© 2016 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 026/16 Vereinbarkeit der Regelungen des Asylpakets II betreffend die Aussetzung des Familiennachzugs für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit der VN-Kinderrechtskonvention (KRK) Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 2 Vereinbarkeit der Regelungen des Asylpakets II betreffend die Aussetzung des Familiennachzugs für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit der VN-Kinderrechtskonvention (KRK) Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 026/16 Abschluss der Arbeit: 19. Februar 2016 (letzter Zugriff auf Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Regelungen betreffend die Aussetzung des Familiennachzugs im Asylpaket II 4 2. Das Recht auf Familienzusammenführung nach der KRK 5 2.1. Inhalt des Art. 10 KRK 5 2.2. Auslegung des Art. 10 KRK im Lichte des Kindeswohlprinzips (Art. 3 Abs. 1 KRK) 6 3. Anwendung des Asylpakets II im Lichte der völkerrechtlichen Bestimmungen der KRK 7 3.1. Wirkungen der KRK im deutschen Recht 7 3.2. Konsequenzen der Neuregelung des AufenthG für die Rechtsanwendung 8 3.3. Resümee 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 4 1. Regelungen betreffend die Aussetzung des Familiennachzugs im Asylpaket II Der „Gesetzentwurf zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (sog. „Asylpaket II“)1 beinhaltet u.a. die Aussetzung des Familiennachzugs für zwei Jahre betreffend Flüchtlinge, denen subsidiärer Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuerkannt worden ist, darunter auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.2 Zur Aussetzung der Familienzusammenführung sieht der Gesetzentwurf eine Ergänzung des § 104 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) um einen neuen Abs. 13 vor.3 Die Aufnahme von Familienmitgliedern aus dringenden humanitären Gründen bleibt im Rahmen einer Einzelfallprüfung nach Maßgabe von § 22 AufenthG jedoch weiterhin möglich. Nach § 22 S. 1 AufenthG kann einem Ausländer „für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.“ Nach Ablauf der zwei Jahre soll die für den Familiennachzug seit dem 1. August 2015 geltende Rechtslage automatisch wieder in Kraft treten.4 Die Begründung des Gesetzentwurfs (S. 12) geht ohne weitere Erläuterungen davon aus, dass die Änderungen „mit den völkerrechtlichen Verträgen, insbesondere den menschenrechtlichen Konventionen“ vereinbar seien. Die nachfolgende Untersuchung befasst sich mit der Frage der Vereinbarkeit einer Aussetzung des Familiennachzugs für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit der VN-Kinderrechtskonvention (KRK).5 1 BT-Drs. 18/7538 vom 16.2.2016, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/075/1807538.pdf. 2 Über das quantitative Ausmaß des Familiennachzugs gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Die Begründung zum Gesetzentwurf geht von einer „hohen Anzahl an Anträgen auf Familiennachzug“ aus. Nach Informationen des Bundesfamilienministeriums hätten im Januar 2015 von den über 49.000 beschiedenen Asylanträgen lediglich 194 Personen subsidiären Schutz erhalten. Im Jahre 2015 durften 442 Eltern(-teile) im Rahmen des Familiennachzugs einreisen (vgl. die Darstellung in: Die Welt, online-Ausgabe vom 09.02.2016, http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article152001646/Festgebissen-im-Detail.html. 3 Abs. 13 soll lauten: „Bis zum [zwei Jahre ab Verkündung des Gesetzes] wird ein Familiennachzug zu Personen, denen nach dem [Datum des Inkrafttretens des Gesetzes] eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative erteilt worden ist, nicht gewährt (…). §§ 22, 23 bleiben unberührt.“ (BT-Drs. 18/7538, S. 9). 4 Zahlreiche (Fach-)Verbände haben die Genese des Gesetzesentwurfs kritisch begleitet – vgl. u.a. die Stellungnahmen des Deutschen Anwaltsvereins sowie von Pro Asyl v. 9.11.2015, verfügbar unter: http://anwaltverein.de/de/newsroom/pm-04-16-das-asylpaket-ii-menschenrechte-in-gefahr und http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/aussetzung_des_familiennachzugs_wird_frauen_und_kinder_in_d en_tod_schicken/. 5 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989, für Deutschland in Kraft seit 05.04.1992, BGBl. 1992 II, S. 121; dt. Fassung: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF- Dateien/Pakte_Konventionen/CRC/crc_de.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 5 Dabei sollen zunächst die völkerrechtlichen Inhalte der einschlägigen KRK-Normen erläutert (vgl. dazu 2.) und anschließend die Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs vom 16. Februar 2016 mit der KRK hinsichtlich seiner Regelungen zum Familiennachzug geprüft werden (dazu 3.).6 2. Das Recht auf Familienzusammenführung nach der KRK Art. 10 Abs. 1 KRK lautet: „Entsprechend der Verpflichtung der Vertragsstaaten nach Artikel 9 Absatz 1 werden von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet. Die Vertragsstaaten stellen ferner sicher, dass die Stellung eines solchen Antrags keine nachteiligen Folgen für die Antragsteller und deren Familienangehörige hat.“ 2.1. Inhalt des Art. 10 KRK Art. 10 KRK dehnt das Prinzip der Einheit der Familie (Art. 9 KRK) auf Fälle aus, in denen Kind und Eltern in unterschiedlichen Staaten ihren Aufenthalt haben.7 Art. 10 Abs. 1 KRK enthält keine materiellen Regelungen darüber, unter welchen Voraussetzungen Anträge auf Familiennachzug anzuerkennen sind. Aus Art. 10 Abs. 1 KRK kann deshalb kein Rechtsanspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis abgeleitet werden.8 Aus dieser Norm ergibt sich lediglich das (prozedurale) Gebot, von dem Ermessen, das nach innerstaatlichen Vorschriften zu gewähren ist, wohlwollend Gebrauch zu machen.9 Als ermessenssteuernde Norm richtet sich Art. 10 KRK in erster Linie an die staatlichen Verwaltungsbehörden . Ein Recht auf Familiennachzug – auch als Ergebnis einer Ermessensentscheidung – lässt sich Art. 10 KRK nicht entnehmen. 6 Auf die Vereinbarkeit des Gesetzesentwurfs mit Art. 6 GG (danach steht die Familie „unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“), Art. 8 der EMRK (Recht auf Familiennachzug im Rahmen des Rechts auf Achtung des Familienlebens) sowie Art. 24 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta („Jedes Kind hat Anspruch auf direkte Kontakte zu beiden Elternteilen“) wird nicht eingegangen. Vgl. dazu etwa die Pressemitteilung des Deutschen Anwaltsvereins PM 05/16, http://anwaltverein.de/de/newsroom/pm-05-16-aussetzung-desfamiliennachzugs -zu-unbegleiteten-minderjaehrigen-fluechtlingen-ist-europarechtswidrig. 7 Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention. Kommentar, Baden-Baden: Nomos, 2. Aufl. 2013, Art. 10, Rdnr. 1. 8 So BVerwGE 101, 236 [246 f]. 9 BVerwG, NVwZ-RR 1995, 295 [297]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 6 Allerdings setzt Art. 10 KRK voraus, dass die innerstaatlichen Gesetze der Verwaltung bei der Entscheidung über Familienzusammenführung überhaupt Ermessen einräumen, welches die Behörden dann konventionskonform ausüben können (vgl. dazu unten, 3.2.). Anträge unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (oder ihrer Eltern) auf Familiennachzug – verbunden mit der Einreise der Familienangehörigen ins Bundesgebiet – sind gem. Art. 10 Abs. 1 KRK human, beschleunigt und wohlwollend zu bearbeiten. Unter einer „wohlwollenden Bearbeitung“ ist die Pflicht der Behörden des Vertragsstaates zu verstehen, die Anträge unvoreingenommen zu prüfen und nach objektiver Sachlage zu entscheiden. Abzuwägen ist dabei u.a. zwischen dem staatlichen Interesse an einer Migrationssteuerung und dem privaten Interesse des Kindes an einer Familienzusammenführung. Bei der behördlichen Ermessensentscheidung müssen nach Auffassung des VN-Kinderrechtsausschusses (UN-Committee on the Right of the Child, CRC)10 stets die besonderen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Jede Entscheidung darüber, wo und wie eine Familienzusammenführung am besten durchzuführen ist, müsse überdies die Meinung des Kindes berücksichtigen (vgl. Art. 12 KRK). Das behördliche Streben nach Kosteneinsparung sowie nach Verwirklichung der ausländer- und asylrechtlichen Verfahrensbeschleunigungsmaxime dürfe das Interesse des Kindes an der Familienzusammenführung nicht automatisch überwiegen.11 2.2. Auslegung des Art. 10 KRK im Lichte des Kindeswohlprinzips (Art. 3 Abs. 1 KRK) Art. 10 Abs. 1 KRK ist – wie alle Gewährleistungen der KRK – im Lichte des Art. 3 Abs. 1 KRK auszulegen. Danach ist bei allen staatlichen Entscheidungen, die unter 18-Jährige im eigenen Hoheitsbereich betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen („Kindeswohlprinzip“). Ungeachtet dessen schafft Art. 3 Abs. 1 KRK keine konkreten subjektiven Rechte des Kindes (z.B. auf Familienzusammenführung).12 10 CRC, General Comment No. 6, CRC/GC/2005/6, vom 1.9.2005, Rn 81 ff. http://www2.ohchr.org/english/bodies/crc/docs/GC6.pdf. Bei den sog. General Comments („Allgemeinen Bemerkungen“) des VN-Kinderrechtsausschusses handelt es sich um eine völkerrechtlich zwar nicht verbindliche, wohl aber für die Staatenpraxis sehr bedeutsame Auslegung der Kinderrechtskonvention, die zur (interpretativen) Klärung der staatlichen Verpflichtungen aus den einzelnen Konventionsgarantien beiträgt. 11 So die überwiegende Auffassung in der Literatur, vgl. Löhr, Tillmann, Gesetzliche Konsequenzen aus der Rücknahme des Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention, ZAR 2010, 378-385 (378 f.); Heinhold, Hubert, Nach Rücknahme der Vorbehalte: Was muss im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts verändert werden?, in: Kauffmann, Heiko/Riedelsheimer, Albert (Hrsg.), Kindeswohl oder Ausgrenzung? Flüchtlingskinder in Deutschland nach der Rücknahme der Vorbehalte, 2010, S. 60-74 (64 ff.); Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention. Kommentar , Baden-Baden: Nomos, 2. Aufl. 2013, Art. 10, Rdnr. 9. 12 Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention. Kommentar, Baden-Baden, 2. Aufl. 2013, Art. 3, Rdnr. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 7 Wohl aber fordert Art. 3 KRK, dass das Kindeswohl im Rahmen des Entscheidungsprozesses einer nationalen Behörde oder des nationalen Gesetzgebers eine wesentliche Leitlinie im Sinne eines Optimierungsgebots mit dem Ziel bestmöglicher Realisierung darstellt.13 Dabei muss das Kindeswohl nicht nur in den behördlichen Entscheidungsprozess einfließen, sondern sich auch in der Entscheidungsbegründung niederschlagen.14 Insoweit reichert das Kindeswohlprinzip aus Art. 3 KRK die prozedurale Vorschrift des Art. 10 KRK inhaltlich an. Anträge auf Familienzusammenführung sind demnach nicht nur „wohlwollend , human und beschleunigt“ (Art. 10 KRK), sondern auch „unter Berücksichtigung des Kindeswohls “ (Art. 3 KRK) zu bearbeiten. Die KRK statuiert insoweit eine Verpflichtung zur Prüfung des Kindeswohls, die sowohl die Verwaltung als auch den Gesetzgeber trifft.15 3. Anwendung des Asylpakets II im Lichte der völkerrechtlichen Bestimmungen der KRK 3.1. Wirkungen der KRK im deutschen Recht Art. 4 KRK, der die rechtliche Umsetzung der Konvention in nationales Recht regelt, enthält eine unmittelbare Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Verwirklichung aller in der Konvention enthaltenen Rechte.16 Die Staaten müssen insbesondere dafür Sorge tragen, dass die Prinzipien und Bestimmungen der KRK in der nationalen Rechtsordnung effektiv anwendbar und durchsetzbar sind.17 Dies gilt insbesondere für das Leitprinzip der KRK – die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls. Dazu müssen die Vertragsstaaten das gesamte nationale Recht und die dazugehörige Verwaltungspraxis auf ihre Vereinbarkeit mit den Konventionsrechten überprüfen, und zwar kontinuierlich. Die Überprüfung muss sowohl geplante als auch bereits in Kraft getretene Gesetze erfassen.18 13 Lorz, Alexander, Der Vorrang des Kindeswohls nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung, hrsg. von der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, Berlin 2003, S. 20, 24, verfügbar unter: http://www.netzwerkkinderrechte .de/fileadmin/publikationen/Lorz_Expertise_gesamt.pdf. 14 BayVGH, in: BayVBl. 2012, 247 [248]. 15 Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention. Kommentar, Baden-Baden, 2. Aufl. 2013, Art. 10, Rdnr. 3. 16 Zur Bindungswirkung der KRK vgl. Cremer, Hendrik, Der Anspruch des unbegleiteten Kindes auf Betreuung und Unterbringung nach Art. 20 der KRK, Baden-Baden: Nomos 2006, S. 202 ff. 17 CRC, General Comment No. 5, CRC/GC/2003/5, Rn 1, 19 f., https://www1.umn.edu/humanrts/crc/crcgeneralcomment 5.html. 18 Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention. Kommentar, Baden-Baden, 2. Aufl. 2013, Art. 4, Rdnr. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 8 3.2. Konsequenzen der Neuregelung des AufenthG für die Rechtsanwendung Mit der Aussetzung des Familiennachzugs (für subsidiär Schutzberechtigte) zielt der Gesetzentwurf auf staatliche Kontrolle des Zuzugs von Flüchtlingen sowie auf eine asylrechtliche Verfahrensbeschleunigung . Die neue Regelung in § 104 Abs. 13 AufenthG soll die Familienzusammenführung von Bürgerkriegsflüchtlingen auf deutschem Boden für die Dauer von zwei Jahren unterbinden . Die Monitoringstelle der VN-Kinderrechtskonvention befürchtet sogar, dass Familienzusammenführungen wegen der langen Verfahrensdauer faktisch erst nach einer vierjährigen Trennung erfolgen könnten.19 Als Konsequenz des neuen § 104 Abs. 13 AufenthG müssten Anträge auf Familienzusammenführung für die Dauer von zwei Jahren von der Verwaltungsbehörde unter Verweis auf die gesetzliche Regelung regelmäßig abgelehnt werden. Fraglich ist, ob und inwieweit dies einen Verstoß gegen die ermessenssteuernden Vorgaben der KRK bedeuten würde. Das prozedurale Erfordernis einer „beschleunigten“ Bearbeitung aus Art. 10 KRK wäre nicht verletzt, solange der Antrag zügig bearbeitet wird – Art. 10 KRK gewährleistet keinen Anspruch des Antragstellers auf einen für ihn positiven Bescheid. Schwieriger sieht es dagegen mit dem Erfordernis einer „humanen und wohlwollenden“ Bearbeitung eines Antrags im Interesse des Kindeswohls (Art. 3 i.V.m. 10 KRK) aus. Die konventionsrechtliche Ermessensteuerung läuft ins Leere, wenn der neue § 104 Abs. 13 AufenthG für die Dauer von zwei Jahren das behördliche Ermessen „auf Null reduziert“, d.h. der Behörde die Möglichkeit nimmt, überhaupt Ermessen auszuüben (das Gesetz bestimmt: „… wird ein Familiennachzug … nicht gewährt“). Die konsequente Anwendung des neuen § 104 Abs. 13 AufenthG würde also regelmäßig zur Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung führen und könnte gleichzeitig einen Konventionsverstoß bedeuten. Der Verstoß gegen Art. 10 KRK läge allerdings nicht in dem Umstand der Antragsablehnung durch die Behörde; vielmehr gründet er in der durch § 104 Abs. 13 AufenthG angeordneten Nicht-Ausübung von konventionskonformem Ermessen. Das AufenthG belässt der bearbeitenden Verwaltungsbehörde allerdings die Möglichkeit, sich konventionskonform zu verhalten: Den ermessensteuernden Vorgaben der KRK könnte die bearbeitende Behörde dadurch entsprechen , dass sie auch während der Geltungsdauer der neuen Rechtslage nicht den neuen § 104 Abs. 13 AufenthG, sondern regelmäßig § 22 S. 1 AufenthG anwendet. Diese Norm regelt die Aufnahme aus humanitären Gründen und eröffnet der Behörde für die Bearbeitung eines Antrags auf Familienzusammenführung ein Ermessen („einem Ausländer kann … eine 19 Monitoringstelle VN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Pressemitteilung vom 9.2.2016, http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/news/meldung/article/pressemitteilungasylpaket -ii-aussetzung-des-familiennachzugs-fuer-minderjaehrige-fluechtlinge-ver/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 9 Aufenthaltserlaubnis erteilt werden“). Dieses Ermessen könnte (und müsste) die Behörde konventionskonform (also „human“ und „im Interesse des Kindeswohls“) ausüben.20 Das Ergebnis einer solchen Ermessensausübung würde aller Voraussicht nach regelmäßig anders ausfallen, als bei einer konsequenten Anwendung des neuen § 104 Abs. 13 AufenthG. Die bearbeitende Verwaltungsbehörde gerät damit in ein Dilemma zwischen gesetzes- und konventionskonformem Verhalten: Während der neue § 104 Abs. 13 AufenthG der Verwaltung strikte Vorgaben macht, die im Ergebnis auf einen Konventionsverstoß hinauslaufen können, eröffnet § 22 AufenthG dagegen die Möglichkeit zu konventionskonformem Verhalten. Eine regelmäßige Anwendung des § 22 S. 1 AufenthG entspricht indes kaum der Intention des Gesetzgebers, der mit dem Asylpaket II (d.h. dem novellierten AufenthG) eine Familienzusammenführung von Bürgerkriegsflüchtlingen in Deutschland für die Dauer von zwei Jahren unterbinden will. Im Kontext des Gesetzentwurfs vom 16. Februar 2016 ist § 22 AufenthG offensichtlich (nur) als eine Härtefall- bzw. Ausnahmeklausel vorgesehen, auch wenn die Norm in der Begründung zum Gesetzesentwurf nicht als solche bezeichnet wird. 3.3. Resümee Sowohl der neue § 104 Abs. 13 AufenthG als auch Art. 3 und 10 KRK wollen behördliches Verhalten steuern; sie verfolgen aber im Kern unterschiedliche Ziele. Der Gesetzgeber hat sich bei der Novellierung des AufenthG entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 3 KRK nicht von Aspekten des Kindeswohls (mit dem Ziel ihrer bestmöglichen Realisierung), sondern vor allem vom Gedanken der Migrationskontrolle leiten lassen.21 Die geplante Aussetzung des Familiennachzugs widerspricht vom Grundsatz her dem Leitgedanken des Art. 3 KRK (Kindeswohl). Die Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs zur Novellierung des AufenthG mit der KRK muss allerdings differenziert betrachtet werden. Denn die Normen der KRK stellen (anders als das GG oder das Europarecht) im Verhältnis zu deutschen Gesetzen kein „höherrangiges Recht“ dar, welches Anwendungsvorrang vor einem nationalen Gesetzes genießt. Die Konvention fordert vielmehr nur, dass ihre Prinzipien und Bestimmungen in der nationalen Rechtsordnung und Rechtspraxis insgesamt angewendet und durchgesetzt werden. 20 Überdies müsste die Bearbeitung eines Antrags auf Familienzusammenführung die Art. 8 EMRK, Art. 24 Abs. 3 EU-Grundrechtecharta und nicht zuletzt Art. 6 GG beachten. 21 Vgl. Begründung des Gesetzesentwurf, BT-Drs. 18/7538, S. 1: „Eine bessere Steuerung und Reduzierung des Zuzugs sind unerlässlich“. Der Begriff „Kindeswohl“ taucht in der Gesetzesbegründung dagegen gar nicht auf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 2 - 3000 - 026/16 Seite 10 Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgendes Bild: Die konsequente Anwendung des (neuen) § 104 Abs. 13 AufenthG widerspricht für sich genommen den Bestimmungen der KRK, da die Norm das konventionsrechtlich geforderte Verwaltungsermessen auf Null reduziert und damit der Behörde für eine Dauer von zwei Jahren die Möglichkeit verwehrt, bei der Entscheidung über einen Antrag auf Familienzusammenführung Aspekte des Kindeswohls konventionskonform zu berücksichtigen . Mit einer Klageflut gegen abgelehnte Anträge auf Familienzusammenführung müsste gerechnet werden. Dagegen ließen sich die ermessenssteuernden Vorgaben der KRK im Rahmen einer behördlichen Ermessensausübung nach § 22 S. 1 AufenthG durchaus gewährleisten. Mit einer regelmäßigen Anwendung von § 22 AufenthG würde die Behörde aber das gesetzlich intendierte Regel-Ausnahme-Verhältnis „umkehren“ und dem Ziel und Zweck des novellierten AufenthG zuwiderhandeln. Die durch den Gesetzentwurf geschaffene neue Rechtslage trägt nicht zur Rechtklarheit bei. In der Folge käme es in Sachen „Familiennachzug“ – ähnlich wie heute schon bei den Abschiebungen – möglicherweise zur unterschiedlichen Rechtsanwendung durch die Verwaltungen und Gerichte. Wollte man – als möglichen Ausweg aus dem Dilemma – das novellierte AufenthG konventionsund damit völkerrechtskonform auslegen,22 dürfte der neue § 104 Abs. 13 AufenthG zugunsten von § 22 AufenthG praktisch nicht zur Anwendung kommen und wäre insoweit obsolet. Ende der Bearbeitung 22 Dazu allgemein Geiger, Rudolf, Grundgesetz und Völkerrecht, München: Beck, 4. Aufl. 2009, § 38 II.