© 2019 Deutscher Bundestag WD 2 - 3000 - 025/19 Völkerrechtliche Aspekte des Westsaharakonflikts Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 2 Völkerrechtliche Aspekte des Westsaharakonflikts Aktenzeichen: WD 2 - 3000 - 025/19 Abschluss der Arbeit: 18. März 2019 (zugleich letzter Zugriff auf die Internetquellen) Fachbereich: WD 2: Auswärtiges, Völkerrecht, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Überblick zum Verlauf des Westsaharakonfliktes 4 2. Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara 5 2.1. Westsahara-Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) 6 2.2. Gutachten des Rechtsberaters der Vereinten Nationen 8 2.3. Rechtspositionen zur Rolle Marokkos 8 2.4. Position Marokkos 10 2.5. Zur Anerkennung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) 10 2.6. Zur Frage der Annexion und Besetzung des Territoriums der Westsahara durch Marokko 11 3. Völkerstrafrecht und Humanitäres Völkerrecht 13 3.1. Römisches Statut 14 3.2. Erstes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen 14 3.2.1. Internationaler bewaffneter Konflikt 16 3.2.2. „Besatzungsmacht“ 16 3.2.3. „Überführung“ 16 3.2.4. „Teil der Bevölkerung“ 17 3.3. Ergebnis 18 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 4 1. Überblick zum Verlauf des Westsaharakonfliktes Das Gebiet der Westsahara umfasst eine Fläche von 266.000 km² und grenzt im Norden an das Königreich Marokko und die Demokratische Volksrepublik Algerien sowie im Osten und Süden an die Islamische Republik Mauretanien.1 Etwa 85 Prozent des von 1884 bis 1975/76 unter spanischer Kolonialherrschaft befindlichen Gebietes werden durch Marokko kontrolliert und verwaltet .2 Nachdem sich die ehemalige Kolonialmacht Spanien Anfang der 1970er Jahre auf wiederholte Aufforderung der VN-Generalversammlung zu der Dekolonisierung der Westsahara und der Vorbereitung eines Referendums über die Unabhängigkeit der Westsahara entschlossen hatte, erhoben sowohl Marokko als auch Mauretanien Anspruch auf das Territorium und entsandten Truppen in die Westsahara.3 In den folgenden Jahren kam es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Anfang der 1970er Jahre gegründeten saharauischen Befreiungsorganisation Frente Para la Liberación de Saguia Al Hamra y Rio de Oro (Polisario) und den marokkanischen und mauretanischen Streitkräften. In einem Dreierabkommen zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien (Abkommen von Madrid) erklärte Spanien im Jahr 1975, sich aus dem Gebiet der Westsahara zurückzuziehen und die vorläufige Verwaltung auf die Staaten Marokko und Mauretanien zu übertragen.4 Nachdem schließlich die letzten spanischen Truppen die Westsahara verlassen hatten, rief die Polisario am 27. Februar 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus, die bis heute in der internationalen Staatengemeinschaft überwiegend nicht als Staat anerkannt wird (dazu 2.5).5 Mauretanien schloss im Jahr 1979 einen Friedensvertrag mit der Polisario und gab jegliche zuvor erhobenen Gebietsansprüche auf und zog sich aus der Westsahara zurück. Daraufhin übernahmen marokkanische Streitkräfte den zuvor durch Mauretanien kontrollierten Teil der Westsahara. Zwischen 1981 und 1987 errichtete die marokkanische Armee ein weitreichendes Schutzwallsystem (sog. Berm), das seitdem den von Marokko kontrollierten Teil der Westsahara von dem restlichen Territorium trennt. 1 Vgl. United Nations and Decolonization, Western Sahara – Basic facts, 2017, abrufbar unter: http://www.un.org/en/decolonization/pdf/Western-Sahara2017.pdf; MINURSO, Western Sahara – Map, April 2014, abrufbar unter: https://minurso.unmissions.org/sites/default/files/minurso-map.pdf. 2 Vgl. Simon, Western Sahara, in: Self-Determination and Secession in International Law, 2014, S. 255-272, 256. 3 Vgl. Wissenschaftliche Dienste, Infobrief, Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara, Anja Schubert, 20.5.2011 (aktualisiert am 12.7.2011), WD 2 – 3010 – 129/11, S. 4, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/191996/ba00742c91f3e9bf307af06f15e00dc4/westsahara-data.pdf. 4 MINURSO, Chronology of Events, abrufbar unter: https://minurso.unmissions.org/chronology-events; Declaration of principles on Western Sahara, Madrid, 14.11.1975, 988 UN Treaty Series 259, abrufbar unter: https://treaties.un.org/doc/publication/unts/volume%20988/volume-988-i-14450-english.pdf. 5 Vgl. WD a.a.O. (Fn. 3), MINURSO (Fn. 4). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 5 Auf Betreiben des VN-Sicherheitsrates wurde im Jahr 1991 die Friedensmission MINURSO (United Nations Mission for the Referendum in Western Sahara) mit dem Auftrag eingesetzt, einen zuvor von den Parteien vereinbarten Waffenstillstand zu überwachen und ein Referendum vorzubereiten.6 In seinem jüngsten Bericht zur Westsahara nahm der VN-Generalsekretär zu der derzeitigen Lage in Westsahara Stellung und konstatierte, dass beide Parteien den Waffenstillstand trotz vereinzelter Konflikte einhielten.7 Zu einem unter der Ägide der Vereinten Nationen gehaltenen Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara kam es hingegen bislang nicht. Die Vereinten Nationen führen die Westsahara seit dem Jahr 1963 weiterhin in der Liste der sogenannten Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung („Non-Self-Governing Territories“). Diese ehemaligen Kolonialgebiete werden von einem Spezialausschuss der Vereinten Nationen dabei unterstützt, ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuüben.8 Für eine ausführliche Darstellung des Westsaharakonfliktes wird auf den Infobrief: „Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara“ der Wissenschaftlichen Dienste aus dem Jahr 2011 verwiesen.9 Eine umfangreiche Chronik der Ereignisse findet sich zudem auf der Webseite der Vereinten Nationen (VN) zur Friedensmission MINURSO.10 2. Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist nach wie vor umstritten. Die Bundesregierung stellt dazu in ihrer Antwort vom 19. September 2017 auf eine Kleine Anfrage zum „Stand der Überarbeitung der Protokolle zum EU-Marokko-Assoziationsabkommen in Bezug auf die Westsahara“ fest: „Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist ungeklärt. Bilaterale wie EU- Abkommen dürfen den zukünftigen Status der Westsahara nicht präjudizieren […].“11 6 MINURSO, a.a.O. (Fn. 4). 7 VN-Sicherheitsrat, Situation concerning Western Sahara - Report of the Secretary-General, 3.8.2018, S/2018/889, paras 2, 5, abrufbar unter: https://minurso.unmissions.org/sites/default/files/unsg_report_03.10.18.pdf. 8 Vereinte Nationen, What the UN Can Do To Assist Non-Self Governing Territories, 2016, abrufbar unter: http://www.un.org/en/decolonization/pdf/English_JUNE%202017.pdf. 9 Wissenschaftliche Dienste, Infobrief, Zum völkerrechtlichen Status der Westsahara, Anja Schubert, 20.5.2011 (aktualisiert am 12.7.2011), WD 2 – 3010 - 129/11, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/191996/ba00742c91f3e9bf307af06f15e00dc4/westsahara-data.pdf. 10 MINURSO, Chronology of Events, abrufbar unter: https://minurso.unmissions.org/chronology-events. 11 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katja Keul, Volker Beck (Köln), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (BT-Drs. 18/13381), 19.9.2017, BT-Drs. 18/13591, Frage 2, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/135/1813591.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 6 Für eine völkerrechtliche Beurteilung ist insbesondere maßgeblich, wie sich der Rückzug Spaniens aus dem ehemaligen Protektorat und die Übernahme der Kontrolle durch Marokko über weite Teile des Westsaharagebietes auf den Status der Westsahara ausgewirkt haben. 2.1. Westsahara-Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) Ein von der VN-Generalversammlung in Auftrag gegebenes Gutachten des Internationalen Gerichtshofes (IGH) aus dem Jahr 197512 bildet den Ausgangspunkt und die Grundlage von Überlegungen zum völkerrechtlichen Status der Westsahara. Der IGH sollte sich in seinem – rechtlich unverbindlichen – Gutachten (Advisory Opinion) mit der Frage auseinander setzen, ob es sich bei dem Gebiet der Westsahara im Zeitpunkt der Kolonisierung durch Spanien um Niemandsland (terra nullius) gehandelt habe. Ferner sollte beantwortet werden, welche Rechtsbeziehungen (während der spanischen Kolonialzeit) zwischen dem Territorium und dem Königreich Marokko und dem Staat Mauretanien bestanden hätten.13 Die dem IGH vorgelegten Fragen lauteten: I. Was Western Sahara (Rio de Oro and Sakiet El Hamra) at the time of colonization by Spain a territory belonging to no one (terra nullius)? If the answer to the first question is in the negative, II. What were the legal ties of this territory with the Kingdom of Morocco and the Mauritanian entity?14 In seinem Gutachten kommt der IGH zunächst zu dem Schluss, dass die Westsahara im Zeitpunkt der Kolonisierung durch Spanien keine terra nullius (Niemandsland) gewesen sei. 12 IGH, Western Sahara, Advisory Opinion, ICJ Reports 1975, p. 12, Rn. 75, abrufbar unter: https://www.icjcij .org/files/case-related/61/061-19751016-ADV-01-00-EN.pdf. 13 Für eine ausführliche Synthese des Gutachtens siehe Feinäugle, Western Sahara (Advisory Opinion), in: MPEPIL, (letzter Stand: März 2007), abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e233. 14 IGH (Fn. 12), Rn. 75 ; vgl. dazu auch die Resolution 3292 (XXIX) der VN-Generalversammlung vom 13.12.1974, A/RES/3292(XXIX), para 1, abrufbar unter: www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/3292(XXIX). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 7 Der damaligen Staatenpraxis zufolge handelt es sich nämlich dann nicht um terra nullius, wenn das betreffende Gebiet von Stämmen oder Völkern bewohnt ist, die sozial und politisch organisiert sind.15 Zum Zeitpunkt der Kolonisierung sei das Gebiet der Westsahara jedoch von nomadischen Stämmen bewohnt gewesen, die auch sozial und politisch organisiert gewesen seien und durch ihre Oberhäupter („Chiefs“) repräsentiert würden.16 Des Weiteren stellt der IGH mit Blick auf die zweite Frage fest, dass während der Kolonialherrschaft Spaniens zwar Rechtsbeziehungen in Gestalt von Treueverhältnissen („legal ties of allegiance“) zwischen dem Sultan von Marokko und einigen der im Gebiet der Westsahara lebenden Stämme bestanden hätten. Es habe jedoch keine Beziehung gegeben, die ein Verhältnis territorialer Souveränität zwischen dem Gebiet der Westsahara und Marokko (bzw. auch Mauretanien) begründet habe. Der IGH kommt damit zu dem Schluss, dass die von ihm festgestellten Rechtsbeziehungen in Form von Treueverhältnissen nichts an der Anwendbarkeit der Resolution 1514 (XV)17 der VN- Generalversammlung für die Dekolonisierung der Westsahara änderten. Die Rechtsbeziehungen reichten nicht aus, um den in der Resolution proklamierten Grundsatz der Selbstbestimmung auf der Basis eines frei und unverfälscht geäußerten Willens zu beeinflussen.18 15 IGH (Fn. 12), Rn. 80: “Whatever differences of opinion there may have been among jurists, the State practice of the relevant period indicates that territories inhabited by tribes or peoples having a social and political organization were not regarded as terrae nullius”. 16 IGH (Fn. 12), Rn. 81: “In the present instance, the information furnished to the Court shows that at the time of colonization Western Sahara was inhabited by peoples which, if nomadic, were socially and politically organized in tribes and under chiefs competent to represent them.” 17 VN-Generalversammlung, Resolution vom 14. Dezember 1960, Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker, Res. 1514 (XV), abrufbar unter: http://www.un.org/Depts/german/gvearly /ar1514-xv.pdf. 18 IGH (Fn. 12), Rn. 162: “The materials and information presented to the Court show the existence, at the time of Spanish colonization, of legal ties of allegiance between the Sultan of Morocco and some of the tribes living in the territory of Western Sahara (…).” “On the other hand, the Court's conclusion is that the materials and information presented to it do not establish any tie of territorial sovereignty between the territory of Western Sahara and the Kingdom of Morocco or the Mauritanian entity. Thus the Court has not found legal ties of such a nature as might affect the application of resolution 1514 (XV) in the decolonization of Western Sahara and, in particular, of the principle of selfdetermination through the free and genuine expression of the will of the peoples of the Territory.” Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 8 2.2. Gutachten des Rechtsberaters der Vereinten Nationen Im Jahr 2002 befasste sich der VN-Untergeneralsekretär für rechtliche Angelegenheiten und Rechtsberater Hans Corell mit der Rechtmäßigkeit von Verträgen, die Marokko mit ausländischen Unternehmen in Bezug auf die Erschließung von Bodenschätzen im Gebiet der Westsahara geschlossen hatte. In diesem Zusammenhang bedurfte es auch einer Analyse des Status der Westsahara und des Status von Marokko im Verhältnis zum Westsaharagebiet. Corell betont in seinem Gutachten, dass das 1975 geschlossene Abkommen von Madrid lediglich eine vorläufige Übertragung der Verwaltungshoheit auf Marokko beinhaltet habe. Weder habe Marokko dadurch die Souveränität über das Gebiet der Westsahara erlangt, noch den Status der Verwaltungsmacht („administering power“) erwerben können. Der Transfer der übergangsweisen Verwaltungshoheit durch Spanien auf Marokko (sowie damals auch Mauretanien) habe zudem nichts an dem internationalen Status der Westsahara als Hoheitsgebiet ohne Selbstverwaltung geändert.19 2.3. Rechtspositionen zur Rolle Marokkos Teilweise wird vertreten, Marokko sei als „De-facto-Verwaltungsmacht“ der Westsahara anzusehen .20 Als Verwaltungsmächte („administering powers“) werden gemäß Artikel 73 der 19 VN-Sicherheitsrat, Letter dated 29 January 2002 from the Under-Secretary-General for Legal Affairs, the Legal Counsel, addressed to the President of the Security Council, 12.2.2002, S/2002/161, paras 6 und 7, abrufbar unter: http://www.havc.se/res/SelectedMaterial/20020129legalopinionwesternsahara.pdf. Vgl. zu dem Status eines Hoheitsgebietes ohne Selbstverwaltung auch Fußnote 8 dieses Sachstandes. Die Vereinten Nationen führen die Westsahara weiter in ihrer Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstverwaltung. Vgl. dazu auch die folgende Fußnote zu dieser Liste: „On 26 February 1976, Spain informed the Secretary-General that as of that date it had terminated its presence in the Territory of the Sahara and deemed it necessary to place on record that Spain considered itself thenceforth exempt from any responsibility of any international nature in connection with the administration of the Territory, in view of the cessation of its participation in the temporary administration established for the Territory . In 1990, the General Assembly reaffirmed that the question of Western Sahara was a question of decolonization which remained to be completed by the people of Western Sahara.” Abrufbar unter: http://www.un.org/en/decolonization/nonselfgovterritories.shtml. 20 Siehe dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet in der Rechtssache “Western Sahara Campaign UK, The Queen gegen Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs, Secretary of State for Environment, Food and Rural Affairs”, C‑266/16, 10.1.2018, Rn. 221, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62016CC0266&from=LV. Laut dem Generalanwalt wird Marokko von dem Rat und der Kommission der EU sowie der französischen Regierung im Verfahren als „De-facto-Verwaltungsmacht“ des Westsaharaterritoriums bezeichnet. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 9 VN-Charta „Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben“, bezeichnet.21 Im Fall der Westsahara hatte jedoch ursprünglich Spanien als ehemalige Kolonialmacht diese Verantwortung inne. Während bereits zweifelhaft ist, ob Spanien diese mit Schreiben vom 26. Februar 1976 einseitig aufgeben konnte22, ist eine Übertragung dieses Status auf Marokko jedenfalls rechtlich nicht möglich gewesen. Denn das Abkommen von Madrid sah zum einen lediglich eine vorläufige Verwaltung des Gebietes vor und war zum anderen in der Staatengemeinschaft auch umstritten.23 Des Weiteren hat ausschließlich die VN-Generalversammlung die Kompetenz, für ein Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung die dazugehörige Verwaltungsmacht zu bestimmen.24 Im Übrigen betrachtet sich Marokko auch selbst nicht als Verwaltungsmacht der Westsahara, was mit den in Artikel 73 VN-Charta genannten Verpflichtungen einherginge (u.a. gemäß Art. 73 lit. b) VN-Charta die Pflicht, sie bei der „fortschreitenden Entwicklung ihrer freien politischen Einrichtungen“ zu unterstützen), sondern im Gegenteil als Souverän (siehe dazu 2.4). Marokko ist damit nicht als Verwaltungsmacht der Westsahara einzustufen. Fraglich bleibt, ob Marokko jedoch den Status einer „de-facto-Verwaltungsmacht“ innehaben könnte. Insofern überzeugt allerdings die Ansicht des Generalanwalts in dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zum Partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko, dass es sich dabei um einen Begriff handelt, der in der Vergangenheit jedenfalls in dem ähnlich gelagerten Fall der Annexion Osttimors durch die Republik Indonesien von dem IGH nicht gebraucht wurde und rechtlich nicht bedeutsam ist.25 Vgl. zur Rechtsansicht der EU-Kommission auch bereits Dawidowicz, Trading fish or human rights in Western Sahara? Self-determination, non-recognition and the EC-Morocco Fisheries Agreement, in: Statehood and Selfdetermination – Reconciling Tradition and Modernity in international Law, 2013, S. 250-276, 270, abrufbar unter: https://www.cambridge.org/core/books/statehood-and-selfdetermination/trading-fish-or-human-rights-inwestern -sahara-selfdetermination-nonrecognition-and-the-ecmorocco-fisheriesagreement /B997FE2CB282071A7D8C74C6AFCA6B30. 21 VN-Charta, Kapitel XI, Art. 73, abrufbar unter: https://www.unric.org/html/german/pdf/charta.pdf. 22 Dazu skeptisch z.B. Wrange, Occupation/annexation of a territory: Respect for international humanitarian law and human rights and consistent EU policy, in: Policy department, Directorate-General for External Policies, European Parliament (Hrsg.), Juni 2015, EP/EXPO/B/DROI/FWC/2013-08/lot8/05, S. 39 f. mit Fußnoten 151 und 156, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=EXPO_STU(2015)534995. Klar dagegen, Simon (Fn. 2), S. 260. 23 Schlussanträge Wathelet, C‑266/16 (Fn. 20), Rn. 225, 230. 24 Schlussanträge Wathelet, C‑266/16 (Fn. 20), Rn. 226. 25 Schlussanträge Wathelet, C‑266/16 (Fn. 20), Rn. 223, 224. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 10 Es handelt sich vielmehr um eine bloße Beschreibung des durch Marokko geschaffenen Zustandes .26 2.4. Position Marokkos Marokko vertritt von Anbeginn des Westsaharakonfliktes die Position, dass die Westsahara einen integralen Bestandteil des marokkanischen Staatsgebietes bilde.27 In der Stellungnahme zum Gutachten des IGH im Jahr 1975 berief sich Marokko auf althergebrachte historische Beziehungen und politische Verbindungen zu dem Territorium.28 Eine mögliche Unabhängigkeit der Westsahara lehnt Marokko kategorisch ab.29 Marokkos behauptete Souveränität über das Westsaharagebiet wird, soweit ersichtlich, allgemein formell nicht anerkannt, in Teilen der Staatengemeinschaft und von der Arabischen Liga jedoch (politisch) unterstützt.30 2.5. Zur Anerkennung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) Im Februar 1976 rief die Polisario die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) aus. Die DARS wurde im Jahr 1984 von der Afrikanischen Union (AU, ehemals: Organisation für Afrikanische Einheit) völkerrechtlich anerkannt und ist seither Mitglied, was Marokko zu einem Austritt aus der AU bewog.31 Die Angaben über die Anzahl der Staaten, die die DARS anerkennen, schwanken beträchtlich.32 Die DARS ist kein Mitglied der Vereinten Nationen, da diese die Westsahara als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung führen. 26 Vgl. auch Dawidowicz (Fn. 20), S. 271. 27 Vgl. IGH, Western Sahara (Fn. 12) Rn. 34. 28 IGH, Western Sahara, Written Statements and Documents (concluded), Vol. III, S. 180-185, Abschn. B „Le Sahara occidental, partie intégrante du Maroc“, abrufbar unter: https://www.icj-cij.org/files/caserelated /61/9472.pdf. 29 Vgl. dazu die folgende Passage aus dem Brief des Königreich Marokkos an die EU, der dem Partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko beigefügt ist, Letter from the Kingdom of Morocco, 27.11.2018, 12983/18, abrufbar unter: http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-12983-2018- INIT/en/pdf. „For the Kingdom of Morocco, the Sahara region is an integral part of the national territory over which it exercises full sovereignty in the same manner as for the rest of the national territory. Morocco considers that any solution to this regional dispute should be based on its autonomy initiative.” 30 Hofmann, Annexation, in: MPEPIL, (Stand : Februar 2013), Rn. 37, abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690- e1376?rskey=RybiRv&result=1&prd=OPIL. 31 Ebd.; seit dem Jahr 2017 ist Marokko allerdings wieder Mitglied der AU. 32 Ebd.; vgl. auch die Wissenschaftliche Dienste (Fn. 3), S. 6 und die dazugehörige Fußnote 14. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 11 Nach klassischer Sicht setzt die Bildung eines Staates ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk sowie eine effektive Staatsgewalt voraus (sog. „Drei-Elemente-Lehre“).33 Im Fall der DARS fehlt es jedoch aufgrund der faktischen Kontrolle und Verwaltung durch Marokko in weiten Teilen des Westsaharagebietes an der erforderlichen Ausübung von effektiver Staatsgewalt über das beanspruchte Staatsgebiet, dessen Grenzen zudem nicht unumstritten sind.34 2.6. Zur Frage der Annexion und Besetzung des Territoriums der Westsahara durch Marokko Ganz überwiegend wird die Ansicht vertreten, dass Marokko den unter seiner Kontrolle stehenden Teil der Westsahara annektiert und besetzt habe. Unter einer Annexion versteht man allgemein „den einseitigen Akt eines Staats, durch den dieser fremdes Staatsgebiet gegen den Willen des betroffenen Staats zu seinem eigenen macht“.35 Von einer Besatzung oder Okkupation durch einen Staat spricht man, wenn dieser über ein fremdes Gebiet ohne den Willen des Souveräns effektiv Herrschaft ausübt.36 Das internationale Besatzungsrecht ist anwendbar, wenn ein Gebiet de facto unter der Gewalt eines anderen Staates steht.37 Dabei bildet Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) aus dem Jahr 190738 den Ausgangspunkt der rechtlichen Prüfung .39 In seinen Schlussanträgen hat der Generalanwalt in dem Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zum Partnerschaftlichen Fischereiabkommen die beiden sukzessiven Gebietserwerbe von Teilen der Westsahara durch Marokko in den Jahren 1976 und 1979 als Annexionen bezeichnet.40 33 Kau, in: Graf Vitzthum/Proeiß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Auflage (2016), S. 161, Rn. 76 mit Verweis auf Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage (1914), S. 396. 34 Vgl. aber zu den möglichen Erwägungsgründen der Staaten, die die DARS anerkennen, Oeter, Die Entwicklung der Westsahara-Frage unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Anerkennung, in: ZaöRV 46 (1986), S. 48-74, 64 ff. 35 Kau (Fn. 33), S. 189, Rn. 140. 36 Benvenisti, The International Law of Occupation, 2. Auflage, 2012, S. 43. 37 Bothe, The Administration of Occupied Territory, in: Clapham et al. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, 1. Auflage (2015), Chapter 69, S. 1456; 38 Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907, Anlage: Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Haager Landkriegsordnung), abgedruckt im BGBl. 1910, S. 107. Authentische englische Fassung: Convention (IV) respecting the Laws and Customs of War on Land and its annex: Regulations concerning the Laws and Customs of War on Land. The Hague, 18. October 1907, abrufbar unter: https://ihl-databases.icrc.org/ihl/INTRO/195. 39 Benvenisti, Occupation, Belligerent, in: MPEPIL (letzter Stand: Mai 2009), Rn. 4; abrufbar unter: http://opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e359. 40 Schlussanträge Wathelet (Fn. 20), Rn. 175, 178, 182, 194. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 12 Dass die Westsahara von Marokko besetzt sei, sei „außerdem allgemein anerkannt“.41 Ebenso wird in einer durch das Europäische Parlament in Auftrag gegebenen Studie aus dem Jahr 2015 zu Annexionen und Okkupationen von Territorien in Bezug auf die Situation in Westsahara festgestellt, dass Marokko den in seiner Kontrolle stehenden Gebietsteil annektiert und besetzt habe.42 Die VN-Generalversammlung hat erstmals in einer Resolution aus dem Jahr 1979 die Verschärfung der Lage aufgrund der fortgesetzten Besetzung der Westsahara und der Ausweitung der Besetzung auf das von Mauretanien verlassene Gebiet „zutiefst bedauert“ (deeply deplored) und im Jahr 1980 ihre Besorgnis über die anhaltende Besatzung erneut bekräftigt.43 Soweit ersichtlich wird in den zu Westsahara verabschiedeten Resolutionen des VN-Sicherheitsrates nicht ausdrücklich auf eine Annexion und Besatzung durch Marokko Bezug genommen, jedoch beständig das Recht auf Selbstbestimmung der saharauischen Bevölkerung hervorgehoben.44 Der Argumentation des Generalanwalts folgend ist Marokko auch nach den von dem IGH entwickelten Grundsätzen für das sogenannte ius in bello als Besatzungsmacht einzustufen, da es die zuvor annektierten Gebiete strukturiert verwalte und so eine effektive Herrschaft im Großteil der Westsahara errichtet habe und weiter ausübe.45 Auch in der Literatur wird vertreten, dass die durch Marokko ausgeübte Herrschaft und Kontrolle über den Großteil des 41 Vgl. ebd. Rn. 247 und insb. die dazugehörige Fußnote 223 mit einem umfangreichen Verweis auf Fundstellen in der Literatur, abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legalcontent /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62016CC0266&from=LV. 42 Wrange (Fn. 22), S. 40. 43 VN-Generalversammlung, GA Res. 34/37, 21.11.1979, abrufbar unter: http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/A_RES_34_37.pdf. „Deeply deplores the aggravation of the situation resulting from the continued occupation of Western Sahara by Morocco and the extension of that occupation to the territory recently evacuated by Mauretania (Hervorh. vom Bearb.).” VN- Generalversammlung, GA Res. 35/19, 11.11.1980, abrufbar unter: http://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/a_res_35_19.pdf „Again declares that it is deeply at the aggravation of the situation deriving from the continued occupation of Western Sahara by Morocco and from the extension of that occupation to the part (…) (Hervorhebungen vom Verfasser).” 44 Vgl. auch Bothe (Fn. 37), S. 1459; siehe z.B. VN-Sicherheitsrat, Resolution 244 (2018), S/Res/244/18, 31.10.2018, abrufbar unter: https://www.securitycouncilreport.org/atf/cf/%7B65BFCF9B-6D27-4E9C-8CD3- CF6E4FF96FF9%7D/s_res_2440.pdf. Vgl. aber kritisch Dawidowicz (Fn. 20), S. 264. 45 Schlussanträge Wathelet, C‑266/16 (Fn. 20), Rn 248, 249. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 13 Westsaharagebietes – noch verstärkt durch seine de iure-Eingliederung in das eigene Staatsgebiet – für die Anwendung des Internationalen Besatzungsrechts ausreiche.46 Der Annahme einer Besatzung der Westsahara durch Marokko steht schließlich auch nicht entgegen, dass Art. 42 der Haager Landkriegsordnung von einer Gewaltausübung des feindlichen Heeres (hostile army) ausgeht. Jedenfalls mit Blick auf die Anwendung des Humanitären Völkerrechts in der Vierten Genfer Konvention (1949) und dem Ersten Zusatzprotokoll (1977) kommt es nicht darauf an, ob gerade das Militär tatsächlich die effektive Gewalt im Gebiet ausübt.47 Auch eine gewisse Konsolidierung der Zustände läuft einer Anwendung des Besatzungsrechts nicht zuwider, solange die Besetzung nicht beendet ist.48 Damit sprechen gute Gründe für die Annahme, dass Marokko den unter seiner Kontrolle stehenden Teil der Westsahara annektiert hat und weiter besetzt hält. 3. Völkerstrafrecht und Humanitäres Völkerrecht Nach Aussage der Bundesregierung hat sich eine „erhebliche Anzahl marokkanischer Staatsbürger und Staatsbürgerinnen […] in den Gebieten der Westsahara angesiedelt“ und „mittlerweile leb[t]en auch Menschen der zweiten Generation vor Ort.“49 Genaue Zahlen lägen der Bundesregierung nicht vor.50 Zudem führe Marokko nach Auskunft der Bundesregierung in politischen, ökonomischen und kulturellen Bereichen Projekte durch, um die Westsahara stärker an Marokko anzubinden, was auch die Entwicklung der Infrastruktur einschließe.51 Fraglich ist, ob derartige Maßnahmen der marokkanischen Regierung und insbesondere eine gezielte Unterstützung der Ansiedelung von marokkanischen Staatsbürgern im Gebiet der Westsahara völkerstrafrechtlich oder nach Maßgabe des Humanitären Völkerrechts relevant sind. 46 Dawidowicz (Fn. 20) S. 272; Simon (Fn. 2), S. 262. 47 Benvenisti, Occupation, Belligerent (Fn. 39), Rn. 37. 48 Vgl. Speziell auf die Anwendung von Artikel 49 VI GK IV bezogen Tomuschat, Prohibition of Settlements, in: Clapham et al. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, 1. Auflage (2015), Chapter 73, S. 1560. 49 Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 17/11453), 15.5.2015, BT-Drs. 17/13602, Frage 18, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/17/136/1713602.pdf. 50 Ebd. 51 Antwort der Bundesregierung (Fn. 49), Frage 19. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 14 3.1. Römisches Statut In Betracht kommt zunächst ein Verstoß gegen Artikel 8 Abs. 1 lit. b) viii) Alt. 1 des Römischen Statuts.52 Diese völkerstrafrechtliche Vorschrift ahndet die „unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet“ als Kriegsverbrechen. Eine individuelle Strafbarkeit von marokkanischen Entscheidungsträgern nach dieser Norm kommt aber nur in Betracht, wenn das Römische Statut auch für Marokko anwendbar ist. Marokko hat das Römische Statut zwar im Jahr 2000 gezeichnet, jedoch bislang nicht ratifiziert.53 Damit scheidet mangels Anwendbarkeit des Römischen Statuts für Marokko ein Verstoß gegen Artikel 8 Abs. 1 lit. b) viii) Alt. 1 des Römischen Statuts aus. 3.2. Erstes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen Sofern die marokkanische Regierung ihre Staatsbürgern gezielt dazu anhält, in das Gebiet der Westsahara zu migrieren – beispielsweise indem sie ihren Staatsbürgern eine finanzielle Unterstützung oder Steuervergünstigungen gewährt – scheint ein Verstoß gegen das in Art. 85 Abs. 4 lit. a) ZP I i.V.m. Art. 49 Abs. 6 GK IV normierte Verbot der „Überführung eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet“ denkbar. Da Marokko die 4. Genfer Konvention (GK IV)54 und das Erste Zusatzprotokoll von 1977 (ZP I)55 ratifiziert hat, bestehen hinsichtlich der Anwendbarkeit keine Bedenken.56 52 Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998, abgedruckt im BGBl 2000 II, Nr. 35, S. 1394-1483, abrufbar unter: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D'bgbl200s1359b.pdf'%5D#__bgbl __%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl200s1393b.pdf%27%5D__1551882208915. 53 Treaties UN, Rome Statute of the International Criminal Court, abrufbar unter: https://treaties.un.org/doc/Publication/MTDSG/Volume%20II/Chapter%20XVIII/XVIII-10.en.pdf. 54 Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten, abgedruckt im BGBl. 1954 II, Nr. 17, S. 917-971, abrufbar unter: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D'bgbl200s1359b.pdf'%5D#__bgbl __%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254s0781.pdf%27%5D__1551883665114. 55 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I), abgedruckt im BGBl. 1990 II, Nr. 47, S. 1551-1649, abrufbar unter: https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D'bgbl200s1359b.pdf'%5D#__bgbl __%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl290s1550.pdf%27%5D__1551883523199. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 15 Artikel 85 Abs. 4 lit. a) ZP I lautet wie folgt: (4) Als schwere Verletzungen dieses Protokolls gelten außer den in den vorstehenden Absätzen und in den Abkommen bezeichneten schweren Verletzungen folgende Handlungen, wenn sie vorsätzlich und unter Verletzung der Abkommen oder des Protokolls begangen werden: a) die von der Besatzungsmacht durchgeführte Überführung eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet oder die Verschleppung oder Überführung der Gesamtheit oder eines Teiles der Bevölkerung des besetzten Gebiets innerhalb desselben oder aus demselben unter Verletzung des Artikels 49 des IV. Abkommens (…).“ Artikel 49 Abs. 6 GK IV, auf den sich der vorgenannte Artikel des ZP I bezieht, lautet: „Die Besatzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet verschleppen oder verschicken.“ Die Bestimmung im ersten Zusatzprotokoll ist so zu verstehen, dass sie die bereits in Art. 147 GK IV aufgezahlten „schweren Verletzungen“ um den bereits in Art. 49 Abs. 6 GK IV normierten Tatbestand der Überführung eines Bevölkerungsteils in das besetzte Gebiet ergänzt.57 _________________ 56 ICRC, State Parties to Convention (IV) relative to the Protection of Civilian Persons in Time of War. Geneva, 12 August 1949, abrufbar unter: https://ihldata - bases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/States.xsp?xp_viewStates=XPages_NORMStatesParties&xp_treatySelected=380; ICRC, State Parties to Protocol Additional to the Geneva Conventions of 12 August 1949, and relating to the Protection of Victims of International Armed Conflicts (Protocol I), 8 June 1977, abrufbar unter: https://ihldata - bases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/States.xsp?xp_viewStates=XPages_NORMStatesParties&xp_treatySelected=470. 57 International Committee of the Red Cross (ICRC), Protocol I (1977), Commentary of 1987, paras 3502 ff., https://ihldata - bases .icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Comment.xsp?action=openDocument&documentId=7BBCFC2D471A1EAAC12563 CD00437805. Siehe auch Cottier/Baumgartner in: Triffterer/Ambos (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, 3. Auflage (2016), Art. 8, para 371 mit Fußnote 570. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 16 3.2.1. Internationaler bewaffneter Konflikt Gemäß Artikel 1 Abs. 3 ZP I ist das Zusatzprotokoll in den Situationen anwendbar, die in der Vierten Genfer Konvention (Art. 2 GK IV) dargelegt sind. Dabei handelt es sich um sogenannte internationale bewaffnete Konflikte (international armed conflicts), die sich (ausschließlich) zwischen den Vertragsparteien der Konvention abspielen. Auf Drängen der Staaten, die ehemals unter Kolonialherrschaft standen, stellt Artikel 1 Abs. 4 ZP I jedoch „bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen […]“ mit internationalen bewaffneten Konflikten gleich.58 Diese Bestimmung trägt dafür Sorge, dass das Zusatzprotokoll auch dann anwendbar ist, wenn sich ein Territorium noch im Zustand der Dekolonisierung befindet, wie es gerade bei der Westsahara der Fall ist.59 3.2.2. „Besatzungsmacht“ Wie bereits festgestellt, übt Marokko die faktische Herrschaft und Kontrolle über weite Teile der Westsahara aus und ist daher als Besatzungsmacht anzusehen (dazu 2.6). Eine „Besatzung“ nach Art. 49 Abs. 6 GK I setzt keine über den Besatzungsbegriff nach Artikel 42 HLKO hinausgehenden Umstände voraus und ist daher im Falle der Westsahara gegeben.60 3.2.3. „Überführung“ Der vermeintliche Unterschied zwischen Artikel 85 Abs. 4 lit. a) ZP I („Überführung“) und Artikel 49 Abs. 6 GK IV („verschleppen“) beruht auf einer uneinheitlichen deutschen Übersetzung und besteht nicht in der englischen authentischen Fassung. Dort heißt es in beiden Fällen „transfer“. Anders als dieser Begriff zunächst nahelegen mag, ist nach allgemeinem Verständnis darunter auch nicht bloß ein tatsächlicher, körperlicher „Transport“ von Landsleuten in Siedlungsgebiete des besetzten Gebietes zu verstehen.61 Stattdessen liegt dieser Norm ein weites Verständnis zugrunde, das in der besonderen Gefahr begründet ist, den vorläufigen Besatzungszustand durch solche Siedlungsaktivitäten stetig zu verfestigen.62 58 Vgl. Bugnion, Adoption of the Additional Protocols of 8 June 1977: A milestone in the development of international humanitarian law, in: International Review of the Red Cross (2017), 99 (2), 785–796, 792. 59 Milanovic, The Applicability of the Conventions to „Transnational” and “Mixed” Conflicts, in: Clapham et al. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, 1. Auflage (2015), Chapter 2, S. 39. 60 Tomuschat, Prohibition of Settlements, in: Clapham et al. (Hrsg.), The 1949 Geneva Conventions. A Commentary, 1. Auflage (2015), Chapter 73, S. 1560. 61 Tomuschat (Fn. 60), S. 1563. 62 Tomuschat (Fn. 60), S. 1559, 1563. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 17 In dem Kommentar „The 1949 Geneva Conventions – A Commentary“ (Clapham et al., 2015) heißt es ausdrücklich dazu: „A transfer may be also brought by about by subtler methods, in particular by promises of higher earnings, by tax incentives, by investment in infrastructure, and by other means capable of inducing persons to establish themselves in an environment that is originally alien to them. From the perspective of the intended protection of the population in an occupied territory, such “soft” strategies must also be deemed to be included in the scope of the prohibition”.63 Dass eine “Überführung” nicht nur direkte Siedlungsvorhaben einer Regierung umfasst, sondern auch indirekte Steuerungsmaßnahmen, die die Migration in das besetzte Gebiet begünstigen und erleichtern, zeigt auch die Entstehungsgeschichte der jüngeren, fast gleichlautenden Bestimmung in Artikel 8 Abs. 1 lit. b) viii) Alt. 1 des Römischen Statuts (dazu 3.1). Diese beruht auf dem Artikel 85 Abs. 4 lit. a) ZP I und stellt lediglich zusätzlich klar, dass nicht nur „unmittelbare “ sondern auch „mittelbare“ Überführungen erfasst werden („directly or indirectly“).64 Solche indirekten Maßnahmen der Besatzungsmacht können z.B. finanzielle Anreize, Zuschüsse oder auch Steuerbefreiungen sein.65 Sollte die marokkanische Regierung daher ihren Staatsbürgern beispielsweise finanzielle Anreize setzen, in das Gebiet der Westsahara zu migrieren, wäre dies als „transfer“ bzw. „Überführung “ i.S.d Art. 85 Abs. 4 lit. a) ZP I bzw. „verschicken“ i.S.d. Art. 49 Abs. 6 GK IV anzusehen. Auch Infrastrukturprojekte der marokkanischen Regierung im Westsaharagebiet fielen darunter. Zu beachten ist, dass es sich um einen längerfristigen Aufenthalt der betreffenden Personen handeln müsste und diese ihren Lebensmittelpunkt dorthin ausrichten müssten. Eine Unterbringung in provisorischen Schlafstätten wie Zelten oder Wohnwagen wäre jedoch von der Vorschrift erfasst.66 3.2.4. „Teil der Bevölkerung“ Weiterhin muss es sich bei den marokkanischen Siedlern um einen „Teil der Bevölkerung“ Marokkos handeln. Auch dieses Merkmal ist weit zu verstehen. Diesbezüglich kann wiederum die gleichlautende Bestimmung des Art. 8 Abs. 1 lit. b) viii) Alt. 1 des Römischen Statuts zur Auslegung herangezogen werden, da dieser auf Art. 85 Abs. 4 lit. a) ZP I beruht (dazu 3.2.3.). 63 Tomuschat (Fn. 60), S. 1563 (Hervorhebungen vom Verfasser). 64 Siehe Cottier/Baumgartner in: Triffterer/Ambos (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, 3. Auflage (2016), Art. 8, para 373. 65 Cottier/Baumgartner (Fn. 64), Art. 8, para 383. 66 Tomuschat (Fn. 60), Chapter 73, S. 1564. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 2 - 3000 - 025/19 Seite 18 Dort bedarf es nach allgemeiner Ansicht keiner bestimmten Mindestanzahl von Personen, vielmehr reicht eine Besiedelung durch wenige Menschen bereits aus.67 3.3. Ergebnis Damit kann festgehalten werden, dass die Ansiedlungspolitik der marokkanischen Staatsführung von eigenen Staatsangehörigen im Gebiet der Westsahara eine Verletzung von Art. 85 Abs. 4 lit. a) ZP I i.V.m. Art. 49 Abs. 6 GK IV sowie gleichzeitig einen Verstoß gegen das in Art. 49 Abs. 6 der 4. Genfer Konvention normierte und auch gewohnheitsrechtliche verfestigte68 Verbot der Überführung eines Teils der eigenen Bevölkerung in besetzte Gebiete begründet. *** 67 Cottier/Baumgartner (Fn. 64.), Art. 8, para 380. 68 Tomuschat (Fn. 60), S. 1566; Cottier/Baumgartner (Fn. 64), Art. 8, para 370.