am 104 BADIL Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights, „ Forced Population Transfer: The Case of Palestine” (Fn. 102), S. 57 f. 105 B’Tselem, „The Quiet Deportation: Revocation of Residency of East-Jerusalem Palestinians, April 1997” (April 1997), verfügbar unter: http://www.btselem.org/publications/summaries/199704_quiet_deportation (zuletzt aufgerufen am 12. Mai 2017). 106 Ibid. 107 The Times of Israel, „UN: Israel ‘Systematically’ Emptying Area C of Palestinians“ (28. Juli 2016), verfügbar unter : http://www.timesofisrael.com/un-israel-systematically-emptying-area-c-of-palestinians/ (zuletzt aufgerufen am 12. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 29 15. und 19. Februar 2017 militärische „stop work and demolition orders“ verteilt haben.108 Beide Koordinatoren haben sich gegen eine „Umsiedlung“ von Gemeinden ohne deren freiwillige Zustimmung ausgesprochen, die aus Sicht der VN „einem erzwungenen Transfer bzw. einer Vertreibung “ gleichkomme.109 Menschenrechtsgruppen wandten sich insbesondere gegen eine Anordnung zur Zwangsumsiedlung von Palästinensern aus dem Westjordanland in den Gaza-Streifen, um Infiltration zu vermeiden (Gesetzesnovelle Nr. 2) und eine Anordnung hinsichtlich Sicherheitsvorkehrungen (Gesetzesnovelle Nr. 112), die am 13. April 2010 für das Westjordanland in Kraft treten sollte.110 Demnach wäre jede Person, die sich ohne eine vom militärischen Kommandeur herausgegebene Erlaubnis für das Westjordanland dort aufhält, ein Eindringling, der zwangsumgesiedelt werden könnte. Der Anordnung von 2010 zufolge könnte jeder Palästinenser strafrechtlich verfolgt oder in den Gaza-Streifen zwangsumgesiedelt werden.111 5. Ausgewählte Stationen des israelischen Siedlungsbaus seit 1967 Jede israelische Regierung hat eine Ausdehnung des Siedlungsbaus seit 1967 zugelassen. Gegenwärtig sind es über 130 Siedlungen112, die vom israelischen Innenministerium als „Gemeinden“ bezeichnet werden.113 Insgesamt 43 Prozent des Bodens in Sektor C des Westjordanlandes einschließlich des als staatliches Land ausgewiesenen Territoriums, darunter auch fruchtbare Böden und Weideland, Wasserquellen und andere natürliche Ressourcen sowie touristische Gebiete wurden dem Siedlungsbau zugewiesen.114 Gegenwärtig leben etwa 594.000 israelische Siedler im 108 OCHA, „UN Officials Visit Palestinian Community under Transfer Threat – Call on Israel to Respect International Law” (22. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.ochaopt.org/content/un-officials-visit-palestiniancommunity -under-transfer-threat-call-israel-respect (zuletzt aufgerufen am 15. Mai 2017). 109 Ibid. 110 HAMOKED, „Order regarding Prevention of Infiltration (Amendment no. 2)” (11. April 2010), verfügbar unter: http://www.hamoked.org.il/items/112304_eng.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 111 Israel Defense Forces, „Order No. 1650, Order regarding Prevention of Infiltration (Amendment no. 2)” (11. April 2010), verfügbar unter: http://www.hamoked.org.il/items/112301_eng.pdf (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). BBC verfügbar unter: http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/8637986.stm (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017). 112 Die Zahl der Siedlungen im Westjordanland variiert je nach Quellen. Die NRO Peace Now spricht von 131 Siedlungen . Peace Now, „Settlements“ (2017), verfügbar unter: http://peacenow.org.il/en/settlements-watch/settlementsdata /population (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). 113 B‘Tselem, „Land Expropriation and Settlements” (11. Mai 2017), verfügbar unter: http://www.btselem.org/settlements (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). 114 VN-GV, VN-Dok. A/68/513 (9. Oktober 2013), S. 12. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 30 Westjordanland und 200.000 Israelis in Ost-Jerusalem. Für Palästinenser sind Ost-Jerusalem und das Westjordanland nicht zwei getrennte Einheiten, sondern ein besetztes Gebiet. Mit dem Entstehen von Siedlungen hat sich die israelische Regierung verpflichtet, die Sicherheit seiner Staatsangehörigen im Westjordanland zu gewährleisten, ein Grund für die dortige starke Präsenz der israelischen Streitkräfte. Unter der Verhandlungsführung des Nahost-Quartetts hatte sich Israel selbst dazu verpflichtet, den Siedlungsbau einzustellen. Dem kam sie aber nie vollständig nach. Über einen Zeitraum von zehn Monaten kam es 2010 zu einem Baustopp, seitdem aber wurden bestehende Siedlungen erweitert und neue von der israelischen Regierung genehmigt .115 Die Räumung von Siedlungen im Gaza-Streifen im Jahr 2005, von der etwa 8.000 jüdischen Siedler betroffenen waren, hatte das Ziel, die Siedler aus schwer zu sichernden Gebieten rückzuholen. Einer Studie des Pew Research Center aus dem Jahr 2016 zufolge hält eine Mehrheit von 42 Prozent der befragten Juden den anhaltenden Siedlungsbau für der Sicherheit Israels zuträglich, während drei von zehn Befragten (knapp 30 Prozent) den Siedlungsbau für schädlich für Israels Sicherheitsinteressen erachten.116 Seit 1967 wurden Gebiete im Jordantal, Jerusalem und Umgebung, Hebron und Gush Eztion als Teil eines künftigen jüdischen Staates besiedelt. Ende 1977 waren dort insgesamt 32 jüdische Siedlungen entstanden (nicht eingerechnet sogenannte „Nachbarschaften“ von Ost-Jerusalem).117 Nach Auffassung Pappés war der israelische Arbeitsminister Yigal Allon einer der Vorreiter der Idee, „Keile“ in Form einer Kette jüdischer Siedlungen in Gegenden zu treiben, die Palästinenser voneinander trennten.118 Ariel Sharon soll dieses Konzept weiter betrieben haben. Yitzhak Rabin erklärte 1976, dass diese Siedlungen im Jordantal seit langer Zeit bestünden und nicht gebaut worden seien, um wieder geräumt zu werden.119 6. Außenposten Israel unterscheidet zwischen 131 mit Genehmigung der Regierung errichteten Siedlungen und rund 100 Siedlungsaußenposten, die ohne offizielle Genehmigung gebaut wurden, aber von den israelischen Behörden geduldet, geschützt und mit Infrastruktur unterstützt werden.120 Zwischen 115 VN-GV, VN-Dok. A/67/375 (18. September 2012), (Fn. 46), S. 4 f. 116 Pew Research Center, „Israel’s religiously divided life“ (16. März 2016), verfügbar unter: http://www.pewforum .org/2016/03/08/the-peace-process-settlements-and-u-s-support/ (zuletzt aufgerufen am 30. Mai 2017), S. 35. 117 Ilan Pappé, „ The Jewish Settlements in the West Bank: Occupation and Ethnic Cleansing by Other Means” (2013, Fn. 51), S. 8. 118 Ibid., S. 9. 119 Ibid. 120 B‘Tselem, “Land Expropriation and Settlements”, (Fn. 113). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 31 1992 und 2002 wurden neue Siedlungen vor allem ohne formale Genehmigung durch die Regierung errichtet (sogenannte Außenposten).121 Mit dem Status dieser Siedlungen haben sich zwei von der israelischen Regierung eingesetzte Expertenkommissionen befasst, die zu gegensätzlichen Schlussfolgerungen kamen. 2005 legte die Kommission unter Vorsitz von Talya Sason ihren Bericht vor und empfahl Maßnahmen, um die informelle Unterstützung solcher Siedlungen zu beenden.122 Im Gegensatz hierzu kam die Kommission unter Vorsitz von Edmund Levy 2012 zu dem Schluss, dass die Außenposten legalisiert werden sollten.123 Die Knesset hat am 6. Februar 2017 das „Gesetz zur Regelung der Besiedlung Judäas und Samarias “124 oder „Regulierungsgesetz“ über die nachträgliche Legalisierung von Außenposten (sog. Hasdara Bill) mit einer Mehrheit von 60 (von 120) Abgeordneten, bei 52 Gegenstimmen, verabschiedet .125 Auslöser für die Gesetzesinitiative, die von der Siedlerbewegung ausging, war ein Urteil des Obersten Gerichtshofes. Dieser hatte die Räumung und Zerstörung des illegalen Außenpostens Amona für den 25. Dezember 2016 angeordnet.126 Durchgesetzt wurde das Urteil am 1. Februar 2017.127 Um den Fortbestand der illegalen Siedlung im Westjordanland zu sichern, wurde das Gesetzesvorhaben im Eilverfahren (binnen zweier Monate) auf den Weg gebracht. Das sogenannte „Regulierungsgesetz“ (Hasdara Bill) sieht die nachträgliche Legalisierung von auf privatem, palästinensischem Land im Westjordanland errichteten illegalen Siedlungen oder Außenposten vor. Zusätzlich zu 31 Außenposten, die bereits legalisiert sind oder derzeit legalisiert werden, könnten durch das Gesetz weitere 50 Außenposten mit ca. 4.000 Wohneinheiten 121 Ausarbeitung, „Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch-palästinensischen Konflikts“ (28. Februar 2013), WD 2 – 3000 – 177/12, S. 5 (Anlage). 122 Talya Sason, “Summary of the Opinion Concerning Unauthorized Outposts” (10. März 2005), verfügbar unter: http://www.mfa.gov.il/mfa/aboutisrael/state/law/pages/summary%20of%20opinion%20concerning%20unauthorized %20outposts%20-%20talya%20sason%20adv.aspx (zuletzt aufgerufen am 8. Mai 2017), Kapitel 12. 123 The Levy Commission Report on the Legal Status of Building in Judea and Samaria (2012), verfügbar unter: http://israelipalestinian.procon.org/sourcefiles/The-Levy-Commission-Report-on-the-Legal-Status-of-Buildingin -Judea-and-Samaria.pdf (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2017), Rn. 49. 124 Deutscher Bundestag, "EU-finanzierte Projekte sowie von der Bundesregierung finanzierte Projekte in den besetzten palästinensischen Gebieten und die Effizienz von Hilfen der EU und ihrer Mitgliedstaaten“, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion die Linke, (19. April 2017), Drucksachen 18/12023 und 18/11677. 125 Israelnetz, „Knesset verabschiedet Regelungsgesetz“ (7. Feburar 2017), verfügbar unter: https://www.israelnetz .com/politik-wirtschaft/politik/2017/02/07/knesset-verabschiedet-regelungsgesetz/ (zuletzt aufgerufen am 12. Mai 2017). 126 Peter Münch, „Israelischer Häuserkampf“ (2. Februar 2017), in: Süddeutsche Zeitung. 127 Eetta Prince-Gibson, „As One West Bank Settlement Is Vacated, Thousands More Israeli Settler Homes Are Planned“ (3. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.pri.org/stories/2017-02-03/one-west-bank-settlementvacated -thousands-more-israeli-settler-homes-are-planned (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 32 legalisiert werden.128 Palästinenser, die auf dem von Siedlern besetzten Land Eigentumsrechte geltend machen können, sollen dem Gesetz zufolge eine Entschädigung in Form von Geld oder Land an anderem Ort erhalten. Eine Rückkehrmöglichkeit auf das sich in ihrem Eigentum befindlichen Land soll es nicht geben. Als Entschädigung sollen 125 Prozent des monetären Gegenwerts des Grundstücks ausbezahlt werden, die Rechtsmittel wären eingeschränkt.129 OCHA hatte die Zahl der Außenposten im Jahr 2015 auf 100 und die der israelischen Siedlungen im Westjordanland auf 135 beziffert.130 Nach Aussagen einiger israelischer Regierungsmitglieder, darunter Bildungsminister Naftali Bennett , sollen auch Siedlungen wie Maale Adumim – 1975 als israelischer Außenposten sieben Kilometer östlich von Jerusalem entfernt gegründet und 1977 unter Menachem Begin als permanente Siedlung anerkannt – in reguläres israelisches Staatsgebiet integriert werden. Dem „Regulierungsgesetz“ soll die Legalisierung der zur Stadt mit 41.000 Einwohnern gewordenen Siedlung Maale Adumim (und weitere) folgen.131 Bennett hatte die Einbringung des Regierungsgesetzes in die Knesset als „historischen Tag“ bezeichnet, an dem das bisher verfolgte Ziel der „Zwei-Staaten-Lösung“ begraben werde und als Ausgangspunkt für eine Annexion des Westjordanlandes .132 128 Auswärtiges Amt, „Israelischer Gesetzentwurf zur nachträglichen Legalisierung von Außenposten im Westjordanland “ (Fn. 4). 129 Eetta Prince-Gibson, “Israel Just Crossed a Line it Has Never Crossed Before” (8. Februar 2017), verfügbar unter: https://www.pri.org/stories/2017-02-08/israel-just-crossed-line-it-has-never-crossed (zuletzt aufgerufen am 11. Mai 2017). 130 OCHA, „Under Threat: Demolition Orders in Area C of the West Bank”, (Fn. 38), S. 3. 131 Ian Fisher, “Israeli Hard-liners Want to ‘Go Big’” (30. Januar 2017), The New York Times, verfügbar unter: https://www.nytimes.com/2017/01/30/world/middleeast/the-sleepy-israeli-settlement-thats-fast-becoming-aflash -point.html (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2017); Auswärtiges Amt, „Auswärtiges Amt zur Gründung einer neuen Siedlung im Westjordanland“ (31. März 2017), verfügbar unter: http://www.auswaertigesamt .de/sid_BC537A802E70C2E2BE735207F9CCC4D0/DE/Infoservice/Presse/Meldungen/2017/170331_AA_Israel .html (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2017). 132 The Times of Israel, “Bennett: Outpost Bill Paves Way for Annexing the West Bank” (5. Dezember 2016), verfügbar unter: http://www.timesofisrael.com/liveblog_entry/bennett-outpost-bill-paves-way-for-annexing-westbank / (zuletzt aufgerufen am 17. Mai 2017). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 33 C. Die völkerrechtliche Einschätzung am Maßstab der Genfer Konvention IV 1. Anwendbarkeit der Genfer Konvention IV auf den israelisch-palästinensischen Konflikt Anders als die (fast einstimmige) internationale Staatengemeinschaft und der Internationale Gerichtshof (IGH)133 vertritt Israel134 den Standpunkt, die Genfer Konvention IV sei in den palästinensischen Gebieten nicht anwendbar. Die Genfer Konvention IV ist jedoch nach ihrem Art. 2 Abs. 1 und 2 sowohl in Kriegszeiten als auch in Zeiten vollständiger oder teilweiser Besetzung anwendbar, selbst wenn die Besetzung auf keinen bewaffneten Widerstand stößt. Nach Art. 6 Abs. 3 Genfer Konvention IV findet deren Art. 49 auch Anwendung, wenn die Besatzung länger als ein Jahr nach der Einstellung der Kampfhandlungen andauert und die Besatzungsmacht die Funktion einer Regierung in dem Gebiet ausübt.135 Schließlich, so der IGH, sei es das erklärte Ziel der Urheber der Genfer Konventionen gewesen, Zivilisten zu schützen, die sich – egal wie – in den Händen einer Besatzungsmacht befänden.136 133 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 78, 95-101; IKRK, „Report on the Work of the Conference of Governmental Experts for the Conventions for Protection of War“ (1947), verfügbar unter: https://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/RC_report-1947.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. März 2017), S. 8; Menschenrechtsrat, Report of the Independent International Fact-finding Mission to Investigate the Implications of the Israeli Settlements on the Civil, Political, Economic, Social and Cultural Rights of the Palestinian People throughout the Occupied Palestinian Territory, including East Jerusalem (7. Februar 2013), Res. A/HRC/22/63, Rn. 13-14; Benjamin Rubin, „Israel, Occupied Territories“ (Fn. 28), Rn. 55. 134 Israel bestreitet, dass es sich bei den palästinensischen Gebieten um Gebiete handele, welche von einer der Vertragsparteien zur Genfer Konvention IV besetzt seien. Die Gebiete seien vielmehr zwischen Israel, Jordanien und Palästinensern „umstritten“. Israel argumentiert zum einen, dass ein Gebiet nur i.S.d. Genfer Konvention IV besetzt werden kann, wenn es in dem Gebiet zuvor einen legitimen Souverän gegeben hat, der aus dem Amt vertrieben wurde. Dies sei indes jedoch weder für Jordanien noch Ägypten der Fall, welche das Westjordanland bzw. den Gazastreifen bis 1967 unter ihrer Kontrolle hatten. Zum anderen argumentiert Israel, die Grüne Linie von 1948 sei international nicht anerkannt gewesen, sodass Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 keine internationale Grenze überschritten habe. Ahron Bregman, Gesiegt und doch verloren (Fn. 30), S. XXVII-XXXI; Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law“ (Fn. 30), S. 279 (282-286). Siehe auch Ausarbeitung, „Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelischpalästinensischen Konflikts“ (28. Februar 2013), WD 2 – 3000 – 177/12, S. 6-7 (Anlage). Der IGH folgt dieser Rechtsauffassung nicht. Vielmehr heißt es in dem Gutachten Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 78: “(a) territory is considered occupied when it is actually placed under the authority of the hostile army, and the occupation extends only to the territory where such authority has been established and can be exercised. The territories situated between the Green Line (…) and the former eastern boundary of Palestine under the Mandate were occupied by Israel in 1967 (…). All these territories (including East Jerusalem) remain occupied territories and Israel has continued to have the status of occupying Power.” Entscheidend für den Status eines besetzten Gebietes ist hiernach nicht die Frage, ob die Gebiete zuvor unter der Hoheitsgewalt eines legitimen Souveräns gestanden haben, sondern allein, ob eine fremde Macht ihre Hoheitsgewalt in diesen Gebieten manifestiert hat. 135 Siehe auch IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 78, 125; Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law“ (Fn. 30), S. 279 (282-287). 136 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 95. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 34 2. Das Verbot von Vertreibungen nach Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV verbietet kategorisch alle Arten von gewaltsamen Verschikkungen oder Verschleppungen – unabhängig von deren Destination oder Motivation sowie der Anzahl der betroffenen Personen137 oder möglicher Vergehen, welche diese zuvor begangen haben .138 Unerheblich ist ferner die Frage, ob sich die ansässige Bevölkerung in dem besetzten Gebiet rechtmäßig aufhält oder nicht.139 Es kommt allein darauf an, ob Personen unter Anwendung physisch wirkenden Zwanges gegen ihren Willen aus ihrem angestammten Gebiet verschafft werden . 2.1. Der Begriff der „Vertreibung“ 2.1.1.Allgemeines Völkerrecht Der Begriff der „Vertreibung“ ist im allgemeinen Völkerrecht nicht trennscharf definiert. Teilweise werden ähnliche Begriffe wie etwa Verschickung, Verschleppung oder Verlegung verwendet , die im Endeffekt ein- und dasselbe Phänomen beschreiben: den unfreiwilligen Transfer von bestimmten Bevölkerungsgruppen aus ihrem angestammten Gebiet heraus. Im Folgenden soll eine Annäherung an den Begriff der „Vertreibung“ erfolgen, indem sowohl völkerrechtliche Verträge (2.1.1.1. und 2.1.1.2.) als auch die Rechtsprechung internationaler Gerichte (2.1.2. und 2.1.3.) auf merkmalsprägende Elemente hin untersucht werden. 137 Der israelische Supreme Court vertritt die Rechtsauffassung, dass Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV nur Massendeportationen meint, wie sie im Zweiten Weltkrieg vom Deutschen Reich durchgeführt wurden, ohne dabei Deportationen Einzelner aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu verbieten. Abu Avad v. The Military Commander (1979), High Court of Justice 97/79. Diese Rechtsauffassung wird von der internationalen Staatengemeinschaft allerdings nicht mitgetragen, was sich schon aus dem klaren Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV („Einzel- oder Massenverschickungen … sind … untersagt“) ergibt. Siehe auch Vincent Chetail, „The Transfer and Deportation of Civilians“, in Andrew Clapham et al. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions : A Commentary (2015), S. 1188, Rn. 11; ICTY, Prosecutor v. Stakić (Fn. 155), Rn. 685. 138 Vincent Chetail, „The Transfer and Deportation of Civilians“ (Fn. 137), S. 1188, Rn. 8. Demgegenüber soll der Wortlaut (“Zwangsverschickung”) klarstellen, dass der freiwillige Transfer von Personen zulässig ist (Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention [Fn. 150], S. 279). 139 Knut Dörmann, Elements of War Crimes under the Rome Statute of the International Criminal Court: Sources and Commentary (IKRK, Cambridge, 2003), S. 106; Andreas Zimmermann und Robin Geiß, “Art. 8: Kriegsverbrechen gegen Personen” in Wolfgang Joecks und Klaus Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum StGB (2. Aufl., Beck, München, 2013), Bd. 8, Völkerstrafgesetzbuch, Teil 2, Abschnitt 2; Rn. 171. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 35 2.1.1.1. Das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs und die Haager Landkriegsordnung (1907) Nach allgemeiner Auffassung kodifizieren das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (das Abkommen)140 und dessen Anlage, die Haager Landkriegsordnung (HLKO), die bis 1907 gewohnheitsrechtlich geltenden Regeln des Kriegsrechts. Damit war und ist Israel – obwohl nicht Vertragspartei zum Abkommen und zur HLKO – an die darin enthaltenen gewohnheitsrechtlichen Regelungen gebunden.141 Zunächst legt die Präambel der HLKO nahe, dass kriegführende Staaten an grundlegende Normen der Menschlichkeit und Zivilisation gebunden sind: „Solange, bis ein vollständiges Kriegsgesetzbuch festgestellt werden kann, halten es die hohen vertragsschließenden Teile für zweckmäßig, dass (…) die Bevölkerung und die Kriegsführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens .“ Art. 42-56 HLKO enthalten darüber hinaus Normen über die Gebräuche in besetzten Gebieten. Daraus ist ableitbar, dass Staaten schon Anfang des 20. Jahrhunderts nicht frei darin waren, beliebig in besetzten Gebieten zu verfahren.142 So verpflichtet etwa Art. 43 HLKO eine Besatzungsmacht , alle Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze. Sie soll nach Art. 46 HLKO die Rechte der Familie, das Leben der Bürger und die religiösen Überzeugungen achten und darf das Privateigentum nicht entziehen. Folglich soll der Besatzungsmacht für einen vorübergehenden Zeitraum gewissermaßen die Funktion eines Treuhänders zukommen.143 Sie erlangt über das Besatzungsgebiet weder Souverä- 140 Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (18. Oktober 1907), Sartorius II, Internationale Verträge, Europarecht, Nr. 46. 141 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion (9. Juli 2004), I. C. J. Reports 2004, Rn. 89. 142 Michael Cottier und Elisabeth Baumgartner, „Art. 8”, in Otto Triffterer und Kai Ambos, Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary (Beck, München, 2016), Rn. 368. Diese Auffassung ist zeitlich sogar weitaus länger rückverfolgbar. Bereits 1863 hatte der sog. Lieber Code der U.S.-Armee für den Bürgerkrieg vorgeschrieben: „Private citizens are no longer murdered, enslaved, or carried off to distant parts, and the inoffensive individual is as little disturbed in his private relations as the commander of the hostile troops can afford to grant the overruling demands of a vigorous war” (Art. 23). Der Liber Code war in der westlichen Geschichte die erste Festschreibung von Richtlinien einer Regierung für die Behandlung feindlicher Truppen und Bevölkerung durch die eigene Armee. 143 Michael Cottier und Elisabeth Baumgartner, „Art. 8” (Fn. 142), Rn. 368. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 36 nität, noch hat sie die Kontrolle über Ressourcen. Vielmehr behält das ansässige Volk sein Selbstbestimmungsrecht .144 Daher darf die Besatzungsmacht weder Land annektieren, noch Stück für Stück die eigene Bevölkerungen ansiedeln.145 Die Tatsache, dass die HLKO das Verbot von Vertreibung, Deportation oder Zwangstransfer nicht ausdrücklich normierte, beruht auf der Tatsache, dass man dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz selbstverständlich als Völkergewohnheitsrecht anerkannte und die Staatenpraxis von Vertreibung , Deportation oder Zwangstransfer ohnehin als obsolet erachtete. Man ging mit anderen Worten nicht mehr davon aus, dass Deportationen in zivilisierten Nationen je wieder stattfinden würden.146 Da sich diese Annahme in den nachfolgenden Jahrzehnten als völlig verfehlt herausstellte , entschlossen sich die Urheber der Genfer Konvention 1949 zur expliziten Normierung des Verbots von Verschickungen und Verschleppungen sowie zur gleichzeitigen Ahndung als schwere Verletzung im Sinne von Art. 147 Genfer Konvention IV. 2.1.1.2. Die Genfer Konvention IV (1949) Die Genfer Konvention zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (Genfer Konvention IV)147 spricht in ihrem Art. 49 Abs. 1 und 6 nicht explizit von „Vertreibung“, sondern verwendet die Begriffe der „Verschickung“ („forcible transfer“) und „Verschleppung“ („deportations“). Israel ist Partei zur Genfer Konventionen IV,148 sodass die Vorschriften anwendbar sind. Die Regelung wird zudem ganz überwiegend als Völkergewohnheitsrecht angesehen.149 144 Ludwig Watzal, „Der Nahostkonflikt als Problem des Völkerrechts“, (2001) Humanitäres Völkerrecht Vol. 14/4, S. 255 (256-257). 145 Michael Cottier und Elisabeth Baumgartner, „Art. 8” (Fn. 142), Rn. 370. 146 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War (1958, Genf, Internationales Komitee des Roten Kreuzes), verfügbar unter: https://www.loc.gov/rr/frd/Military _Law/pdf/GC_1949-IV.pdf (zuletzt aufgerufen am 31. März 2017), S. 279. Siehe auch Jean-Marie Henckaerts, „Deportation and Transfer of Civilians in Time of War“, (1993) 26/3 Vanderbilt Journal of Transnational Law, S. 469 (480). Ibid., S. 482, Georg Schwarzenberger zitierend: “(…) deportations were not discussed in 1907, nor even in 1899, because they were ‘generally rejected as falling below the minimum standard of civilisation and, therefore, not requiring express prohibition. To raise the issue of the illegality of deportation of the population of occupied territories was considered unnecessary; the illegality was taken for granted.’” 147 Genfer Konvention zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (unterzeichnet am 12. August 1949, in Kraft getreten am 21. Oktober 1950), BGBl. 1954, Teil II, S. 917. 148 IKRK, „Treaties, States Parties and Commentaries: Convention (IV) relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War“: https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/States.xsp?xp_viewStates=XPages_NORM StatesParties&xp_treatySelected=380 (zuletzt aufgerufen am 29. März 2017). Israel ist nicht Partei zum Zusatzprotokoll I. 149 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 157; ICTY, Prosecutor v. Krnojelac (Urteil der Berufungskammer vom 17. September 2003), Fall Nr. IT-97-25-A, Rn. 220; Ausarbeitung, „Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch-palästinensischen Konflikts“ (28. Februar 2013), WD 2 – 3000 – 177/12, S. 5 (Anlage); Jean-Marie Henckaerts, „Deportation and Transfer of Civilians in Time of War“ (Fn. 146), S. 482. Allein der israelische Supreme Court erkennt die gewohnheitsrechtliche Natur des Art. 49 Genfer Konvention IV nicht an, siehe Affo v. Commander of the IDF Forces in the West Bank (1988), High Court of Justice 785/87, Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 37 Nach Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV ist die Verschickung oder Verschleppung von im besetzten Gebiet ansässigen Personen grundsätzlich untersagt. Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV ist als Lehre aus den Erfahrungen von Deportationen im Zweiten Weltkrieg entstanden, welche das Internationale Rote Kreuz nach Kriegsende im Rahmen der Vorarbeiten zu den Genfer Konventionen aufs Schärfste verurteilte.150 Ein Zwangstransfer ziele auf die Entwurzelung des Einzelnen ab und sei immer mit einem Trennungstrauma verbunden – sei es in Bezug auf Familienangehörige oder auf die eigene Heimat. Die Identität des Einzelnen werde in schwerwiegender Weise erschüttert, weil historische und emotionale Verbindungen zu Traditionen und zum eigenen Kulturerbe gekappt werden.151 Angesichts dieser weitreichenden Konsequenzen stimmten die Urheber der Genfer Konvention einstimmig für das Verbot von Verschickungen und Verschleppungen in Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV.152 Bis heute ist jedoch umstritten, ob die Begriffe „forcible transfer“ und „deportation“ ein und dasselbe Konzept meinen oder nicht. Teilweise wird in der Rechtsliteratur die Ansicht vertreten, dass schon der Wortlaut des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV („Verschickungen sowie Verschleppungen “) nahelege, dass es sich um unterschiedliche Konzepte handele. Abzugrenzen seien beide Konzepte durch das Element der Grenzüberschreitung: Während Verschickungen innerhalb der Staatsgrenzen erfolgen, setzten Verschleppungen immer ein grenzüberschreitendes Element voraus.153 Andere meinen wiederum, dass die Begriffe weitgehend dieselbe Bedeutung hätten und begründen ihre Ansicht mit dem Argument, dass Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV selbst keine Unterscheidung hinsichtlich der Destination des Transfers vornehme. Beide Konzepte beträfen letztlich ein- und dieselbe Realität: der zwangsweise Transfer von Personen.154 Da beide Ansichten in der Sache zum selben Ergebnis gelangen – nämlich dem kategorischen Verbot jeglichen Zwangstransfers aus den angestammten Gebieten – ist die Diskussion über Begrifflichkeiten eher akademischer Natur. Die uneinheitliche Terminologie (Verschickung, Verschleppung, Verlegung, Vertreibung) hat letztlich keine Auswirkungen auf den materiellrechtlichen Gehalt der Regelung. Aus juristischer Sicht ist damit weniger die Unterscheidung „Verschickung“/ „Verschleppung“ (1990) 29 International Legal Material, S. 139 (155). 150 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 278-279. 151 Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (2010), in Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Rn. 4. 152 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 279. 153 Vincent Chetail, „The Transfer and Deportation of Civilians“ (Fn. 137), S. 1188, Rn. 12, m.w.N. Siehe auch ICTY, Prosecutor v. Krstić (Urteil der Strafkammer vom 2. August 2001), Fall Nr. IT-98-33-T, Rn. 521. 154 Vincent Chetail, „The Transfer and Deportation of Civilians“ (Fn. 137), S. 1188, Rn. 12, m.w.N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 38 relevant, sondern die Frage, ob der Transfer freiwillig oder unter Zwang erfolgt.155 Auch hier sind juristische Detailfragen umstritten. Während manche Autoren argumentieren, dass eine Umsiedlung aus der eigenen Heimat niemals wahrlich freiwillig erfolgt,156 vertreten andere die Auffassung, dass es freiwillige Umsiedlungen bis zu einem gewissen Grad durchaus geben kann.157 Ursprünglich bezog sich der Begriff „Zwang“ im Sinne des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV und des Völkergewohnheitsrechts auf den physischen Zwang.158 Damit gemeint war insbesondere eine aktive Verbringung der Opfer gegen ihren Willen in Transportmittel und deren Verschickung an ein bestimmtes oder unbekanntes Ziel unter Ausschaltung alternativer Handlungsmöglichkeiten .159 Einige Autoren vertreten in jüngerer Zeit gleichwohl die These, dass sich die Bedeutung des Begriffes „Zwang“ in Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV fortentwickelt habe – hin zu indirekten Maßnahmen gleicher Wirkung. Ein Staat könne, auch ohne unverhohlen physischen Zwang anzuwenden, die Lebensbedingungen in einer Region derart ungünstig ausgestalten, dass die ansässige Bevölkerung früher oder später gezwungen ist, das Gebiet zu verlassen.160 Zwang könne, so die Argumentation, nicht nur durch eine Ausschaltung alternativer Handlungsmöglichkeiten ausgeübt werden (sog. vis absoluta), sondern auch durch die „Motivierung“ des Opfers mittels Druck durch eine angedrohte oder gegenwärtige Übelszufügung (sog. vis compulsiva).161 155 Vincent Chetail, „The Transfer and Deportation of Civilians“ (Fn. 137), S. 1190, Rn. 16; Jean S. Pictet, Commentary : IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 283. Siehe auch ICTY, Prosecutor v. Stakić (Urteil der Strafkammer vom 31. Juli 2003), Fall Nr. IT-97-24-T, Rn. 677-679. 156 L’Institut de Droit International, “Les transferts internationaux de populations: Rapport présenté par M. Giorgio Balladore Pallieri”, in Annuaire de l’Institut de Droit International (1952) 44/2, S. 138 (138-141, 143-145). 157 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 279: “(…) the Diplomatic Conference preferred not to place an absolute prohibition on transfers of all kinds, as some might up to a certain point have the consent of those being transferred. The Conference had particularly in mind the case of protected persons belonging to ethnic or political minorities who might have suffered discrimination or persecution on that account and might therefore wish to leave the country. In order to make due allowances for that legitimate desire the Conference decided to authorize voluntary transfers by implication, and only to prohibit ‘forcible’ transfers”. 158 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 283 a.E.; Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law“ (Fn. 30), S. 279 (288). Belegt wird dies durch den ideengeschichtlichen Hintergrund der Norm, welche geschaffen wurde, um Deportationen wie die des Zweiten Weltkrieges international zu ächten (siehe Fn. 150). 159 Lutz Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen aus ethnischen Gründen in bewaffneten nicht-internationalen Konflikt: Zugleich ein Beitrag zur neueren Entwicklung des Völkerstrafrechts (Nomos, Baden-Baden, 1999), S. 58-59. 160 Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law” (Fn. 30) 24/2, S. 279 (288). 161 Lutz Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen (Fn. 159), S. 59. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 39 In diesem Sinne definiert der VN-Sonderberichterstatter Al-Khasawneh „illegale Vertreibung“ in Art. 3 seiner Draft Declaration on Population Transfer and the Implantation of Settlers (1997)162 als Praxis oder Politik, die das Ziel oder den Effekt hat, Personen ohne ihre Einwilligung aus einem bestimmten Gebiet herauszuschaffen: „Unlawful population transfers entail a practice or policy having the purpose or effect of moving persons into or out of an area, either within or across an international border, or within, into or out of an occupied territory, without the free and informed consent of the transferred population and any receiving population.” 2.1.2. Die Fortentwicklung des Begriffs der „Vertreibung“ im Völkerstrafrecht 2.1.2.1. Die Rechtsprechung des Jugoslawientribunals Das Jugoslawientribunal (ICTY) – welches nach Art. 2 des ICTY-Statuts163 die Kompetenz besitzt, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen zu ahnden und deren Vorschriften inhaltlich zu interpretieren – argumentiert, dass der Begriff des „Zwangs“ nicht restriktiv auszulegen sei. Zwang sei nicht auf physische Gewalt beschränkt, sondern könne auch die Drohung mit Gewalt oder das Ausnutzen einer Zwangslage umfassen.164 Beispiele für eine aktive Anwendung oder Drohung mit Gewalt sind der Beschuss ziviler Objekte, die Verbrennung privaten Eigentums oder die Begehung von Straftaten, die darauf gerichtet sind, die ansässige Bevölkerung zu terrorisieren und zur Flucht aus dem Gebiet zu veranlassen.165 Unter „Ausnutzen einer Zwangslage“ versteht der ICTY u.a. die Schaffung oder Ausnutzung unhaltbarer Lebensumstände,166 fortdauernde, gezielte Militäroperationen gegen nicht-militärische 162 United Nations Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, „Final Report on Freedom of Movement: Human Rights and Population Transfer by Al-Khasawneh“, VN-Dok. E/CN.4/Sub.2/1997/23 (27. Juni 1997), Annex II. 163 ICTY-Statut, zuletzt geändert durch VN-SR Res. 1877 (7. Juli 2009), verfügbar unter: http://www.icty.org/x/file/ Legal%20Library/Statute/statute_sept09_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 3. April 2017). 164 ICTY, Prosecutor v. Krnojelac (Urteil der Strafkammer vom 15. März 2002), Fall Nr. IT-97-25-T, Rn. 475. Siehe auch ICTY, Prosecutor v. Krstić (Fn. 153), Rn. 528-529; ICTY, Prosecutor v. Stakić (Fn. 155), Rn. 682. Der ICTY stützt seine Auslegung auf die Aussagen der Urheber des Römischen Statuts: Preparatory Commission for the International Criminal Court, Report (2. November 2000), UN Dok. PCNICC/2000/1/Add.2. 165 ICTY, Prosecutor v. Popović et al. (Urteil der Strafkammer vom 10. Juni 2010), Fall Nr. IT-05-88-T, Vol. I, Rn. 896. 166 ICTY, Prosecutor v. Brđanin (Urteil der Strafkammer vom 1. September 2004), Fall Nr. IT-99-36-T, Rn. 551. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 40 Ziele167 ebenso wie ein Leben in permanenter Angst und Unsicherheit.168 Das entscheidende Kriterium sei, dass der Transfer unfreiwillig geschehe, also ohne nachweisbaren Konsens der ansässigen Bevölkerung. Ein Konsens fehle immer dann, wenn keine genuin freie Wahlmöglichkeit bestehe.169 Selbst wenn eine Einwilligung durch die Betroffenen geäußert werde, dürfe diese nicht isoliert betrachtet werden, sondern sei im Kontext des jeweiligen Transfers auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.170 Wurde die Einwilligung etwa unter Anwendung von Gewalt oder Drohung oder Ausnutzung einer besonderen Verletzlichkeit gegeben, so sei sie ihres Wertes entleert.171 Schließlich deutet der ICTY an, dass Zwang auch durch Unterlassungen ausgeübt werden kann, ohne dies jedoch näher zu begründen oder durch Beispiele zu illustrieren.172 2.1.2.2. Die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)173 von 1998 charakterisiert Vertreibungen sowohl als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7) als auch als Kriegsverbrechen (Art. 8 Abs. 2 lit. a) vii) Römisches Statut).174 Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung i.S.v. Art. 7 Abs. 1 lit. d) Römisches Statut wird in Art. 7 Abs. 2 lit. d) Römisches Statut legal definiert als „erzwungene, völkerrechtlich unzulässige Verbringung der betroffenen Personen durch Ausweisung oder andere Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet, aus dem sie sich rechtmäßig aufhalten“. 167 ICTY, Prosecutor v. Brđanin (Urteil der Strafkammer vom 1. September 2004), Fall Nr. IT-99-36-T, Rn. 549. Die Strafkammer betonte, dass die Militäroperationen absichtlich gegen nicht-militärische Ziele gerichtet wurden, um die dort niedergelassenen Personen fortzutreiben. Die Beweislage habe gezeigt, dass der Fortgang der Bevölkerung nicht bloße Konsequenz der Militäroperationen, sondern vielmehr gerade deren Ziel war. 168 ICTY, Prosecutor v. Stakić (Urteil der Strafkammer vom 31. Juli 2003), Fall Nr. IT-97-24-T, Rn. 688. 169 ICTY, Prosecutor v. Krnojelac (Fn. 149), Rn. 229; ICTY, Prosecutor v. Brđanin (Fn. 166), Rn. 543; ICTY, Prosecutor v. Martić (Urteil der Strafkammer vom 12. Juni 2007), Fall Nr. IT-95-11-T, Rn. 108. 170 ICTY, Prosecutor v. Krnojelac (Fn. 149), Rn. 229; ICTY, Prosecutor v. Naletilić & Martinović (Urteil der Strafkammer vom 31. März 2003), Fall Nr. IT-98-34-T, Rn. 519. 171 ICTY, Prosecutor v. Prlić et al. (Urteil der Strafkammer vom 29. Mai 2013), Fall Nr. IT-04-74-T, Vol. 1, Rn. 51. 172 ICTY, Prosecutor v. Prlić et al. (Fn. 171), Rn. 48. 173 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (unterzeichnet am 17. Juli 1998, in Kraft getreten am 1. Juli 2002), U.N.T.S. Bd. 2187, S. 3. 174 Der in der authentischen englischen Version des Römischen Statuts verwendete Begriff „deportation“ wird – anders als die offizielle Übersetzung der Genfer Konvention IV – als „Vertreibung“ ins Deutsche übersetzt. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 41 In den „Verbrechenselementen“ nach Art. 9 Abs. 1 Römisches Statut wird das Zwangselement in Art. 7 Abs. 2 lit d) Römisches Statut folgendermaßen umschrieben: „The term ‘forcibly’ is not restricted to physical force, but may include threat of force or coercion , such as that caused by fear of violence, duress, detention, psychological oppression or abuse of power against such person or persons or another person, or by taking advantage of a coercive environment“.175 Die „Verbrechenselemente“ dienen dem IStGH als Hilfsmittel bei die Auslegung der Art. 6-8 Römisches Statut. Sie existieren außerhalb des Römischen Statuts als eigenständiges Dokument, welches von den Mitgliedsstaaten des IStGH mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet wird. Die Mitgliedsstaaten bringen damit für Art. 7 Römisches Statut zum Ausdruck, dass Zwang nicht auf die Anwendung physischen Zwanges beschränkt ist, sondern auch die Drohung mit Zwang erfasst. Die in den „Verbrechenselementen“ umschriebenen Merkmale des Zwangsbegriffs sind Grundlage für die oben dargestellte Rechtsprechung des ICTY. Dieser rekurriert in einer Vielzahl von Urteilen zur Begründung der Fortentwicklung des Begriffes auf die „Verbrechenselemente“ des ICC.176 Demgegenüber hat sich der IStGH bislang lediglich in einem Fall mit dem Thema Vertreibung beschäftigt. Im Fall Prosecutor v. Kenyatta sah die Pre-Trail Chamber des IStGH (eine Kammer, die ähnlich dem deutschen strafrechtlichen Zwischenverfahren über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet) hinreichend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Kenyatta sich wegen Vertreibung schuldig gemacht hatte.177 Die Kammer stellte nicht allein auf Zwang im klassischen Sinne ab, sondern erachtete auch Situationen als tatbestandsmäßig, die einer zwangsweisen Deportation gleichkommen: “In the view of the Chamber, the evidence establishes that the destruction of homes in residential areas, the brutality of the killings and injuries, the rape of perceived [Orange Democratic Movement] supporters, and the public announcements to the effect that ‘all Luos must leave’, amounted to coercion, which caused the attacked residents (…) to leave their homes and seek shelter in (…) camps.”178 175 IStGH, Elements of Crimes (2011), verfügbar unter: https://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/336923D8-A6AD- 40EC-AD7B-45BF9DE73D56/0/ElementsOfCrimesEng.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. April 2017), S. 6. 176 Zum Beispiel: ICTY, Prosecutor v. Krnojelac (Fn. 164), Rn. 475; ICTY, Prosecutor v. Krstić (Fn. 153), Rn. 529; ICTY, Prosecutor v. Stakić (Fn. 155), Rn. 682; ICTY, Prosecutor v. Simić et al. (Urteil der Strafkammer vom 17. Oktober 2003), Fall Nr. IT-95-9-T, Rn. 125. 177 IStGH, Prosecutor v. Kenyatta et al. (Entscheidung der Pre-Trail Chamber vom 23. Januar 2012), Fall Nr. ICC- 01/09-02/11. 178 Ibid., Rn. 244. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 42 Im späteren Hauptverfahren kam es jedoch zu keiner rechtskräftigen Endentscheidung durch die Strafkammer, weil die Anklagebehörde die Anklage gegen Kenyatta aus Mangel an Beweisen zurückzog .179 Allerdings zeigt die Entscheidung der Pre-Trail Chamber, dass der IStGH den Begriff der Vertreibung, ähnlich wie er ICTY, in Anlehnung an die „Verbrechenselemente“ extensiv auslegt – weg von der Anwendung unmittelbaren physischen Zwanges als Ursache für Vertreibungen , hin zu Maßnahmen, welche dieselbe Wirkung entfalten und indirekt auf die Vertreibung aus einem bestimmten Gebiet gerichtet sind.180 2.1.3. Übertragbarkeit auf allgemeines Völkerrecht Fraglich ist damit, ob die Weiterentwicklung des Zwangsbegriffes im jüngeren Völkerstrafrecht auch Rückschlüsse auf eine Weiterentwicklung des Begriffs im allgemeinen Völkerrecht zulässt. Dafür sprechen sich vereinzelt Autoren aus. 181 Auch die Draft Declaration on Population Transfer and the Implantation of Settlers,182 welche vom VN-Sonderberichterstatter Al-Khasawneh 1997 erarbeitet wurde, stellt in ihrem Art. 3 auf Praktiken ab, deren Ziel oder Wirkung die Umsiedlung von Personen aus ihrem angestammten Gebiet heraus haben. Al-Khasawneh beschreibt, dass es einen Kernbereich der Vertreibung gebe, welcher durch die Drohung oder Anwendung von Gewalttätigkeiten gekennzeichnet sei. Andererseits bestünde aber auch ein Randbereich schwieriger zu fassender, indirekt wirkender Maßnahmen, welche von der Zwangsdefinition ebenfalls erfasst werden sollten.183 Internationale Gerichte haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mit der Frage beschäftigt, ob eine Staatenverantwortlichkeit184 begründet werden kann, wenn Staaten eine Politik verfolgen, welche mittelbar dazu führt, dass bestimmte Personen gezwungen sind, umzusiedeln. Einer der wenigen bekannten Fälle wurde 1987 vom Iran-US Claims Tribunal (IUSCT) entschieden. Das internationale Schiedsgericht ist zuständig für monetäre Ansprüche, welche aus der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran im Jahre 1979 und dem nachfolgenden freezing von iranischen Assets durch die USA resultierten. Im Fall Short v. Iran185 begehrte ein US-amerikanischer Staatsangehöriger vom Iran Schadensersatz mit der Begründung, er sei auf Grund zunehmender 179 IStGH, Prosecutor v. Kenyatta (Entscheidung der Strafkammer vom 13. März 2015), Fall Nr. ICC-0l/09-02l11. 180 So auch Lutz Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen (Fn. 159), S. 60. 181 Samit D’Cunha, „The First Plague: The Denial of Water as a Forcible Transfer under International Humanitarian Law” (Fn. 30), S. 279 (288). Siehe auch Natalie Grove, UN Office of the High Commissioner for Human Rights, zur israelischen Politik (28. Juli 2016): http://www.timesofisrael.com/un-israel-systematically-emptying-area-cof -palestinians/ (zuletzt aufgerufen am 12. Mai 2017). 182 Siehe oben, Fn. 162. 183 United Nations Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, „Final Report on Freedom of Movement: Human Rights and Population Transfer by Al-Khasawneh“, VN-Dok. E/CN.4/Sub.2/1997/23 (27. Juni 1997), Rn. 64, 66-67. 184 In Abgrenzung zur individuellen Verantwortlichkeit einzelner Personen im strafrechtlichen Sinne. 185 IUSCT, Short v. Iran (Schiedsspruch vom 14. Juli 1987), Fall Nr. 11135, (1987) IUSCT Reports 76. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 43 anti-amerikanischer Ressentiments, Drohungen und Gewalt faktisch gezwungen gewesen, aus dem Land auszureisen. Obwohl das Schiedsgericht die Klage in der Sache abwies, diskutierte ein Schiedsrichter in seiner abweichenden Stellungnahme (dissenting opinion) die juristische Figur der „constructive expulsion“. Diese beschreibe einen Zustand, bei welchem ein Ausländer aus dem Gastland getrieben wird, indem die Regierung Handlungen und/oder Unterlassungen veranlasse, die darauf gerichtet seien, seinen Fortgang herbeizuführen.186 Die „constructive expulsion“ sei als Ausnahmekonstrukt zu verstehen und setze voraus, dass (1.) die Umstände im Gastland derart ausgestaltet sind, dass man nicht vernünftigerweise davon ausgehen kann, dass der Ausländer eine echte Wahlmöglichkeit im Hinblick auf seinen Fortgang hatte, (2.) dass eine klare Intention des Gastlandes erkennbar ist und (3.), dass die Handlungen bzw. Unterlassungen dem Gastland nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit zurechenbar sind.187 Die Mehrheit der Schiedsrichter kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger keine Handlung hatte identifizieren können, die seinen Fortgang aus dem Iran verursacht hatte und die gleichzeitig dem iranischen Staat hätte zugerechnet werden können.188 Die Klage wurde dementsprechend abgewiesen, weil eine Kausalität zwischen dem Verhalten iranischer Hoheitsträger und der Ausreise des Klägers nicht zur Überzeugung des Schiedsgerichts nachgewiesen werden konnte. Dem entgegnete der dissentierende Schiedsrichter, dass es gerade in der Natur einer „constructive expulsion “ liege, dass die zu ihr führenden Einzelakte hochgradig generell, unspezifisch, nicht fokussiert und indirekt seien.189 Entscheidend sei, dass sich diese „diskreten“ Einzelakte zu einer zielgerichteten Politik der Ausweisung zusammensetzen ließen und ein Gesamtbild ergäben.190 Die Diskussion unter den Schiedsrichtern spiegelt anschaulich das Spannungsverhältnis zwischen der Ausübung physischen Zwangs – als Ursache einer Vertreibung oder Ausweisung – und Maßnahmen, die lediglich in ihrer Wirkung dem physischen Zwang gleich kommen, wider. Öffnet man die Definition des Zwangsbegriffes für Maßnahmen gleicher Wirkung, wird die Zurechenbarkeit bestimmter Akte als Ursache bzw. Ausgangspunkt einer Entwicklung ersetzt durch die Argumentation mit der Wirkung bzw. dem Ergebnis einer Entwicklung. Um eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen, bedarf es jedoch nach Art. 2 lit. a) Draft Articles on State Responsibility einer dem Staat zurechenbaren, ursächlichen Handlung. 186 Ibid., Dissenting Opinion of Judge Brower, S. 87, Rn. 2. 187 Ibid. Siehe auch das gesamte Schiedsgericht auf S. 83, Rn. 30: „(…) an alien may also be considered wrongfully expelled in the absence of any order or specific state action, when (…) the alien could reasonably be regarded as having no other choice than to leave and when the acts leading to his departure were attributable to the State”. 188 Ibid., S. 85, Rn. 34-35. 189 Ibid., Dissenting Opinion of Judge Brower, S. 94, Rn. 15. 190 Ibid., S. 97, Rn. 22: „The Khomeini forces (…) decided as a matter of policy to rid the country of Americans. Some, of course, left early under conditions in no way to be construed as wrongful expulsion. Others persevered , eventually succumbing to the accumulation of discrete acts and omissions designed to discomfit to the point of departure. (…) Once a policy to expel is adopted, those who go peaceably rather than kicking and screaming are no less victims”. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 44 Letztendlich dürfte daher – trotz dieser Entwicklung im internationalen Völkerstrafrecht – auf der Ebene des allgemeinen Völkerrechts noch keine generelle Einigkeit bestehen, den Begriff des Zwanges nach Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV extensiv auszulegen. Eine solche Auslegung ist weder im Völkervertrags- noch im Völkergewohnheitsrecht zu erkennen. Die Diskussionen des IUSCT und innerhalb der Rechtsliteratur sollten zudem auch wegen Art. 38 Abs. 1 lit. d) IGH-Statut nicht überbewertet werden. Nach Art. 38 Abs. 1 lit. d) IGH-Statut nehmen richterliche Entscheidungen und nur die Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler den Rang von Hilfsmitteln zur Feststellung von Völkerrechtsnormen ein. Es lassen sich jedoch keine Hinweise in der Literatur finden, dass sich das Konzept der „constructive expulsion“ als Mehrheitsmeinung durchgesetzt hat und, zudem, von der Ausweisung auf den Bereich von Vertreibungen übertragbar ist. Das Phänomen, einer Bevölkerung das Verbleiben in einem Gebiet derart zu erschweren, dass sie sich zur Übersiedlung gezwungen sieht, dürfte sich eher als „Verdrängung“ bezeichnen lassen. Kennzeichnend für Verdrängungen sind die Ausübung politischen Drucks, wirtschaftliche Existenzbeschränkungen sowie sprachlich-religiöse Beschränkungen, die stets nur mittelbar auf die Betroffenen einwirken.191 Diese können gegen Völkerrecht verstoßen (etwa Besatzungsrecht192 oder Menschenrechte193), stellen aber nicht automatisch eine Verletzung von Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV dar.194 2.2. Evakuierungen nach Art. 49 Abs. 2 Genfer Konvention IV Ausnahmsweise ist die Verschickung oder Verschleppung von im besetzten Gebiet ansässigen Personen nach Art. 49 Abs. 2 Genfer Konvention IV zulässig, wenn die Sicherheit der Bevölkerung oder zwingende militärische Gründe dies erfordern. Eine sogenannte Evakuierung dient damit immer dem Schutz und Eigeninteresse der ansässigen Bevölkerung – etwa wenn sie zwischen die Kriegsfronten gerät oder das besetzte Gebiet bombardiert wird.195 Die Maßnahme darf gleichwohl nur vorübergehender Natur sein. Die verschickte Bevölkerung ist nach Art. 49 191 Lutz Lehmler, Die Strafbarkeit von Vertreibungen (Fn. 159), S. 60. 192 Häuserzerstörung können gegen Art. 53 Genfer Konvention IV verstoßen. Die Genfer Konvention IV verbietet in ihrem Art. 33 ferner die Kollektivbestrafung, d.h. die Bestrafung von Taten, die eine andere Person begangen hat (die Vorschrift kann insbesondere bei Häuserzerstörungen als Kollektivbestrafung relevant werden). 193 Häuserzerstörungen können gegen das Recht auf angemessenes Wohnen verstoßen, welches etwa verankert ist in Art. 25 Abs. 1 der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Art. 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, Art. 17 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von1966 sowie Art. 5(e)(iii) des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 1969. 194 Ibid. Lehmler argumentiert, dass im Völkerstrafrecht die Verdrängung eine Vorstufe zur Vertreibung darstellen kann, wenn die mittelbaren Maßnahmen gezielt zu diesem Zweck eingesetzt werden. Er stellt jedoch auch fest, dass die Abgrenzung „schwierig und nicht immer genau durchführbar“ sei. 195 Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 280. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 45 Abs. 2 Satz 3 Genfer Konvention IV unmittelbar nach Beendigung der Gefahrenlage in ihre Heimat zurückzuführen. Ferner regeln Art. 49 Abs. 3 bis 5 Genfer Konvention IV, wie Evakuierungen durchzuführen sind. Geachtet werden soll bei deren Durchführung insbesondere auf eine angemessene Unterkunft der Evakuierten, befriedigende Bedingungen bezüglich Sauberkeit, Hygiene, Sicherheit und Verpflegung sowie darauf, dass Familien nicht voneinander getrennt werden. Evakuierte sollen möglichst nicht in Gegenden verbracht werden, in denen sie Kriegsgefahren ausgesetzt werden. Ferner ist die Schutzmacht von der Besatzungsmacht förmlich zu verständigen, sobald die Evakuierung erfolgt ist. 3. Das Verbot der Ansiedlung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten nach Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV 3.1. Inhalt des Verbots Ein mit der Vertreibung der ansässigen Bevölkerung einhergehendes Phänomen ist die (Neu-) Besiedlung durch eigene Bevölkerungsgruppen der Besatzungsmacht. Diese wird durch Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV ausdrücklich verboten und stellt eine schwere Verletzung nach den Strafvorschriften des Art. 146-147 Genfer Konvention IV dar (siehe Art. 85 Abs. 4 lit. a) des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen).196 Ihrem Sinn und Zweck nach zielt die Vorschrift darauf ab, den faktischen status quo in den besetzten Gebieten zu bewahren und „schleichende Annexionen“, Zersiedlung oder Kolonialisierung durch Besatzungsmächte zu verhindern. Zahlenmäßiger Umfang und die Art und Weise der Landnahme sind unerheblich, da schon vereinzelte Ansiedlungen rechtswidrig sind.197 Insbesondere, wenn eine Besatzung mehrere Jahre oder Jahrzehnte andauert, kann sich durch eine fortwährende Ansiedlung eigener Staatsangehöriger die demographische Zusammensetzung der im besetzten Gebiet ansässigen Bevölkerung derart verändern, dass bei Abzug der Besatzungsmacht vollendete Tatsachen geschaffen sind, welche aus faktischen Gründen nicht mehr zu revidieren sind. Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV will jedoch verhindern, dass Ansiedlungen auf lange Sicht zu sozialen, ökonomischen und politischen Konflikten oder zur Verschlechterung der allgemeinen Lebensumstände der ansässigen Bevölkerung führen. Nach internationalem Recht soll daher das politische, soziale und kulturelle Leben in den besetzten Gebieten so wenig wie möglich verändert werden.198 Die Bedeutung der Begriffe „deportation“ und „transfer“ in Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV unterscheidet sich von Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV insofern, als dass Absatz 6 sowohl 196 Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (Fn. 151), Rn. 6. 197 Susanne Giannios, „Die Palästina-Frage: Völkerrechtliche Aspekte der israelisch-palästinensischen Kontroverse um den Endstatus“ in Jürgen Schwarz (Hrsg.), Ordo Inter Nationes (2001), S. 22. 198 Michael Cottier und Elisabeth Baumgartner, „Art. 8”, (Fn. 142), Rn. 367. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 46 die erzwungene als auch die freiwillige Umsiedlung der eigenen Bevölkerung verbietet.199 Die Ausnahme der Evakuierung wegen gefährdeter Sicherheit oder militärischer Notwendigkeit nach Art. 49 Abs. 2 Genfer Konvention IV bezieht sich schon aus systematischen Gründen nicht auf Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV. Diese sind vielmehr generell unzulässig. Auch Art. 8 Abs. 2 lit. b) viii) IStGH pönalisiert die „unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teils ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet oder die Vertreibung oder Überführung der Gesamtheit oder eines Teils der Bevölkerung des besetzten Gebiets innerhalb desselben oder aus diesem Gebiet“. Israel hat das Römische Statut mitverhandelt, es schlussendlich aber nicht unterzeichnet und ratifiziert.200 Damit ist das Statut nicht auf israelische Staatsangehörige anwendbar. Zudem ist das Römische Statut nicht anwendbar auf Akte, welche zeitlich vor dem Inkrafttreten des Statuts am 1. Juli 2002 stattgefunden haben (Art. 24 Abs. 1 Römisches Statut). Gleichwohl können aus der Entstehungsgeschichte der genannten Normen Rückschlüsse auf das grundlegende Konzept der Überführung der Staatsangehörigen von Besatzungsmächten gezogen werden. Der Wortlaut des Art. 8 Abs. 2 lit. b) viii) Römisches Statut war während der Vertragsverhandlungen aus politischen Gründen hoch umstritten. Insbesondere Israel stellte sich gegen eine Einbeziehung von Überführungen der eigenen Staatsangehörigen in besetzte Gebiete als Kriegsverbrechen und wurde dabei nur – in begrenztem Maße – durch die USA unterstützt.201 Israel argumentierte , das der Tatbestand nicht Teil des geltenden Völkergewohnheitsrechts sei. Demgegenüber betonten die arabischen Delegationen, dass der Tatbestand der Überführung eigener Staatsangehöriger nicht nur die unmittelbare Organisation solcher Überführungen durch die Besatzungsmacht meine, sondern auch diejenigen Maßnahmen der Besatzungsmacht und ihrer Organe umfasse , die indirekt den Transfer der eigenen Bevölkerung in die besetzten Gebiete begünstigen, 199 Shawan Jabarin, „The Occupied Palestinian Territory and International Humanitarian Law: A Response to Peter Maurer“, International Review of the Red Cross (2013), Bd. 95 (890), S. 415 (423-424). Siehe auch IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 120: “(Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV) prohibits not only deportations or forced transfers of population such as those carried out during the Second World War, but also any measures taken by an occupying Power in order to organize or encourage transfers of parts of its own population into the occupied territory” (Hervorhebung hinzugefügt). 200 IStGH, „The States Parties to the Rome Statute“, verfügbar unter: https://asp.icc-cpi.int/en_menus/asp/states %20parties/pages/the%20states%20parties%20to%20the%20rome%20statute.aspx#J (zuletzt aufgerufen am 14. März 2017). Die Nichtunterzeichnung hat Israel zum Abschluss der Rom-Konferenz folgendermaßen erklärt: „Israel has reluctantly cast a negative vote. It fails to comprehend why it has been considered necessary to insert into the list of the most heinous and grievous war crimes the action of transferring population into occupied territory. The exigencies of lack of time and intense political and public pressure have obliged the Conference to by-pass very basic sovereign prerogatives to which we are entitled in drafting international conventions, in favour of finishing the work and achieving a Statute on a come-what-may basis. We continue to hope that the Court will indeed serve the lofty objectives for the attainment of which it is being established“ (Jean-Marie Hanckaerts und Louse Doswald-Beck, Costumary International Humanitarian Law, Band 2, S. 2963 f., Rn. 404). 201 Michael Cottier und Elisabeth Baumgartner, „Art. 8”, (Fn. 142), Rn. 372. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 47 erleichtern oder fördern.202 Die Arabischen Delegationen gingen sogar soweit, auch Unterlassenstatbestände zu erfassen, d.h. Fälle, in denen es die Besatzungsmacht unterlässt, ihre Bevölkerung von selbst organisierten Transfers in besetzte Gebiete abzuhalten.203 Diese Standpunkte dürften vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen, kontroversen Siedlungspolitik Israels selbsterklärend sein. Als Kompromiss zwischen der völligen Streichung des Tatbestandes und der Einbeziehung von Maßnahmen, die lediglich indirekt den Bevölkerungstransfer begünstigen, einigte man sich letztendlich auf die Worte „unmittelbare oder mittelbare Überführung (…) (der) eigenen Zivilbevölkerung “ in Art. 8 Abs. 2 lit. b) viii) Römisches Statut. 3.2. Die Positionierung der Vereinten Nationen zur Siedlungspolitik Israels 3.2.1. Der VN-Sicherheitsrat Der VN-Sicherheitsrat bezeichnete die Politik Israels erstmals im Jahr 1968, nach dem Sechs- Tage-Krieg, als unwirksam – jedoch allein in Bezug auf Jerusalem.204 Aber auch zur israelischen Siedlungspolitik in ihrer Gesamtheit verwendete der Sicherheitsrat seit Ende der 1970’er Jahre eine zunehmend klare Wortwahl und sprach dieser jegliche Rechtsgültigkeit ab.205 1980 verwies er schließlich in seiner Resolution 465 (1980) ausdrücklich auf die „schwerwiegenden Konsequenzen“ der damaligen israelischen Siedlungspolitik. In ungewöhnlicher Deutlichkeit stellte er dabei klar, dass die Maßnahmen Israels völkerrechtlich unwirksam seien und einen eklatanten Verstoß gegen die Genfer Konvention IV darstellten: „Determines that all measures taken by Israel to change the physical character, demographic composition, institutional structure or status of the Palestinian and other Arab territories occupied since 1967, including Jerusalem, or any part thereof have no legal validity and that Israel’s policy and practices of settling parts of its population and new immigrants in those territories constitute a flagrant violation of the Geneva Convention [IV]”.206 Diese Position wiederholte der Sicherheitsrat zuletzt in Resolution 2334/16 und verurteilte gleichzeitig den Bau und die Ausdehnung der Siedlungen, den Transfer israelischer Siedler, die Landnahme, Zerstörung von Häusern und die Verdrängung von palästinensischen Zivilisten.207 202 Ibid., Rn. 373. 203 Ibid., Rn. 373, Fn. 576. 204 VN-SR Res. 252 (1968) (21. Mai 1968), Rn. 2. Siehe auch VN-SR Res. 298 (1971) (25. September 1971), Rn. 3. 205 VN-SR Res. 446 (1979) (22. März 1979), Rn. 1,3; VN-SR Res. 452 (1979) (20. Juli 1979), Abs. 3. 206 VN-SR Res. 465 (1980) (1. März 1980), Rn. 5. 207 VN-SR Res. 2334/16 (23. Dezember 2016), Abs. 4. Eine Übersicht der wichtigsten Resolutionen des VN-SR zu Israel und Palästina (sowie weiterer Dokumente) bis zum Jahr 2003 findet sich bei Yale Law School, „The Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 48 3.2.2. Der VN-Generalsekretär Wenige Monate nach Verabschiedung der Sicherheitsrats-Resolution 2334/16 passierte das Gesetz über die nachträgliche Legalisierung von Außenposten (sog. Hasdara Bill vom 6. Februar 2017) die israelische Knesset.208 Der VN-Generalsekretär António Guterres bedauerte zutiefst die Verabschiedung des sogenannten Regulierungsgesetzes, das aus seiner Sicht einen Verstoß gegen internationales Recht darstelle und „weitreichende rechtliche Konsequenzen für Israel“ haben werde, ohne allerdings zu konkretisieren, wie diese aussehen würden.209 Er forderte die Konfliktparteien auf, alle Aktionen zu unterlassen, die einer Zwei-Staaten-Lösung entgegenstehen könnten . 3.2.3. Die VN-Generalversammlung 1968 setze die VN-Generalversammlung (VN-GV) einen Sonderausschuss (Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the Human Rights of the Palestinian People and Other Arabs of the Occupied Territories)210 ein, um die Auswirkungen der israelischen Politik auf die Menschenrechte der Palästinenser und anderen Araber in den besetzten Gebieten zu untersuchen . Im Anschluss an Berichte des Sonderausschusses verabschiedete die VN-GV zahlreiche Resolutionen, in welchen sie die israelische Siedlungspolitik energisch verurteilt („strongly condemns “).211 1975 setzte die VN-GV einen weiteren Ausschuss (Committee on the Exercise of the Inalienable Rights of the Palestinian People, CEIRPP)212 ein, nachdem sie mit großer Besorgnis festgestellt hatte, dass es bis dato keinerlei Fortschritt in der Frage des Rückkehrrechts der Palästinenser in ihre Heimat gab. Der Ausschuss wurde dahingehend mandatiert, der VN-GV ein Programm zu präsentieren, das u.a. beschreibt, wie die Palästinenser ihr Recht auf Rückkehr unter Beachtung Middle East 1916-2001: A Documentary Record“ (2008), verfügbar unter: http://avalon.law.yale.edu/subject_menus /mideast.asp (zuletzt aufgerufen am 31. März 2017). 208 Siehe oben, B. 6. “Außenposten”. 209 VN-Generalsekretär, “Secretary-General ‘Deeply Regrets’ Adoption of ‘Regularization Bill’, Warning of Farreaching Consequences for Israel” (7. Februar 2017), VN-Dok. SG/SM/18429, verfügbar unter: https://www.un.org/press/en/2017/sgsm18429.doc.htm (zuletzt aufgerufen am 10. Mai 2017). 210 Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the Human Rights of the Palestinian People and Other Arabs of the Occupied Territories, VN-GV Res. 2443 (XXIII) (19. Dezember 1968). 211 VN-GV Res. 36/147 C (16. Dezember 1981), Rn. 7 b), Res. 37/88 C (9. Dezember 1982), Rn. 7 c), Res. 38/79 D (15. Dezember 1983), Rn. 7 c), Res. 39/95 D (14. Dezember 1984), Rn. 7 d), Res. 40/161 D (16. Dezember 1985), Rn. 8 d). 212 Committee on the Exercise of the Inalienable Rights of the Palestinian People, VN-GV Res. 3376 (XXX) (10. November 1975). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 49 der Normen der VN-Charter umsetzen könnten.213 Seine Position ist seither, dass der Siedlungsbau nach internationalem Recht illegal ist und ein ernsthaftes Hindernis für den initiierten Friedensprozess darstellt.214 Die VN-GV unterstrich nach einem Vorfall im Februar 1994, bei dem palästinensische Gläubige bei einem Gottesdienst durch einen illegal bewaffneten Israeli umgebracht wurden, erneut: “(VN-GV) 1. Reaffirms that Israeli settlements in the Palestinian territory, including Jerusalem, and in the occupied Syrian Golan are illegal and an obstacle to peace and economic and social development; 2. Calls upon Israel to accept the de jure applicability of the Geneva Convention relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War, of 12 August 1949, to the Occupied Palestinian Territory, including Jerusalem, and to the occupied Syrian Golan and to abide scrupulously by the provisions of the Convention, in particular article 49; 3. Demands complete cessation of the construction of the new settlement at Jebel Abu- Ghneim and of all Israeli settlement activities in the Occupied Palestinian Territory, including Jerusalem, and in the occupied Syrian Golan (…)”.215 Darüber hinaus hat sich das Büro des CEIRPP im Jahre 2012 aufs Schärfste gegen die Siedlungsaktivitäten Israels positioniert.216 Die VN-GV hatte Palästina den Beobachterstatus in der VN anerkannt, woraufhin Israel den großangelegten Bau von Siedlungen autorisierte. Das Büro des Ausschusses bezeichnete den Schritt als „extremely dangerous, qualitative escalation of its illegal settlement campaign“ und forderte dessen sofortige Umkehrung mit der Begründung, dass die Siedlungsaktivitäten illegal unter der Genfer Konvention IV seien.217 213 VN-GV Res. 3376 (XXX) (10. November 1975), Rn. 4. 214 Committee on the Exercise of the Inalienable Rights of the Palestinian People and the Division for Palestinian Rights, Information Note (2012), verfügbar unter: https://unispal.un.org/pdfs/12-20476rev.pdf (zuletzt aufgerufen am 21. April 2017), S. 3. 215 VN-GV Res. 54/78 (22. Februar 2000), Rn. 1-3. 216 VN-GV, Statement by Bureau of Committee on Exercise of Inalienable Rights of Palestinian People on Israel’s Settlement Activity in Occupied Palestinian Territory (6. Dezember 2012), VN-Dok. GA/PAL/1252. 217 Ibid.: „The Bureau forcefully condemns these acts and calls for them to be reversed immediately. The Bureau reminds Israel, the occupying Power, that all settlement activities are illegal under the Fourth Geneva Convention (…). Settlement activities constitute war crimes under article 8 of the Rome Statute of the International Criminal Court. (…) The Bureau urges the Security Council to act decisively against the continuing disrespect by Israel for its resolutions and the systematic obstruction of international efforts towards the resumption of the peace process and the achievement of its goals. The Bureau also calls for the reconvening of the Conference of the High Contracting Parties to the Fourth Geneva Convention in order to address Israel’s continued violation of its provisions. “ Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 50 Jüngst hat sich auch der Sonderausschuss der VN-GV (Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the Human Rights of the Palestinian People and Other Arabs of the Occupied Territories) in einem Bericht an den VN-Generalsekretär218 dahingehend geäußert, dass die Siedlungspolitik Israels einem Transfer der eigenen Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete i.S.d Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV gleichkomme und folglich gegen Völkerrecht verstoße.219 Israel müsse, um seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, den Siedlungsbau stoppen, Siedlungsaktivitäten und -entwicklungen umkehren sowie volle Wiedergutmachung leisten.220 Die Verpflichtung zur Wiedergutmachung führe insbesondere dazu, dass Israel, denjenigen Zustand wiederherzustellen habe, der vor der völkerrechtswidrigen Handlung bestand . Anhand einer Fallstudie verdeutlichte der Sonderausschuss, dass er eine enge Verbindung zwischen den durch die Siedlungspolitik generierten unhaltbaren Lebensumständen („coercive environment“, u.a. verbunden mit Häuserzerstörungen, Zwangsausweisungen und der Ausbreitung israelischer Siedlungen) und den dadurch erzwungenen Umsiedlungen von Palästinensern sieht.221 Daher empfahl der Sonderausschuss u.a., dass Israel die „diskriminierende und unrechtmäßige Bauplanung“ in der Westbank und Ost-Jerusalem einzustellen habe, und wies abschließend daraufhin, dass: “Displacement and relocation to alternative residential areas, as a result of demolition orders , forced eviction or a coercive environment, may amount to forcible transfer, in violation of Israel’s obligations under international humanitarian law and human rights law.”222 3.2.4. Der Menschenrechtsrat und die Menschenrechtskommission Ähnlich wie VN-SR und VN-GV bezeichnete die VN-Menschenrechtskommission und deren Nachfolger, der VN-Menschenrechtsrat, die Siedlungsaktivitäten Israels auf (jährlich) wiederkehrender Basis als Verletzung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte sowie als Hindernis für die Schaffung von Frieden in der Region.223 Dabei beziehen sie sich örtlich sowohl auf die besetzten Gebiete als auch auf Jerusalem. Inhaltlich verurteilen sie vor allem den Bau 218 VN-GV, Report of the Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the Human Rights of the Palestinian People and Other Arabs of the Occupied Territories (24. August 2016), VN-Dok. A/71/355. 219 Ibid., Rn. 3. 220 Ibid. 221 Ibid., Rn. 24, Fallstudie: Rn. 25-64. 222 Ibid., Rn. 70, 73. 223 VN-Menschenrechtskommission: Res. E/CN.4/RES/1999/5 (23. April 1999), Rn. 4; Res. E/CN.4/RES/2001/7 (18. April 2001), Rn. 6; Res. E/CN.4/RES/2005/6 (14. April 2005), Präambel Absatz 6, Rn. 3a) und b); Res. E/CN.4/RES/2005/7 (14. Mai 2005), Präambel Absatz 9. VN-Menschenrechtsrat: Res. A/HRC/RES/10/18 (26. März 2009), Präambel Absatz 8, Rn. 3a); Res. A/HRC/RES/19/17 (10. April 20012), Präambel Nr. 9, Rn. 4a); Res. A/HRC/RES/28/26 (10. April 2015), Rn. 1, 5, 7; Res. A/HRC/RES/31/36 (20. April 2016), Rn. 5, 7a), b). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 51 neuer und die Ausweitung existierender Siedlungen, die Enteignung von Land, die parteiliche Verwaltung von Wasserressourcen, den Bau von Straßen und die Zerstörung von Häusern. Die Menschenrechtskommission verwendete dabei lange Zeit nicht ausdrücklich die Begriffe „deportation“ oder „forcible transfer“, sondern lediglich den allgemeineren (und damit politisch weniger heiklen) Terminus der Verletzung des humanitären Völkerrechts. Damit ließ sie offen, ob sie eine Verletzung des Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV meinte oder aber auf Besatzungsrecht oder sonstige Vorschriften des humanitären Völkerrechts abstellte. Seit 2014 ist der Menschenrechtsrat dazu übergegangen, explizit von einer Verletzung von Art. 49 Genfer Konvention IV zu sprechen (ohne jedoch zwischen Absatz 1 und 6 zu differenzieren).224 In diesem Kontext verurteilt er nicht nur den (Aus-)Bau israelischer Siedlungen, sondern auch „other practices aimed at the forcible transfer of the Palestinian civilian population”.225 Ähnlich klar betitelte ein VN-Sonderberichterstatter Zwangsumsiedlungen bereits 1997 in seinem Abschlussbericht als „systematische Menschenrechtsverletzungen“ („systematic and mass violations of human rights“) und hob hervor, dass: “international law prohibits the transfer of persons, including the implantation of settlers, as a general principle, and the governing principle is that any displacement of populations must have the consent of the population involved. Accordingly, the criteria governing forcible transfer rest on the absence of consent and also include the use of force, coercive measures, and inducement to flee. Acts such as ethnic cleansing, dispersal of minorities or ethnic populations from their homeland within or outside the State, and the implantation of settlers are unlawful, and engage State responsibility and the criminal responsibility of individuals.”226 Der VN-Menschenrechtsrat setzte 2012 per Resolution227 eine unabhängige, internationale Factfinding Mission ein, um die Auswirkung der israelischen Siedlungen auf die zivilen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte der Palästinenser zu untersuchen. Der Abschlussbericht der Mission kristallisierte verschiedene Einzelmaßnahmen der israelischen Regierung, Gerichte und Verwaltung heraus, welche für sich genommen „bloße“ Diskriminierungen von Palästinensern darstellten; welche aber in der Gesamtschau bestimmte, wiederkehrende Muster in der Siedlungspolitik erkennen ließen. So beschrieb die Kommission etwa, dass die Vorenthaltung von Wasser dazu genutzt werde, um eine Abwanderung von Palästinensern zu auszulösen: 224 VN-Menschenrechtsrat, Res. A/HRC/25/L.38/Rev.1 (27. März 2014), S. 3; Res. A/HRC/RES/28/26 (10. April 2015), Rn. 5; Res. A/HRC/RES/31/36 (20. April 2016), Rn. 5. 225 VN-Menschenrechtsrat, Res. A/HRC/RES/28/26 (10. April 2015), Rn. 5; Res. A/HRC/RES/31/36 (20. April 2016), Rn. 5. 226 UN Special Rapporteur on the Human Rights Dimensions of Population Transfer, including the Implantation of Settlers and Settlements, “Final Report” (27. Juni 1997), VN Dok. E/CN.4/Sub.2/1997/23, Rn. 16, 64-65. 227 VN-Menschenrechtsrat, Res. A/HRC/19/L.35 (19. März 2012). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 52 “The denial of water is used to trigger displacement, particularly in areas slated for settlement expansion, especially since these communities are mostly farmers and herders who depend on water for their livelihoods. A number of testimonies highlighted that the cutting off from water resources often precedes dispossession of lands for new settlement projects.”228 Die Fact-finding Mission schlussfolgerte ferner, dass sich zwischenzeitlich ein System der Segregation herausgebildet habe und dass die israelischen Siedlungen einen schweren Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung der Völker und humanitäres Völkerrecht darstellen: “The settlements are established for the exclusive benefit of Israeli Jews, and are being maintained and developed through a system of total segregation between the settlers and the rest of the population living in the Occupied Palestinian Territory. This system of segregation is supported and facilitated by a strict military and law enforcement control to the detriment of the rights of the Palestinian population. The mission considers that, with regard to the settlements, Israel is committing serious breaches of its obligations under the right to self-determination and certain obligations under international humanitarian law, including the obligation not to transfer its population into the Occupied Palestinian Territory.”229 Der Menschenrechtsrat sprach zuletzt im März 2017 von „chronischen Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts“ sowie der Verletzung „grundlegender Normen des Besatzungsrechts durch Israel“.230 Insbesondere die Konsolidierung und Ausbreitung von israelischen Siedlungen zeigten laut Menschenrechtsrat „clear patterns and policies“.231 Darüber hinaus laufe auch das Fehlen von Mechanismen, um israelische Straftäter zur Verantwortung zu ziehen, den internationalen Verpflichtungen Israels als Besatzungsmacht zuwider.232 Zu diesen Verpflichtungen zählten unter anderem die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie der Schutz der ansässigen palästinensischen Bevölkerung. Der Menschenrechtsrat prangerte ferner eine „schleichende Annektierung“ der Westbank und die „verheerenden Auswirkungen“ der israelischen Besatzung auf die Rechte der palästinensischen Bevölkerung an.233 Schließlich verurteilte er politische Praktiken Israels, die zur Schaffung unwirtlicher Lebensumstände in den von Palästinensern bewohnten Gebieten beitragen.234 228 VN-Menschenrechtsrat, Report of the Independent International Fact-finding Mission (Fn. 133), Rn. 88. 229 Ibid., Rn. 103-104. 230 VN-Menschenrechtsrat, Res. A/HRC/34/38 (16. März 2017), Rn. 72. 231 Ibid. 232 Ibid., Rn. 73. 233 Ibid., Rn. 74. 234 VN-Menschenrechtsrat, Res. A/HRC/34/39 (16. März 2017), Advance Unedited Version, Rn. 43-57. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 53 3.2.5. Der Internationale Gerichtshof Der Internationale Gerichtshof kam in seinem Gutachten Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory zu der Schlussfolgerung, Israel habe mit seiner Siedlungspolitik seit 1977 eine Politik betrieben, die im Widerspruch zu Art. 49 Abs. 6 der Genfer Konvention IV stand.235 Sowohl der Bau einer Mauer als auch die israelische Besiedlung der Palästinensergebiete verstießen gegen internationales Recht,236 wobei die Verstöße weder durch die juristischen Konzepte der militärischen Notwendigkeiten, des allgemeinen Notstands (state of necessity) noch durch das Erfordernis der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung zu rechtfertigen seien. Grundlage des Gutachtens war neben der Resolution ES/10/14 der VN-Generalversammlung237 auch ein Bericht des VN-Generalsekretärs Kofi Annan238, welche den Bau einer Mauer mit der Begründung ächteten, dass diese darauf abzielte, den Status und die demografische Zusammensetzung des besetzten Palästinensergebietes, einschließlich in und um Ost-Jerusalem, zu verändern . Der Bericht umspannt den Zeitraum vom 14. April 2002 bis 20. November 2003, in welchem die israelische Regierung begann, ein System von Zäunen, Mauern, Gräben und Barrieren in der Westbank zu errichten. Entgegen der Aussage Israels, erschien das System gerade keine vorübergehende Maßnahme zu sein, da hierfür Land eingezogen und auf Dauer angelegte sozioökonomische Veränderungen herbeigeführt wurden. Der IGH befand in seinem Diktum, dass Israel mit der Errichtung einer Mauer vollendete Tatsachen schaffe, welche durchaus permanenten Charakter bekommen könnten und – trotz der formalen Charakterisierung Israels als vorübergehende Maßnahme – einer de facto Annexion gleichkommen würden.239 Zudem bestehe das Risiko, dass die palästinensische Bevölkerung durch die Schaffung von Enklaven und die damit verbundene, schwerwiegende Einschränkung der Freizügigkeit zur Abwanderung aus dem Gebiet bewegt würden.240 Der Gerichtshof schlussfolgerte daher: “That construction, along with measures taken previously, thus severely impedes the exercise by the Palestinian people of its right to self-determination, and is therefore a breach of Israel's obligation to respect that right”.241 235 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 120. 236 Ibid., Rn. 120 a.E. 237 VN-GV Res. A/RES/ES-10/14 (12. Dezember 2003). 238 VN, “Report of the Secretary-General prepared pursuant to General Assembly resolution ES-10/13” (24. November 2003), VN-Dok. A/ES-10/248. 239 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 121. 240 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 122, 133. 241 Ibid., Rn. 122. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 54 Die konkrete Bauweise der Mauer führe zur Bildung von Enklaven, die schon für sich selbst die Freizügigkeit der nicht-israelischen Bewohner der besetzen Palästinensergebiete substantiell beschränke . Zusätzlich erschwere die geringe Zahl an Zugangspunkten in bestimmten Sektoren, restriktive Öffnungszeiten und deren unvorhersehbare Anwendung die Ausübung der Freizügigkeit .242 Die Bauweise habe ferner zur Zerstörung der fruchtbarsten Regionen in der Westbank und damit zu einem Zusammenbruch der Landwirtschaft geführt.243 Zunehmend sei auch der Zugang zu Bildung, zum Gesundheitswesen und zu Wasserquellen erschwert.244 Damit verstoße der Mauerbau gegen das Recht auf Freizügigkeit aus Art. 12 Abs. 1 IPbürgR, das Recht auf Arbeit, Gesundheit, Bildung und einen adäquaten Lebensstandard i.S.d. IPwskR und die VN-Kinderrechtskonvention .245 242 Ibid., Rn. 133. 243 Ibid. 244 Ibid. 245 Ibid., Rn. 133. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 55 D. Schlussbetrachtung Nach Angaben der Vereinten Nationen leben etwa 594.000 Israelis in 135 Siedlungen des Westjordanlandes sowie etwa hundert Siedlungsaußenposten und in Ost-Jerusalem, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung von staatlicher, israelischer Seite nicht genehmigt waren. Aufgrund veränderter Rechtslage können auf privatem, palästinensischem Land im Westjordanland errichtete illegale Siedlungen oder Außenposten mit Inkrafttreten des so genannten „Regulierungsgesetzes“ am 6. Februar 2017 nachträglich legalisiert werden. Die Mehrzahl der 300.000 Palästinenser lebt in 532 Wohngebieten, die überwiegend in Sektor C, teilweise aber auch in den Sektoren A und B, des Westjordanlandes liegen. Weitere 415.000 Palästinenser leben im Gaza-Streifen. Palästinenser unterliegen in den besetzten palästinensischen Gebieten (OPT) der israelischen Militärgesetzgebung, anders als israelische Siedler, für die die Zivilgesetzgebung gilt. Nach den Vereinbarungen im Interimsabkommen von 1995 wurden das Westjordanland und der Gaza- Streifen in Gebiete mit unterschiedlichem Status und je eigenen Kompetenzen für Israel und die palästinensische Autonomiebehörde (PA) in die drei Sektoren A, B und C unterteilt. Ost-Jerusalem blieb davon ausgenommen. Den Vereinbarungen zufolge fallen der PA Aufgaben der Selbstverwaltung und der inneren Ordnung in den Sektoren A und B zu. Für Sektor C des Westjordanlandes , in dem sich der Großteil der israelischen Siedlungen, landwirtschaftlichen Flächen und Militäreinrichtungen befindet, ist eine weitreichende israelische Kontrolle vorgesehen, u.a. über öffentliche Ordnung, Sicherheit, Planverfahren und Baugenehmigungen. Wie in zahlreichen Berichten der Vereinten Nationen dargelegt nutzt der Staat Israel politische Instrumente, wie z.B. den Bau von Infrastruktur, den Siedlungsbau, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, um seine Interessen in Sektor C des Westjordanlandes zur dauerhaften Herstellung eines „demographischen Gleichgewichtes“ sicherzustellen. Der unter Bürgermeister Ehud Olmert entwickelte Jerusalem Master Plan 2000 gilt als der erste umfassende Plan für Jerusalems Stadtplaner und als Bezugsrahmen für aktuelle Planungsentscheidungen für Jerusalem. Er wird deshalb als ein politisches Werkzeug definiert, weil er darauf abzielt, das „demographische Gleichgewicht“ für Jerusalem in einem Verhältnis von 60:40 (jüdische vs. arabische Einwohner Jerusalems) dauerhaft herzustellen. Dieses politische Ziel wird unter anderem über eine äußerst restriktive Genehmigungspraxis für palästinensischen Wohnungsbau durch israelische Behörden verwirklicht. Die Genehmigungspraxis für palästinensischen Wohnungsbau ist nicht das einzige politische Werkzeug zur Sicherung israelischer Interessen. Landnahme privater palästinensischer Ländereien für militärische Zwecke, Umwandlung von palästinensischem Privatland zu Staatsgebiet und die Enteignung von Land für öffentliche Zwecke, um dieses dann dem israelischen Siedlungsbau zur Verfügung zu stellen, sind weitere politische Instrumente zulasten der palästinensischen Bevölkerung in Sektor C. Israel hat seit 1970 etwa 8 Prozent seiner Bevölkerung in die besetzten Gebiete umgesiedelt (Stand: 2012) und damit die Bevölkerungsstruktur im Westjordanland und in Ost-Jerusalem verändert. Im Jahr 2012 stellten israelische Siedler etwa 19 Prozent der gesamten Bevölkerung des Westjordanlandes dar. Die Ausgaben der Regierung für den Siedlungsbau schwankten über die Jahre und erreichten Spitzen von bis zu 795,8 Millionen US-Dollar im Jahr 2005. Siedlungen wurden zur nationalen Priorität erklärt und mittels Subventionen zur Schaffung von Wohnraum und für Bildungszwecke sowie durch direkte Anreize für den Industrie-, Landwirtschafts- und Tourismussektor finanziert. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 56 Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen weist in einem aktuellen Bericht auf die Schaffung eines unwirtlichen, entwicklungsfeindlichen und von Zwang gekennzeichneten Umfeldes für Palästinenser im Westjordanland und Ost-Jerusalem hin. Er warnt vor Zwangsumsiedlungen von palästinensischen Gemeinden und Beduinen in verschiedenen Regierungsbezirken, wie etwa Hebron. Des Weiteren trägt auch der Abriss von Häusern aufgrund fehlender Baugenehmigungen und als Kollektivbestrafung für palästinensische Attentäter zur Herstellung eines von Furcht und Unsicherheit gekennzeichneten Umfeldes bei. All diese Praktiken weisen klare politische Muster auf, die bewusst auf eine Erschwerung der Lebensumstände für die in den besetzten Gebieten lebenden Palästinenser abzielen. Sie können daher aus völkerrechtlicher Sicht als Verdrängungshandlungen, nicht aber als Vertreibung, qualifiziert werden. Charakteristisch für eine Verdrängung ist, dass ein Staat einer Bevölkerung das Verbleiben in einem Gebiet derart erschwert, dass diese sich auf Grund der äußeren Umstände zur Übersiedlung gezwungen sieht, nicht aber aktiv gezwungen wird. Der Menschenrechtsrat hat sich im Hinblick auf die Siedlungspolitik Israels und den darin erkennbaren Mustern im Vergleich zu anderen VN-Organen am deutlichsten positioniert: Er betont, dass neben der israelische Siedlungspolitik auch Regierungspraktiken existierten, welche auf die Verdrängung von Palästinensern abzielten ; geht aber selbst nicht so weit, diese als Verstoß gegen Art. 49 Genfer Konvention IV zu qualifizieren. Daher dürfte festzuhalten sein, dass Verdrängungen (im hier verwendeten Sinne) nicht gegen Art. 49 Genfer Konvention IV verstoßen, aber durchaus Verletzungen anderer völkerrechtlicher Normen (wie etwa Besatzungsrecht246 oder Menschenrechte247) darstellen können. Demgegenüber sind nach derzeit überwiegender Auffassung lediglich solche Handlungen als Vertreibungshandlung im Sinne von Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV einzustufen, die die Ausübung physischen Zwangs umfassen. Während das internationale Strafrecht auf Grund der „Verbrechenselemente“ des Römischen Statuts eine klare Tendenz zur Ausweitung des Begriffs der „Vertreibung“ hin zu Maßnahmen erkennen lässt, die in ihren Wirkungen dem physischen Zwang gleichen, ist diese Entwicklung auf der Ebene des humanitären Völkerrechts nicht erkennbar . Im Allgemeinen verstoßen Vertreibungen gegen ius cogens-Normen des Völkerrechts, insbesondere gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.248 In Friedenszeiten verstoßen Vertreibungen gegen eine Reihe politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, während sie in 246 Abhängig von der Art der jeweiligen staatlichen Maßnahmen: z.B. Art. 33 oder 53 Genfer Konvention IV. 247 Abhängig von der Art der jeweiligen staatlichen Maßnahmen: Art. 25 Abs. 1 der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, Art. 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, Art. 17 des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von1966 oder Art. 5(e)(iii) des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 1969. 248 Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (Fn. 151), Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/17 Seite 57 Kriegszeiten auch humanitäres Völkerrecht249 verletzen.250 Damit lösen sie die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des sie verübenden Staates nach den gewohnheitsrechtlich geltenden Draft Articles on State Responsibility der International Law Commission (ILC) aus.251 Sind die Vertreibungshandlungen einer oder mehreren Personen zurechenbar, so begründen sie zudem eine individuelle Verantwortlichkeit nach den Regeln des Völkerstrafrechts.252 Neben dem völkerrechtlichen Vertreibungstatbestand des Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV spielt auch Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV als Norm mit eigenständigem Inhalt253 eine wichtige Rolle im Besatzungsrecht. Der IGH hat 2003 in seinem Gutachten Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory festgestellt, dass Israel mit seiner Siedlungspolitik seit 1977 gegen Art. 49 Abs. 6 der Genfer Konvention IV (sowie im Übrigen gegen Art. 46 und 52 HLKO) verstoßen habe.254 Weitere politische Maßnahmen, die von ihrer Zielrichtung her gegen Art. 49 Abs. 6 der Genfer Konvention IV verstoßen könnten, wurden in dieser Ausarbeitung erörtert. Eine abschließende Beurteilung bleibt allerdings dem IGH oder anderen VN-Gremien vorbehalten. *** 249 Etwa Art. 49 Abs. 1 Genfer Konvention IV; Art. 85 Abs. 4 lit. a) des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen (Protokoll I) (unterzeichnet am 8. Juni 1977, in Kraft getreten am 7. Dezember 1978), BGBl. 1990, Teil II, S. 1551; Art. 17 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen (Protokoll II) (unterzeichnet am 8. Juni 1977, in Kraft getreten am 7. Dezember 1978), BGBl. 1990, Teil II, S. 1637. Israel ist nicht Vertragspartei zu Protokoll I und II geworden. 250 Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (Fn. 151), Rn. 4. 251 Ibid. Die Frage, ob den Vertriebenen als Rechtsfolge einer anerkannten Staatenverantwortlichkeit ein Rückkehrrecht zusteht, ist hoch umstritten (siehe Ausarbeitung, „Zu ausgewählten Statusfragen im Rahmen des israelisch -palästinensischen Konflikts“ [28. Februar 2013], WD 2 – 3000 – 177/12, S. 13-17 [Anlage). Ein Rückkehrrecht befürwortend: VN-GV Res. A/RES/60/147 (21. März 2006), Rn. 19-20; Art. 8 Draft Declaration on Population Transfer and the Implantation of Settlers; Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (Fn. 151), Rn. 34. Siehe auch VN-GV Res. A/RES/194 (III) (11. Dezember 1948), Rn. 11. Ein Rückkehrrecht ablehnend: Yaffa Zilbershats, „International Law and the Palestinian Right of Return to the State of Israel“, in Eyal Benvenisti et al. (Hrsg.), Israel and the Palestinian Refugees. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht (2007, Springer, Heidelberg), Bd. 189, S. 191 (212-218). 252 Art. 7 Abs. 1 lit. d) und Art. 8 Abs. 2 lit. a) vii) Römisches Statut (die Anwendbarkeit des Römischen Statuts vorausgesetzt). Siehe auch Alfred de Zayas, „Forced Population Transfer“ (Fn. 151), Rn. 4. 253 Pictet verdeutlicht, dass Art. 49 Abs. 6 Genfer Konvention IV einen eigenständigen rechtlichen Gehalt besitzt und es daher logischer gewesen wäre, diesen in einer separaten Bestimmung zu normieren. Jean S. Pictet, Commentary: IV Geneva Convention (Fn. 146), S. 283. 254 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall (Fn. 141), Rn. 120 a.E, 132-135,